Für Sigrid »Siggi« Zenker, die erste deutsche Weltumseglerin (1931–2017) Wir wünschen uns wie du am Ende mit funkelnden Augen sagen zu können: »Ich hatte ein schönes Leben voller Abenteuer. Und Gefahren.«
INHALT
Prolog Abfahrt Rückblick Die segelnde Großbaustelle Panik am Abend Auf den Spuren der Hiscocks Dartmouth Baguette unterm Arm Morgen früh sitzen wir bei Café con leche Viveiro – Galicien für Liebhaber La Coruña sucks Ums Cabo Vilán Lissabon – Anfang und Neustart Im Tiefflug nach Madeira Geldverdienen auf der Reise 3.250 Seemeilen to go Atlantik – mehr brauch ich nicht Pause unter Palmen
Eyola Blasenprobleme Sammy an Bord Dominicas Mummets St. Martin Walt Disneys Themenpark für Segler Die Kopfdichtung geht flöten 200 Seemeilen ohne Maschine Endlich Entspannung Exumas in Slow Motion Motorschaden im kleinen Wörthersee Der Kopf dichtet wieder Auf der Flucht vor der Hurrikansaison Camden – ein Stück Heimat Roadtrip nach New York Nach Hause mit der Queen Mary 2 Auf dem Dismal Swamp Canal nach Norfolk Deltaville, das Dorf voller Boote Ich will Palmen Hilton Head Island Mit einem Mal isses warm
Besuch aus der Heimat Starkwindtörn auf den Bahamas Krank im Paradies Durch die Keys Ein Wiedersehen mit der Vergangenheit Der schwimmende Albtraum Wendepunkte Mitten durchs Indianerland Die Weichen werden gestellt Vier Wochen auf See Die Azoren England und sein Empfang 600 Seemeilen nonstop Nordsee Zurück in der Heimat Angekommen? Noch lange nicht! Danksagung
PROLOG
Frühjahr 2018
Wir segeln mit MAVERICK XL hier in den Bahamas zu den schönsten Inseln. Vor gut zehn Jahren war das alles anders. Was für ein Wahnsinn, sagen zu können, vor zehn Jahren. So reviererfahren bin ich schon? Wenn ich genau darüber nachdenke, dann kenne ich die Bahamas tatsächlich besser als die Ostsee. Seit Monaten sind wir nun hier und segeln mit Gästen durch die Inseln. Wir wollten damals eine Auszeit nehmen. Mit MAVERICK TOO. Für eine bestimmte Zeit aussteigen aus dem Alltag. Doch aus dem zeitlich begrenzten Ausstieg ist stattdessen ein Einstieg geworden, ein Einstieg in ein ganz anderes Leben. Cati kann sich mittlerweile gar nicht mehr vorstellen, in einem Haus zu leben – und ich mir auch nicht. Warum nicht auch Kinder auf dem Schiff aufziehen? Der Weg in dieses Leben begann mit MAVERICK, hier auf den Bahamas. Damals lag ich hier mit meinem nur acht Meter langen Boot vor Anker. Ich war gerade 20 Jahre alt und mit dem kleinen und maroden Schiff ganz allein von Europa hierher gesegelt. Auf der Suche nach Abenteuer, Freiheit – und einem Plan fürs Leben.
ABFAHRT
Von Johannes
Endlich reicht das Wasser aus, um MAVERICK TOOS Kiel aus dem Schlick zu heben. Peinlich, dass ich mir über die Gezeiten keine Gedanken gemacht habe, als ich den Abfahrtstermin bestimmt habe. Aber jetzt schwimmen wir, mit einigen Stunden Verspätung. Es kann losgehen. »Denk dran, meine Fender hierzulassen. Sonst hab ich im Sommer keine«, erinnert mich mein Vater. Die erste Woche hier an meinem Steg an der Oste hat sich das Schiff bei Niedrigwasser immer auf den Schlick gestellt und gegen den Steg gelehnt, weshalb ich mir ein paar zusätzliche Fender leihen musste. Nach einigen Wochen hatte sich MAVERICK TOO dann eine Rinne gestampft, in die der Kiel immer wieder reinsacken konnte. »Die Fender kannst du wiederhaben«, lache ich. »Da, wo wir hinsegeln wollen, brauchen wir so was eh nicht.« Denn wir wollen den Großteil der nächsten zwei Jahre fast nur vor Anker liegen. »So, jetzt macht aber auch, dass ihr loskommt«, fordert uns mein Vater auf. Er hat schon gerade kurz vorher im Interview mit dem ZDF-Team gesagt, dass die Sorge nun langsam einem Gefühl von »jetzt fahrt endlich, damit hier wieder Ruhe einkehrt« weicht. Kann ich gut verstehen, denn die vergangenen Monate, ja eigentlich schon die ganzen letzten zwei Jahre, ging es nur um uns, Cati und mich. Fast jedes Wochenende sind meine Eltern hier bei uns in Oberndorf an der Oste gewesen, um uns zu helfen, das Haus zu renovieren (damit wir es vermieten können) und das Schiff fertig zu bekommen. Dafür hat mein Vater seinen ganzen Jahresurlaub geopfert und war nicht einmal mit seinem eigenen Boot auf dem Wasser. Auch wenn sich Freunde zum Wochenendbesuch angemeldet haben, standen sie einige Stunden nach der Ankunft bereits mit Atemschutzmaske unter unserem Schiff und schliffen. Als Dankeschön haben wir vor vier Wochen mit gut 100 Freunden eine große
Einweihungs- und gleichzeitig Abschiedsparty gefeiert. Endlich war das alte Haus renoviert, aber gleichzeitig war es für uns Zeit geworden, die Segel zu setzen. Denn bevor es ins »normale« Leben geht, wollen wir ein paar Jahre durch die Welt segeln. Der letztmögliche Zeitpunkt, bevor Karriere und Familie dies vielleicht unmöglich machen werden. Heute, am Abfahrtstag, sind es etwa 30 Leute, die uns verabschieden. Freunde, Nachbarn, Vereinsmitglieder und Dorfälteste. Sogar unser Segelmacher Tinne ist mit seiner Familie aus Kiel angereist, um unsere Abfahrt zu erleben. Mit ihm haben wir in den vergangenen Monaten viel über unsere neue Segelgarderobe diskutiert. Nun will er uns auch davonsegeln sehen. Auch unsere engsten Freunde sind dabei. Georg und Irene, Sammy, Uwe. Mit allen vieren haben wir viel erlebt und tolle Schiffsreisen unternommen. Sie wissen, was uns dort draußen erwarten kann und wird. Schulterklopfen, ein fester Händedruck, eine Umarmung. Die Stimmung ist bedrückt. Sogar meine 86 Jahre alte Oma hat die lange Autofahrt auf sich genommen. Wir sind voller Vorfreude auf die vor uns liegende Reise, aber auch voller Sorgen. Zwei Jahre. Eine lange Zeit fernab unserer Familien. Zwei Jahre, die wir weniger mit ihnen verbringen werden. Weihnachten, Geburtstage, die schönen Wochenenden, wenn wir uns alle im großen, gemütlichen Haus meiner Eltern in Wolfsburg treffen und die Zeit zusammen genießen. Das wird nun erst mal alles ohne uns stattfinden. Und wer weiß, was sich in der Zeit noch alles verändern wird? Überhaupt, wäre es nicht vernünftiger, die Reise zu verschieben? Es ist doch schon viel zu spät im Jahr, das Schiff ist noch nicht richtig fertig, geschweige denn erprobt. Es finden sich immer mehr Gründe dafür. »Nein. Wir setzen einen Termin und fahren dann auch los«, sind wir uns einig gewesen. »Den spätestmöglichen Termin im Jahr.« So lange wie möglich wollten wir noch arbeiten und Geld verdienen. »Besser dann noch im Herbst losfahren, als einen weiteren Winter in Deutschland zu verbringen und zu warten. Also Abfahrt Anfang September 2014. Alles andere ergibt sich.« »Wer den Termin einmal verschiebt, verschiebt ihn immer wieder – und fährt am Ende gar nicht los«, war ich mir sicher. Aber dann mussten wir um zwei Wochen verschieben. Der 14. September sollte es nun werden. Ein Sonntag. Endgültige Abfahrt. Doch wieder ist es zum Ende hin knapp geworden. Am Freitag und Samstag vor
der Abfahrt haben wir bis spät in die Nacht hinein gearbeitet. Andreas und Christine, zwei Blogleser, sind spontan aus dem Ruhrgebiet angereist, um uns drei Tage lang zur Hand zu gehen. Für uns eine totale Überraschung, und wir haben uns nicht so recht getraut, ihnen richtige Aufgaben zu geben. Vor allem nicht die »Drecksarbeiten«. Bis Tinne mich irgendwann beiseitegenommen hat: »Ey, die sind extra angereist, um zu helfen. Du kannst denen ruhig ein paar Aufgaben geben, sonst reisen die ab und denken, die Tour war umsonst.« Eine Stunde später liegt Andreas dann auf dem Kajütboden und putzt die Bilge, während Christine alle Schapps auswischt. Eine großartige Unterstützung. Mit Tinne fahre ich einkaufen, fülle mehrere Einkaufswagen und karre sie im Auto zum Boot. Etwa 100 Konservendosen sind dabei, die in der Bilge gelagert werden sollen. Andreas und mein Vater verbringen den Nachmittag damit, alle Etiketten abzulösen und mit einem Edding den Inhalt auf die Dosendeckel zu notieren. Eine mühselige Aufgabe. Aber nötig, denn die Etiketten würden sich durch das Bilgewasser ohnehin bald ablösen und die Essenszubereitung damit zum Glücksspiel werden. »Aber wir veräppeln sie ab und zu«, erklärt mein Vater augenzwinkernd in die Kamera, »und schreiben etwas anderes auf die Dosen. Dann ist die Überraschung groß.« Sagts und schreibt »Linseneintopf, mit Spargel« auf die nächste Dose. Das Kamerateam will für das ZDF eine Reportage über uns drehen, in der Hoffnung, bei einer guten Quote eine Serie genehmigt zu bekommen. Wir selber hoffen, damit nebenbei ein paar Euro zu verdienen – und überhaupt, wer ist nicht gern im Fernsehen zu sehen? Aber die Dreharbeiten kosten mehr Kraft, als dass sie Freude machen. Immer wieder werden wir von dem Kamerateam in den letzten Vorbereitungsarbeiten gebremst. »Halt, warte, kannst du das noch mal machen? Pack das doch bitte noch mal aus.« Doch mit der Hilfe aller Freunde gelingt es, und am Sonntagmittag sind wir tatsächlich fertig. Aber kommen trotzdem nicht los … Der Start war für 12 Uhr angekündigt, doch hatten wir nicht in den Tidenkalender geschaut. Daher steckt der Kiel noch bis 16 Uhr im Schlick. Dann aber schwimmen wir endlich und starten sofort. Wie zwei Gladiatoren werden wir vom Kamerateam zum Schiff begleitet. Rückwärts saugen wir uns vom Steg weg, reißen die Segel hoch und machen eine Paradefahrt am Schwimmsteg vorbei, der unter der Last der winkenden Freunde fast absäuft. Endlich allein. Ohne Kameraleute, sie fahren an Bord von Nachbar Bernds Schiff mit zur Elbmündung und filmen von außen. An mehreren Stellen des Flusses erwarten
uns Zuschauer und winken. Wahnsinn. Was für eine Fahrt den Fluss hinunter. Ein Gefühl von Freiheit übermannt uns. Wir haben es geschafft, wir sind unterwegs. Egal, was jetzt iert. Wir sind unterwegs. Kurz vor der Elbe beginnt dann die Arbeit wieder, denn das Kamerateam kommt zurück an Bord. Ich möchte weiter motoren, denn es weht fast kein Wind. Der Regisseur findet aber, dass Segel schöner fürs Bild wären. Also setzen wir Vollzeug und schalten den Motor ab. Doch das ist gar nicht so einfach, denn der Motor gehört zu den Dingen, die noch auf der To-do-Liste stehen. Er läuft zwar, hat aber keinen Abschalter. Also ziehe ich mir gummierte Arbeitshandschuhe an, nehme die Luftfilter ab und drücke dem Motor die Luft ab. »Frag lieber nicht«, antworte ich auf den fragenden Blick des Kameramanns. Ich weiß: Das Abschalten muss ich noch optimieren. Aber wir werden ja noch viel schlechtes Wetter und viele Hafentage haben. Da ist immer Zeit zum Basteln. Und die Liste an unerledigten Aufgaben ist noch so lang wie mein Arm. Aber den ersten Punkt können wir schon abhaken: »Losfahren.« Darauf kam es uns an. Und bis dahin war es ein langer, langer Weg.
RÜCKBLICK
Anlauf nehmen
Von Johannes
Das Schwierigste daran, den Traum einer Langfahrt real werden zu lassen, liegt tatsächlich darin, loszukommen. Über Jahre hinweg habe ich bei der Yacht Leseranfragen zum Thema Langfahrt betreut. Ständig meldete sich jemand mit großen Plänen. Einhand, zweihand, nonstop, rückwärts, diagonal um die Erde, zweimal nonstop um die Erde, im Katamaran durchs Südpolarmeer, einhand mit 16 Jahren, 14 Jahren, zwölf Jahren … Die Menschen waren und sind erfinderisch. Ich habe mir anfangs sehr große Mühe gegeben, ihnen mit Rat und Tat beizustehen. Und, klar, die meisten wollten von uns Hilfe bekommen. Ob durch Publicity oder finanziell. Einige erwarteten gar Komplettfinanzierungen der gesamten Reise. Möglichst vorab. Aber die wenigsten dieser großen Träume wurden umgesetzt. In den ersten Jahren saßen wir Verlagsleute häufig nach den Bootsmessen noch zum Abendessen zusammen. Da habe ich mich mal mit Bobby Schenk über diese Träumer unterhalten und meinte: »Muss ich die alle für bare Münze nehmen? Ich wette, nicht mal zehn Prozent davon fahren wirklich los.« Bobby, der nun wirklich schon sein ganzes Leben mit den Langfahrern zu tun hat, sah das noch nüchterner: »Ich schätze, es ist nicht mal ein Prozent.« »It’s a dream. Until you write it down. Then it’s a goal«, habe ich mal gelesen. Das hat sich mir eingebrannt. Und mehr noch: »A goal is a dream with a schedule.« Bei der Umsetzung eines Traums geht es immer irgendwann darum, die Eckpunkte festzusetzen, einen Plan mit Terminen zu machen und das Ganze aufzuschreiben. Wer auf Blauwasserfahrt gehen will, aber keinen festen Abfahrtstermin hat, wird nie losfahren. »Wir fahren los, wenn alles fertig ist«,
habe ich über all die Jahre immer wieder von angehenden Blauwasserseglern gehört. Und danach nie wieder etwas von ihnen. Denn wenn dies der Plan ist, wird er nie erfüllt werden. Schiffe werden niemals vollkommen fertig. Ich habe für mich schon vor vielen Jahren definiert, dass mein Schiff maximal 90 Prozent in Ordnung sein muss. Denn irgendwas ist immer nicht optimal. Wichtig und essenziell ist, dass alle Dinge, die für die Seetüchtigkeit, Navigation, Sicherheit und Schiffsführung nötig sind, vollständig und in Ordnung sind. Optik ist egal, Bequemlichkeit und Komfort auch. Häufig sind es die persönliche Bequemlichkeit und vorgeschobene Gründe, die einen Segler daran hindern, Langfahrtsegler zu werden. Und natürlich das Wetter. So oft hört man von Seglern: »Wir wollten ja gerne, aber das Wetter hat nicht get.« Auf den 15.000 Seemeilen unserer Atlantikrunde sind wir auf dem Nordatlantik drei Tage vor einem Tief hergesurft, das uns 45 Knoten Wind und acht Meter Welle beschert hat. Das war der einzige Moment, über den ich sagen würde, ich wäre lieber im Hafen geblieben. Alle anderen Situationen – ob Schietwetter, Wind von vorn, kabbelige See oder Starkwind – waren unbequem, aber durchaus machbar. Meist war es in unserem sicheren Schiff noch nicht einmal wirklich unangenehm. Die meisten Hindernisse existieren also wirklich nur im Kopf. Der Tag der Abfahrt ist für viele Segler schwer. Die Tränen der Familie, das Überwinden der Ungewissheit, was alles ieren wird – auf der Reise, aber auch während der Abwesenheit. Wie viel Zeit mit der Familie verschenkt man? Gerade, wenn die Eltern schon älter sind, fällt das schwer. Ist die Reise es wert, die kostbare, knappe verbleibende Zeit zu opfern? So ging es uns auch. Kaum liegt die Hafenmauer dann aber im Kielwasser, fallen zahlreiche Sorgen ab. Dann ist voraus der Horizont zu sehen. Neue Erlebnisse, Abenteuer warten auf einen. Der Zeitraum vom ersten Aufblitzen des Traums bis zur Realisierung kann allerdings bei manchen Menschen sehr hart und lang sein. Vor allem, wenn kein fester Plan existiert. Und bei mir noch zusätzlich erschwerend: keine Perspektive. Denn ich wusste, ich würde in absehbarer Zeit weder über die nötigen Reichtümer verfügen, um ein gutes Boot zu kaufen und eine Reisekasse anzuhäufen, noch über die nötige Zeit. Dabei habe ich den Entschluss, noch eine große Reise machen zu wollen, schon damals gefasst, als ich 2006 meine kleine MAVERICK in Charleston verkauft
und den Heimweg per Flieger angetreten habe. Damals waren für mich der Kurs und der Zeitplan klar: Jetzt schnell das Studium hinter mich bringen, etwas Geld verdienen, ein Schiff selbst bauen, Reisekasse verdienen und dann wieder los. Doch letztlich lagen zwischen dem Entschluss und der Abfahrt acht lange, entbehrungsreiche Jahre. Anfangs lief alles nach Plan. Einen Monat nach dem Ende meiner Reise mit meiner Fellowship 27 fand ich mich in einem Hörsaal in Kiel wieder, zwischen 300 anderen Studenten, von denen immerhin gut 40 ebenfalls den Studiengang Schiffbau belegt hatten. Die Wahl des Studienfachs war für mich klar. Ich hatte schon als kleiner Junge Modellboote konstruiert und gebaut und konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als meine Bootsideen aus Holz und GFK an mir vorbeischwimmen zu sehen. Doch das Grundstudium war dröge und zäh. Viel Mathematik, mit der ordentlich gesiebt wurde. Mathe lag mir nie sonderlich. Dafür technisches Zeichnen und CAD. Und dann war da immer noch der Ozean, der mich nicht losließ. Und verlockende Angebote. So sollte ich zum Beispiel zu einem Segelverein nach Bünde kommen und einen Vortrag halten. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Vor allem, weil es dafür auch noch 300 € geben sollte. Also erstellte ich an den Abenden in meinem WG-Zimmer eine Präsentation, schnitt Videos mit Musik, verlud meinen PC und meine Stereoanlage ins Auto und machte mich auf den Weg nach Bünde in Ostwestfalen. Dort kam ich mit eineinhalb Stunden Puffer an, ging ins Wirtshaus und sagte dem Wirt, dass ich für einen Vortrag hier sei. »Der geht erst um sieben los, da ist noch keiner da.« Also saß ich im Auto und wartete. Als ich nach einer halben Stunde wieder ins Wirtshaus kam, sagte mir der Wirt nur: »Immer noch zu früh.« Zurück ins Auto. Eine halbe Stunde vor Beginn des Vortrags wagte ich einen letzten Versuch. Der Wirt fing gleich an: »Ich hab dir doch gesagt, dass es erst um sieben losgeht …« »Ja, ja, aber ich muss ja noch aufbauen«, erwiderte ich. »Ach, DU bist der Vortragende? Mensch, wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr!« Meinen allerersten Vortrag hielt ich also vor etwa 70 Mitgliedern der Hochseesegler-Gemeinschaft Bünde. Ein lustiger, sehr angenehmer Abend. Es machte mir riesig Spaß, die Leute mit auf mein Abenteuer zu nehmen. Doch geriet der Vortrag viel länger als gedacht, da ich ihn nie vor Publikum geübt hatte. Ich klickte fleißig 350 Bilder durch und erzählte zweieinhalb Stunden lang
Geschichten und Anekdoten. Trotzdem schien keiner gelangweilt. Deshalb habe ich den Vortrag über die Jahre in der Form fast genauso beibehalten, jedoch auf gut eineinhalb Stunden gekürzt. Schon in der Karibik hatte mich der Delius Klasing Verlag gefragt, ob ich nicht ein Buch über meine Reise verfassen könnte. »Was für eine Ehre«, dachte ich damals, denn ich hatte schon immer gehofft, irgendwann mal ein Buch veröffentlichen zu können. Doch jetzt, zurück in Deutschland, hatten die Verantwortlichen mein Abschlussinterview in der Yacht gelesen. Und da stand dick und fett: »In vier Jahren möchte ich wieder los. Und dann ganz um die Welt.« Daher zogen sie das Angebot wieder zurück, denn sie wollten lieber gleich das Buch über die Weltumsegelung. Dabei war ja gar nicht klar, ob diese überhaupt stattfinden würde. Plötzlich musste ich also dafür kämpfen, dass nun doch ein Buch über meine erste Reise entstehen sollte. »Der jüngste deutsche Einhand-Atlantikübersegler« war mein Argument. Ich sollte Probekapitel liefern und bekam dann doch die Zusage. Allerdings sollte das Buch in sechs Wochen fertig sein. Ich fing an zu tippen. Aber neben dem Studium war nur jeden Abend etwas zu schaffen. Denn gerade im ersten Semester musste ich viel Arbeit ins Studium stecken. Während ich in Sachen Segelei also einen kleinen Höhenflug erlebte, sackte ich im Studium immer mehr ein. Ich musste mich entscheiden: Lasse ich das Studium sausen oder das Buch? Schnell hatte ich eine Lösung: Die Semester könnte ich immer noch nachholen, aber die Kuh »Segelei« musste gemolken werden, solange sie Milch gab. Also setzte ich alles daran, ein gutes Buch abzuliefern. Zum Glück bekam ich auch noch einen Aufschub für die Abgabe und konnte die ganzen ersten Semesterferien von morgens bis abends daran arbeiten. Doch die Kuh gab immer mehr Milch. Und ich molk. Nahm jede Einladung an. Zigmal flog und fuhr ich sogar in die Schweiz und hielt meine Vorträge. Doch ein guter Geschäftsmann war ich nie. Für Jugendgruppen und Kirchen fuhr ich oft nur gegen Spritgeld quer durch Deutschland. Abzüglich der Spritkosten blieben aber auch bei bezahlten Vorträgen manchmal nur 50 € Gewinn übrig. Doch das »Tourleben« gefiel mir. Um die Vorträge halten zu können, nahm ich mir jeweils einen Tag von der Uni frei. Dass ich dabei neben meinen Nebenjobs zu viel Stoff sausen ließ, merkte ich erst, als ich eines Morgens mit den Worten »Moin, Herr Erdmann. Schön, dass Sie’s einrichten konnten« begrüßt wurde.
Nach drei Semestern zog ich 2009 dann den Schlussstrich. Mein Plan war, ab Herbst entweder Internationale Fachkommunikation in Flensburg oder Journalismus in Berlin zu studieren. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken und schon mal ein wenig Erfahrung zu sammeln, vermittelte mir Wilfried Erdmann ein Praktikum bei der Yacht in Hamburg. Und ein neuer Lebensabschnitt begann. Jeden Morgen pendelte ich ab März von Kiel nach Hamburg und begann, erste Kurzmeldungen und Online-Artikel zu schreiben. Schon nach knapp zwei Wochen sollte ich eine Seite mit Hintergrundinformationen für einen Historienartikel von Arved Fuchs abliefern. Vor dem Artikel stand dann »Verfasst von Arved Fuchs in Zusammenarbeit mit Johannes Erdmann«. Als ob wir zusammen an dem Text gesessen hätten. Ich bekam immer größere Aufgaben und war zugleich sehr überrascht, was für ein Vertrauen die Abteilung und vor allem mein Chef in mich legten. Nach drei Monaten bot man mir dann sogar ab September ein Volontariat an, das die meisten Journalisten erst nach einem abgeschlossenen Studium bekommen. Parallel dazu sollte ich an der Akademie für Publizistik mein Handwerkszeug lernen: schreiben, fotografieren, filmen und schneiden. Ein sehr verlockendes Angebot. Doch bis dahin hatte ich noch zwei Monate Zeit, mich zu entscheiden. Und zum Nachdenken hatte ich den besten Ort der Welt – den Atlantischen Ozean.
Den Weg finden
Auf einer »Hanseboot« hatte ich den Bootsbauer und Knotenspezialisten Egmont Friedl kennengelernt, der sich gerade in den USA ein Schiff gekauft hatte. Nach einem Sommer in der Chesapeake Bay überlegte er nun, das Schiff nach Europa zu segeln, und suchte noch einen Mitsegler. Klar, dass ich da nicht lange überlegen musste. Also flogen wir Anfang Juni 2009 in die USA und übernahmen das Schiff in Deltaville, Virginia. Wir rüsteten die GAVDOS x aus, verproviantierten uns und machten dann noch einen Abstecher nach New York, um ein letztes amerikanisches Steak zu essen.
Der Weg über den Nordatlantik hatte es dann in sich. Wir segelten, wie laut Handbuch empfohlen, auf 40° Nord, waren aber immer zu weit nördlich und bekamen auf der nördlichen Seite der Tiefs immer Gegenwinde ab. Zwei Stürme wetterten wir mit dem schweren und breiten, aber nur 32 Fuß langen ColinArcher-Nachbau ab. In einem Sturm drehten wir einen Tag lang bei und erlebten einen Knock-down in einer großen Welle. Der Mast lag flach auf dem Wasser und es ging viel kaputt. Doch nach drei Wochen erreichten wir die Azoren bei herrlichem Wetter. Ich hatte geglaubt, ich hätte während der Überfahrt Gelegenheit, mir darüber klar zu werden, wohin mein Leben gehen sollte. Doch die ganze Überfahrt drückten mich Sorgen, die sogar Magenschmerzen verursachten. Einmal natürlich das Wetter, das rauer als erwartet war, dann vor allem auch Sorgen um meine Freundin Cati. Diese hatte ich erst vor einem halben Jahr kennengelernt und wusste früh: »Die gehört zu mir.« Gesegelt war Cati noch nie richtig, aber meine Geschichten von fernen Inseln und dem blauen Ozean gefielen ihr, und wir hatten begonnen, gemeinsame Reisepläne zu schmieden. Als ich Deutschland verließ, erzählte sie mir noch, dass sie sich gerade ständig komisch fühle, schwindelig, und ab und zu beim Fahrradfahren sogar mit dem Fuß vom Pedal abrutsche. »Du musst dringend zum Arzt«, sagte ich ihr. Doch dann ging mein Flieger, und ich war bereits in den USA, als sie sich endlich durchchecken ließ. Der Arzt schickte sie relativ schnell in eine Spezialklinik und dort ins MRT. Es waren einige helle Stellen in ihrem Gehirn zu sehen. Worum es sich dabei handelte, konnte man nicht sagen. Irgendwelche Entzündungen. Möglicherweise Multiple Sklerose? Diese Vermutung kam schnell, denn ihre Mutter hat diese Krankheit, und bei Familienmitgliedern ist die Chance, ebenfalls daran zu erkranken, zumindest minimal erhöht. Es tat mir weh, sie per Skype im Krankenhaus liegen zu sehen und zu erfahren, welche unangenehmen Untersuchungen sie über sich ergehen lassen musste. Dann kam die freudige Nachricht: »Der Arzt sagt, dass es ganz sicher keine MS ist«, verkündete sie. »Wahrscheinlich war es nur ein Zeckenbiss.« Eine Woche später, eine halbe Stunde, bevor wir in New York ablegten, dann die Korrektur: »Es ist doch MS.« Während Cati relativ gelassen war, da sie die Krankheit seit vielen Jahren von ihrer Mutter kannte, brach für mich erst mal eine Welt zusammen. Ich dachte viel an sie und schrieb ihr täglich Mails. Und es zerriss mir das Herz, dass ich
nicht bei ihr sein und sie im Krankenhaus besuchen konnte. Als ich vier Wochen später dann in Hannover landete, war ihr von dem Elend nichts anzusehen. Sie war etwas dünner geworden, aber lustig und munter wie immer. Bereits im April hatte ich ein kleines Segelboot gekauft, denn ich wollte meiner neuen Freundin unbedingt das Segeln beibringen, hatte aber kein Boot. Also hatte ich mich schlaugemacht, was eine Charter über Ostern kosten würde. »Gut 650 €? Das ist viel für ein Wochenende.« Eines Morgens hatte ich dann aber zufällig eine alte Hurley 22 bei eBay entdeckt. Die Auktion sollte in acht Stunden enden und das Höchstgebot lag bei 650 €. »Für den Preis könnte ich also sogar ein Boot kaufen!« Verlockend. Ich schaute aufs Konto: 1.300 € übrig. Also bot ich 1.300 €. Abends waren wir zum Essen eingeladen, und ich hatte das Gebot längst vergessen. Da bimmelte mein Handy. »Herzlichen Glückwunsch«, schrieb mir eBay per SMS. »Sie haben ›Hurley 22 Segelboot‹ für 1.290 € ersteigert!« Unfassbar. Plötzlich hatten wir ein Boot. Eine Woche später fuhren wir nach Fehmarn, um es zu begutachten. Länge: 6,60 Meter. Baujahr: 1968. Gewicht: 2,2 Tonnen! Cati fand es riesig groß, und ich war ebenfalls von dem vorhandenen Platz überrascht. Doch in der Kajüte gab es einiges zu tun, und irgendwas stank gewaltig. Die Teppiche und Wände waren verschimmelt, das Schott hatte Wasser gezogen, die Bordwände waren zerschrammt. Also kaufte ich im Bootsladen nebenan Essigreiniger, einen Eimer, zwei Töpfe Farbe, Rollen, Antifouling, Schleifpapier und Klebeband. Während Cati in der Kajüte mit Atemschutzmaske und Putzlappen eine erste Beziehung zum Schiff herstellte, ging ich mit Schleifpapier einmal 6,60 Meter bis zum Bug und 6,60 Meter bis zum Heck schleifend an der Bordwand entlang. Dann noch mal mit der Farbrolle und blauer Farbe. Am nächsten Tag strichen wir Antifouling und hatten nach zwei Tagen Arbeit ein tolles Anfängerschiff für die erste Saison. Nach meiner Rückkehr aus den USA wollte Cati nun unbedingt mit mir segeln gehen. Sie hatte in meiner Abwesenheit im Krankenhaus einige Segelbücher gelesen und wollte unheimlich gern eine Nachtfahrt erleben. »Das klang alles so romantisch. Das rauschende Wasser, die Sterne, das Leuchten im Kielwasser …«, schwärmte sie. Also führte uns schon die dritte Ausfahrt über Nacht hinüber nach Dänemark. Bis dahin waren wir mangels Wind fast nur motort.
Mit der letzten Brückenöffnung verließen wir die Schlei und setzten Segel. Doch der Wind war viel stärker als angesagt. Etwa 5 Beaufort wehten aus Osten, und das Schiff preschte hoch am Wind nach Søby auf Ærø. Wir hatten uns ausgemalt, dass einer ja schlafen und einer segeln könne – aber Cati hatte so große Angst, dass ich nicht mal kurz aufs Vorschiff gehen konnte, um Segel zu wechseln. Dabei war der Mast kaum mehr als einen Meter vom Cockpit entfernt. Das Boot entpuppte sich als sehr frühe Version des Wavepiercer-Konzepts: Statt über die Wellen zu schweben, tauchte der schwere Langkieler immer brachial mitten durch sie durch. Viel Wasser ging über Deck und gelangte ins Cockpit. Und wir hatten kein Ölzeug dabei. Dazu gab es noch andere Probleme: »Öhm, ich müsste mal«, sagte Cati nach etwa der Hälfte der Überfahrt. »Dann musst du wohl auf den Eimer gehen«, erklärte ich ihr. Aber das war für sie bei dem Plexiglassteckschott keine Option. Also kniff sie zusammen und hielt an. »Noch fünf Seemeilen, dann sind wir im Hafen«, sagte ich gegen 1 Uhr morgens und ergänzte: »Etwa eine Stunde.« Doch so sicher war ich mir nicht. Ich konnte nicht von der Pinne weg, und meine Navigation war sehr grob. Ich hatte gegen 23 Uhr schnell einen Wegpunkt ins GPS getickert, um dann eilig wieder nach oben zu kommen. Ich hoffte inständig, dass es die richtigen Koordinaten waren. Doch als wir dann bis auf eine halbe Seemeile an den Wegpunkt heran waren und noch keine Uferbeleuchtung sahen, wurde ich skeptisch und ging noch einmal zur Karte unter Deck. »Upps, hab mich vertan. Ab jetzt noch eine Stunde«, erklärte ich kleinlaut. Als wir dann um 4 Uhr morgens in den Hafen von Søby einliefen, konnte es Cati nicht mehr aushalten. Ungefähr zehn Meter vor der Box sprang sie auf, eilte unter Deck und setzte sich auf den Eimer, während ich die Leinen festmachte. Die Kajüte war ein einziges Chaos. Dazu schien die Vorschiffsluke zu lecken. Alle Polster waren klitschnass, und eigentlich war mir klar, dass Cati nach diesem Erlebnis nie wieder auf ein Boot steigen würde. Doch als sie sich in der Koje, die ich zwischenzeitlich gegen die Nässe mit Mülltüten abgedeckt hatte, auf die andere Seite drehte, murmelte sie müde, aber zufrieden: »Das haben wir geschafft. Schlimmer gehts ja eigentlich nicht mehr. Dann kann es morgen nur besser werden.« Mit Cati hatte ich also ein tolles Mädchen gefunden, das alle Segelabenteuer mitmachen würde. Aber eigentlich war das für mich gerade ein etwas blödes Timing, denn im Grunde war ich seit Winter 2008/09 dabei, ein neues
Einhandabenteuer vorzubereiten und Unterstützer für eine eigene Nonstop-Reise zu finden. Ich machte mir große Hoffnungen, denn ich hatte ja bereits eine erfolgreiche große Reise hinter mir und darüber ein Buch geschrieben, das sich blendend verkaufte. Dazu war die Summe, verglichen mit einer großen Hochseeregatta wie der Vendée Globe, überschaubar. Statt mehreren Millionen war ich nur auf der Suche nach einem Schiff. Der Einsatz lag also etwa bei 100.000 €, die durch den anschließenden Bootsverkauf in etwa wieder reinkommen würden. Also schrieb ich Briefe und verschickte Infomappen mit Zitaten diverser bekannter Segler über mich, mit denen ich Kontakt hatte. Es musste doch zumindest jemanden geben, der mir Geld für ein Schiff leihen und den Wertverlust ausgleichen würde. Die Reisekosten könnte ich vermutlich selbst aufbringen. Vor allem beim größten Arbeitgeber meiner Heimatstadt Wolfsburg hatte ich große Hoffnung, schlug vor, das Schiff BLUE MOTION zu nennen und mit Volkswagen eine tolle Werbekampagne für weite Reisen mit wenig Kraftstoffeinsatz zu machen. Doch ich bekam nur Textbausteinantworten zurück, dass man sich entschieden hätte, nur Golf- und Reitveranstaltungen zu sponsern. Als die Yacht Wilfried Erdmann 2008 zum 40. Jubiläum seiner ersten Weltumsegelung bat, einmal aufzuschreiben, was sich in den 40 Jahren alles verändert hatte, schlug er vor, stattdessen einen Tag mit mir segeln zu gehen und sich mit mir über den Unterschied unserer Generationen zu unterhalten. Dabei fiel ihm der Name PATHFINDER meines damaligen Bootes auf. Dieser gefiel ihm. »Der Name t«, schrieb er, »denn der junge Mann versucht, seinen Weg zu finden.« Doch welcher Weg würde das sein? Einhand? Oder zu zweit? Das wusste ich immer noch nicht. Jetzt war ich jung, gesund und kräftig. Motiviert. Voller Hunger auf die See. Nonstop würde sich jetzt zu diesem Lebenszeitpunkt anbieten. Keine Kinder, keine Familie, keine Karriere im Job. Aber wie lang würde Cati noch so gesund sein, mit der schrecklichen Diagnose? Denn auch eine Reise mit ihr zusammen wäre unheimlich schön. Das alles mit ihr zusammen zu erleben. Ein ganz anderes Segeln als nonstop allein. Und vielleicht wäre so eine Reise auch genau das Richtige für sie, nach all den Jahren im Jurastudium, als Belohnung für all den Stress. Stressig würde das auch werden, das war klar. Aber selbst gewählter, »positiver« Stress. Doch dann kam im Sommer 2012 ihr Erstes Staatsexamen und änderte alles. Der
Stress machte Catis Gesundheit sehr zu schaffen. Doch sie hielt durch und schaffte jede Klausur, obwohl ihr während der letzten Klausur zunehmend schwindelig wurde. Am nächsten Morgen bekam sie die Quittung für all den Stress, den MS-Patienten tunlichst vermeiden sollten. Sie fiel im Bad um und konnte nichts mehr. Nicht reden, nicht sich bewegen, gar nichts. Der Krankenwagen kam und holte sie ab. Es dauerte Monate, bis sie sich wieder erholt hatte. Immer wieder fehlten ihr ganze Sequenzen ihres Lebens, die das Hirn einfach gelöscht hatte. Auch mitten im Gehen verlor das Gehirn zeitweise die Kontrolle über den Körper, sie stolperte und humpelte, bewegte sich in Zeitlupe. Dann war die Kontrolle plötzlich wieder da, so als wäre nichts gewesen. Die Folgen des Examens machten mir Angst. Und dann war sie auch noch ganz knapp durchgefallen. Schon beim monatelangen Lernen für den nächsten Versuch wurde klar, dass dieses Mal noch mehr Druck auf ihr lag, und ich legte ihr nahe, das Studium abzubrechen. »Abbrechen? Nach so vielen Jahren? Dann bin ich 25 und habe nur Abitur!« Das konnte und wollte sie nicht. Doch die Gesundheit war wichtiger, und so entschloss auch sie sich im Mai 2013 nach einiger Bedenkzeit, abzubrechen. Danach fiel sie in ein Loch, aus dem sie erst durch einige Praktika langsam wieder herausfand. Damit fiel auch für mich eine Entscheidung: Erst möchte ich mit Cati auf Reisen gehen. Wenn jetzt die Zeit ist, zusammen zu segeln, dann segeln wir jetzt zusammen. Also setzte ich eine neue Website auf, was für mich der bislang größte Schritt meines Lebens war. Denn dadurch ging ich nicht nur eine feste öffentliche Bindung, sondern auch eine Verpflichtung ein. Ich hatte Cati zugeredet, das Studium aufzugeben, nun war ich auch für sie verantwortlich. Die alte Website hieß www.allein-auf-see.de, die neue folgerichtig www.zu-zweitauf-see.de. Das Boot für unsere gemeinsame Langfahrt hatten wir zufällig gerade gekauft: eine 42 Jahre alte Contest 33, die ich 2012 als OLGA in Holland gekauft und MAVERICK TOO getauft hatte. Das Schiff war optisch gar nicht so schlecht in Schuss. Doch unter Lack und Gelcoat verborgen saßen etliche Osmosenester, die ich glücklicherweise bereits vor dem Kauf gefunden hatte. So konnte ich den Preis enorm drücken. Nach dem Kauf im Januar fuhren wir alle paar Wochen nach Holland, schliefen bei Eis an Deck in der Kajüte, gewärmt von einem
Heizlüfter, und begannen, das Schiff für die Überführung nach Deutschland vorzubereiten und erste Inventuren zu machen. Die Überführung durch die Staandemast-Route war toll. Mit mir an Bord waren meine Eltern, während Cati in Kiel fleißig für ihr erstes Staatsexamen lernte. Zum Herbst 2012 ging MAVERICK TOO in Neuhaus an der Oste an Land. Nach zwei Jahren in einer Einzimmerwohnung in Hamburg hatte ich mir dort nämlich im Sommer ein riesengroßes altes Haus gekauft. Zu einem Preis, zu dem man in Hamburg höchstens eine Garage erwerben könnte. Ich hatte jeden Monat 570 € Miete für 40 Quadratmeter in Wandsbek gezahlt und zahlte nun monatlich dieselbe Summe an die Bank zurück. In 14 Jahren sollte das Haus mit seinen 200 Quadratmetern Wohnfläche abbezahlt sein. Und dazu eröffnete es mir bootsbautechnisch ganz neue Möglichkeiten, denn meine neue Werkstatt, die ans Haus angeschlossene Schmiedehalle, maß zehn mal sechs Meter und hatte dreieinhalb Meter hohe Decken. Nur das Tor war 15 Zentimeter zu schmal, sonst hätte sogar MAVERICK TOO hineinget. Zu allem Überfluss lag das Haus genau am Deich, auf dessen anderer Seite sich ein privater Bootssteg mit zehn Metern Länge befand. Ein perfekter Wohnort für jeden Segler.
DIE SEGELNDE GROSSBAUSTELLE
Von Johannes
Kaum liegen wir in Cuxhaven, verwandelt sich MAVERICK TOO wieder in einen Bausatz. Die To-do-Liste ist immer noch ellenlang. Aber wir sind optimistisch, denn zumindest haben wir den Absprung geschafft und sind unterwegs. Alle Bauarbeiten, die jetzt noch zu erledigen sind, haben den Charme des Unterwegs-Erledigens. Als Erstes mache ich mich daran, den Kühlschrank und die Wassertanks anzuschließen. Das dauert den ganzen Tag. Die Stromleitungen liegen zwar schon irgendwo in der Gegend, müssen aber noch um den Motor herumgezogen werden. Ebenso die Wasserschläuche. Die neuen Plastiktanks sind bereits fest verschraubt, aber die Schläuche noch nicht mit der Pumpe verbunden. Cati bringt derweil Ordnung in unsere vier Quadratmeter Salon und organisiert unsere Kleiderschränke. Während sie zu Hause eine Art begehbaren Kleiderschrank hatte – eigentlich mehr eine Abstellkammer mit Regal darin, weil im Zehn-Quadratmeter-WG-Zimmer kein Platz für einen Schrank war –, muss sie jetzt mit einem einzigen Schapp zurechtkommen. Ich auch. Aber ich habe meines etwas weiter achtern gewählt. Da ist der Rumpf breiter und die Schapps sind tiefer … Weil uns das Kamerateam am Tag vor der Abfahrt so viel Zeit gekostet hat, kam kurz vor der Abfahrt noch mal Hektik auf. MAVERICK TOO war morgens noch voller Kram von den Bauarbeiten, und im Haus lag noch Ausrüstung, die mitmusste. Also packten zwei Leute an Bord die überflüssigen Dinge in Kisten, während parallel zwei andere Helfer die Ausrüstung aus dem Haus zum Schiff brachten. Dabei landeten aber einige wichtige Ausrüstungsstücke wieder im Haus, während andere erneut an Bord kamen. Deshalb setzt sich Cati am zweiten Reisetag in Cuxhaven noch mal in die Bahn nach Oberndorf, um das Auto und diverse Ausrüstungsgegenstände zu holen.
Am Nachmittag des dritten Reisetages besucht uns Catis Vater. Er war am Abfahrtstag verhindert, kommt nun aber extra aus Bad Bentheim angefahren, um uns noch Tschüss zu sagen. Cati ist aufgeregt, denn er ist unser erster Gast an Bord. Wir finden ein italienisches Restaurant in der Innenstadt und genießen einen letzten Abend zusammen bei Pizza und Bier. Morgen wollen wir losfahren. Den Autoschlüssel hinterlegen wir bei der Hafenmeisterin, denn meine Eltern wollen am Wochenende kommen, um das Auto abzuholen. Sie werden überrascht sein, da wir MAVERICK TOO noch einmal etwas ausgemistet haben. Vor allem viele unhandliche Sachen. Polsterauflagen für den Salontisch? Viel zu sperrig. Das zweite Solar findet bei aller Fantasie keinen guten Platz, weder an Deck noch am Geräteträger. Sogar das Sitzkissen für den Kartentisch geht aus Platzgründen von Bord, denn wir haben ja zwei Freebags und ein Kapokkissen. Dann sind wir startklar. Drei Tage nach der Abfahrt segeln wir endlich in internationale Gewässer.
PANIK AM ABEND
Von Cati
Schon seit einigen Tagen kommt der Wind aus Osten. Das ist eher ungewöhnlich für die Deutsche Bucht um Cuxhaven, in der eher Westwinde vorherrschen. Für einen Schlag direkt nach England sind diese Wetterbedingungen allerdings perfekt, denn so kommt der Wind von hinten und verspricht eine angenehme und schnelle Reise. Ein weiterer Grund, der uns zur Weiterfahrt drängt. Wegen der guten Windverhältnisse wollen wir direkt nach England segeln. Lieber Meilen machen und raus aus dem Herbstwetter. Lieber schnell zum Atlantik und die Karibik genießen. Nach einem letzten, schnellen Frühstück auf deutschem Boden verabschieden wir uns von meinem Vater, und dann geht es los. Bei der Ausfahrt erwischt uns noch die Webcam vom Hafen, und nur wenige Minuten später bekommen wir von einem Freund ein Bild davon aufs Handy geschickt. Etwas pixelig zwar, aber trotzdem sieht die MAVERICK TOO wild und entschlossen aus mit den vielen Flaggen, die noch an unserem Achterstag hängen. Wild und entschlossen – das sind wir auch. Johannes zieht kurz nach der Hafenausfahrt das Groß hoch und setzt danach die Genua. Schon rauschen wir unter Autopilot Richtung England. Die Elbströmung tut noch ihr Übriges: 8,5 Knoten zeigt unsere Logge konstant an. »Wir sind tatsächlich unterwegs! Ist das nicht komisch?«, frage ich Johannes. Glauben können wir das beide noch nicht so richtig. Etwas angespannt sitzen wir im Cockpit. Nach zwei Jahren in der Halle und den diversen Veränderungen am Boot wissen wir noch gar nicht, was unser Schiff überhaupt abkann. Vieles ist anders. Der Mast länger, die Segel größer … Aber es herrschen Traumbedingungen. Sonnenschein und Rückenwind. Die MAVERICK TOO wird vorangetrieben, und die berüchtigte »Mordsee« macht uns die Eingewöhnung an die Wellenbewegungen leicht.
Irgendwie kommt es uns aber seltsam vor, einfach nur dazusitzen und nichts zu tun. Die Minuten kriechen förmlich. Gerade in den letzten Wochen ist uns der Vorbereitungsstress fast über den Kopf gewachsen. Wir waren ständig unter Strom. Deshalb überlegen wir uns erst mal, was wir essen könnten, um die Zeit zu überbrücken. Und was man danach snacken könnte. »Jetzt steuere ich mal«, verkünde ich. »Irgendwann muss ich das Segeln ja lernen, und wir sind jetzt immerhin schon zwei Stunden unterwegs!« Johannes grinst und koppelt den Autopiloten aus. In den vergangenen Jahren habe ich zwar öfter mal ein Schiff gesteuert, aber nie einen richtigen Segel-Grundkurs gemacht – und in den zwei Jahren in der Werft und fehlender Praxis ohnehin die Hälfte des einst Erlernten wieder vergessen. Direkt merke ich am Ruderdruck auf das Steuerrad, wie der Wind in die Segel drückt. »Wenn die Segel killen, dann in die andere Richtung aussteuern«, erinnert mich Johannes. »Wenn sie flattern, meinst du, oder?«, frage ich unsicher nach. Eigentlich habe ich keine Ahnung, was ich da genau mache. Klappt aber irgendwie. »Das ist ja wie Fahrschule«, sage ich bemüht vergnügt – und meine eigentlich dieses komische Gefühl, das mich schon in der ersten Autofahrstunde beschlichen hatte. »Das reicht jetzt erst mal für den ersten Eindruck«, verkünde ich deshalb verunsichert nach einer Dreiviertelstunde. Nach einigen Stunden läuft die MAVERICK TOO ständig aus dem Ruder. Die Wellen haben sich mittlerweile etwas höher aufgebaut. Das reicht schon, dass unser Radautopilot es nicht mehr schafft, sie auszusteuern und den Kurs zu halten. »Ich setz mal die Monitor in Gang«, sagt Johannes und beugt sich über das Heck nach außen, um das Ruder unserer Windsteueranlage abzulassen. Aber es gelingt ihm nicht, das Ruder ins Wasser zu drücken und einzuklicken. Das Kielwasser drückt es immer wieder hoch und sein Arm ist zu kurz. Der Bootshaken, mit dem wir eine Verlängerung hätten, liegt ordentlich im Regal in der Schmiede. Irgendwann gelingt es doch. »Wir kaufen in England einen neuen«, meint Johannes. »In zwei Tagen sind wir ja da.« Als es dämmert, will Johannes ein Reff einbinden. In der Nacht hat er immer gern etwas weniger Segelfläche, damit er nicht im Dunkeln auf dem Vorschiff rumturnen muss, falls mehr Wind aufkommt. Denn MAVERICK TOO ist nicht vom Cockpit aus zu reffen, sondern die Leinen werden direkt am Mast bedient. »Ich gehe jetzt nach vorne und reffe«, ruft mir Johannes zu. »Du fährst einfach in die Richtung, aus der der Wind kommt. Das siehst du ja gut am
Windanzeiger.« In dem Moment, in dem meine Hände das Steuer berühren, wird mir ganz anders. Die Wellen scheinen plötzlich aus allen Richtungen zu kommen. Völlig orientierungslos suche ich die Lichter eines Frachters, der doch eben noch vor uns war. »Was machst du denn da?«, ruft Johannes von vorne. »Ich weiß nicht!«, brülle ich zurück und spüre Panik in mir aufsteigen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll! Das Schiff dreht sich nicht weiter! Ich hab das Ruder doch schon ganz eingeschlagen!« Und plötzlich bekomme ich Angst. Nicht vor den Wellen, jedoch vor meiner Courage, einfach auf ein Boot zu steigen, ohne es überhaupt segeln zu können. Und vor der Verantwortung für Johannes, mich und unser Boot, die ich gerade in den Händen halte und mit der ich nichts anzufangen weiß. Ob das jetzt jede Nacht so wird in den nächsten zwei Jahren? Bin ich dem überhaupt gewachsen? Hilflos laufen mir die Tränen über das Gesicht. »Gib einfach mehr Gas, Cati!«, ruft Johannes. »Dafür haben wir den Motor doch extra angemacht. Ich beeil mich!« Gas geben. So einfach. Warum habe ich nicht daran gedacht? Augenblicklich schäme ich mich. »Ist doch alles halb so schlimm«, versucht Johannes mich zu beruhigen. Und als würde das noch nicht reichen, wird mir plötzlich auch noch übel, und ich muss mich übergeben. Flau im Bauch, dabei war es bislang bei unseren Segelversuchen geblieben. Schuldgefühle und Sorge zwingen mich jetzt aber in die Knie und verlangen nach unserem schwarzen Eimer. Einmal in dieser Spirale drin, vegetiere ich irgendwann nur noch auf unserer Salonkoje dahin und tue mir selbst ziemlich leid. Johannes ist plötzlich wieder Einhandsegler. Obwohl er mir versichert, dass ihm das gar nichts ausmacht, fühle ich mich deshalb noch mieser. Nicht nur, dass ich ihm gar keine Hilfe bin, ich belaste ihn noch durch meine Seekrankheit. Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt. Auch am nächsten Tag sind die Wetterverhältnisse optimal. Meine Seekrankheit hat sich so weit gebessert, dass wir nicht nur den fehlenden Schlaf nachholen können. Wir sind auch zuversichtlich, dass wir nachts sogar abwechselnd Wache gehen können. Johannes ist abends noch fit, weshalb er die erste Runde übernehmen will. Als ich gerade weggedöst bin, höre ich plötzlich ein lautes »KLÄNG!«. »Cati, komm schnell! Ich glaube, wir haben gerade einen Wantenspanner verloren.« Schlagartig bin ich hellwach und stürze den Niedergang hoch. »Wir müssen die
Genua wegnehmen«, ruft Johannes mir zu. »Es darf kein Druck mehr auf dem Mast sein!« Vor unserer Abfahrt aus Cuxhaven hatte Johannes alle Wanten noch mal nachgestellt und meinem Vater Splinte und Tape in die Hand gedrückt, damit er sie sichern kann. Keiner von uns beiden hatte allerdings an die oberen Zwischenwanten zwischen dem ersten und dem zweiten Salingspaar gedacht. Alle Wanten hatten wir beim Maststellen vor ein paar Wochen nicht gesichert, weil wir sie vor der Abfahrt ja ohnehin noch mal nachstellen wollten. Und bis auf die Zwischenwanten haben wir das ja auch gemacht … In der Dunkelheit können wir den Wantenspanner nicht finden, der scheinbar über Bord gegangen ist. Das Zwischenwant baumelt in der Luft und dengelt bei jeder Welle gegen den Mast. Der Wind hatte zum Abend abgenommen, weshalb wir das Groß ohnehin schon weggenommen hatten, damit es in der Dunkelheit nicht zu sehr schlägt, und den Motor angemacht. Die Genua ist in Windeseile eingerollt. Johannes sagt kaum mehr was, und an seinen ständigen Blicken in den Mast merke ich, dass er sich Vorwürfe macht. »Das ist ein richtig, richtig dummer Fehler!«, platzt es irgendwann aus ihm heraus. »Unter anderen Bedingungen hätte uns das den Mast kosten können.« Mit einem Blick in die Seekarte legt Johannes unser Ziel neu fest. »England können wir knicken«, erklärt er. »Wir haben gerade Texel querab, aber da finden wir bestimmt keinen Ersatz für den Wantenspanner. Der hat ein spezielles Feingewinde.« Mit dem Motor gut zu erreichen ist allerdings IJmuiden in den Niederlanden. Dort gibt es eine sehr große Marina, und wir hoffen, dort fußläufig vielleicht ein endes Teil zu finden. Oder es dort zumindest bestellen zu können. Also verlassen wir im spitzen Winkel unseren Kurs und drehen nach IJmuiden ab, das wir nach 14 Stunden durch absolute Flaute motorend erreichen. Dort finden wir in einem Segler-Dorado tatsächlich einen enden Wantenspanner, nachdem Johannes erst mal probiert hate, ob nicht der Spanner von der Seereling t … und auch diesen direkt im Hafenbecken versenkt hat.
AUF DEN SPUREN DER HISCOCKS
Von Johannes
Zum ersten Mal haben wir nicht wirklich etwas zu tun. Kein Programm. Die Vorbereitungen, die Abfahrt, die Hatz nach IJmuiden und dann weiter nach Ramsgate, dort eine weitere Runde Arbeitscamp mit unseren Oberndorfer Nachbarn Bert und Marlene, die zufällig dort mit ihrem Schiff liegen und eine voll ausgestattete Werkstatt an Bord haben … Und nun sind wir auf uns allein gestellt. Wir können uns aussuchen, was wir machen. Ein verrücktes Gefühl. Und es soll noch Monate dauern, bis ich das permanente schlechte Gewissen der Faulheit ablege, das sich sofort meldet, wenn ich länger als fünf Minuten irgendwo herumsitze, ohne an irgendwas zu arbeiten. Am nächsten Morgen setzen wir Segel und bergen sie auch bald wieder, denn es herrscht absolute Flaute. Unter Motor ieren wir das wegen der Fähren berüchtigte Seegebiet vor Dover, das ich allerdings noch nie so wirklich schlimm fand. Der Strom schiebt. Eine neue App macht es so einfach wie nie zuvor, die Änderungen der Gezeitenströme in die Navigation einzurechnen. Zum Ende schiebt das Wasser dann aber wieder von vorn, und wir motoren in die Nacht hinein nach Brighton. Die Strömung setzt im Mündungsbereich des Hafens stark quer, doch es gelingt uns, ohne Schrammen an den Steg zu gehen. Über den Aluminiummasten der Yachten leuchtet hell und weit ein Stahlmast mit einem leuchtenden »M«. Das Restaurant »Zur goldenen Möwe«. Und ich habe Heißhunger auf einen Burger. Die Internetrecherche ergibt, dass der Laden sogar noch offen ist. Aber wie kommen wir hier raus? Denn ich erinnere mich vom letzten Mal noch an ein großes Tor im Yachthafen, durch das man nur mit einem Code gelangt. Normalerweise gibt es im Innenteil der Marinas immer einen großen Knopf, mit dem man die Tür entriegelt, aber hier findet sich nur eine Edelstahlplatte, auf die man offenbar eine Chipkarte legen muss. Wir rütteln an der Tür, aber kommen
nicht raus. Ich bin deprimiert: »Die Burger so nah, aber doch unerreichbar.« Also gibt es Nudeln und ein kaltes Bier. Am nächsten Morgen komme ich immer noch nicht aus dem Hafenbereich. Dabei muss ich doch beim Hafenmeister einchecken und bezahlen. Doch die Tür geht nicht auf, und ich habe keine Chipkarte. Irgendwann kommt ein anderer Segler, und ich warte darauf, dass er die Tür öffnet. Doch anstatt eine Karte auf die Platte zu legen, drückt er einfach mit dem Finger darauf. Eine Kontaktplatte! Wie blöd kann man sein … Am nächsten Tag soll es weiter zur Isle of Wight gehen. Als wir um 8 Uhr aufwachen, regnet es leicht. Der Wind heult über Deck. Das Schiff schaukelt in den Wellen von der Seite. Und wir haben beide nicht wirklich Lust, aufzustehen. Missmutig schauen wir uns an. Doch dann kommt mir eine Idee, die erst völlig abstrus scheint, aber doch Sinn ergibt: »Wollen wir einfach morgen weiterfahren?«, frage ich. Unfassbar, dass wir darauf nicht schon früher gekommen sind. Wann hatten wir die letzten Jahre den Luxus, einfach mal einen Hafentag einlegen zu können? Cati freut sich, dreht sich um und ist zwei Minuten später wieder eingeschlafen. Die nächste Etappe führt uns also nach Yarmouth. Dort bin ich gerade ein halbes Jahr zuvor gewesen, um die Nichte der Blauwasserpionierin Susan Hiscock zu treffen. Bereits in den 1930er-Jahren hatte deren Mann Eric erste Langfahrttörns rund Schottland und Irland unternommen. Doch mit der Hochzeit der beiden in den frühen 1940er-Jahren gingen die Abenteuer erst richtig los. Zwischen 1952 und 1955 umsegelten sie die Welt das erste Mal mit ihrer Holzyacht WANDERER III, ein zweites Mal von 1959 bis 1962. Ihre Reisen begannen und endeten in Yarmouth auf der Isle of Wight. Hier schrieb Eric in den Wintermonaten seine Reisegeschichten, die zu den ersten und meistverkauften der Segelliteratur gehören. Sein Buch Cruising under sail war ein Standardwerk für alle Langfahrtsegler. Später verkaufte das Paar sein Haus und lebte fortan nur noch auf seinen Schiffen WANDERER iv und WANDERER v. Ständig berichteten sie weltweit in den Segelmagazinen von ihren Reisen. Doch dann starb Eric 1986 mit 78 Jahren in Neuseeland. Susan konnte sich ein Leben auf dem Schiff ohne ihn nicht vorstellen und kehrte nach England zurück. Hier verlief sich die Geschichte. Ein Yacht-Leser hatte mir berichtet, dass Susan Hiscock die letzten neun Jahre ihres Lebens wieder in Yarmouth verbracht hatte, in einem kleinen Cottage
direkt am Hafen. Ich bekam Kontakt zu ihrer Nichte und buchte zwei Flüge, für meinen Lieblingsfotografen Andreas und mich. Per Auto fuhren wir von London nach Lymington und setzten mit der Fähre über nach Yarmouth. Dort öffnete uns die Nichte Janice Aslin die Tür zu einem Haus, in dem die Zeit stehen geblieben war. »Nach Susans Tod haben wir das Haus nur einmal im Jahr für einen Urlaub genutzt. Die übrige Zeit stand es leer und wir haben es so erhalten wie es zu Susans Zeiten war.« Ein unglaublich spannendes Erlebnis, diesen Lebensraum zu entdecken. All die Bilder, die ich aus den Büchern der Hiscocks kannte, hingen hier an der Wand oder klebten als Originale in den Fotoalben, die Janice aus Kisten kramte. »All die Bilderrahmen, die ein Loch im oberen Teil haben, waren an Bord einer WANDERER verschraubt«, erklärte sie uns. In einer alten Munitionskiste lagerten gut 20 Logbücher, beginnend in den 1930er-Jahren, in denen ich begeistert und mit vor Staunen offenem Mund blätterte. Geschichten aus längst vergangenen Tagen, teils über 40 Jahre vor meiner Geburt. Was mich faszinierte: Die Blätter waren alle schneeweiß, die Schrift sah aus, als hätte Eric seine Notizen gestern erst hier am Schreibtisch gemacht. Wenn ich die Eintragungen mit meinen verglich, irgendwo bei rauer See zwischen Reffen und Essenkochen ins Logbuch gepinselt … Erics Schrift war unheimlich akkurat. Keine Streichungen, keine Abrutscher mit dem Stift. Er musste hoch konzentriert vor dem Logbuch gesessen und genau überlegt haben, was er da zu Papier brachte. Ich war total überwältigt und wusste gar nicht, was ich zuerst anschauen, welche Seite ich aufblättern sollte. Ich schlug auf, wo die beiden an meinem Geburtstag gesegelt waren. Und was sollte ich alles fragen? Gut, dass Janice von sich aus erzählte wie ein Wasserfall und mein Tonbandgerät alles aufnahm. Völlig aus dem Häuschen war ich, als sie mich hinauf ins Schlafzimmer führte und unter dem Bett eine Kiste voller Seekarten herauszog mit den Kurslinien der diversen WANDERER. Darauf Ansteuerungen der Inseln der Karibik und noch interessantere Atolle im Pazifik. Wir erfuhren spannende Dinge über Susan und Eric, die in keinem Buch standen. Beispielsweise, dass Susan mit Mitte 70 in Yarmouth noch mit dem Jollensegeln begonnen und sogar mal eine Regatta gewonnen hatte. »Die meisten Leute kennen Eric nur von den Bildern in den Büchern, als alten, weißhaarigen Mann«, erzählte uns Janice. »Doch was kaum jemand weiß: Eric hatte schon als junger Mann weiße Haare. Er war ein Albino. Deshalb musste er auf den Segelreisen immer sehr aufen, nicht in der Sonne zu verbrennen.«
Wir checken beim Hafenmeister ein und erkunden den Ort, der vor etwa 900 Jahren gegründet worden ist. Er hat eine Menge zu bieten. Urige Pubs zum Beispiel, eine tolle Seebrücke und sogar ein altes Schloss von Heinrich VIII. Von Susan und Erics berühmtestem Schiff, der WANDERER iii, hängt im Yachtclub sogar noch ein Modell an der Wand – direkt neben den Medaillen, die die beiden für ihre fantastischen Abenteuer bekommen haben. In dem Bootsladen, in dem Eric in den 1950er-Jahren seine WANDERER iii ausgerüstet hat, kaufen wir zwei emaillierte Müslischalen. So was hat uns bisher auf See immer gefehlt. Und mich würde es nicht wundern, wenn genau solche Schalen auch schon bei Susan und Eric an Bord Verwendung gefunden hätten. Der Laden sieht nicht aus, als hätte er sein Programm in den letzten 60 Jahren geändert. Anschließend führt uns der Weg zur kleinen St James’ Church, die gerade Platz für etwa 80 Menschen bietet. Hier haben Susan und Eric 1941 geheiratet. Wir stellen uns vor, wie das wohl ausgesehen haben mag. Der nächste Morgen beginnt früh. Für die Mädels – wir haben Besuch von Catis alter Freundin Inga, die jetzt in Wales lebt – noch vor dem Aufstehen. Aber ich treibe meine Crew an, denn der Schlag nach Portland wird lang. Wir wollen und müssen Meilen machen. Wir haben den zweiten Oktober, und der Herbst kommt näher. Der Wetterbericht sieht mau aus. Also verholen wir gegen 9 Uhr an die Tankpier und füllen 60 Liter nach. Als ich die Maschine starte, fällt mein Blick auf den Separ-Filter mit seinem Schauglas, und ich bekomme einen Schreck: »Nein, nein! Wir haben Heizöl getankt! Der Filter verfärbt sich von Gelb auf Rot!« Schnell google ich nach den Einfärbungen des Sprits in den verschiedenen Ländern und finde heraus: Alles gut, Diesel in England ist rot. »Das wird ein Spaß, dem Zoll in Deutschland zu erklären, warum unser Sprit rot ist …«, sage ich. Aber das soll jetzt nicht unsere Sorge sein. Denn bis wir wieder zu Hause in Deutschland einlaufen, tanken wir sicher noch oft nach. Der Tag bleibt flau, und wir motoren. Die ganze Strecke. Inga bekommt ihre erste Stunde im Schiffsteuern. Denn Cati und ich machen das ziemlich ungern. Inga auch, wie wir schnell feststellen. Doch irgendwer muss ans Rad, solange kein Wind weht und wir nicht die Windsteueranlage anklemmen können. Unser elektrischer Radpilot funktioniert schon seit Brighton nicht mehr. Auch nicht bei glatter See. Klang nach Getriebeschaden, also habe ich das Getriebe abgebaut und mich bestätigt gesehen: Die Plastikzahnräder fielen mir einfach entgegen. Glatte See und Motorfahrt sind jedoch hervorragende Verhältnisse, um ein bisschen mit den GoPros zu spielen, die uns das Kamerateam mit auf die Reise
gegeben hat. Sie lassen sich sogar mit dem iPad verbinden und fernsteuern, cool. Nur unter Wasser funktioniert das WLAN natürlich nicht, was ich mir hätte denken können. Ein Selfiestick müsste her, um die Kamera mit ihrem extremen Weitwinkel vor das Boot zu bekommen. »So eine Idiotenantenne kaufst du dir auf keinen Fall«, verbietet mir Cati. Also muss ich erfinderisch werden und montiere die GoPro an eine lange Alustange, die irgendwie vom Bootsumbau übrig geblieben ist. Damit gelingen mir tolle Aufnahmen von der Bugwelle. Über den Hafen in Portland wissen wir genau so viel, wie in der Seekarte steht: ein Wort. Er ist von einer gigantischen Mole umgeben, die mehrere Seemeilen lang zu sein scheint. Mitten im Hafenbecken sind neun blaue Kreise zu sehen. »Jetzt erinnere ich mich«, rufe ich. »Bert hat von dem Hafen erzählt. Das ist ein alter Marinehafen.« Das macht Sinn. »Und die Mauer muss in der Tat gewaltig sein. Denn die Kreise, das sind Schwoikreise für Flugzeugträger.«
DARTMOUTH
Von Johannes
Die Sonne ist noch nicht zu sehen, als wir früh am nächsten Morgen lostuckern. Doch sie wird sich auch den ganzen Tag nicht blicken lassen. Es bleibt grau in grau. Typisch britisch. Dafür ist der Wind zurückgekehrt, und wir setzen gleich nach dem ieren des Leuchtturms am Portland Bill die Segel. Für Inga ist das der erste Segeltörn überhaupt. Und sie weiß noch nicht so recht, ob er ihr gefällt oder ob sie langsam seekrank wird. Hoch am Wind preschen wir quer über die große Bucht hinüber auf die andere Seite, zur Grafschaft Devon. Unser Ziel ist Dartmouth. Ein langer Ritt. Daher ist es fast 21 Uhr, als wir im Dunkeln in den Mouth des River Dart einbiegen. Erst sind wir uns gar nicht so recht sicher, dass es da irgendwo hineingeht, denn bis kurz vor dem Eingang liegt das Land als dunkler Haufen in unserem Norden. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragt Cati. Der Fluss und die Stadt waren vor langer Zeit Ausgangshafen für zahlreiche Entdeckerfahren und außerdem Stützpunkt der Royal Navy. Deshalb vermutlich so gut getarnt. Wir motoren an gewaltigen Felswänden vorbei, biegen um die Ecke, und plötzlich sehen wir die gelb beleuchteten Hä an den Berghängen kleben. Ein wahnsinnig schönes Bild. Auf der linken Seite erkennen wir schemenhaft die Umrisse des Dartmouth Castle, das um 1481 errichtet wurde, um die Flussmündung zu überwachen. Denn trotz der geschützten Lage war es den Franzosen im Hundertjährigen Krieg zweimal gelungen, die Stadt zu plündern. Wir hingegeben bekommen nach Inga erneut willkommenen Besuch: Unser Kamerateam kommt an Bord. Schon bevor uns die drei morgens um 8:30 Uhr die Hand schütteln, haben sie aus den Bergen eine Totale des Yachthafens gedreht und ein paar Details der Dampflok im Kasten, die alle paar Stunden neben dem Yachthafen hält. Das ist die normale Zugverbindung hierher nach Dartmouth, wo die Zeit ohnehin stehen geblieben zu sein scheint. Wir beginnen mit Aufnahmen einer Frühstückssituation im Salon der MAVERICK TOO, verlassen das Schiff und fahren mit der Fähre hinüber in die Altstadt. Das bedeutet Kameraaufnahmen vom Umfeld der Fähre, Details von einer Seerobbe,
die um die Fähre schwimmt, Aufnahmen, wie wir an der Fähre ankommen, wie wir die Gangway hinunterlaufen, wie wir an Deck der Fähre sitzen und bedächtig in die Ferne schauen … In Dartmouth schauen wir uns einen Andenkenladen an und spielen für die Kamera, dass Cati da gerne reinmöchte, ich aber lieber weiter. Wir besichtigen den Ort, an dem vor 400 Jahren die Pilgerväter mit der MAYFLOWER abgelegt haben, flüchten vor dem Regen in eine britische Telefonzelle und sitzen in einem Café und essen eine typische britische Pastries. Kurz vor Feierabend will Arne dann noch unsere Abfahrt nachstellen. Also Maschine an, Ölzeug auch, Leinen los. Wir tuckern bis zum Castle und setzen die Segel, um sie dann gleich wieder zu bergen und zu unserem Liegeplatz zurückzukehren. Am Abend kehren wir dann erschöpft von dem langen Tag im Regen in eine Fish-and-Chips-Bude ein. Alle Aufnahmen sind im Kasten. Punktlandung, denn bei mir kündigt sich eine Erkältung an. Ich bin erleichtert, dass ich das Tagesprogramm mit sonorer Stimme, rotziger Nase und tierischen Gliederschmerzen noch hinbekommen habe. Jetzt zieht der Körper einen Schlussstrich und sucht nach dem Druckabfall durch den Stress der letzten Monate und Jahre ein Ventil. Es war einfach alles zu viel gewesen. Mit dem Schiff in der Werft und einem alten Haus hatten wir über die vergangenen zwei Jahre zwei Baustellen: Das Haus sollte soweit hergerichtet werden, dass wir eine Wohnung vermieten könnten – und das Schiff bedurfte einer Grundüberholung, vor allem einer Osmosebehandlung. Es war eine Heidenarbeit. Soziale Kontakte waren während der ganzen Zeit auf null heruntergeschraubt. Während Cati eher die groben Aufgaben erledigte und nach dem Spachteln sowohl das komplette Unterwasserschiff als auch das Deck schliff, ging ich später über zu Zimmermannsarbeiten und Elektrik. Es wurde ALLES getauscht. Einzig Rumpf und der hölzerne Innenausbau blieben. Ein Neubau gefangen in einem GFK-Klassiker. Mein monatliches Gehalt hätte der Verlag auch direkt an die Ausrüster überweisen können. Aber selbst das hätte nicht ausgereicht, denn die Ausgaben waren immer viel höher als das Gehalt. Also musste ich mehr Geld verdienen. Noch eine Vortragstour über die Einhand-Atlantikreise. Inzwischen hatte ich über 170 Vorträge gehalten.
Doch ich war weiterhin ein schlechter Geschäftsmann, dankbar für jeden Euro. Später bekam ich in vielen Fällen heraus, dass andere Segler das doppelte Honorar herausgeschlagen hatten, weil sie sich besser verkaufen konnten. Leute, die viel langweiligere Reisen im Kielwasser hatten. Neben dieser Lebenserfahrung sammelte ich also eine Menge Autobahnkilometer. Einige Male nahm ich mir einen Tag frei, um abends einen Vortrag in München zu halten und verbrachte den ganzen Tag auf der Autobahn zu einem Land-RoverAutohaus. Nach dem Vortrag war ich um 22:30 Uhr wieder auf der Autobahn nach Norden, um 8 Uhr in Hamburg und um 9 Uhr im Büro. Jeder Euro zählte und war die kräftezehrende Tour wert. Es ist immer alles gut gegangen. Aber oft war die Klimaanlage auf dem Rückweg eiskalt eingestellt, damit ich nicht einschlafe. Die Abende in den Autohän, Dorfgemeinschaftshän, Kinos und bei Buchhändlern waren toll. Doch die Kohle reichte immer noch nicht. Also suchte ich mir noch mehr Nebenjobs und begann nachts für Profi-Segler Boris Herrmann zu arbeiten. Boris segelte damals zusammen mit einem Amerikaner ein Rennen nonstop um die Welt, das Barcelona World Race. Eigentlich sollte ich als nur dafür verantwortlich sein, Pressebilder in seine Website einzupflegen, ab und zu mal eine Meldung zu posten, die Boris während des Rennens an Bord seines Open 60 schrieb. Doch am Ende postete ich täglich eine Rennzusammenfassung mit Hintergrundinformationen, Wetterberichten, Aussichten, gepaart mit den Berichten direkt von Bord. Boris’ Tastatur war im Southern Ocean kaputtgegangen und viele Tasten lösten mehrfach aus. Eine Heidenarbeit, überflüssige Buchstaben auszumisten und daraus als Ghostwriter einen veröffentlichungsfähigen Text zu machen. Die Leser der Website und Fans von Boris waren begeistert von den täglichen Posts, bezeichneten mich als »dritten Mitsegler« an Bord. Und ich arbeitete doppelt: Nachts, üblicherweise bis 3 Uhr, schrieb ich neue Meldungen auf Boris’ Seite, tags darauf dann OnlineMeldungen darüber für die Yacht. Für 500 € im Monat.»Deine Entlohnung steht in keinem Verhältnis zur Leistung«, entschuldigte Boris sich wiederholt, »aber das Budget ist zu knapp.« Boris und sein Manager versprachen mir, mich später wieder zu engagieren und »vernünftig zu bezahlen«, sollte es eine Vendée Globe Kampagne geben. Mit dieser Aussicht gab ich mein Bestes. Doch als es Jahre später zu einem Vendée Globe Rennen kam, war Boris nicht dabei.
Ich suchte mir weitere Nebenjobs, übersetzte nachts Bücher, Schiffs-Exposés
und Pressetexte. Der Körper wehrte sich schon damals immer mehr gegen all den Stress und Schlafmangel. Zweimal war ich wegen rasendem Herzen beim Arzt. Ich war aufgebraucht, überarbeitet. Und dann forderte auch noch überraschend das Finanzamt Steuern für die Vorträge nach – ein Großteil des beiseite gelegten Geldes war wieder weg. Es schien immer hoffnungsloser, je wieder lossegeln zu können. Während vieler Mittagspausen saß ich in der Redaktion vor dem Rechner, las Blauwasserblogs und betete »Herr, lass mich so was nur noch einmal erleben.« Während der Pendelei im Zug schaffte ich es manchmal, ein Buch zu lesen. Eines fesselte mich: Adrift. Autor Tristan Jones sprach mir aus der Seele: Er ist gerade von einer tollen Reise zum Titicaca-See, die wegen politischer Unruhen viel Kraft gekostet hatte, nach England zurückgekommen. Seine kleine, 7 Meter lange SEA DART hat er per Frachter nach England geschickt Dort möchte er eigentlich nur das Schiff abladen und etwas Frieden unter Segeln finden. Doch der Zoll verlangt Einfuhrsteuern. Geld, dass der Mann nicht mehr hat. Also bleibt das Schiff im Zollhafen an der Kette, während Jones über den Winter als Kohleschipper bei Harrod’s Geld verdient. »Der hatte es wenigstens warm«, dachte ich. Denn wenn ich nach Hause kam, war das Haus kalt. Ich sparte Geld, schaltete im Winter die Dieselheizung tagsüber ab. Wenn ich um 20 Uhr nach Hause kam, dauerte es immer 1,5 Stunden, bis die Wohnung langsam durch den Holzofen aufgewärmt worden war. Um 23 Uhr ging ich ins Bett, weil ich um 6:45 Uhr schon wieder das Haus verlassen musste. Sinnlose, einsame Winter auf dem Land. Jones gelingt es irgendwann, mit Gelegenheitsjobs genug Geld aufzubringen, um sein Schiff zurückzubekommen und endlich wieder die Segel zu setzen. Für mich hoffte ich ebenfalls auf ein Happy-End. Ich wollte so gern los, aber war im Leben an Land mit all seinen Verbindlichkeiten gefangen. Deshalb wechselte ich oft das Thema, wenn wieder einmal jemand auf einer Bootsmesse oder nach einem Vortrag die immer gleiche Frage stellte: »Und, wann geht’s wieder los?« – Was sollte ich antworten? Die Wahrheit war: »Ich weiß es nicht.«
BAGUETTE UNTERM ARM
Von Johannes
Eine ganze Woche liege ich schwer grippig in der Koje. Draußen regnet es fast die ganze Zeit. Glücklicherweise bin ich kurz vor dem Besuch des Kamerateams noch in die Berge über Dartmouth zu einem Baustoffhandel gelaufen, wo ich einen Heizlüfter gekauft habe. Denn unseren hatten wir in Deutschland zurückgelassen. »Den brauchen wir ja bald nicht mehr«, hatten wir gemeint. Bei dem steilen Aufstieg kam ich gut ins Schwitzen und zog meine Jacke aus. Dabei muss ich meinem sowieso schon erschöpften Körper den Rest gegeben haben. Zurück an Bord, schnitt ich den britischen Stecker ab und befestigte einen deutschen. Immer gut, wenn man welche dabeihat. So liege ich nun eine ganze Woche lang unter Deck in der Wärme des Heizlüfters und kuriere meine Grippe aus. Und schaue gleichzeitig immer neugierig aufs Wetter, obwohl es das Internet schwierig macht. Wir haben kaum Empfang an Bord. Also finde ich endlich Gelegenheit, die WLAN-Antenne von Lunatronic fertig zu installieren, die schon auf dem Mast montiert ist. Außerdem löte ich das Radarkabel zusammen und ziehe alle Litzen anschließend einzeln durch eine Schale mit Sikaflex. So werden die Verbindungen wasserfest versiegelt. Beim Testlauf zeigt der Radarschirm ein gestochen scharfes Bild. Sehr schön! Arne hat uns aus Deutschland auch ein Reservegetriebe für den Autopiloten mitgebracht. Mal sehen, wie lange das Ding hält. Ein großes Wetterfenster, das uns eine Überfahrt nach Spanien ermöglichen würde, ist nicht zu erkennen. Aber immer wieder kleinere Fenster. Also überrasche ich Cati eines Tages mit einem neuen Plan: »Übermorgen gibts Baguette zum Frühstück.« Camaret-sur-Mer klingt irgendwie romantisch und sieht auf der Karte und den Bildern im Internet auch so aus. Und es ist nur 145 Seemeilen entfernt. Eigentlich wollten wir Frankreich auslassen, aber wenn es nicht anders geht, dann segeln wir halt erst mal dorthin.
Für die Überfahrt ist strammer Nordwind angesagt. 4 bis 5 Beaufort. Gegen 11 Uhr werfen wir die Leinen los, setzen noch im River Dart die Segel und rauschen aus der Flussmündung hinaus auf die offene See. Das Schiff rennt. 7 Knoten, 7,5 Knoten. Das Groß ist zweifach gerefft, die Genua steht voll. Ich fühle mich nicht wohl, denke übers Reffen nach. Aber dann denke ich: »Was soll ieren? Alles ist brandneu und überdimensioniert!« Ein vollkommen neues Gefühl für mich, so ein frisch überholtes Schiff zu segeln, bei dem man sich keine Gedanken um Materialversagen machen muss. Also lasse ich MAVERICK TOO laufen. Hinüber nach Frankreich. Der Wind kommt von schräg achtern und MAVERICK TOO kommt immer wieder ins Surfen. Mir macht das Spaß, aber Cati eher weniger. Sie liegt in der Steuerbordkoje und es geht ihr ziemlich elendig. Ich verbringe den Großteil des Tages an Deck und friere in der kalten Oktoberluft. Irgendwann raffe ich mich auf und koche mir unter Deck eine Tasse Brühe, um mich aufzuwärmen, und spreche einen Kommentar für unser Videotagebuch: »Es ist doch wirklich unfassbar, wie anders das Leben hier auf See ist. Wir könnten jetzt warm und trocken in unserem Haus vorm Kamin sitzen und den dampfenden Atem der Kühe auf dem Deich beobachten. Stattdessen sitze ich hier und dampfe selber mit meinem Atem. Ich komme mir vor wie ein Obdachloser, versuche mich halbwegs trocken und warm zu halten und erfreue mich an meiner wärmenden Brühe. Eigentlich sollte ich mich fragen: Warum tun wir uns das eigentlich an?« Nach einer harten Nacht sitze ich, als die Sonne aufgeht, mit einem heißen Kaffee in der Plicht und sehe die französische Küste am Horizont. Dann sind die ersten Fischer zu erkennen. Die Sonne wärmt mich, und es ist ein wunderbarer Morgen. Erst als wir in der Ansteuerung von Camaret-sur-Mer sind, kommen bei Cati langsam die Lebensgeister zurück. Sie schaut zumindest schon mal unter der Sprayhood hervor, wird aber noch fast 24 Stunden mit den Nachwehen der Seekrankheit zu kämpfen haben. Ich mache mir zunehmend Sorgen, dass ihre Seekrankheit ein großes Problem werden könnte. Ich habe früher auch immer etwa eine Woche gebraucht, um mich an die Bewegungen zu gewöhnen. Aber das sollte bei Cati dann längst vorbei sein, und ich befürchte langsam, dass sie zu den Personen gehört, die ihre Seekrankheit nie ganz verlieren. Cati sorgt sich ebenfalls und fühlt sich zusätzlich mies, dass ich nun seit bereits 806 Seemeilen als Einhandsegler unterwegs sein muss.
»Du kannst ja zum Hafenmeister laufen und uns schon mal anmelden«, schlage ich vor, als wir längsseits am Steg liegen und die Leinen fest sind. »Wie jetzt, ich?«, fragt Cati. »Na klar. Du hast doch mal Französisch in der Schule gehabt. Wie lang, drei Jahre?« »Vier sogar«, antwortet sie. »Aber ich weiß NICHTS mehr.« 20 Minuten später ist Cati zurück und strahlt übers ganze Gesicht. »Na siehste, hast wohl doch noch was gewusst«, sage ich. »Ja. Ich konnte sie immerhin noch fragen, ob sie Englisch spricht. Und das tut sie«, lacht Cati. Der Heizlüfter brummt, ich sitze am Kartentisch, und plötzlich meldet sich das Handy. Unser alter Freund Uli Schürg ist am Telefon, ein Bootshändler aus Bremen. »Hallo, Johannes! Ich habe eure letzten Blogeinträge verfolgt und mitgefiebert«, sagt er. »Und ich hab gelesen, dass Cati so schwer mit Seekrankheit zu kämpfen hat. Probiert doch mal Rodavan aus. Wir hatten auch ein paar Fälle von Seekrankheit bei uns in der Familie. Seitdem heißt es: ›Ohne Rodavan will ich nicht fahrn.‹« Dieser Tipp wird Catis ganzes Leben an Bord für immer verändern. Sofort google ich danach und finde Rodavan S Grünwalder mit dem Wirkstoff Dimenhydrinat. Den kennen wir bereits aus den Superpep-Kaugummis, die Cati jedoch nicht so mochte, da sie schnell bitter schmecken und die Zunge lähmen. Außerdem mag sie kein Kaugummi kauen, wenn ihr Magen rebelliert. Doch Rodavan enthält die zweieinhalbfache Menge des Wirkstoffs und ist eine Tablette. »Die sind im Magen und bleiben dann auch drin«, schlussfolgere ich. Rodavan gibt es in Frankreich nicht, aber wir finden im Internet heraus, dass das französische Äquivalent Mercalm heißt. Das haben die Skipper der Vendée Globe offenbar auch an Bord. Es enthält die gleiche Menge Dimenhydrinat wie Rodavan, aber zusätzlich noch zehn Milligramm Koffein, da Dimenhydrinat offenbar etwas müde macht. Am nächsten Morgen gehen wir zur Apotheke und kaufen eine Packung Mercalm. Wir sind gespannt. Auf dem Rückweg kaufen wir eine große Stange Baguette, die ich mir demonstrativ unter den Arm klemme. »Jetzt fallen wir hier als Touristen weniger auf«, lache ich. Eine ganze Woche liegen wir aufgrund von Starkwind in Camaret-sur-Mer fest. Schön ist das nicht, denn hier ist schon Nebensaison: Alle Geschäfte dicht, und die Duschen kalt. Umso begeisterter sind wir, als sich endlich die Möglichkeit zur Weiterreise ergibt. Das Meer soll sehr ruhig sein, 1,20 Meter Welle. Leider aber nur sehr leichter Südwind. »Aber das sollte reichen, um hoch am Wind über das Kontinentalschelf zu kommen, bevor Wind und Wellen wieder zunehmen«,
erkläre ich Cati. Denn dort steigt der Meeresgrund von 4.500 Meter Tiefe auf 100 Meter Tiefe. Die Wellen, die zigtausend Seemeilen weit Anlauf hatten, um sich im Atlantik aufzubauen, stolpern dort häufig und brechen. Deshalb sollte man in diesem tückischen Revier nur dann unterwegs sein, wenn das Wetter stabil ist und die Wellen moderat sind. Am zweiten Tag soll der Wind laut Wetterbericht dann zurückkommen, mit 4 bis 5 Beaufort. Und für den dritten Tag ist dann für die letzten 100 Seemeilen vor der spanischen Küste wenig Wind angesagt, während es im Norden der Biskaya weiterhin ordentlich weht. »Besser einen großen Teil bei Flaute über die Biskaya motoren, als im Sturm da drüberzubügeln«, erwidert Cati.
MORGEN FRÜH SITZEN WIR BEI CAFÉ CON LECHE …
Von Johannes
Als wir die Leinen loswerfen, ist es draußen noch stockdunkel. Das Wetter hat sich wie angekündigt beruhigt. Dafür sollen die 4 bis 5 Beaufort nun schon am Abend kommen, nicht erst morgen. Doch wir wollen es trotzdem wagen. Besser wird das Wetter in nächster Zeit eh nicht. Es ist immerhin schon Ende Oktober. Eine Jahreszeit, in der eine zehn Meter lange Yacht in diesem Seegebiet eigentlich nichts mehr zu suchen hat. »Jetzt erst mal zum Eingewöhnen hoch am Wind bei schwacher Brise«, erkläre ich Cati, »und dann wird es heute Abend ein bisschen schaukelig, wenn wir gegenan bolzen.« Beim ersten Kaffee hole ich die Kamera heraus und nehme ein kurzes Statement auf. Cati gähnt in die Linse, sieht aber ziemlich angespannt aus. »Im Grunde mache ich mir ein bisschen Sorgen wegen der Biskaya«, sagt sie. Und ergänzt: »Ich find’s immer so doof, wenn nachts so viel Wind kommt. Aber ich freu mich auf Spanien. Heute Nacht hatten wir schon wieder eine Tropfsteinhöhle de luxe hier in der Kajüte.« Wir können es wirklich kaum abwarten, dass es endlich wärmer wird. Also legen wir bedrückt und voller Sorgen vor dem, was da kommen wird, ab. Doch wir sind zuversichtlich, dass das Ziel die Mühen wert sein wird. Der Diesel schiebt uns munter gen Südwesten, genau auf La Coruña zu. Der Wind ist deutlich schwächer als erwartet. Aber das ist uns egal. Wir haben genug Diesel dabei, um notfalls bis La Coruña durchzumotoren. Kaum haben wir die Küste verlassen, begleitet uns eine Schule Delfine hinaus aufs offene Meer. Cati ist völlig aus dem Häuschen. »Guck mal, wie viele das sind!«, schreit sie und klettert mit Schwimmweste und angeleint aufs Vorschiff. Bisher hat sie sich noch
nie auf See aufs Vorschiff getraut. Und nun sitzt sie auf dem Bug und schaut den Tieren dabei zu, wie sie mit der Bugwelle spielen und sich immer wieder auf die Seite drehen. »Die schauen mich an. Hast du gesehen, dass die mich immer anschauen?«, staunt sie. Ab und zu vollführt einer sogar einen hohen Sprung aus dem Wasser. Cati applaudiert und hat Tränen in den Augen. Sie jubelt: »Das ist der allerschönste Tag meines Lebens …« Lange schwimmen die Tiere mit uns mit. Doch als die Sonne untergeht, machen sie sich wieder davon. Wir tuckern immer noch unter Diesel in die Nacht hinein, haben schon über 60 Seemeilen im Kielwasser. Sogar der Autopilot steuert ganz brauchbar, genau aufs Ziel zu. Doch dann frischt der Wind ganz plötzlich auf. Nicht so, wie angekündigt, sondern südlicher. Genau auf die Nase. An Kreuzen denke ich nicht. Denn wenn der Wind auf 4 bis 5 Beaufort aufbrist, wird sich schnell eine hohe Welle aufbauen, die auf dem Kontinentalschelf verhängnisvoll werden kann. Also lasse ich den Diesel weiterlaufen und das Groß im zweiten Reff und dicht geschotet stehen, um das Schiff gegen das Rollen zu stabilisieren und noch einen halben Knoten mehr rauszuholen. Nach 24 Stunden erreichen wir schließlich wie geplant das Kontinentalschelf. Keine Minute zu früh, denn der Wind legt schlagartig zu, und die Wellen beginnen, stetig zu wachsen. Natürlich setzt auch noch die Tide gegen die Wellen. Gewaltige Brecher, die das Schiff durch die Gegend werfen. Zehn Meter Schiffslänge sind wirklich nicht viel. Cati, die den ersten Tag der Reise seekrankheitstechnisch hervorragend hinter sich gebracht hat, wird es mulmig. Sie bekommt daher sicherheitshalber Bettruhe verordnet. Selbst mir wird angesichts der Wellenberge schlecht. Es ist ein Kampf, das Schiff trotzdem auf Kurs zu halten. Der Wind kommt schräg von vorn, wir segeln hoch am Wind, und immer wieder fühlt es sich an, als würde jemand mit einem C-Rohr auf dem Vorschiff stehen und mich bei jeder Kursänderung ins Visier nehmen. Nass, salzig, kalt. Zum Glück steuert die Windsteueranlage hervorragend, aber trotzdem muss ich immer wieder raus, um die Segelfläche zu verkleinern, zu vergrößern und den Kurs zu justieren. Der Wind raumt und schralt in den Böen. Zwischendurch verkrieche ich mich in meiner Koje, immer das AIS im Blick und jede Viertelstunde ein Rundumblick draußen. Cati ist zu schlapp, um mir eine Wache abzunehmen, und ich habe Angst, sie rauszulassen. Mittlerweile fegen 7 Beaufort über uns hinweg. Zwei Stunden lang drehen wir sogar bei, um Kräfte zu sammeln und ein bisschen Ruhe ins Schiff zu bringen. Dann geht es
weiter, in die zweite Nacht hinein. Erst am Mittwochmittag beginnt der Wind abzuflauen, und wir nähern uns der spanischen Küste. Die Sonne kommt heraus, und ich kann sogar das zweite Reff herausnehmen, wieder die volle Genua setzen. Mit 7 Knoten jagen wir dem Ziel entgegen. Cati sitzt an Deck in der Sonne und ich kann zwei Stunden in die Koje gehen. Eine Nacht noch, dann liegt Spanien endlich vor unserem Bug. Die vergangenen fünfeinhalb Wochen seit dem Start in Deutschland waren wir permanent auf der Flucht vor dem Herbst und haben immerhin 1.100 Seemeilen zurückgelegt. Nun endlich sollen wir den ewigen Sommer erreichen. Tagestörns, Buchtenbummeln und kein Meilenreißen mehr. Und wir sind wieder im Zeitplan, um rechtzeitig zur atsaison über den Atlantik zu kommen. Doch in der dritten und letzten Nacht auf See ist der Wind plötzlich weg, 30 Seemeilen vor La Coruña. »Kein Problem«, denke ich. »Wir haben ja vollgetankt.« Die Maschine startet sofort und ohne Probleme, ich kuppele den Gang ein, und schon laufen wir bei 5,5 Knoten Marschfahrt dem Ziel entgegen. »ETA 8 Uhr«, verkünde ich. »Morgen früh sitzen wir in La Coruña an der Promenade und trinken Café con leche.« Keine Minute später kommt Qualm aus dem Maschinenraum. Bevor ich den Motor stoppe, versuche ich noch schnell in den Nebelschwaden den Fehler zu finden. Ich kann es kaum fassen: Der Kühlwasserschlauch für das Seewasser liegt neben dem Stutzen am Getriebe. Also sind wir ohne Kühlwasser gefahren. Er muss kurz nach dem Start abgerutscht sein, denn zu Beginn kam das Kühlwasser noch wie gewöhnlich aus dem Auspuff gesprotzt. Ich montiere den Schlauch wieder, zweiter Versuch. Doch wieder Nebelschwaden. Dann erst wird mir das ganze Ausmaß des Unglücks bewusst: Die heißen Abgase haben den oberen Teil des Wassersammlers geschmolzen, sodass Kühlwasser und Abgase vom Motor ins Schiffsinnere gepumpt werden. Wir können die Maschine nicht mehr benutzen, ohne das Boot zu füllen und zu vernebeln. Bis zum Ziel sind es nur noch 30 Seemeilen. Eine Tagesetappe für einen Ostseesegler. Aber zugleich eine Distanz, die bei fast null Wind Tage dauern würde. Ich setze wieder Segel und beginne, im Dunkeln zu kreuzen. Bis 4 Uhr morgens schaffe ich es, zwei Seemeilen zurückzulegen, dann überwältigt mich die Müdigkeit. Cati übernimmt das Steuer, kreuzt weiter. Doch sie hat mehr Pech. Die Tide schiebt uns zurück hinaus auf die Biskaya. Als ich eine Stunde
später wieder wach werde, sind wir die Hälfte der mühselig erkämpften Distanz wieder zurückgetrieben. Das Schiff rollt in den immer noch hohen Wellen von einer Seite auf die andere, es scheppert und knarzt. Die Segel wollen gar nicht mehr stehen. Zum Glück haben wir schon wieder Handyempfang, also schnell einen Wetterbericht abrufen. Sehr ernüchternd. Drei Tage Flaute werden vorhergesagt, die gleichen Bedingungen wie jetzt. Keine Chance, voranzukommen, und der Wassersammler ist irreparabel kaputt. Gefrustet sitzen wir im Cockpit. »Wir brauchen einen Schlepper«, ist unser Fazit. Doch woher nehmen? Google findet nichts. Einige per SMS kontaktierte Freunde wissen auch keinen Rat. Die Küstenwache? »Ich könnte das MRCC in Bremen anrufen«, schlage ich vor und erschrecke zugleich vor meiner Idee. Ich habe auf See noch nie Hilfe von außen in Anspruch nehmen müssen. Und ist das hier denn ein Notfall? Wir sind ein Segelschiff und könnten ja segeln. »Aber die nächsten drei Tage ist doch absolut kein Wind vorhergesagt«, wirft Cati ein. »Wie sollen wir da an Land kommen?« Guter Einwand. Außerdem treibt uns die Tide wieder raus. Jetzt haben wir gerade noch Handyempfang, später nur noch die EPIRB. Aber gleich ein Rettungsboot? Ein Schlepper würde doch reichen. Vielleicht können die Leute in Bremen auch Auskünfte erteilen und einen Schlepper vermitteln. Es gibt keine andere Wahl. Also wähle ich die Nummer, die ich sicherheitshalber im Handy gespeichert habe. Und ehe wir uns versehen, ist ein Rettungsboot verständigt. Schlepper gibt es hier laut Auskunft nicht. »This is SALVAMAR SHAULA. Speaking spanish, eh?«, knarzt es aus dem UKW-Gerät. Der Empfang ist schlecht. Der Sender muss noch weit weg sein. »Buenos días«, antworte ich und ergänze gleich, »unfortunately not.« Der erste Kontakt mit den Spaniern – und es ist ein Rettungsboot. Ein mulmiges Gefühl im Magen. »We are coming«, rauscht es zurück. »One hour.« Sie kommen. Cati und ich sitzen in der Kajüte und versuchen, uns festzuhalten. Cati in der Naviecke, ich über den Kartentisch gelehnt, während unser Schiff in den drei Meter hohen Wellen ruckartig von einer Seite auf die andere geworfen wird. Schapps fliegen auf, Dinge poltern durch die Gegend. Kein Wind, der das Schiff mit gesetztem Großsegel stabilisiert. Es herrscht absolute Flaute. Der Ozean ist genauso still wie wir, doch vom Atlantik rollt noch die alte, hohe Welle durch, die am Tag vorher vom starken Wind aufgebaut wurde. Keiner wagt, ein Wort zu sagen. »Es kann sein, dass die Reise hier schon zu Ende ist«, fange ich an und drücke aus, was uns beiden durch den Kopf geht. Cati nickt
stumm, mit Tränen in den Augen. »Dann ist es halt so«, antwortet sie. »Es war die richtige Entscheidung.« Ich kann nur ein leichtes, gezwungenes Lächeln hervorbringen. Meine Augen sprechen eine deutliche Sprache. Ich bin niedergeschlagen. 30 Minuten später geht die Sonne auf. Das AIS läutet, Kollisionskurs. Die SALVAMAR SHAULA brettert mit 27 Knoten auf uns zu. Am Horizont ist sie wenige Minuten später zwischen den Wellenbergen zu erkennen. Und dann steht sie, die Schleppverbindung. Die Männer sind Profis, das merkt man. Vor allem der Skipper. Behutsam zieht er mit seinen 2.800 PS die 100 Meter lange Leine stramm. Ohne Rucken nimmt MAVERICK TOO Fahrt auf. Wir laufen gen Hafen. Es wäre zu schön, wenn man uns nach La Coruña schleppen würde – doch das können wir nicht erwarten. Da die spanischen Seenotretter kaum Englisch sprechen, erfahren wir überhaupt nicht, wo es hingeht. Zweieinhalb Stunden lang werden wir mit 7 Knoten an der fantastischen Kulisse der spanischen Felsküste entlanggeschleppt. Felsen, denen wir ohne Maschine und Wind nicht zu nahe kommen möchten. Schließlich werden wir längsseits genommen, in den kleinen Fischerhafen Cariño gebracht und an der Berufs-schifffahrtspier festgemacht. Die Leiter hinauf ist vier Meter lang, und die Salinge schwingen immer wieder bedrohlich nah an die Kaimauer. Wir bringen unsere vier Fender aus, um MAVERICK TOO so gut wie möglich zu sichern. Aber bei dem Schwell durch die Fischerboote rutschen sie immer wieder weg. Der Schlepperkapitän steht kurz darauf an der Pier und möchte mit mir den Papierkram erledigen. Die Versicherungsnummer braucht er. Ein wunder Punkt, denn ich weiß nicht, ob MAVERICK TOO hier noch versichert ist. Ich habe etwas von »nicht südlicher als La Rochelle« aus den Kaskovereinbarungen in Erinnerung. Die Kommunikation ist nicht einfach, denn der Kapitän versteht ja kein Englisch, ich kein Spanisch. Was denn eigentlich kaputt sei, will er wissen. »Was heißt denn Wassersammler auf Spanisch?«, überlege ich und versuche, mit Händen und Füßen die Verbindung zwischen der Maschine und der Abgasanlage darzustellen. »Agua« ist klar. Mit einer Fließbewegung mache ich den Lauf des Kühlwassers durch die Maschine klar. »Fumar« verbindet sich mit dem »Agua«. Er scheint zu verstehen. »Un momento!«, winkt er und greift zum Handy. »Maquinista!« Fünf Minuten später stehen die beiden Mechaniker seines Rettungsbootes vor
MAVERICK TOO und halten unseren geschmolzenen Wassersammler in den Händen, wenden ihn und schauen in das verkohlte Ende. Dann hat der eine Idee. »Fontanero!«, ruft er. Ich verstehe nicht. Er macht Schraubbewegungen, formt Rohre. »Ehh … you know Super Mario?«, fragt er. Der ist Klempner. Ein Klempner! Das ist die Idee! Handys werden gezückt. Während der Wartezeit unterhalten wir uns über den kleinen Fischerort, das Leben dort und unsere Reise. Keiner spricht die Sprache des anderen, aber mit viel Lachen, Händen und Füßen ist die Sprachbarriere verschwunden. Einige Zeit später rollt ein Lieferwagen heran, den Laderaum voll mit PVC-Rohren. Schnell haben wir ein Rohr gefunden, das die richtigen Maße hat. Mit einem Gasbrenner wird es weich gemacht und in den Wassersammler einget. Das sollte funktionieren. Die Wasserrohre müssen schließlich auch kochendes Nudelwasser abkönnen. »Was schulde ich euch?«, versuche ich mit dem internationalen Zeichen zweier sich reibender Finger zu fragen. »Testing«, kommt als Antwort, und kurz darauf probieren wir tatsächlich, wie viele Crewmitglieder des Rettungskreuzers in MAVERICK TOOS Maschinenraum en. Es wird wieder gefummelt, heiß gemacht und anget. Sogar der Kapitän bleibt da, will zuschauen, ob die Lösung funktioniert. Schließlich ist unser Provisorium gebaut. »Nicht für ewig, nur zur Überführung«, erklärt man mir. Klar, ich will ja nur in die nächste Marina. Hier an der Pier müsste ich in der Nacht jede Stunde die Leinen verlängern, damit wir uns nicht aufhängen. »Fünf Meter Tidenhub«, hat mir die Crew erklärt. Die nächste Marina in der Zivilisation liegt 17 Seemeilen entfernt im Osten, in Viveiro. Das sollte doch zu schaffen sein. Aber da wäre noch die Bezahlung der Rettungsaktion. »¿Cuánto cuesta?«, versuche ich, die Summe in Erfahrung zu bringen. »1.443 €!« Und die Versicherungsnummer braucht er immer noch. »Das zahle ich selber«, sage ich und schlucke. Der Kapitän ist verblüfft, nimmt mich mit in sein Büro und kontaktiert erst mal das Hauptquartier, denn er hat vergessen, wie das Kreditkartengerät funktioniert. Privatzahlung, das kam lange nicht mehr vor. Schließlich spuckt der Drucker die Quittung aus. »For insurance«, sagt der Kapitän. Na ja, mal sehen. Wir schütteln uns die Hände, man klopft mir auf die Schulter und sagt, ich solle gut aufen. Dann laufe ich zurück zur MAVERICK TOO. Schnell weiter, endlich zu einem richtigen Hafen, in dem wir sicher liegen. Endlich schlafen. Kurz hinter der Hafeneinfahrt wird die Maschine jedoch wieder zu heiß. Wir kehren um, lassen uns treiben, bis die Maschine wieder abgekühlt ist, und laufen
erneut in Cariño ein. Als wir in der Abenddämmerung an der hohen Kaimauer anlegen, kommt uns die Crew des Rettungsbootes samt Skipper schon entgegen, in Ausgehuniform. »¿Problema?«, fragen sie. Ich erkläre die Lage und dass wir noch eine Nacht bleiben müssen. Der Kapitän überlegt kurz, telefoniert und hat dann eine Lösung: »Geht doch an meinem Schiff längsseits. Wenn wir heute Nacht nicht rausmüssen, könnt ihr endlich mal durchschlafen und braucht keine Leinen zu verändern.« Was für ein unheimlich nettes Angebot! Wir verholen und fallen nach dem Abendessen sofort todmüde in die Koje. Doch eine Sorge drückt noch: Morgen früh landet das Kamerateam vom ZDF und will mit uns drehen. Ich habe ihnen zwar schon geschrieben, dass wir hier bei den Seenotrettern längsseits liegen und es ziemlich blöd wäre, wenn sie hier auftauchten. »Kein Problem«, meinte der Regisseur. »Dann können wir die gleich interviewen. Der Kameramann kann hervorragend Spanisch!« Doch uns ist das unangenehm. Vor allem kommen wir dann nicht weiter mit dem Schiff und dem Motorproblem. Deshalb sage ich dem Filmteam, dass wir uns morgen um 11 Uhr in Viveiro treffen. Am nächsten Morgen klingelt der Wecker um 6:30 Uhr. Um 7 Uhr schalte ich das Handy ab und baue bei einer Tasse Kaffee den gesamten Kühlkreislauf der Maschine auseinander. Impellerpumpe, Wärmetauscher, alle Schläuche. Sogar das Seeventil. Alles in Ordnung. Eigentlich fiele bei einer Überhitzung ja sofort der Verdacht auf das Thermostat, aber da der Wassersammler im Seewasserkreislauf zu heiß geworden ist, muss es ja an der Seewasserzufuhr liegen. Oder war es eine Kettenreaktion? Inzwischen wird es hell. Ich versuche es, baue das Thermostat aus und werfe es in einen Topf mit kochendem Wasser. Bei 74 °C sollte es öffnen, das Wasser hat 100 °C. Keine Reaktion. Ich kann es kaum fassen. Das Thermostat ist tatsächlich kaputt. Das ist die Lösung! Als ich die Maschine angemacht habe und sie auf Temperatur kam, hat das Thermostat den großen Kühlkreislauf nicht geöffnet. Dadurch ist die Maschine zu heiß geworden, der Kühlwasserschlauch des Seewassers ist weich geworden und dann vom Anschlussstutzen gerutscht. Das Abgas wurde nicht mehr gekühlt, und der Wassersammler ist geschmolzen. Völlig logisch. Ein Testlauf von über einer Stunde lässt die Motortemperatur bis auf 70 °C steigen. Kein Grad wärmer. Es funktioniert. Wir verabschieden uns bei unseren Seenotrettern mit drei Dosen Bier und einer Flasche Osteland-Aquavit aus unserem Heimatdorf und schauen in freudige Gesichter. Dann geht es los. Mit offener Motorluke und zehnminütlichen Temperaturkontrollen tuckern wir durch die bleierne Flaute
hinaus aus der Bucht, vorbei an der pittoresken Felsküste. 4,5 Knoten Fahrt, mehr möchte ich dem Provisorium nicht zumuten. Doch die Abgasanlage aus Regenrohren hält stand, und nach vier Stunden Fahrt erreichen wir die Marina in Viveiro. Das Kamerateam hat uns auf halber Strecke aus den Bergen heraus entdeckt und mit dem Teleobjektiv gefilmt. Dabei entstehen fantastische Aufnahmen. Die windige Biskaya ist längst vergessen, doch erst mit der Ankunft fällt die Last der vergangenen Tage wirklich ab. Es ist gut, an einem sicheren Steg zu liegen. Nur die Belastung der Kreditkarte liegt noch schwer im Magen. Wieder solch eine große Summe. Doch beim Archivieren der Hafenquittung fällt mir die Pantaenius-Police in die Hand, und ich kippe fast aus den Latschen: Ich habe mich geirrt. Der Versicherungsschutz schließt die gesamte europäische Küste ein, mit Ausnahme des Seegebiets nördlich von Bergen. Ist das tatsächlich wahr? Zwei Stunden nach meiner Mail an die Versicherung kommt bereits eine Antwort: »In Deutschland ist ›Hanseboot‹, deshalb finde ich die Mail erst jetzt. Das Abschleppen zahlen wir. War genau richtig, was ihr gemacht habt. Können wir sonst noch was tun?« Eine kurze Mail, die so viel ausmacht: Unsere Reise kann weitergehen!
VIVEIRO – GALICIEN FÜR LIEBHABER
Von Johannes
La Coruña ist bekannt. Aber nach Viveiro verirrt sich hingegen kaum ein Mensch. Schade eigentlich, denn der kleine Fischerort ist toll, um nach einer anstrengenden Biskaya-Überquerung Kräfte zu sammeln. Die Liegegebühren sind günstig, die Altstadt ist wunderschön, das Internet schnell und die Bäder hervorragend. Es gefällt uns hier. Und das ist auch gut so, denn es wird fast vier Wochen dauern, bis wir weiterkönnen. Die ersten Tage verbringen wir damit, das Schiff aufzuklaren. Wieder sind mehrere Lecks an Deck aufgetaucht, die eine Menge Wasser ins Innere gelassen haben. Polster, Bezüge, Decken, Bettzeug – alles nass. Da es in der Marina keine Waschmaschine gibt, kramen wir die von Burghard Pieske geliehene Kurbelwaschmaschine aus der Hundekoje und waschen wie zu Großmutters Zeiten. Schnell lernen wir unsere deutschen Stegnachbarn Ulrike und Norbert kennen. Die beiden wohnen einen Großteil des Jahres auf ihrem Stahlschiff PALOMA und sind eher gemächlich unterwegs. Vor vier oder fünf Jahren sind sie in Deutschland gestartet, dachten sich aber, dass sie erst mal die Ostsee richtig kennenlernen müssen, bevor sie woanders hinsegeln. Eigentlich wollen sie nach Griechenland, machen sich aber Sorgen, ob sie das noch schaffen: »Wir haben nur noch acht Jahre Zeit.« Die beiden sind zu beneiden. Die beiden laden uns ein, mit ihnen am Abend durch die Innenstadt zu laufen, ein paar Bier zu trinken und was zu essen. Bisher waren wir selten auswärts essen, um Geld zu sparen. Aber das kann man sich in Spanien – und vor allem nach Überquerung der Biskaya – ruhig einmal gönnen. Also landen wir am Marktplatz in einer typisch galicischen Kneipe. Das Standardgericht dort sind … Burger! Wir bestellen jeder einen und Cati und ich auch je eine Portion Pommes.
Die Kellnerin fragt: »Seid ihr sicher? Wollt ihr nicht lieber nur eine?« Wir nehmen daher nur eine und sind froh darüber. Denn die Schüsseln sind riesig. Davon hätten wir auch zu dritt essen können. Und das Schöne: Für zwei Burger, Pommes satt und ein paar Bier reicht ein Zehneuroschein, Trinkgeld inklusive. So gefällt uns Spanien, fernab der Touristenecken. In Deutschland sind unsere Nachbarn und Freunde Bert und Marlene inzwischen dabei, die nötigen Ersatzteile für unser Boot zu organisieren und nach Viveiro zu schicken. So genießen wir die Zwangspause. Cati liest viel, und ich beginne einen Artikel für die Yacht mit dem Titel »Wann wirds denn endlich schön?«. Ein Bericht über die Aufs und Abs der ersten 1.000 Seemeilen bis Spanien. Denn es ist ja auch wirklich viel schiefgelaufen. Vor allem das Wetter hat uns oft ausgebremst. Immer wieder habe ich Cati versprochen: »Wenn wir da und da ankommen, dann ist es schön.« Und nach der ersten Woche bei 27 °C und Sonne haben wir nun wieder was? Genau, Regen. Viel Regen. Es wird gar nicht mehr richtig trocken unter Deck, da der Heizlüfter die Luft ja nicht trocknet, sondern nur erwärmt. Das Vorschiff ist eine Tropfsteinhöhle, und es schimmelt an allen Ecken. Aber zumindest können wir draußen im Pullover herumlaufen, der Wind ist halbwegs warm. Eines Abends, als ich vom Toilettencontainer zurück zum Schiff laufe, steht ein junger Mann etwa in meinem Alter am Tor zum Steg. Er kennt den Code nicht und kann deshalb auch nicht zu den Booten. Als ich den Code eingebe, spricht er mich an: »Bist du Johannes?« »Jaaaaa …« Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll, fühle mich ertappt. »Ich bin Harald«, erwidert er. Er hat dunkle Haare und recht braune Haut, sieht aus wie ein Spanier. Deshalb bin ich mir nicht sicher, ob er ein Spanier ist, der saugut Deutsch kann, oder ein Deutscher, der irgendwie hier in Spanien gelandet ist und aussieht wie ein Südländer. »Freut mich«, antworte ich. Harald erzählt mir, dass er unseren Blog schon seit langer Zeit verfolgt und sich sehr freut, uns hier in Spanien zu treffen. Er macht gerade seinen Segelschein und würde uns gerne zum Essen einladen. Also verabreden wir uns für den nächsten Tag in der Burgerkneipe, in der wir schon waren. Tags darauf lernen wir Harald im Hellen kennen. Ein unheimlich beeindruckender Mann, der uns seine Geschichte erzählt: Er arbeitet hier in Spanien in einer kleinen Firma, etwa 50 Kilometer entfernt. Seine Frau kommt aus Peru, deshalb spricht er auch so gut Spanisch. Die beiden haben hier eine
Weile in einer Wohnung gelebt, aber Harald fühlte sich irgendwie eingeengt in seinem komfortablen Leben. Er hatte große Lust auf Minimalismus. Nur ein kleines Boot oder ein Haus auf dem Land und dann gar kein Geld mehr ausgeben. Alles selbst anbauen. Harald wollte herausfinden, was er sich wirklich in seinem Leben wünscht und was ihn glücklich macht. Also ließ ihm seine Frau etwas Spielraum dafür und flog – mit dem zweiten Kind schwanger – nach Peru, um ihre Eltern zu besuchen. Und Harald konzentrierte sich darauf, herauszufinden, mit wie wenig er auskommen würde. »Ich brauche keine 10 € pro Woche«, erklärte er uns stolz. Die Wohnung hat er gekündigt und wohnt nun schon eine Weile in seinem alten at. »Da kann man gut drin schlafen«, erklärt er. Der Anlasser ist kaputt, deshalb muss er das Auto immer an einem Hang abstellen. »Duschen kann ich auf der Arbeit. Deshalb muss ich immer der Erste dort sein, damit keiner mitbekommt, dass ich im Auto wohne.« Ihm ist bewusst, dass seine Art des Lebens manche Leute erstaunt. »Aber das ist ja auch nur ein Experiment. Ich bin doch nicht bescheuert«, erklärt er und lacht. Es ist gerade einfach spannend für ihn, seine eigenen Grenzen auszuloten. Das Geld, das er verdient, schickt er fast vollständig seiner Frau. Oder steckt es in den Segelschein. Oder in unser Abendessen. »Du kannst uns nicht einladen, das macht deinen Wochenschnitt kaputt«, versuche ich abzuwehren, aber Harald lacht wieder. »Ich habe doch genug Geld, und für euch geb ich’s gern aus.« »Irgendwann würde ich mir gern ein ganz kleines Boot mit Kajüte kaufen und darauf leben«, erklärt er später. Ich gebe ihm Tipps. »In England bekommt man gut eine Leisure 17. Die kannst du mit einem normalen Autoanhänger holen, weil sie auf ihren Kielen selbst steht.« Monate später bekommen wir dann tatsächlich eine Mail von Harald, in der er uns schreibt, dass er sich eine Leisure 17 gekauft und per Eurotunnel nach Deutschland gebracht habe. Dort renoviere er das Schiff nun in der Garage bei seinen Eltern. Und noch eine Überraschung hat er für uns: »Ich bin von Spanien aus nach Peru geflogen. Unser zweites Kind ist am 05. April 2015 gesund in Lima zur Welt gekommen, das war ein wundervoller Moment. Es heißt übrigens genau wie du, Johannes. Ich wurde durch dich bei der Namenssuche inspiriert, und meiner Frau gefiel der Name auch sehr gut.« Was für eine Ehre.
LA CORUÑA SUCKS
Von Johannes
Weil in Viveiro kein Mietwagen aufzutreiben ist, ergoogle ich die nächste Basis, bei der ich ein gutes Schnäppchen mache: 77 € für drei Tage. Der einzige Nachteil: Das Auto steht in Lugo, etwa 100 Kilometer entfernt. Aber auch das ist kein Problem, denn von Viveiro fährt täglich ein Linienbus dorthin. Nach zweieinhalb Stunden Fahrt übernehme ich einen tollen Polo, mit dem wir uns ein wenig das galicische Hinterland ansehen möchten. Die Berge sind fantastisch und die Straßen scheinen manchmal einfach zu enden, wenn die Abhänge am steilsten sind. Wir sehen viele leer stehende Hä, alte verlassene Einkaufszentren, Rohbauten, die man nie fertiggestellt hat. Oft scheinen die Menschen nur den zweiten Stock eines Hauses zu bewohnen, während unten alles zugenagelt ist oder nicht mal Wände gezogen wurden. Für uns fremd, dennoch eine traumhafte Kulisse und faszinierende Orte! Mit dem Mietwagen gelangen wir auch nach Santiago de Compostela, dem alten Ziel der Pilger. Die zugehörige Stadt ist viel größer als erwartet. Natürlich besichtigen wir auch die Kathedrale, in der angeblich die Überreste des Apostels Jakobus zu finden sind. Die Außenfassade wird gerade erneuert, aber der Innenraum ist sehr prunkvoll. Insbesondere der Altarbereich ist sehr opulent und mit Gold überzogen. In der Mitte der Kathedrale hängt sogar ein 1,60 Meter großes Weihrauchfass, das zu speziellen Gelegenheiten bis unter die Decke geschwenkt wird. Angeblich dient der Rauch nicht nur der Liturgie, sondern auch, um den Geruch der Pilger zu überdecken … Auf dem Rückweg halten wir in La Coruña, essen bei IKEA einen Hotdog und fahren dann zum Hafen, um dort die Crew der LILLY-MARIE zu treffen. Deren Skipper Thomas hatte uns vor ein paar Tagen eine Mail mit dem Betreff »Zwei Blinde treffen sich nie« geschrieben:
»Liebe Cati, lieber Johannes, wir wissen nicht, woran es liegt, dass wir uns noch immer nicht begegnet sind und uns haben kennenlernen können. Wir, also besser gesagt Thomas, Jola und Lilly von der LILLY-MARIE, sind seit zwei Monaten auf der gleichen Strecke und mit gleichem Ziel mit unserem Schiff unterwegs. Es trennten uns bisher nie mehr als 50 Seemeilen. Wir waren euch stets einen Tag voraus. Bis auf die Biskaya, dort sind wir 24 Stunden später gestartet als ihr. Es ist für uns kaum zu glauben, dass ihr einen Schlepper auf der Biskaya habt rufen müssen, da wir keine 30 Seemeilen hinter euch waren und euch ohne Probleme nach La Coruña hätten schleppen können. Noch bizarrer ist, dass ich euren Klempner hätte ersetzen können, da ich auch noch Klempnermeister bin. Es ist doch beruhigend zu wissen, dass ein kostenloser, in der Nähe befindlicher Abschleppdienst für euch bereitsteht, oder? In der Hoffnung, doch noch mit euch ein Bier zusammen zu trinken, grüßen wir ganz herzlich und wünschen weiterhin gute Fahrt Thomas, Jola und Lilly-Marie«
Sofort war uns klar: Die müssen wir kennenlernen. Mit dem Schiff kommen wir im Moment ja eh nicht weg. Noch sind die Ersatzteile auf dem Weg, liegen schon seit Tagen auf der Post in Madrid herum. Aber der Wetterbericht sieht ohnehin schlecht aus. Nachdem wir die letzten zehn Tage Flaute hatten, ist für die nächsten zehn Tage starker Westwind angesagt. Immer genau auf die Nase. Also wollen wir nun zumindest per Auto bei den LILLY-MARIES vorbeischauen. Auf meine »Seid ihr noch da?«-Mail hin hat Thomas mit dem Betreff »In Hamburg geboren, in La Coruña verstorben« Folgendes geantwortet:
»Ja, wir sind noch immer in La Coruña und werden hier wohl auch beerdigt werden, wenn sich das Wetter nicht ändern sollte. Von wegen 22 °C und Blauwasserfeeling. Ich hatte sogar schon Hagelkörner auf dem Schiff. Das Wetter ist echt mies, wir schieben hier jedenfalls Langeweile.«
Also ab nach La Coruña, zu dem Ort, den wir schon seit zwei Wochen so sehnlichst erreichen möchten. Die Hallberg Rassy 352 liegt im Stadthafen, und Thomas erkennt uns auch direkt an der Pier. Seine Frau Jola hat leckeren Apfelkuchen gebacken, und die beiden laden uns zum Kaffee im Cockpit ein. Sogar die Sonne scheint. Ihre Tochter Lilly-Marie ist fünf Jahre alt und Namensgeberin des Bootes. »Ich bin Lilly«, stellt sie sich vor. »Und das ist mein Boot.« Aber Lilly macht sich gleich wieder aus dem Staub, denn gerade vor einer halben Stunde hat sie sich endlich getraut, Kontakt zu den zwei Mädchen auf dem Nachbarboot aufzubauen, einem zwölf Meter langen Katamaran unter französischer Flagge. Thomas und Jola sind wirklich klasse Menschen und haben einen unglaublichen Humor. Viel zu schnell ist das Kaffeetrinken vorbei, und wir machen uns auf den Rückweg nach Viveiro. Aber nicht ohne das Versprechen, uns auf dem weiteren Weg nach Süden wiederzusehen. »Vielleicht in Muros? Einem der Rías«, schlägt Thomas vor. »Dann haben wir das elendige Kap endlich hinter uns.« Ein paar Tage später sind endlich unsere Ersatzteile da und können eingebaut werden. Tag um Tag war Cati zum Hafenmeister gelaufen und hatte sich mit ihm per Google-Translator über unsere Ersatzteillage unterhalten. Aber nun kann es weitergehen. Doch das Wetter spielt immer noch nicht mit. Nicht nur Gegenwind, auch die Wellen sind nun zwischen fünf und sechs Meter hoch. Mittlerweile ist es Mitte November. Um die Zeit wollten wir längst in Lissabon sein, vielleicht sogar auf Madeira. Aber wie sollen wir gegen den Wind ankommen? Doch dann öffnet sich ein kleines Fenster: Morgens soll es nur mit 4 Beaufort von vorn wehen. Wir legen im Morgengrauen ab. Die Fahrt wird ein Desaster. Die alte Welle rollt immer noch gigantisch hoch von Westen an und lässt die MAVERICK TOO extrem schaukeln und rollen. Cati hat zu allem Überfluss auch noch ihre Mercalm-Tablette vergessen und ist sofort seekrank. Angeleint hängt sie über dem Süll und opfert ihr Frühstück der See. »Halt dich gut fest«, rufe ich. Sie nickt nur. Und übergibt sich weiter. Da hebt uns eine unerwartet hohe Welle von der Seite an und rollt das Schiff nach steuerbord, 30, 40 °C auf die Seite. Catis Kopf ist kurzzeitig im Wasser verschwunden. Erschrocken schaut sie mich mit nassem Kopf an, sieht aus wie ein nasser Pudel. »Ich hab unter Wasser gekotzt«, staunt sie. Eine halbe Stunde später tut sie etwas, was sie noch nie getan hat und auch nie wieder machen wird: Sie bittet mich inständig, einen Hafen anzulaufen. »Die Lage ist ernst«, erkenne ich und setze Kurs auf Cariño, den Ort, an den wir vor vier Wochen
geschleppt worden sind. In Cariño gibt es nur diese lange Betonpier mit herausstehenden Steinen, an der wir fast jede Stunde aufgrund von Schwell und Tidenhub unsere Leinen und Fender justieren müssten. Deshalb peile ich den Ort Ortigueira im Süden an. Dieser liegt etwa eine Dreiviertelmeile einen Fluss hinauf und besitzt laut Internet eine Marina, in der auch viele große Yachten liegen. In der Realität sieht die Flussmündung dann aber viel gefährlicher aus als auf dem Satellitenfoto, denn das Fahrwasser läuft zunächst auf den Strand zu und dann hinter einer Sandbank parallel zum Strand an der Küste entlang. Die Wellen aus dem Atlantik laufen zwar nicht direkt aus dem Ozean auf den Strand, aber doch »über Bande« der Felsen und brechen sich gewaltig. Und Brandungsseen sind gefährlich. Ich habe mal einen Artikel über die gefährlichsten Ansteuerungen der Welt geschrieben und dabei gelernt, dass ein Schiff bereits durch eine Welle kentern kann, deren Höhe 30 Prozent der Schiffslänge erreicht. Also sind wir gefährdet, denn drei Meter hoch sind diese Wellen allemal. »Steckschotten rein«, sage ich Cati und nehme Kurs auf die Betonnung. Doch schon als das Wasser etwas flacher wird und die MAVERICK TOO Tendenzen zum Surfen entwickelt, stelle ich meine Entscheidung infrage. Die zweite Welle hebt unser Heck an, und das Schiff beschleunigt. Das Wasser um uns herum scheint zu kochen. »Kacke!«, rufe ich. »Wir drehen um!« Ich warte eine kleinere Welle ab, gebe Vollgas und lege das Ruder. Der Motor qualmt und röhrt, schiebt uns aber gegen Wind und Wellen an. Einige brechen übers Deck und landen im Cockpit. Aber wenige Minuten später sind wir wieder zurück im tiefen Wasser und auf dem Weg nach Cariño. »Das ist noch mal gut gegangen«, sage ich und Cati nickt nur. 22 Seemeilen sind geschafft. Von 63 Seemeilen bis La Coruña. Während der Wartezeit in Viveiro hatte ich endlich Zeit, die Kabel für die Ankerwinsch von achtern zum Bug zu verlegen, sodass wir jetzt ganz bequem in Sichtweite des Rettungskreuzers zwischen den Fischern den Anker werfen können. Beim Aufschießen der Reffleine für die Genua lehne ich mich mit der Ölzeughose gegen die Schotwinsch und höre es knirschen. »Och nö«, ärgere ich mich, als ich nach meinem iPhone in der Hosentasche greife. »Jetzt habe ich eine Spider-App.« Ich habe das Display genau gegen die Winsch gedrückt. Anrufe und Wetterberichte abfragen sind nicht mehr möglich, nichts reagiert mehr.
Nach dem Abendessen fallen wir erschöpft in die Koje. Doch ohne Heizlüfter ist es lausig kalt. 10 °C zeigt das Thermometer. Wir haben jeder eine Mütze auf und kuscheln uns ins Bett. Doch wir frieren trotzdem. »Können wir den Heizlüfter nicht über den Inverter betreiben?«, fragt Cati. »Nur, wenn wir dazu den Diesel anschmeißen. Und selbst dann ist die Batterie bald leer«, antworte ich. Aber jetzt bin ich selber neugierig und schließe den Lüfter an die Steckdose an. Unser Victron-Energy-Inverter kann schließlich einiges ab. Und ja, tatsächlich, warme Luft! Herrlich. Doch dann fällt mein Blick auf den Batteriemonitor, der gerade einen zweistelligen Verbrauch anzeigt: 99 Ampere. Auweia! Schnell wieder aus mit dem Ding. Am nächsten Morgen haben sich Wind und Wellen etwas beruhigt, kommen aber immer noch genau von vorn. Nach einem leichten Frühstück und einer MercalmTablette für Cati holen wir den Anker auf und tuckern hinaus auf die See. Die 41 Seemeilen bis La Coruña verlaufen langweilig, da ereignislos. Aber das ist zur Abwechslung ja auch nicht schlecht. Trotzdem achte ich ständig angespannt auf das Geräusch des Auspuffs, ob noch Kühlwasser kommt. Und dann liegt der Hafen schließlich vor dem Bug: La Coruña. Fast genau mit einem Monat Verspätung. »Endlich eine Großstadt, zurück in der Zivilisation«, freut sich Cati. Die LILLYMARIE ist leider schon weitergesegelt. Aber der französische Kat liegt noch dort. Wir machen die Leinen fest und starten das Laptop. »Hier gibts bestimmt hervorragendes Internet«, freuen wir uns. Von wegen, hier gibt es gar kein Internet. »Das Hafennetz ist zurzeit tot«, erklärt uns der Hafenmeister am nächsten Morgen und zuckt die Schultern. »Schon seit Monaten.« Thomas erzählt uns später, dass er über das Netz der Bar neben der Marina ins Internet gekommen ist. Aber mittlerweile ist auch die Bar geschlossen. Saisonende. Das nervt uns. Und es kommt noch schlimmer: Der Supermarkt ist irre weit weg, während wir in Viveiro in nur fünf Gehminuten Entfernung zwei hatten. Dazu sind die Duschen kalt und die Waschmaschinen machen die Wäsche eher schmutziger als sauber. Cati hat einen ganzen Tag lang damit zu tun, alle Schapps zu leeren. Wir haben voll gebunkert und aller Proviant hat Pappumverpackungen, die in der hohen Luftfeuchtigkeit unter Deck gern schimmeln. Pappe um Pappe reißt sie auseinander und entsorgt Mülltüte um Mülltüte. Endlich mal hat es einen Vorteil, dass Nahrungsmittel oft in Pappe verpackt und innen noch mal zusätzlich eingeschweißt und damit luftdicht sind.
Am nächsten Morgen laufe ich hinauf in die Stadt zu einem Handyreparaturladen, dessen Adresse ich mir vorher im Internet herausgesucht habe. Ohne Google Maps kann ich mich jedoch nur auf meine Notizen verlassen und verlaufe mich völlig, da Straßenschilder nur selten zu sehen sind. Und für ein Taxi bin ich zu geizig. Nach fast zweieinhalb Stunden stehe ich endlich vor dem Laden, leider gerade zur Mittagspause. Und die ist in Spanien großzügig bemessen. Als der Ladenbesitzer zwei Stunden später seine Rollläden hochzieht, schaue ich bereits durch die Glasscheibe und erschrecke ihn. »Die Reparatur ist kein Problem«, macht er mir verständlich. »Kostet 80 €.« Okay. Super. »Los geht’s«, bedeute ich ihm. »Nein, ich muss das Glas doch erst bestellen«, sagt er. »Komm mal morgen Nachmittag wieder.« Am Abend schreibe ich an einem Blogeintrag und denke: »Hier stinkt doch was.« Schnüffelnd krabbele ich in jede Ecke. Bilge, Schapps, unter die Kojenbretter. Nichts. Ich bin mir sicher, dass da was müffelt. Doch was? Schließlich drehe ich mich um und stecke den Kopf in die Hundekoje, die wir eigentlich nur als Lagerraum benutzen. Sie ist randvoll, und tatsächlich, da kommt es her. Schimmel ohne Ende. Wir sind echt baff, wie das so schnell gehen konnte. Haben wohl zu eng gestaut. Die Luftfeuchtigkeit hat sich an der Decke abgesetzt und ein sumpfiges Klima erzeugt. Die Gitarrentasche ist nicht zu retten, die müssen wir wegwerfen. Das ärgert mich. Auch ein paar alte Seekarten von meiner ersten Atlantikreise. Zum Glück alles alte Kopien aus den 1950er-Jahren. Wieder ist Cati einige Stunden am Schrubben und am Sprühen. Sagrotan, du rettest Leben. Am nächsten Tag finde ich den Laden nach einer Stunde Fußmarsch auf Anhieb. Drei Stunden später funktioniert auch mein Telefon wieder, und ich laufe zurück zum Boot. Zwei Tage verloren, nur weil ich mein Handy gegen die Winsch gedrückt habe, so ein Mist. Aber nun sind wir startklar, und in La Coruña hält uns nichts länger. Das Wetter sieht brauchbar aus. Also tauschen wir zum ersten Mal die große Genua gegen die Rollfock und legen am nächsten Morgen ab.
UMS CABO VILÁN
Von Johannes
Am Tag unserer Abfahrt aus La Coruña liegt morgens überraschend die QUEEN VICTORIA direkt neben uns an der Pier. Das Schiff sieht ihrer Schwester, der QUEEN MARY 2, ziemlich ähnlich, und natürlich werden bei uns sofort nostalgische Erinnerungen an unsere Reise auf dem Schiff wach. »Sie muss in der Nacht angelegt haben«, meint Cati. »Schade, dass wir das verschlafen haben.« Wieder steht der Wind von vorn, und der Weg ums Kap zieht sich. Ich erinnere mich an Wilfried Erdmanns Buch Tausend Tage Robinson, in dem er einen schweren Sturm vor dem Kap Finisterre beschreibt, in dem seine KATHENA 2 kenterte und die großen Fensterscheiben eingedrückt wurden. Dieses Kap liegt allerdings noch ein Stück weiter südlich, und erst einmal ist das Cabo Vilán unser Ziel. Auf diesem 104 Meter hoch gelegenen Plateau steht einer der ältesten Leuchttürme Spaniens. Und wir müssen uns jede Seemeile dorthin erkämpfen, denn aus dem Atlantik laufen große Wellen heran, in denen wir uns unter Maschine immer wieder feststampfen. An Segeln und Kreuzen ist nicht zu denken. »Cabo Vilán«, überlege ich. »Bedeutet das vielleicht dasselbe wie das englische Wort ›villain‹, also Gegenspieler, Schurke? Das würde ganz gut en.« Obwohl wir früh am Morgen gestartet sind, wird es Nacht, bis wir das Kap endlich runden. Die Tide schiebt von vorn, und wir machen kaum mehr als zwei Knoten über Grund. Wir halten uns gut zwei Seemeilen von dem Kap frei, also eine Stunde zusätzliche Fahrt, und gehen dann auf Kurs Süd. Die karge, felsige Küste setzt sich kaum gegen die stockdunkle Nacht ab. Unser Ziel ist der kleine Fischerhafen Camariñas. Der Name klingt nett, und der große Wellenbrecher rund um den Hafen sieht so aus, als würde er für eine ruhige Nacht sorgen. Auf dem Kurs in die Bucht hinein wirken die Gezeiten nun zu unserem Vorteil und schieben gewaltig. Wir motoren mit gut 6 Knoten über Grund, navigieren einen großen Bogen und fahren hinein in den Hafen. Am Morgen bekommen wir dann einen großen Schreck, denn die ganze Bucht ist voller Fischfallen, deren Schwimmer eine Gefahr für unseren Propeller
darstellen. In der Nacht haben wir diese aber offenbar alle verfehlt. Mittlerweile hat der Wind abgeflaut, und auch die Wellen sind kleiner. Wieder steht uns ein Tag unter Motor bevor. Langsam würden wir gern mal wieder segeln. Aber das Vorankommen ist im Moment wichtiger, und wir müssen jedes Wetterfenster nutzen. Das Kap Finisterre umrunden wir bei herrlichem Sonnenschein und sehen einige Pilger am Wasser, denn hier am Kap endet der Jakobsweg. Kurz darauf biegen wir in den ersten der wundervollen Rías ein. Das sind Flussläufe, die hier im Nordwesten Spaniens Einschnitte ins Binnenland bilden und die wir uns eigentlich gerne zwei Wochen lang angeschaut hätten. Doch dafür ist keine Zeit mehr, da wir vier Wochen in Viveiro verloren haben. Unser Ziel ist Muros. Wieder ein kleiner galicischer Fischerort und zugleich Hauptsitz der größten Fischereigenossenschaft der Region. Außerdem liegen im Ría Muros unzählige Muschelfarmen, deren Erzeugnisse regelmäßig abgeerntet und in der Fischauktionshalle verkauft werden. Mit großen, aber offenbar lebensmittelechten Schaufelbaggern werden die Muscheln auf den Umschlagplätzen zusammengeschoben und verladen. Die Geruchsentwicklung ist enorm. Aber der Fischerhafen liegt zum Glück im Lee des Yachthafens, und so trägt der leichte Westwind das Schlimmste davon. Die Marina ist relativ eng, aber glücklicherweise ziemlich leer. Ein Schiff, das darin liegt, kennen wir. Wir freuen uns riesig, die LILLY-MARIE wiederzusehen, und werden auch gleich wieder an Bord eingeladen. Jola hat mal wieder Kuchen gebacken. »Mensch, endlich liegen wir auch mal im selben Hafen«, freut sich Thomas. »Dann können wir heute Abend ja mal ein Bier zusammen trinken.« Die Idee wird schnell zum festen Plan, denn die Marina bietet dafür sogar einen Aufenthaltsraum mit mehreren Sofas. Kurz nach unserem Einlaufen gibt es noch einmal ein großes Hallo am Steg, denn der französische Katamaran KALAO, der neben uns in La Coruña lag, läuft ein. Er ist am selben Tag wie wir losgefahren, hat aber mit dem Ablegen bis zum Nachmittag gewartet, wenn der Wind abflauen sollte. Kaum liegt die KALAO an der Pier, verschwindet Lilly an Bord und spielt mit ihren Freundinnen Toscane und Charline. Und wir machen uns auf den Rückweg zu unserem Boot, um klar Schiff zu machen. Als wir dann am Abend im Aufenthaltsraum der Marina sitzen, lernen auch wir Laurent und seine Frau Cécile kennen. Ein faszinierender Mann, mit dem ich einiges gemeinsam habe. Er hat Schiffbau studiert und im Gegensatz zu mir das Studium abgeschlossen. Viele Jahre war er anschließend Redakteur beim französischen Multihull Magazine, hat dann aber sein Leben geändert und Schweine gezüchtet. Solange
seine Töchter klein sind, wollte er gerne noch mal eine Segelreise machen, hat daher sein Haus verkauft und in England einen beschädigten zwölf Meter langen Katamaran der Marke Edel gekauft. Seit einigen Monaten lebt die Familie nun an Bord und ist über Frankreich nach Spanien gesegelt. Das Ziel? »Irgendwohin, wo es warm ist.« »Wir sind wirklich die letzten Deppen, die dieses Jahr noch den Weg ins Warme wagen«, fasst Thomas unser Schicksal zusammen. Darauf trinken wir einen Wein. Und dann noch einen. Die Stimmung ist hervorragend. Wir lachen, plaudern übers Leben und Boote, prosten uns zu und trinken, bis gegen 4 Uhr morgens die allerletzte Flasche leer ist – auch der Nachschub, den wir immer wieder von den Schiffen geholt haben. Sturzbetrunken klettern wir alle zurück an Bord und fallen in einen tiefen Schlaf. Der nächste Tag beginnt nicht vor dem Mittag. Dort, wo sich einst meine Augen befunden haben, sitzen tiefrot glühende Kohlen in tiefen Höhlen. Zum Glück regnet es. Sonst wäre es noch heller. Cati liegt neben mir mit offenem Mund in der Koje und schläft noch tief und fest. Irgendwie schäle ich mich an ihr vorbei in den schmalen Gang, der in den Salon führt, und stolpere zum Herd. Wasser, Kessel, Filter, Kaffee. Irgendwie bekomme ich noch alles zusammen, setze Wasser auf und lege mich dann noch mal auf die Salonkoje. Dabei stolpere ich über meine Hose, die auf halbem Weg auf dem Boden liegt. Die Gürtelschnalle knallt gegen das Schott, und kurz danach höre ich Cati. Sie wird langsam wach und schaut mich an. »Was machst du denn da im Salon?«, fragt sie. »Überleben«, antworte ich. »Du siehst so aus, wie ich mich fühle«, antwortet sie. »Boah, was haben wir bloß gestern alles getrunken?« »Alles«, antworte ich. »Ich glaube wirklich, alles.« Den Tag verbringen wir alle an Bord unserer Schiffe. Als ich gegen 16 Uhr vorsichtig zum Duschen ins Marinagebäude schleiche, treffe ich dort Thomas, der im Internet surft. »Geht’s euch auch so schlecht?«, frage ich. »Das kannste glauben«, sagt er. »Jola ist erst gerade eben aufgestanden.« Ohne viele Worte sitzen wir nebeneinander und checken unsere Mails, verabschieden uns nach einer halben Stunde und gehen zurück zu unseren Booten. An unserem dritten gemeinsamen Tag in Muros sind wir alle wieder nüchtern und unternehmungslustiger. Die Mädchen spielen den ganzen Vormittag zusammen auf dem Kat, und gegen Nachmittag machen wir uns alle auf zu einem langen Spaziergang durch Muros. Laurent war schon öfter in Galicien und
kann uns viel über die spezielle Bauweise der Hä und Siedlungen erzählen. Der kleine Fischerort Muros hat viele pittoreske Ecken, leer stehende Hä und Kirchen. Die Spanier haben keine Skrupel, auch mal ein paar Stromkabel an schöne Häfronten zu nageln. Gut ein Drittel der Hä steht leer und zum Verkauf. Teilweise sicher schon 20 Jahre lang. Dabei sind die Hä günstig, für 25.000 € kann man schon eine brauchbare Basis bekommen. Beeindruckend finden wir die kleinen, drei mal eineinhalb Meter großen Kornspeicher, die in fast jedem Garten, aber nur hier in Galicien zu finden sind. Sie sind aus langen, schmalen Steinen gebaut und verfügen über eine Menge Luftlöcher, damit das Korn luftig gelagert und getrocknet werden kann. Zudem stehen sie auf einem Meter hohen Stelzen über dem Boden, und zwischen Stelzen und Kornspeicher sind kreisrunde Steine eingeschoben, die Ratten und Mäuse daran hindern sollen, an den Stelzen hochzulaufen und in den Speicher zu gelangen. Den ganzen Nachmittag laufen wir durch enge Gassen und über weite Felder, entdecken das ursprüngliche Galicien, schießen Fotos. Auf dem Rückweg besorgen wir jeder noch zwei Flaschen Rotwein, denn für den Abend sind wir auf die KALAO zum Pulpoessen eingeladen. Pulpo, also Tintenfisch, gibt es hier an jeder Ecke zu kaufen. Ob das schmecken wird? Wir sind gespannt. »Ich glaub, der Wein schmeckt aber in jedem Fall schon wieder«, meint Thomas. Nach wochenlangem Gegenwind sind die Bedingungen am nächsten Morgen endlich einmal perfekt: Nordwind der Stärke drei, 18 °C, Sonne. Wir organisieren flugs eine Regatta. Als kleinstes Schiff haben wir zwar schlechte Karten, vor allem gegen den Katamaran, aber unser neuer Selden-Mast ist über einen Meter länger, als von der Werft gedacht, was uns gut 38 Prozent mehr Fläche im Groß beschert. Und dann ist da ja noch der neue Gennaker, den wir noch gar nicht ausprobiert haben. Die Maschine bleibt die ganze Fahrt aus, und wir segeln MAVERICK TOO wie eine Jolle, trimmen den Gennaker aus der Hand, kreuzen durch die Illas Cíes hindurch und hängen dabei zumindest die LILLY-MARIE ab. Der Kat bleibt aber unerreichbar. Nach 49,5 Seemeilen legen wir bei Nacht in Baiona an, alle drei Schiffe hintereinander, in der Reihenfolge des Einlaufens: Kat, Contest, Rassy. Wir sind die »Flottille der Zu-spät-Losgefahrenen«. Laurent hat auf dem Weg hierher einen kleinen Thunfisch gefangen und serviert ihn als Sashimi, also roh. So frisch habe ich einen Thunfisch noch nie gegessen. Cati ist nicht wirklich
begeistert von dem rohen Fisch, aber mir schmeckt er hervorragend. Für den nächsten Tag haben wir eine Revanche geplant, doch eine bleierne Flaute verleidet uns eine Fortsetzung. Wir motoren. Die KALAO ist schnell am Horizont verschwunden, aber wir anderen bleiben lange beieinander und schießen Fotos. Zum ersten Mal bemerken wir die gewaltige Dünung, die aus dem Atlantik anläuft. Immer wieder werden wir ganz sanft von der Seite angehoben und in das Wellental abgesenkt. Auf den Fotos ist dann später auf einem Bild das ganze Schiff auf dem Wellenberg zu sehen, auf dem nächsten nur die Mastspitze. Die Sonne steht bereits tief, als wir die spanische Flagge gegen die portugiesische austauschen. Endlich sind wir in Portugal, dem Land Europas, in dem es mir bisher immer am besten gefallen hat. Die 34 Seemeilen bis Viana do Castelo ziehen sich in der Flaute, und wieder laufen wir bei Nacht ein. Diesmal ist Thomas eher da, denn die LILLY-MARIE hat einen starken Mercedes-Diesel. Als wir am nächsten Morgen einchecken, wollen wir dem Hafenmeister kaum glauben: »Das macht 9 € pro Nacht.« So billig haben wir auf der ganzen Reise noch nicht gelegen. Also entscheiden wir uns, ein paar Tage zu bleiben. Denn Viana hat eine Menge zu bieten, außerdem steht mein 29. Geburtstag an. Ich nutze die Hafentage, um das Schiff ein bisschen weiter zu komplettieren. In England habe ich das Radargerät angeschlossen, in Viveiro die Ankerwinde und jetzt ist die indirekte LED-Beleuchtung im ganzen Schiff dran. Die Beleuchtung im Fußraum hatte ich schon vor der Abfahrt angeschlossen, und sie brennt eigentlich ständig. Im Hafen erzeugt sie eine warme Atmosphäre an Bord, da sie das Mahagoniholz im Fußraum schön ausleuchtet und dunkle Ecken verhindert. Auf See ist sie extrem abgedimmt, und wir wissen bei Nacht immer genau, wo wir hintreten müssen, um nicht zu stolpern. Und nun sind auch die Wände der Pantry, die Naviecke und die Bücherregale optimal angeleuchtet und strahlen viel Wärme und Gemütlichkeit aus. Am Abend vor meinem Geburtstag entführen uns Marie und Antoine vom französischen Kutter NOORDVAARDER in die Innenstadt. Laurent hat mit Antoines Sohn zusammen Schiffbau studiert, und nun sind sich die beiden hier wieder über den Weg gelaufen. Das Paar wohnt schon einige Jahre auf seinem Schiff in Viana und kennen deshalb alle möglichen Insidertipps. Wohin genau es geht, verraten sie nicht. Aber sie versprechen: »So was habt ihr noch nicht erlebt.« Wir laufen eine halbe Stunde lang durch den Ort und landen vor der
»Casa Primavera«. Im Eingang sitzt ein Papagei, der zwar nicht sprechen, aber allerlei Alarmanlagen und Klingeltöne nachmachen kann. Der Laden wirkt eher wie eine Fischerspelunke, doch als wir am Tresen vorbeilaufen, öffnet sich ein großer Saal mit vielen Tischen und Stühlen. »Es ist ein gutes Zeichen, wenn keine Touristen anzutreffen sind«, meint Laurent. Ehe ich mich versehe, haben unsere Freunde allerlei Vorspeisen aus dem Meer bestellt. Muscheln, Fischeier, Krabben und wieder einmal Tintenfisch. »Meinst du, das können wir uns leisten?«, fragt Cati angesichts unseres knappen Budgets. Als Hauptgericht nimmt sie den gemischten Fischteller, ich einen Espada, einen Degenfisch, den ich noch aus Madeira kenne. Thomas isst eine Dorade. Das Essen ist hervorragend, und die Portionen sind riesig. Dazu serviert man uns einen Zweiliterkrug mit einer regionalen Spezialität. »Ein Gemisch aus Weißwein, Zucker und Bier«, erklärt Antoine, genannt »Champerrion« oder »Traçadinho«. »Flüssige Kopfschmerzen«. Aber sehr lecker. Als es 22:30 Uhr wird, entscheiden unsere Freunde, dass ich irgendwo in der Welt sicher schon Geburtstag habe. Also lassen sie einen Kuchen mit vielen Wunderkerzen servieren und singen »Happy Birthday« auf Englisch, dann auf Französisch. Und ehe wir uns versehen, stimmen die Gäste am Nachbartisch auf Portugiesisch mit ein, und das ganze Restaurant singt. Ich bin gerührt. Was für ein schöner Geburtstag! Unsere Freunde überraschen mich dann auch noch mit einem Geschenk. Zwei Kartons mit Weingläsern und eine Karaffe, da sie mitbekommen haben, dass wir keine Weingläser besitzen. Die Mädchen haben mir außerdem ein weißes T-Shirt bemalt, mit Bildern von unseren Schiffen und uns. Ich schnappe mir eins der neuen Gläser, fülle es aus dem Krug und proste allen zu. »Vielen Dank euch allen! Morgen Abend kommt ihr alle zu uns, zum karibischen Dinner!« Aber erst müssen wir hier in der »Casa Primavera« noch die Rechnung begleichen. Und denken, sie hätten sich verrechnet. Vorspeise, Hauptgänge, den ganzen Abend Bier, Wein, und diese merkwürdige Mischung aus beidem – und am Ende zahlen wir zu elft nur 94 €. 8,50 € für jeden. Portugal, man muss es einfach lieben. Den ganzen nächsten Vormittag laufen Cati und ich zwischen den Supermärkten in der Innenstadt und dem Schiff hin und her, schleppen alle nötigen Utensilien und Getränke heran, um am Abend neun Leute zu bewirten. Es soll mein Lieblingsgericht geben, karibisches Roti. In Trinidad erfunden und eigentlich überall in der Karibik zu bekommen. Ein Teigfladen, in den eine Mischung aus
Kartoffeln, Gemüse und einer Art Fleisch oder Fisch eingeschlagen ist. In der Karibik ist auch gern mal eine Kakerlake eingebacken, und das Huhn kommt so, wie es tot auf der Straße gefunden wurde, in den Mixer und landet samt Knochen im Essen. Das Ganze natürlich vermengt mit vielen karibischen Gewürzen. Dieses Fast Food habe ich schon vor Jahren für den mitteleuropäischen Gaumen perfektioniert und will meine Kreation nun heute Abend an den Gästen testen. Vorab gibt es einen karibischen Salat, anschließend Rumsalat mit Obst – eine Nachspeise, die meine Mutter mal auf einer Reise mit mir auf einem Katamaran in Belize erfunden hat. Das ist ein Obstsalat, der mit Rohrzucker und viel Rum verfeinert wird. Deshalb Rumsalat. Mehr Rum als Salat. Cati schnippelt, ich koche. Und wir werden nur sehr knapp fertig, denn das Einkaufen hat viel Zeit gekostet. Um den Gästen Bescheid zu geben, dass sie rüberkommen sollen, schalte ich kurzerhand unsere Unterwasserbeleuchung und das Stroboskoplicht im Mast an. Thomas, Jola und Lilly sind die ersten Gäste. »Mensch, Johannes, eben stoße ich mit dem Hafenmeister zusammen, der völlig außer Puste auf dem Weg hierher war«, sagt er. »Der dachte, euer Schiff sinkt und du gibst Notsignale! Hab ihm dann gesagt, dass das nur der Erdmann ist, der zum Essen ruft.« Wir sind enorm erstaunt, wie einfach wir acht Erwachsenen unter Deck Platz finden. Die drei Mädels haben ihre eigene Partylocation im Vorschiff und bekommen Roti ohne Gewürze. Laurent nimmt das mit der »karibischen Party« wörtlich und erscheint in kurzer Hose, T-Shirt, Flipflops und mit Piratenkopftuch. Dabei sollte doch eigentlich nur das Essen karibisch sein. Auch Marie und Antoine sind dabei. Später erfahren wir, dass sie eigentlich Tickets für ein Konzert hatten, auf das sie sich lange gefreut haben. Doch sie wollten meine Einladung nicht ausschlagen. Eine Weinflasche nach der anderen leert sich im Salon, während die Mädels im Vorschiff einen Film schauen und mit der Knete spielen, die wir eigentlich zum Abdichten der Ankerklüse an Bord haben. Die Party ist ein voller Erfolg, und wir genießen die gemeinsame Zeit, denn wie immer bei Fahrtenseglern kommt der Tag viel zu früh, an dem sich die Wege trennen. Laurent will schon in zwei Tagen nach Porto starten, die LILLY-MARIE und wir wollen nach Lissabon. Wahrscheinlich in einem Rutsch.
LISSABON – ANFANG UND NEUSTART
Von Cati
Der Fluss Tejo mündet in Lissabon in den Atlantik und bildet im Herzen der portugiesischen Hauptstadt förmlich eine kleine Bucht. Überspannt wird die Mündung im Norden von der Vasco-da-Gama-Brücke. Mit einer Gesamtlänge von 17,2 Kilometern ist sie die längste Brücke Europas. Fast noch eindrucksvoller ist aber die rote Hängebrücke Ponte 25 de Abril, die der Golden Gate Bridge in San Francisco zum Verwechseln ähnlich sieht. Diese Brücke markiert für uns noch mehr als andere Zeichen, die es in der Stadt gibt, den Beginn Lissabons. Oder das Ende des europäischen Festlandes. Von hier aus ist Johannes 2005 zu seiner Einhand-atlantiküberquerung aufgebrochen. Es ist also doppelt bedeutsam, dass wir in Lissabon sind. Ab hier gibt es für uns, wenn alles gut geht, erst mal nur noch Inseln, und für Johannes schließt sich ein Kreis. Dass wir Lissabon auf eigenem Kiel erreicht haben, macht ihn ziemlich stolz. Eigentlich wollten wir mit der LILLY-MARIE noch einen Stopp in Porto einlegen, aber das Wetter ist so fantastisch, dass wir gemeinsam beschließen, über Nacht bis Lissabon durchzurutschen. Nordwind der Stärke 4 bis 5, drei Meter hohe Welle – perfekt für unsere Schiffe. Doch LILLY-MARIE ist etwas schneller und bereits am Abend vom Horizont verschwunden. Kurz vor Miternacht des zweiten Tages erreichen wir Oeiras und bekommen direkt nebeneinander zwei Liegeplätze. Obwohl wir in den vergangenen Tagen immer alles zusammen gemacht haben, ergibt es sich, dass wir Lissabon zunächst allein erkunden. Unser erster Weg führt uns zum Doca de Alcântara, wo Johannes vor neun Jahren abgelegt hat. In den Yachthafen selber kommen wir ohne den Code für die Gittertore natürlich nicht. »Da drüben habe ich gelegen«, zeigt Johannes aufgeregt durch den hohen Maschendrahtzaun auf einen kleinen Liegeplatz. Wir stehen auf einem Parkplatz aus Kopfsteinpflaster. Über uns scheppern unaufhörlich Autos, die laut über die
rote Ponte 25 de Abril donnern. Neben dem Parkplatz Lagerhallen und Bürogebäude. Wirklich nichts an dieser Szenerie ist schön oder bedeutungsschwanger. Trotzdem habe ich einen mächtigen Kloß im Hals, denn aus Johannes’ Buch über seine Einhandtour weiß ich, wie einsam er sich damals hier nach dem Abschied von seinen Eltern gefühlt hat. »Hier hat das alles begonnen mit der Ozeansegelei«, fasst Johannes zusammen. So richtig einschätzen, wie er sich fühlt, kann ich nicht, aber er ist in der nächsten halben Stunde sehr ruhig und nachdenklich. An unserem zweiten Lissabontag möchten wir noch mehr von der Stadt sehen. Ich wollte schon immer mal nach Portugal und insbesondere nach Lissabon. Meine Erwartungen werden übertroffen. Die Stadt hat mit ihren engen Gassen und weiten Plätzen, mit dem vielen Grün und den starken Steigungen ihren ganz eigenen Charme. Wir sehen das verwinkelte Viertel Alfama, werden von einem Wagen der berühmten Straßenbahnlinie 28 angeklingelt und stehen auf dem großen Platz Praça do Comércio, auf dem ein Weihnachtsmann aus einer Straßenbahn steigt. Bei diesem herrlichen Sonnenschein habe ich fast vergessen, dass bald Weihnachten ist. Auf unserem Touristenprogramm steht natürlich auch das Padrão dos Descobrimentos, das Denkmal der Entdeckungen, das zum 500. Todestag von Heinrich dem Seefahrer am Ufer des Tejo errichtet wurde. Dargestellt ist nicht nur Heinrich der Seefahrer, sondern 33 wichtige portugiesische Persönlichkeiten, darunter Missionare und Könige, Dichter und Maler und eben auch Seefahrer und Entdecker. Dieses Denkmal und der Torre de Belém, ein burgartiger weißer Turm, sind das Letzte, was Seeleute von Lissabon sehen, wenn sie den Tejo verlassen. Davor befindet sich eine riesige geflieste Weltkarte, ein Geschenk der Republik Südafrika. Zu sehen sind dort natürlich Portugal und Madeira, unser nächstes Ziel. Auf der 50 Meter großen Karte ist es bis dahin nur ein kleiner Schritt, wir aber rechnen mit fünf Tagen auf See. Das wäre die längste Zeit, die wir ohne Pause zusammen auf See verbracht haben. Und es kribbelt schon ein bisschen.
IM TIEFFLUG NACH MADEIRA
Von Johannes
»Mal sehen, ob wir meine alte Zeit unterbieten«, lache ich, als ich am Morgen des 17. Dezember den Motor starte. Schwerfällig erwacht er zum Leben. »Hast du damals nicht acht Tage gebraucht?«, fragt Cati. »Wir müssen ja ohnehin schneller sein, sonst veren wir den Flieger.« Sie hat recht. Eine gute Woche haben wir noch für die rund 550 Seemeilen. Dann müssen die Leinen fest sein und wir uns auf dem Flughafen befinden. Denn wir haben schon aus Viana do Castelo einen Heimflug gebucht, um die Weihnachtsfeiertage zu Hause zu verbringen. Heimflüge kommen bei den »älteren« Langfahrtseglern oft merkwürdig an. »So was haben wir früher nicht gemacht«, habe ich schon öfter gehört. Und es fühlt sich auch komisch an, aus dem Leben an Bord zurück nach Hause zu kommen und die Heimat so zu erleben, als wäre nichts gewesen. Und so kommt dieser Rückflug für uns selber überraschend und eigentlich auch zu früh. Denn wir hatten uns auf mindestens ein Jahr Abwesenheit eingestellt. Aber wir hatten auch gemerkt, dass sich unsere Familien damit schwertaten, dass wir an Weihnachten nicht da sein würden. »Wieder mal«, wie es meine Mutter ausdrückte. Also hatte ich spaßeshalber nach Flügen geschaut und echte Schnäppchen gefunden, die nun dazu führen, dass wir einen festen Termin und damit etwas Stress haben. Tagelang haben wir die Abfahrt wegen des schweren Wetters hinausgezögert, bis kaum mehr Zeit übrig war. Vor drei Tagen haben wir uns dann von Oeiras zum weiter draußen am Atlantik gelegenen Hafen Cascais verholt, weil dort Post auf uns wartete. Cascais ist nicht gerade preiswert, aber der Postservice ist zuverlässig. Gestern wollten wir dann gleich nach Madeira starten, zeitgleich mit Thomas aus Oeiras. Aber schon in der Tejomündung bekamen wir ordentlich Wind und Wellen auf die Nase. Gewaltige Seen rollten aus Norden an. Immer wieder kam MAVERICK TOO ins Surfen. Cati ging es hundeelend, und auch
die Windsteueranlage gelangte an ihre Grenzen. Da wir nicht noch gut 36 Stunden durch diese schwere See jagen wollten, bevor sich die See laut Wetterbericht beruhigen soll, entscheiden wir uns nach etwa zehn Seemeilen für die Umkehr. Wir funkten Thomas an, um ihm davon zu unterrichten, und er meldete nur kurz zurück, dass sie weiterfahren würden. Denn seine Tochter Cindy sollte am 20. Dezember auf Madeira landen. Also mussten sie durch. Heute soll es also noch mal losgehen. Der Wind weht immer noch mit 25 Knoten aus Norden und die Wellen sind bis vier Meter hoch. Doch die Aussicht, dass der Wind über Nacht nachlassen wird, beruhigt. Mit dem dritten Reff und halb weggerollter Genua segeln wir mit dauerhaft 7 Knoten direkt aufs Ziel zu. Die ersten 24 Stunden auf See geht es Cati dreckig. Sie nimmt zwar die Seekrankheitstabletten, aber an die raue See und das ungewohnte Gehüpfe des Bootes muss sie sich erst noch gewöhnen. Daher verbringt sie die meiste Zeit in der Koje. Doch am Morgen des zweiten Tages auf See überrascht sie mich plötzlich damit, dass sie mir einen Kaffee an Deck bringt. »Soll ich gleich mal Wache gehen?«, fragt sie. »Aber gern.« Ich trinke meinen Kaffee und falle in die Koje. Als ich drei Stunden später wach werde, sitzt Cati am Kartentisch und liest. »Wie, du kannst auf See lesen?«, staune ich. »Ja, mir wird gar nicht mehr schlecht«, freut sie sich. Wir rauschen und rauschen, immer wieder zwischen 6 und 7 Knoten. Es geht toll voran. Die Navionics-App zeigt immer frühere Ankunftstermine an. In der vierten Nacht auf See halte ich bereits nach Madeira Ausschau. Doch die Insel ist wieder mal von dicken Wolken umgeben. Schon zu Zeiten der Entdeckerfahrten galt Madeira als schwer zu finden, da sich die Nordseite immer wieder im Dunst verbirgt. Im Morgengrauen können wir dann unter den dicken Wolken jedoch erste Küstenstriche erkennen. Wir sausen auf die Ostseite der Insel zu und segeln durch den Kanal, der die Insel von der Nachbarinsel Porto Santo trennt. Wir gelangen in den Landschutz der Ostküste, die Wellen glätten sich, und vor uns liegt unser Zielhafen, Quinta do Lorde. Genau 96 Stunden waren wir unterwegs. Ein Schnitt von 5,6 Knoten. Das ist fantastisch. Und genau doppelt so schnell wie damals mit MAVERICK. Als wir in den Schutz der Hafenmauer einbiegen, sehen wir bereits die LILLYMARIE an einem der Schwimmstege liegen. Wir legen Bug-an-Bug an und freuen uns alle über das Wiedersehen. »Du wirst es nicht glauben«, beginnt Thomas gleich zu erzählen. »Wir haben auf dem Weg hierher einen Wal
gerammt!« Wow, das ist so ziemlich der Horror eines jeden Seglers. »Und, nix kaputtgegangen?«, frage ich. »Nee, das war überraschend angenehm. Wie in einen Fender hineinzusegeln. Wohl durch den ganzen Tran unter der Haut«, erklärt Thomas. »Ich wusste vor Schreck erst mal gar nicht, was ich machen soll, also hab ich Jola unter Deck geschickt, die Bilgen kontrollieren«, sagt er. »Alles dicht. Aber dann muss der Wal wach geworden sein und hat eine Flosse in die Höhe gestreckt, direkt neben dem Cockpit. Mann, ist mir da das Herz in die Hose gerutscht.«
GELDVERDIENEN AUF DER REISE
Von Johannes
Nachdem Cati und ich zwischen Weihnachten und Neujahr unsere Familien in Deutschland besucht haben, sitzen wir nach Silvester zusammen mit meinen Eltern im Flieger zurück nach Funchal: Sie haben beschlossen, ein paar Tage mit uns auf Madeira zu verbringen. Auch das Kamerateam des ZDF reist an. Es will uns zwei Tage lang auf der Insel begleiten, um den Punkt »Wie finanzieren die beiden das Ganze eigentlich?« zu beleuchten, während ich meiner Arbeit als Journalist nachgehe. Das ist genau die Frage, die mir im Vorfeld der Reise die größten Sorgen bereitet hat. Da wir ohne Ersparnisse oder Rücklagen losgefahren sind, wäre ich eigentlich darauf angewiesen, unterwegs Geschichten für die Yacht schreiben und verkaufen zu können, um jeden Monat unsere Reisekasse neu zu füllen. Das wäre keine gute Lösung, denn wenn ein Seegebiet für das Magazin uninteressant wäre, würden wir ohne Geld dasitzen. Doch so wird es nicht kommen. Denn kurz vor der Abfahrt hat mir mein fantastischer Chefredakteur Jochen Rieker noch ein tolles Geschenk gemacht und angeboten, mir während der auf zwei Jahre angelegten Reise jeden Monat ein Fixum zu bezahlen. Mit dieser Summe, die gerade so als Grundeinkommen reicht, können wir daher nun jeden Monat rechnen. Das ist toll, denn dadurch können wir die ganze Reise über ruhig und entspannt dem nächsten Monatsgehalt entgegenblicken und wissen immer, wann und woher das nächste Geld kommt. Eine großartige Hilfe. Natürlich heißt das nicht, dass ich ein völlig entspanntes Leben habe und nicht genauso viele Seiten liefern müsste wie ohne diese Absprache. Doch sie ermöglicht es mir, auch mal ein bisschen vorzuarbeiten und dann ein, zwei Monate, wie etwa während der kommenden Atlantiküberquerung, auszusetzen.
3.250 SEEMEILEN TO GO
Von Johannes
Aus der einen Woche, die wir in Madeiras Hauptstadt Funchal bleiben wollen, werden schnell mehr. Der Hafen ist zwar nett und beschaulich, zudem sehr nah und zentral an der Innenstadt. Aber eigentlich liegt man dort im Stadthafen ziemlich bescheiden im Päckchen an der Kaimauer. Die Toiletten sind mies, die Duschen eisig kalt, und auf der Pier sind nachts Ratten und Kakerlaken unterwegs. Eigentlich wollen wir daher nur alles für die Atlantiküberquerung vorbereiten und ausreichend Vorräte bunkern, doch es soll ganz anders kommen. Das merke ich schon am zweiten Tag. »Da ist was im Anzug«, sage ich zu Cati. »Ein Sturm oder Gewitter?«, fragt sie. »Viel schlimmer«, antworte ich. »Ich glaube, ich werde krank.« »Haha, wieder eine Männergrippe?«, scherzt sie. Aber am nächsten Tag merken wir beide, dass irgendwas nicht stimmt. Als ich vom Klo zurückkomme, bin ich ziemlich verwirrt. »Cati, irgendwie zwickt da was beim Pinkeln. Ob das ein Harnstein ist oder eine Blasenentzündung? Können Männer die überhaupt bekommen?« Am nächsten Morgen gehen wir ins Krankenhaus, wo man tatsächlich eine Blasenentzündung diagnostiziert. Also bekomme ich ein Antibiotikum verschrieben, das ich vier Tage lang nehmen soll. Doch kaum zurück an Bord, falle ich mit Gliederschmerzen und Schüttelfrost in die Koje. Husten und Schnupfen gesellen sich dazu. Schlussendlich geht es mir ganze zehn Tage lang einfach nur dreckig. Dann bin ich wieder halbwegs hergestellt, und wir wollen uns an die Vorbereitungen für die Atlantiküberquerung machen. Als Erstes erstelle ich eine To-do-Liste, die noch relativ lang ist. Neben kleinen Sicherheitsarbeiten wie der Montage von Haltegriffen in der Pantry stehen auch große Sachen an, zum Beispiel die Montage der Kurzwellenanlage, die wir als Leihgabe nach Cascais geschickt bekommen haben. Ich lege dicke Kupferbahnen quer durchs Schiff, male die ganze Bilge im Heck des Schiffes als
Erdung mit Kupferfarbe aus und biege Schellen aus Aluminium, um die Anlage seefest zu montieren. Zähneknirschend schließe ich dann auch gleich für 200 US-$ Jahresgebühr einen Vertrag mit Sailmail ab, da wir hoffen, nun bald kostenlos Mails und kleine Fotos per Kurzwelle verschicken zu können. Doch obwohl die ersten Funkgespräche von Madeira aus nach Deutschland halbwegs funktionieren, bekommen wir die Anlage insgesamt nicht vernünftig zum Laufen. Schade. Das wäre eine tolle Sache gewesen. Aber zum Glück haben wir seit unserem Deutschlandbesuch nun auch ein Iridium-Satellitentelefon an Bord, das mein Vater uns gekauft hat, damit wir »da draußen« erreichbar sind. Für die Atlantiküberquerung haben wir eine Prepaidkarte mit einem Monat Laufzeit und 70 Minuten an Bord, was vollkommen ausreicht, um jeden Tag ein- bis zweimal Mails und Wetterdaten abzufragen. Und auch reichlich Tabletten gegen Seekrankheit haben wir aus Deutschland mitgebracht, denn sie wirken bei Cati wahre Wunder. Gerade, als wir darüber nachdenken, wie wir die Verpflegung für etwa einen Monat auf See an Bord bekommen, klopfen wieder einmal Blogleser an Deck, da sie gerade in Funchal Urlaub machen und einen Mietwagen haben. »Braucht ihr was? Wir fahren mit euch einkaufen!« Aber klar, sehr gern! Also verabreden wir uns für den nächsten Tag am Supermarkt. Als sie dort mit ihrem Kleinwagen ankommen, staunen sie nicht schlecht, denn wir haben zwei ganze Einkaufswagen vollgeladen, die wir gerade eben im Auto verstaut bekommen. Allerdings bleibt dann für Cati und mich kein Platz mehr, sodass wir zu Fuß zurück zum Boot laufen müssen. Doch es lohnt sich: Wir sind verprovianiert. Nur noch den Wassertank füllen, und dann kann es am nächsten Tag losgehen. Cati ist aufgeregt. Ich auch.
ATLANTIK – MEHR BRAUCH ICH NICHT
Von Cati
17Uhr und es wird dämmerig. Die Lichter in den Hän leuchten schon und ziehen sich als orangefarbene Tupfer bis hoch in die Berge. Langsam verschwindet Madeira in unserem Kielwasser. Wir wollen über den Atlantik segeln. Jetzt. Nächster Halt: Karibik. Wenn alles gut geht zumindest. Ein fantastisches Bild, das dort hinter uns liegt. Fast könnte ich eine Wehmutsträne verdrücken, wenn ich nicht so voller Vorfreude wäre. Im Vorfeld unserer Reise war die Atlantiküberquerung gedanklich immer ein Wahnsinnsding, und ich habe mich schon so manches Mal gefragt: »Bekomme ich Angst, wenn ich Wetter und Wellen auf dem Atlantik sehe und dann noch weiß, dass das nächste Land Tage entfernt ist? Gewöhne ich mich an das dauerhafte Schaukeln? Bekomme ich Routine und so etwas wie Alltag?« Auch auf den ersten Etappen geisterten diese Gedanken noch in meinem Kopf und ein neuer kam hinzu: »Werde ich die Atlantiküberquerung überhaupt genießen können oder ständig seekrank im Bett liegen?« Die Vorbereitungen der letzten Tage haben aber dazu geführt, dass ich ganz kribbelig geworden bin. Ich möchte endlich, endlich Antworten auf meine Fragen. Die Sorge ist komplett einer dringlichen Neugier gewichen. Als wir die Leinen gelöst haben, existiert nur noch ein Gedanke in meinem Kopf: »Endlich!« So richtig glauben kann ich es aber noch nicht, dass wir jetzt so lange segeln werden. Es fühlt sich nicht anders an, als würden wir zu einer Tagesetappe aufbrechen, vielleicht auch zwei Nächte. Wir schätzen, dass wir etwa einen Monat bis auf die andere Seite brauchen werden. Der Ostwind schiebt uns mit 6,5 bis 7 Knoten nach Süden. Wir sind euphorisch.
Ich habe rechtzeitig meine Seekrankheitstablete genommen, weshalb es mir auch hervorragend geht. »Lass uns direkt mit dem Wachtakt anfangen«, sagt Johannes. »Dann gewöhnen wir uns gleich dran«. Ich nicke: »Alles klar, alle vier Stunden wird gewechselt.« Der klassische Takt. Nach dem Abendessen lege ich mich also direkt in die Steuerbordkoje. Mein Refugium für die nächsten Wochen. Einschlafen kann ich jedoch nicht. Schließlich ist es erst kurz nach sieben. Und freudig aufgeregt bin ich auch. Vier Stunden döse ich in meiner Koje vor mich hin. Am Ende muss ich doch noch eingeschlafen sein, denn ich habe gar nicht mitbekommen, dass der Wind deutlich nachgelassen hat. »Ist schon seit 8 Uhr so«, sagt Johannes, als ich ins Cockpit komme. 2,5 Knoten stehen nur noch auf der Logge. »Auch egal«, meint er. »Dann wird die erste Nacht halt sehr entspannt.« »Ist zum Eingewöhnen auch nicht schlecht«, antworte ich. Johannes nickt: »Ich lege mich dann jetzt hin. Weck mich, wenn was ist!« Ich bin noch nicht sicher genug mit dem Schiff, dass ich selbstständig irgendwelche Manöver machen kann. Ich merke zwar, wenn zum Beispiel zu viel Tuch gesetzt ist oder die Genua weiter ausgerollt werden kann. Ob die Segel gut getrimmt sind, kann ich allerdings eher weniger erkennen. Wir haben daher abgemacht, dass Johannes die letzte Entscheidung über durchzuführende Arbeiten trifft. Das nimmt mir die Angst, dass ich durch meine Manöver etwas völlig Dummes machen könnte. Ich gewinne Sicherheit, wenn ich merke, dass meine Einschätzung einer Situation richtig ist. Johannes bekommt diesen Lernprozess mit, kann mich ermutigen, korrigieren und selber immer mehr Vertrauen in meine Fähigkeiten fassen. »Weck mich lieber einmal zu viel als zu wenig«, schärft er mir ein. Daran werde ich mich immer halten. Oft tut es mir leid, wenn ich ihn wecken muss, weil er eigentlich immer viel Schlaf nachzuholen hat. Aber er nimmt es mir nie übel, wenn ich ihn wecke. Meine Fehleinschätzungsquote ist glücklicherweise sehr gering und im Lauf der Atlantiküberquerung lerne ich viel dazu. Vor allem, zu merken, wenn ich etwas selbst machen kann. Anfänglich kann ich nicht mal die Windsteueranlage einstellen. Am Ende ist das eine meiner leichtesten Übungen, und die Segel kann ich danach auch immer end trimmen. Nur eines ist absolut tabu: Dass einer von uns das Cockpit verlässt, solange der andere noch nicht dort ist. Obwohl der Wind in der ersten Nacht so stark abgenommen hat, haben wir bis zur Mittagsposition fast 80 Seemeilen nach Süden zurückgelegt. »Wir können sogar noch ein 100er-Etmal schaffen«, sagt Johannes. »Dann sind wir zumindest
nicht langsamer als die MAVERICK damals.« Die See ist relativ glatt, aber wegen des fehlenden Winds schüttelt sich das Boot trotzdem ganz heftig, denn die Dünung des Atlantiks steht hoch. Und der Wind nimmt noch weiter ab. In der darauffolgenden Nacht machen wir zeitweise nur 1 Knoten Fahrt. Und als es Tag wird, will es gar nicht richtig hell werden. Der Horizont ist von dicken, dunklen Wolken verhangen. Blöderweise kommt etwa jede Stunde für ein paar Minuten etwas stärkerer Wind. Das Vollzeug ist dann immer zu viel, und Johannes muss reffen. Ziemlich schnell ist der Spaß dann vorbei, und wir kommen gar nicht vorwärts, wenn wir nicht wieder ausreffen. »Lass uns den Motor anwerfen«, schlägt Johannes später vor. »Bist du sicher«, frage ich ihn, »dass wir dafür genüg Diesel an Bord haben? Immerhin ist heute erst der dritte Tag!« »Nur ein, zwei Stunden«, antwortet Johannes. »Dann machen wir wenigstens ein paar Meilen, kommen vielleicht aus dem Flautenfeld raus und laden gleichzeitig die Batterie.« Ohne Wind können wir die Windsteueranlage nicht anklemmen. Also müssen wir von Hand steuern. Keine große Sache, wenn das Meer so platt ist wie jetzt gerade. Ich melde mich deshalb freiwillig, denn das nächste Manöver, bei dem ich nur zugucken kann, kommt bestimmt schnell. Im leichten Nieselregen fahre ich mit 5 Knoten gen La Gomera. »Hoffentlich treffen wir südlich der Kanaren auf besseren Wind«, meint Johannes. Wind kommt tatsächlich, aber leider aus der falschen Richtung. Als wir unsere Mails abrufen, ist auch eine von Boris Herrmann dabei. Dieser ist als Navigator auf dem Volvo-Racer MASERATI hier ganz in der Nähe durchgekommen und checkt netterweise nicht nur die Wetterlage für die eigene Position, sondern gibt sie auch für uns. »Nur ein paar Hundert Meilen westlich von euch hat sich ein Tiefdruckgebiet festgesetzt«, schreibt er, »was ziemlich ungewöhnlich ist, denn eigentlich kommen die nicht so weit runter.« Boris ist mit dem schnelleren Boot im Norden des Tiefs durchgerutscht und hat ein paar nette Rückenwinde bekommen. Wir sind langsamer und auf dem Weg zu den Kapverden, deshalb erwischt uns das Tief mit Gegenwinden. Das haben wir schon in der letzten Nacht gemerkt. Wir verbringen die meiste Zeit unter Deck, denn es regnet immer wieder, und wirklich warm ist es auch nicht. Wir tragen unsere Thermounterwäsche, und wenn wir doch mal rausgehen, ziehen wir schnell das Ölzeug drüber. Dann wieder in Thermounterwäsche in die Koje. Unsere liebsten Plätze und ein
bisschen auch privater Rückzugsort. In der Nacht hangeln wir uns von Windfeld zu Windfeld. Dazwischen immer wieder Flaute, und nach etwa einer halben Stunde geht es mit 5,5 Knoten wieder weiter. Ein bisschen wie meine Sprachstörungen, die ich vor etwa zwei Jahren hatte. Als drückte jemand auf einen Zeitlupenknopf, konnte ich mitten im Satz nicht mehr in normaler Geschwindigkeit weitersprechen. Nach ein paar Sekunden ging es dann wieder normal schnell. Etwas, worüber ich in den Nachtwachen viel nachdenke. Jetzt in der dritten Nacht fällt es mir allerdings immer schwerer, meine Wachen hindurch wach zu bleiben. Insbesondere die letzte Stunde ist ein wahrer Kampf. Lesen funktioniert nicht, denn in der Dunkelheit muss ich vornübergebeugt am Kartentisch unter der kleinen Lampe sitzen. Und das geht bei den Bewegungen ins Kreuz. Nicht selten schrecke ich davon hoch, dass mein Kopf mal wieder im Schlaf auf die Tischplatte knallt. Als meine Wache endlich zu Ende ist und ich Johannes wecken kann, frage ich ihn daher vorsichtig: »Könnten wir nicht vielleicht alle drei Stunden wechseln?« »Wieso?«, fragt Johannes zurück, während er sich langsam in der Koje aufsetzt. Als ich ihm erzähle, wie schwer es mir fällt, wach zu bleiben, muss er lachen: »Aber Cati, wir haben doch gerade dir zuliebe den Vier-Stunden-Wachtakt.« Ich bin verwirrt: »Ich dachte, du wolltest das doch so?!« Johannes schüttelt den Kopf: »Ich habe mich schon gewundert. Mit Egi habe ich 2009 auch alle drei Stunden gewechselt, und das war wunderbar. Einmal hat der eine zwei Wachen pro Nacht, einmal der andere. Und die Mahlzeiten hat man zusammen. Aber du hast bestimmt, dass wir nach vier Stunden wechseln. Ich dachte, du brauchst die Stunde mehr Schlaf.« Ich bin baff. Und muss lachen. »Welch klassisches Missverständnis! Jeder will es dem anderen recht machen, und beide quälen sich!« Am Morgen ist der Wind dann ganz weg. Schon wieder Flaute. Und Boris macht uns nicht viel Hoffnung, dass sich das bald ändert: »Interessanterweise sorgt das Tiefdruckgebiet für Flaute. Ist ziemlich groß. Da steckt ihr lang drin«, schreibt er uns. Darauf haben wir nicht so viel Lust. Schließlich haben wir noch nicht einmal den ersten Wegpunkt erreicht. »Motor?«, fragt Johannes. »Motor«, antworte ich. Tagsüber halten wir uns nicht an unsere »neue« Wachaufteilung – insbesondere, wenn wir motoren und von Hand steuern müssen. Jeder macht so lange, wie er kann. Und weil jeder sein Bestes gibt, wird das mitunter ziemlich lang. Es ist
fast nicht zu glauben, dass wir tatsächlich auf dem Atlantik sind, so platt ist die See zwischendurch. Nur die alte Dünung schüttelt uns ordentlich durch. Später mit Regen und grauem Himmel fühlen wir uns beinahe wie auf der Nordsee. Der sechste Tag auf See. Als ich mich morgens aus der Koje schäle, glaube ich erst, noch zu träumen, als ich meinen Kopf aus dem Niedergang stecke. Sonne. »Wahnsinn, was es ausmacht, wenn das Wetter gut ist«, sagt Johannes gut gelaunt. »Etwa 100 Seemeilen südlich von uns sollte der atgürtel beginnen«, erklärt er. »Das da oben sind schon atwolken.« Tatsächlich, puffig und plusterig kleben sie am tiefblauen Himmel, und nur in Thermounterwäsche ist es absolut angenehm. »Was meinst du?«, fragt Johannes. »Ich finde, wir sollten heute noch mal durchmotoren, damit wir aus dem Tiefdruckgebiet herauskommen.« Ich bin einverstanden und melde mich freiwillig zum Steuern. Bei dem Sonnenschein will ich nicht unter Deck sitzen. »Dann könnte ich doch Brötchen zum Frühstück backen«, schlägt Johannes vor. Wir entwickeln eine Motortagroutine: Zwischen 8 und 10 Uhr bei herrlichem Sonnenschein im Cockpit frühstücken, danach Motor anwerfen und mit etwa 5 Knoten lostuckern. Damit bleibt der Spritverbrauch sehr überschaubar. Den ganzen Tag wechseln wir uns alle paar Stunden am Steuer ab und kochen zwischendurch Mittagessen. Gegen 20 Uhr, wenn die Sonne gleißend rot über dem weiten Horizont untergeht, machen wir »Feierabend« und kochen Abendessen. Das Schiff liegt ruhig auf der glatten See, bewegt sich kaum. Wie vor Anker. Die letzten Nächte haben wir das Boot im Prinzip immer mit gesetzten Segeln und eingestellter Windfahne treiben lassen und nur alle halbe Stunde mal draußen nach dem Rechten geschaut. Seit den Kanaren haben wir allerdings erst drei Frachter gesehen. Die Tage fühlen sich wie in sich geschlossene Tagestörns an. Bis zum nächsten Mittag haben wir 78 Seemeilen geschafft. Nach fast einer Woche auf See wird es jetzt höchste Zeit für eine Dusche. Wegen der Flaute sind wir etwas nervös, ob unsere Wasservorräte reichen. Deshalb wollen wir ausschließlich Salzwasser verwenden. Wir schöpfen einen Eimer aus dem Atlantik, achten darauf, dass dieser keine Portugiesische Galeere enthält, und stellen den schwarzen Behälter in die Sonne, damit sich das Wasser ein bisschen erwärmen kann. Das hilft minimal, aber irgendwie ist ein Eimer für mich zu wenig, und ich muss mir die Haare mit einem zweiten, kälteren ausspülen. Das geht aber auch. Und so stehe ich kurze Zeit später wieder am Ruder und lasse meine Haare von der Sonne trocknen. Ich fühle mich gut. Und sauber.
Gegen 20 Uhr machen wir den Motor wieder aus und kochen. Während wir auf unseren Kojen sitzen und essen, wird Johannes plötzlich ganz aufgeregt: »Guck mal, der Backofen hängt so schief. Haben wir etwa Lage?« Wie gestern Abend und die Nacht davor, hatte er die Segel auf Backbordbug festgelascht, damit der Baum nicht in der Dünung schwingt, und die Windsteueranlage auf Halbwindkurs eingestellt, für den Fall, dass doch noch Wind kommt. Ich gucke ungläubig auf die Logge: »Tatsächlich, 3 Knoten Fahrt, genau auf Kurs! Wir segeln wieder!« Was für ein Geschenk. Statt der üblichen 5 Seemeilen können wir über Nacht fast 30 machen! Ab 6 Uhr morgens am achten Tag ist der Wind dann wieder weg. »Also nee, wir können doch nicht die ganze Zeit motoren«, beschwert sich Johannes und beschließt, den Gennaker auszupacken. Schwitzend läuft er übers Deck, zuppelt hier, zuppelt da, wechselt die Seiten und schlägt die Schoten immer wieder um. Um 11 Uhr muss er allerdings einsehen, dass selbst für den Gennaker zu wenig Wind ist. Noch haben wir 85 Liter Diesel. Also wieder Motor an. Einen Tag wollen wir noch motoren, denn der 25. Breitengrad, ab dem der at eigentlich wehen sollte, ist nur noch 46 Seemeilen entfernt. Gestern hat uns Boris geschrieben, dass sich das für die Flaute verantwortliche Tief heute endgültig auflösen und sich ab Freitag der at in gewohnter Stärke durchsetzen soll. Das wäre perfekt. »Cati, die Kamera, ein Waaaaaaal!«, ruft Johannes in meiner Freiwache, und mir rutscht das Herz in die Hose. Vor Walen auf dem Atlantik habe ich ziemlichen Schiss, vor allem seitdem die LILLY-MARIE auf dem Weg nach Madeira einen Buckelwal gerammt hat. »Ist ja nur ein bisschen größer als MAVERICK TOO«, meint Johannes, als ich mit der Videokamera nach draußen komme. »Pff, das finde ich schon ziemlich groß«, meine ich schissig. In mein Tagebuch notiere ich, dass der Wal einen großen, runden Kopf hat und die weit hinten sitzende Rückenflosse eingewachsen und nicht klassisch als Flosse ausgeprägt ist. Als ich später im Internet nachschaue, bin ich mir sicher, dass es ein Pottwal war. Mit einer durchschnittlichen Länge von zwölf Metern kommt das auch in etwa hin. Am Abend kehrt tatsächlich der Wind zurück. Gerade als Johannes den Motor ausgemacht und die Genua für die Nacht gesetzt hat, nimmt das Boot plötzlich Fahrt auf. Mit 5 Knoten schießt es über die spiegelglate See in den glühenden Sonnenuntergang. Ein Blick auf den Kom zeigt: Nordostwind, genau auf Kurs zu unserem ersten Wegpunkt. Über Nacht brist der Wind noch weiter auf,
und beim Wachwechsel laufen wir sogar wieder 6,5 Knoten. »Cati, du glaubst es nicht, ich binde jetzt ein Reff ein«, kündigt Johannes nicht ohne Freude an. Letztlich bindet er sogar zwei Reffs ins Groß und rollt die Genua zu einem Drittel weg. MAVERICK TOO juckt das gar nicht, wir sind immer noch schnell unterwegs, allerdings jetzt mit viel weniger Lage. Das Etmal am Mittag ergibt sensationelle 112 Seemeilen. Darin sind noch sieben Stunden Motorfahrt bei 4,7 Knoten enthalten. »Mal gucken, was das nächste Etmal bringt, wenn das so weitergeht«, freut sich Johannes. »Vielleicht ist das ja sogar schon der atwind.« Um Mitternacht legt der Wind noch weiter zu, sodass Johannes zum dritten Mal reffen muss. Als wir mittags unsere Position bestimmen, ist der erste Wegpunkt nur noch 160 Seemeilen entfernt. Eineinhalb Tage. Übermorgen früh könnten wir dann also nach Westen abbiegen und vor dem Wind Kurs auf die Karibik nehmen. Das sind dann noch etwa 2.200 Seemeilen. Bis jetzt haben wir 770 Seemeilen im Kielwasser. Angesichts der vielen Flaute eigentlich gar nicht so schlecht. Ob wir das aber tatsächlich machen werden, ist noch unsicher. »Irgendwas ist beim Pinkeln wieder nicht in Ordnung«, hat Johannes schon gestern gesagt. »Offenbar habe ich schon wieder eine Blasenentzündung … oder immer noch!« »Vielleicht ist es dann wirklich vernünftiger, weiter zu den Kapverden zu segeln?«, habe ich daraufhin zu bedenken gegeben. Diese Idee behagte ihm gar nicht, und auch ich selber wäre darüber ziemlich traurig. Gerade flutscht es so schön, und ich habe keine große Lust, wieder an Land zu gehen. Daher beschließt Johannes jetzt, seinem Hausarzt, der auch segelt und ihn schon bei seiner ersten Atlantiktour betreut hat, eine Mail zu schreiben. »Wir haben noch ein Breitbandantibiotikum in der Bordapotheke«, sagt er. »Vielleicht hilft es ja, wenn ich das nehme.« Die letzten beiden Tage sind wir auf Raumwindkurs unterwegs. Dabei haben sich die Wellen immer höher aufgebaut und mitlerweile etwa vier Meter Höhe erreicht. MAVERICK TOO knarzt und knackst, und immer wieder werden wir richtig brutal auf die Steuerbordseite geworfen. Völlig außer Takt. Mit dem gleichmäßigen Geschaukel kann ich ja umgehen, aber diese Ausreißer gehen an die Substanz. Johannes und ich sind merklich gereizt. Bei der Mitagsposition dann aber zwei gute Nachrichten: Wir haben ein 131erEtmal, und der Arzt gibt grünes Licht für das Breitbandantibiotikum. Und dann überrascht mich Johannes: »Cati, ich habe die Nase voll von dem Geschepper. Wir gehen jetzt auf Kurs Karibik!« »Bist du dir sicher?«, frage ich. »Wir wollten
doch noch einen Tag warten, um uns ganz sicher im at zu befinden.« »Mir egal«, grinst er. »Der Wind weht schon seit zwei Tagen aus der richtigen Richtung.« Also raus die Großschot, Vorwindkurs. Den Bullen nachspannen, falls die Windsteueranlage eine Halse fahren sollte. Genua einrollen. Dann das Geraffel auf dem Vorschiff klar machen, den Spibaum an die Genua hängen, mit dem Toppnant vorheißen. Windsteueranlage auf Vorwindkurs einstellen und die Genua ausrollen! Sofort stabilisiert sich das Schiff und läuft wie auf Schienen nach Westen. 6,5 Knoten zeigt die Logge an, manchmal sogar 7. »Heute ist der zehnte Tag auf See, und wir sind gerade nach Westen abgebogen«, sagt Johannes in die Kamera. Auf der Aufnahme ist deutlich zu sehen, wie sehr wir uns darüber freuen. »Und das ist wirklich der Point of no Return, denn wir hätten auf den Kapverden die letzte Möglichkeit gehabt, an Land zu gehen, und jetzt geht es wirklich nur noch rüber«, sagt er. Dieses Abbiegen bleibt eindrücklicher in meiner Erinnerung verankert als die Abfahrt von Madeira. Ich kann es kaum fassen! Immer, wenn große Ereignisse ins Haus stehen, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich sie erleben werde. So auch mit der Karibik. Ich, gerade ich werde in der Karibik sein?! Johannes ist ein großer Fan der Butterfly-Segelstellung für Atlantiküberquerungen. Das hat damals gut geklappt und tut es diesmal auch. Wahrscheinlich ist das keine allgemeingültige Lösung für alle Schiffe, denn der Baum darf nicht zu lang sein, sonst kann die Baumnock in die Wellen tauchen. Aber auf den MAVERICKS funktioniert das super. Alle zwei Tage kontrolliert Johannes Segel, stehendes und laufendes Gut sowie die Windsteueranlage. Dieses Mal müssen wir tatsächlich ein Stück Leine für die Monitor austauschen. Johannes hat vor der Atlantiküberquerung etliche Reservestücke abgelängt, das Tauschen geht also relativ schnell. Ich muss in der Zeit das Schiff von Hand steuern. »Johannes, ich steuere unser Segelboot, mitten auf dem Atlantik!«, jauchze ich begeistert, als hätte er mich selbst nicht gerade dazu aufgefordert. Ich bin stolz auf mich, auf uns, auf MAVERICK TOO. Viel zu schnell sind die Leinen getauscht, und die Monitor macht wieder ihre Arbeit. Das nächste Etmal bringt uns 140 Seemeilen. Rekord auf der Atlantiküberquerung. Klammheimlich knacken wir die Tausendmeilenmarke. »Irgendwie ein verrücktes Gefühl«, sagt Johannes. »Hier in der Kajüte sieht es aus wie immer. Als wir in England waren genauso wie auf Madeira. Aber
draußen zieht gerade einfach so der große Atlantik an uns vorbei.« Ich lache. »Stimmt. Heute Morgen habe ich aus dem Fenster geguckt und es kam mir vor, als würde sich die Welt vor der Scheibe bewegen: tiefblau – himmelblau – tiefblau. Dabei ist es doch eigentlich umgekehrt.« Das Leben an Bord ändert sich mehr und mehr. Die ersten eineinhalb Wochen haben wir eigentlich Tag und Nacht in Thermounterwäsche gelebt, über die wir während unserer Wachen dann noch jeweils Fleece und Ölzeug gezogen haben. Bis zu den Kanaren war es tagsüber noch relativ kalt, bis zu den Kapverden auch nachts. Mit Erreichen der südlichen Breiten ist es an Bord nun deutlich wärmer geworden. Tagsüber sitzen wir mit kurzer Hose im Cockpit und lassen uns die Sonne auf den Pelz scheinen. Und selbst nachts reicht es, in Boxershorts an Deck zu hüpfen, wenn die Windfahne etwas nachjustiert werden muss. Es ist noch ziemlich lang hin, aber wir reden auch immer wieder darüber, was eigentlich unser Ziel sein soll. An Weihnachten hatten wir noch an Brasilien gedacht und alle nötigen Gastlandflaggen an Bord genommen. Dadurch, dass wir nun doch so viel Zeit auf Madeira verbracht haben, sind wir davon wieder abgekommen, damit wir nicht so durch alle Länder hetzen müssen. St. Lucia steht seitdem hoch im Kurs. Schließlich war das auch Johannes’ Landfall nach seiner Einhandtour. »Wir könnten auch Barbados anlaufen«, schlägt er vor. »Das liegt nämlich nicht mehr wirklich auf dem Weg, wenn wir direkt nach St. Lucia gehen. Hätte auch den Vorteil, dass es 100 Seemeilen näher ist, falls sich die Blasengeschichte nicht mal langsam erledigt.« Denn leider schlägt das Breitbandantibiotikum nicht wirklich an, außer dass Johannes recht erschöpft ist. Nach zwei Wochen auf See hat sich eine schöne Routine entwickelt: Jeden Morgen, wenn die Nachtwache vorüber ist, koche ich Johannes einen Kaffee und gehe in die Koje. Er setzt sich dann mit einem Buch aufs Brückendeck und liest. Oder legt das Buch nach einigen Minuten wieder beiseite und schaut aufs Meer. Immer öfter ist sein Platz unter der Sprayhood allerdings schon von Fliegenden Fischen belegt, die leider sehr schnell zu stinken anfangen. Und da sie oft auch ziemlich klein sind, manchmal nur fünf Zentimeter, lohnt es sich nicht, ihrem Tod als unser Frühstück noch etwas Sinn zu verleihen. Zur Routine gehört leider auch, dass der Wind nachts immer aufdreht, und zwar genau dann, wenn Johannes gerade ins Bett gekrochen ist. Obwohl das Reffen im Scheinwerferlicht nach etwa zehn Minuten erledigt ist, ist Johannes jedes Mal sehr erschöpft. Vor allem das Gekurbel an unseren 42 Jahre alten Winschen
kostet Kraft, da die ehemals raue Oberfläche inzwischen glatt ist und die Leinen einfach durchrutschen. Mit drittem Reff laufen wir im Schnitt immer noch 6 Knoten. Nach 1.527 Seemeilen, 14 Tagen, 13 Stunden und 23 Minuten haben wir unser Bergfest. Nun haben wir meilentechnisch die Hälfte der Strecke hinter uns. Mit jeweils einer Dose kühler Cola stoßen wir darauf an. Alkohol trinken wir nicht, solange wir auf See sind, denn ein duseliger Kopf wäre äußerst kontraproduktiv, zumal momentan Achterbahnfahrt herrscht. Der Wind hat weiter aufgefrischt. Das Groß hat das dritte Reff, die Genua die Größe eines Badetuchs. Mehr reffen geht nicht, der nächste Schritt wäre die Sturmfock. Das Wetter macht es uns auch in den nächsten Tagen nicht leicht. Zwischendurch haben wir immer wieder 6 bis 7 Beaufort, in Böen 8. Ganz schön viel. Die Wellen bauen sich immer höher auf und kommen immer noch schräg von achtern. Das ist eigentlich das Schlimmste. Mit dem Wind können wir umgehen, aber die Wellen werfen uns immer wieder heftig auf die Seite, was das Leben hier an Bord nicht einfacher macht. Auch draußen im Cockpit zu sitzen geht wieder nur im Ölzeug, da die Wellen regelmäßig ihren Weg dorthin finden. An Tag 17 erleben wir einen Schreckensmoment: Mitags läuft die MAVERICK TOO aus dem Ruder und schlägt quer zu den Wellen. Das ist noch nie iert, offensichtlich waren wohl die Steuerleinen der Windsteueranlage zu schlaff. Wir haben sie mittlerweile zweimal ersetzt, da sie schon große Scheuerstellen aufgewiesen haben, und die neu eingezogenen Leinen haben noch relativ viel Reck. Plötzlich ist die Bewegung anders, das Schiff schaukelt von rechts nach links. »Wir sind aus dem Ruder gelaufen«, ruft Johannes, springt zum Luk und will nach draußen, da knallt es auch schon, und das ganze Backbordseitendeck ist bis zu den Fenstern unter Wasser. Wir stehen noch am Kartentisch, staunen, da kommt die nächste Welle. Mit einem gewaltigen Knall trifft sie den Bug, als hätten wir einen festen Gegenstand gerammt. Wir zucken vor Schreck über das laute Geräusch zusammen. Schnell raus an Deck, das Schiff auf Kurs bringen. »Cati, guck du nach der Bilge, kommt Wasser?«, brüllt Johannes von draußen. Schnell hebe ich die Bodenbretter, und zum Glück ist alles wie immer. Auch an Deck sind keine Spuren des Aufpralls zu sehen. Anders allerdings innen im Vorschiff: Zwischen Rumpf und Seitendeck sind dreieckige Holzleisten an den Rumpf geklebt, die eine Wandverkleidung zwischen Deck und Wand tragen. Offensichtlich hat die Welle den Rumpf auf
Höhe der Vorschiffskoje so hart getroffen, dass er gefedert hat und diese Holzdreiecke abgerissen wurden. Gut möglich, dass das Winkellaminat daneben am Schott auch abgerissen ist. Weil es sich dabei aber nicht um ein tragendes Schott, sondern nur um einen Raumteiler handelt, bleiben wir gelassen. In der Nacht auf den 18. Tag erleben wir den ersten Squall auf See. Ich muss Johannes wieder einmal während meiner Wache wecken, da die Genua back steht. Das kann durchaus mal ieren, wenn man so platt vor dem Wind segelt wie wir gerade. Dann eiert das Boot mal kurz über eine Welle, läuft ein wenig aus dem Ruder und zack, kommt der Wind zu weit von der Seite. Aber wie aus dem Nichts frischt auch der Wind auf und wirft MAVERICK TOO auf die Seite. Nun ist die Genua nicht mehr unser einziges Problem. Mit dem Wind kommt starker Regen, der waagrecht übers Cockpit fliegt. »Schnell, meine Jacke«, ruft Johannes, aber als ich sie ihm nach draußen reiche, spannt sie sich wie ein Segel auf und weht fast über Bord. MAVERICK TOO hat beigedreht und bietet so wenig Angriffsfläche für den starken Wind. Ich weiß gar nicht, wie uns geschieht, und stehe nur mit offenen Mund im Niedergang. »Das ist ein Squall!«, ruft Johannes mir durch den Regen zu. Mit einem Mal hören Wind und Regen auf, von einer Sekunde auf die andere. »So schnell wie der kommt, geht der auch wieder«, sagt Johannes. »Was bleibt, ist die nasse Unterhose …«, und sieht an sich herunter, nur mit Boxershorts und Ölzeugjacke bekleidet. Der erste Squall, aber nicht der letzte. Am kommenden Tag warten noch zwei weitere auf uns. Ein starker, ein halbwegs starker. Es ist dann allerdings recht einfach, die Genua wegzudrehen und das Schiff mit dem dritten Reff im Groß beizudrehen. Die Wellen sind nämlich kleiner geworden, nur noch drei bis vier Meter. Es stehen noch erfreuliche 1.092 Seemeilen auf dem GPS, das heißt, dass wir morgen früh unter 1.000 Seemeilen sein sollten. Das macht gute Laune. Am Abend des 18. Tages auf dem Atlantik loggen wir die 2.000. Seemeile. Mittlerweile sind wir wirklich im Flow. Natürlich freuen wir uns aufs Ankommen, aber momentan ist es unwichtig, ob das noch eine oder zwei Wochen dauert. Im Morgengrauen zeigt das GPS dann auch nur noch 999 Seemeilen bis Barbados an. Zwei Drittel sind damit geschafft, und irgendwie ging das zweite Dritel wesentlich schneller vorbei. Und wie feiert man das mitten auf dem Atlantik? Klar, mit einem schönen Essen.
Gleich morgens früh um sechs setze ich Kartoffeln auf, damit wir abends Kartoffelsalat mit Würstchen essen können. Und ich rühre eine Backmischung an, es soll frisches Brot mit Kräuterbuter dazu geben. Den ganzen Tag schwärmen wir uns vor, wie lecker das Abendessen wird. »Wir könnten mal was ganz Verrücktes machen und vor dem Essen duschen«, schlägt Johannes vor. »O ja«, platzt es aus mir heraus, denn das wäre erst das dritte Mal auf der Atlantiküberquerung, und ich kann an kaum etwas anderes mehr denken. Zum Ausspülen der Haare reicht mir Johannes dann einen vollen Teekessel mit Süßwasser, das er extra für mich warm gemacht hat! Der Wind lässt in den nächsten Tagen weiter nach. Trotzdem machen wir eine Seemeile nach der nächsten. Von Herbert, der mit seiner MAYA 500 Seemeilen vor uns ist, erfahren wir per E-Mail, dass er große Probleme mit Seegras hat, da es sich in der freistehenden Schraube und im Hauptruder seiner Bavaria verfängt. Außerdem im Pendelruder der Windsteueranlage. Wir hatten bisher keine Probleme damit, da unsere Schraube und unserer Ruder durch Propellertunnel und Skeg sehr geschützt sind. Aber die Windsteueranlage fängt bei uns auch immer öfter mal zu zittern an. Schuld daran ist ein großer Ballen Seegras, der sich am Ruder der Monitor gesammelt hat. Die MAVERICK TOO ist deswegen aber noch nicht aus dem Ruder gelaufen, die Anlage schafft es trotzdem irgendwie, uns auf Kurs zu halten. Um ihr aber die Arbeit zu erleichtern, löst Johannes das Pendelruder ab und zu durch Zug am Entriegelungsseil. Dann klappt es nach hinten hoch, das Ruderblatt schwimmt auf dem Wasser, und das Kraut flutscht ab. Mit dem Bootshaken drückt er anschließend nur kurz von oben aufs Ruder, damit es wieder unter Wasser klappt und einrastet. »Echt komisch«, sagt er. »Ich habe noch nie gelesen, dass Segler auf dem Atlantik Probleme mit Seegras hatten. Hatte ich auf der ersten Tour auch nicht.« Tatsächlich befinden wir uns aber in der Sargassosee, die ihren Namen von der Seegrasgattung Sargassum bekommen hat. Und diese Pflanzen können bis zu 300 Meter lang werden. Kein Wunder, dass sich riesige Teppiche bilden. Am 22. Tag sehen wir das erste Schiff auf unserem AIS-Monitor. Name und Daten des Frachters werden nicht übermittelt, dazu ist er zu weit weg. Aber wir nähern uns offenbar deutlich dem Land, auch wenn es laut GPS noch 570 Seemeilen bis Barbados sind. Dass wir dorthin wollen, haben wir jetzt festgelegt und tippen auf eine Ankunft am Montagabend. Aber statt im Dunkeln einzulaufen, werden wir rechtzeitig Segel reduzieren und die Ankunft bis zum Dienstagmorgen herauszögern.
Heute ist so ein komischer bedeckter Tag. Wir haben noch Wasser für zehn Tage und Essen für etwa drei Wochen an Bord. Ansonsten vergeht die Zeit, so kurz vor der Ankunft, eher schleppend. Wir lesen unheimlich viel. Ich habe mittlerweile sogar Johannes überredet, dass wir uns gegenseitig etwas vorlesen. Ansonsten verbringe ich viel Zeit mit meinem dicken Sudoku-Block, den Johannes mir auf Madeira geschenkt hat. Sehr viel Zeit. Tagsüber die schweren, in der Nachtwache die leichteren Rätsel. Gerade noch so, dass ich mich anstrengen muss, um sie zu lösen, und nicht zu schwer, damit ich nicht einschlafe, wenn ich über die Lösung nachdenke. Je weiter wir nach Westen gelangen, desto nördlicher kommt der at. MAVERICK TOO ist unter Windsteueranlage langsam nach Süden, Richtung Trinidad, abgebogen. Deshalb verlassen wir den Vorwindkurs mit Schmetterlingsbesegelung und halten mit raumen Wind wieder genau auf unser Ziel zu. Wir sind etwas langsamer geworden, nur noch 5 Knoten im Schnitt. Aber das reicht vollkommen aus. Wir wollen ja eh nicht im Dunkeln ankommen. Wenn nichts mehr dazwischenkommt, sollten wir am Dienstagmorgen in der Carlisle Bay im Südwesten von Barbados auftauchen. Bis dahin liegen nur noch 467 Seemeilen vor uns. Zu unserer Überraschung verderben unsere Dosen in der Bilge seit Kurzem. Zwei waren total aufgebläht. Dabei sollte der Inhalt noch ein Jahr haltbar sein. Zwei Mandarinendosen hingegen fühlten sich an, als ob sie leer wären. Rein äußerlich sehen die restlichen Dosen jedoch alle noch gut aus. Vielleicht bekommt ihnen das Gerolle nicht gut? Seit wir den Vorrat dezimieren, ist wieder Platz in der Bilge, und einige Dosen fallen um und rollen den Rumpf hoch und runter. Die Tage auf See sind gezählt, und bei den Bewegungen des Schiffes entfährt mir ein »zum Glück«. Mittlerweile geht es bei unserer Ankunft nicht mehr nur um den Wochentag oder die Tageszeit, sondern um die genaue Uhrzeit. Die Büros des Zolls und der Einwanderungsbehörde sollten gerade geöffnet haben, wenn wir ankommen, sonst wird nämlich ein saftiger Zuschlag fürs Einklarieren fällig. Die Büros haben zwar bis 22 Uhr geöffnet, aber das wollen wir nicht wirklich ausreizen. Nach dem Einklarieren müssen wir nämlich von der Pier verschwinden und in der Bucht vor Anker gehen. Und im Dunkeln ist es einfach nicht so leicht, eine ende Stelle mit schönem Sandgrund zu finden. Zumal es unser erstes gemeinsames Ankermanöver wird.
Nach 23 Seetagen sind wir ein bisschen geschafft. Immer wieder halten uns Squalls auf Trab, und mir fallen die Nachtwachen immer schwerer. Also lässt mich Johannes in der folgenden Nacht, die einigermaßen ruhig bleibt, acht Stunden durchschlafen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Als wir am nächsten Mittag unsere Mails abrufen, ist auch eine von Herbert dabei. Die MAYA ist auf Grenada angekommen, und sie scheinen dort eine ziemlich tolle Zeit zu haben. Es klingt förmlich, als flögen ihnen die gebratenen Tauben in den Mund. Und wir werden, ehrlich gesagt, ein bisschen neidisch. Seit Monaten versuchen wir, mal zusammen in einem Hafen zu liegen, aber bisher hat es noch nicht geklappt. »Wir sollten nach Barbados unbedingt Grenada anlaufen«, schlage ich vor. »Bis dahin ist Herbert wahrscheinlich nicht mehr da«, antwortet Johannes. »Und wenn wir erst nach Grenada und dann nach Barbados segeln?«, frage ich. Johannes schüttelt den Kopf: »Das wäre bei den vorherrschenden Winden ungünstig. Der at kommt ja aus Ost, und Barbados liegt östlich von Grenada. Wir müssten auf der Strecke ständig kreuzen. Aber«, wirft er in den Raum, »wir könnten Barbados natürlich kippen. Von Grenada aus können wir super in Tagesetappen auf die Grenadinen hüpfen und alle Inseln gleich in einem Rutsch besuchen. Außerdem treffen wir dann endlich Herbert. Und denk doch an die gebratenen Täubchen!« Das sind definitiv Argumente. Bis Grenada ist es auch nur einen Tag länger auf See. Klingt nicht dramatisch. Eine halbe Stunde später ändern wir deshalb unseren Kurs um 10° nach Süden. Noch 446 Seemeilen, bis wir da sind. Die anfängliche Euphorie über unser neues Ziel verfliegt ziemlich schnell, denn das Wetter will gar nicht mitspielen. Ständig große, dicke, dunkle Wolken mit starken Böen und Winddrehern. Nachts muss Johannes spätestens nach einer Stunde die Segel reffen oder ausreffen und nach Winddrehern die Monitor nachjustieren. Der fehlende Schlaf lässt sich nicht nachholen, und Johannes ist wie gerädert. Mittlerweile sind es nur noch 330 Seemeilen bis Grenada, aber irgendwie will das Johannes bei den Bedingungen nicht so recht freuen. »Das hatten wir ja schon mal«, knurrt er, als er einen Blick aufs GPS wirft. Als es am nächsten Tag nur noch 200 Seemeilen sind, ist Johannes etwas enthusiastischer gestimmt. Die Nacht war jedoch wieder rau und lang und die letzten Seemeilen versprechen, noch einmal anstrengend zu werden. Daher herrscht an Bord eine etwas angespannte Stimmung. Kein Streit, kein böses Wort, nur die Vorfreude der letzten Tage ist in abwartendes Schweigen umgeschlagen. Der Atlantik schenkt uns aber auch wirklich nichts. Ständig dreht der Wind, und wir fahren in die falsche Richtung. Johannes muss immer wieder
aufs Vorschiff und das ganze Geraffel umbauen. Am 26. Tag auf See fährt der Atlantik dann zum Showdown auf: Der ganze Himmel im Osten wird plötzlich schwarz. Eine gewaltige, beängstigend aussehende Wolkenfront zieht zu uns herüber. In Erwartung von mächtig viel Wind rollen wir schnell die Genua ein. Zu unserem Erstaunen will aber kein Wind kommen, sondern nur sintflutartiger Regen. Und dann bleibt der Wind sogar ganz weg. Völlige Flaute. Johannes sitzt im strömenden Regen im Cockpit und versucht, das Schiff in den Wellen trotzdem auf Kurs zu halten. Zwei Stunden lang. Danach wieder viele Winddreher mit der damit verbundenen Umbauerei. Langsam macht sich der Schlafmangel wirklich bemerkbar. Wir haben einfach keinen Bock mehr. Zum Abend kommt leichter, beständiger Ostwind auf. Wir wollen fast schon fröhlich werden, da geht das Gedrehe wieder los. Der Wind treibt uns nach Barbados, dann zeigt der Bug sogar wieder nach Madeira. Erst am nächsten Morgen stabilisiert er sich ein wenig. Entsprechend mager ist das Etmal, 95 hart erkämpfte Seemeilen. Nun wird es tatsächlich doch noch ziemlich knapp, am nächsten Tag im Hellen anzukommen. Also werfen wir den Motor an, was auch der Ladung der Baterien zugutekommt. Die letzte Nacht auf See gehört wohl zu den lausigsten der ganzen Atlantiküberquerung. Alle halbe Stunde läuft das Schiff im Surf von den Wellenbergen aus dem Ruder, und das Großsegel steht back. Entweder hat sich wieder Seegras in der Windsteueranlage verfangen, oder die schnellen Rauschefahrten waren einfach zu viel für die Anlage. Wenn wir dafür wenigstens schnell vorankommen würden! Obwohl wir locker mehr als 7 Knoten durchs Wasser fahren, stehen nur 3,5 bis 4 Knoten über Grund auf dem GPS. Offenbar bildet die Äquatorialströmung hier zwischen Barbados und Tobago eine Art Strudel, und wir haben 3 Knoten Gegenströmung. Johannes findet und findet keinen Schlaf, immer wieder muss ich ihn aus der Koje scheuchen. Die Bilanz der letzten 24 Stunden fällt mit anderthalb Stunden Freiwache für Johannes bitter aus. Mir tut das unendlich leid. Mittlerweile weiß ich mir durchaus auch allein zu helfen, aber für etliche Dinge fehlt mir einfach die Kraft. »Ich glaube, das Ankommen heute können wir uns abschminken«, sagt Johannes im Morgengrauen resigniert. Da fängt auf einmal unsere Welle zu surren an. Ein sicheres Zeichen, dass wir schnell unterwegs sind, denn dann dreht die Schraube im vorbeirauschenden Wasser mit. Und tatsächlich, wir segeln mit 6,5 Knoten genau auf unser Ziel zu. MAVERICK TOO läuft wie auf Schienen. »Ich glaub’s nicht«, staunt Johannes,
als er aufs GPS guckt. »Ankunft zwischen 16 und 17 Uhr Ortszeit.« An Bord herrscht Bombenstimmung, Euphorie breitet sich aus. Johannes macht sich einen Kaffee und endlich die Beine lang. Ich könnte mich auch mit einem Buch hinsetzen, aber ich bin viel zu aufgekratzt. »Johannes, ich segel jetzt!«, verkünde ich und klinke die Monitor aus. Ich will der Tatsache, dass wir über den Atlantik gesegelt sind, irgendwie Ausdruck verleihen und habe das starke Bedürfnis, die letzten Seemeilen von Hand zu steuern. Das hat unter Segeln ja bisher immer die Windsteueranlage übernommen. Mir läuft es wohlig den Rücken herunter – ich segele unser Schiff auf dem Atlantik, ich habe den Atlantik überquert! 20 Seemeilen vor dem Ziel schlägt Johannes vor, uns mit den letzten Süßwasserreserven landfein zu machen und noch mal im Cockpit zu duschen. Eigentlich eine gute Idee, aber sie kommt ein bisschen zu früh, denn kaum sind wir im Süden der Insel, fordert der Atlantik einen letzten Tribut: Der Wind dreht noch einmal ordentlich auf. 35 Knoten. Immerhin ist das überkommende Wasser schön warm, und was sollen wir uns ärgern, dass wir wieder komplett salzig sind? Ich setze die gelbe Quarantäneflagge, die anzeigt, dass wir in einem neuen Land angekommen sind und einklarieren möchten. Und plötzlich taucht die Insel auf. Erst ist sie nicht zu sehen und dann riesig groß. Ich bin ein bisschen verwundert über mich selbst. Müsste ich nicht aufgeregt sein? Immerhin haben wir 27 Tage kein Land gesehen. Aber wie das Wegfahren, ist auch das Ankommen nicht erhebender als nach einem Zweitagestörn. Dann wird es noch mal ziemlich knapp mit dem Ankommen im Hellen, denn in der Karibik gibt es ja kaum eine Dämmerung. Um 16 Uhr schmeißt Johannes deshalb den Motor an und gibt noch mal Gas. Kurz darauf bergen wir die Segel. Den Spibaum lassen wir noch angeschlagen. Erst mal ankommen. Da kommt ein Dingi mit voller Geschwindigkeit auf uns zu. Es hüpft und springt über die hohen Wellenberge, und dem dunkelhäutigen agier scheint das nichts auszumachen. »Wollt ihr zur Marina?«, ruft er uns zu, als wir in Hörweite kommen. Ab jetzt kann ich dann doch nicht anders, als mich richtig doll zu freuen. Der Boatboy zeigt uns den Weg durch die kniffelige Einfahrt in die Marina, wo Herbert auf dem äußersten Steg steht und Fotos von uns macht. Auf einem anderen winkt Asma, seine Frau, wild. »Yeah! Super!«, ruft sie uns zu.
»You did it!« Mit dem Heck zuerst gehen wir an den Steg. Der Boatboy hilft uns, zwei Leinen mit einer Muring zu vertäuen, die am Bug liegt. Auf dem Steg wartet schon das gesamte Marinapersonal mit jeweils einem Planter’s Punch für uns, die wir zusammen 27 Tage, vier Stunden und 15 Minuten lang über den Atlantik gesegelt sind.
PAUSE UNTER PALMEN
Von Cati
Der Planter’s Punch hat es in sich. Nach einem Monat ohne Alkohol knallt der Cocktail ordentlich. Dazu kommt die Freude, angekommen zu sein, und auch die Tatsache, dass wir vor lauter Spannung, ob wir es noch im Hellen durch die enge Einfahrt schaffen, gar nichts gegessen haben. Wir sind sofort betrunken, vor Glückseligkeit und durch Hochprozentiges. Die Zollbeamten machen extra für uns noch ein paar Überstunden.. Eigentlich haben sie um 17 Uhr Feierabend, aber bis wir fest liegen und Herbert, Asma und ihre Söhne Adam und Samy begrüßt haben, ist es schon kurz vor 18 Uhr. Im Zollbüro füllt Johannes die entsprechenden Formulare an einem Computer aus, denn in der Karibik gibt es neuerdings ein System, das das Ein- und Ausklarieren vereinfachen soll. Dazu gibt man die Daten in eine Maske ein und speichert sie online. Angeblich sollen sie dann in jedem Zollbüro in der Karibik abrufbar sein. Wir sind gespannt, ob das tatsächlich so klappt. Mit den Einreisestempeln in unseren Pässen wird auch mir richtig bewusst: Wir sind in der Karibik. »Ihr kommt gleich zum Essen zu uns rüber«, sagt Asma. »Ob ich für vier oder sechs koche, macht keinen Unterschied.« Das freut uns, denn wahrscheinlich hätte es bei uns nur Nudeln mit Tomatensoße gegeben. Wenn überhaupt. Kurze Zeit später sitzen wir schon im Cockpit der MAYA. Wir verstehen uns gleich richtig gut. Die vier sind schon fast eine Woche hier in der Marina Le Phare Bleu, deren Name Bezug auf das alte schwedische Feuerschiff nimmt, das am Ende des Hauptsteges liegt und auf dem die Waschräume sind. Sehen können wir davon nicht mehr so viel, denn mit der schlagartigen Dunkelheit kommt auch Müdigkeit. Glücklich schaufeln wir das leckere Abendessen in uns hinein und hören mehr zu, als dass wir reden. Es ist warm, es ist schön, es ist die Karibik.
»Ich helfe dir morgen beim Putzen«, sagt Asma zu mir. Ich will das gar nicht annehmen, doch sie besteht darauf: »Doch, doch, mir hat auch eine Freundin geholfen!« Sie erzählt uns, dass bei ihnen mitten auf dem Atlantik ein Tintenfisch von einer Welle an Deck geschleudert worden sei. »Ein schreiender Tintenfi sch«, präzisiert Herbert. Auf unsere fragenden Blicke erklärt er: »Er kam mitten in der Nachtwache auf mich zugeflogen! Ich habe mich vielleicht erschreckt! Und er sich auch. Er hat schlagartig seine Tinte versprüht, und dieses Versprühen, also das klang wie Schreie!« Seitendeck, Cockpit und sogar die Segel hat der Tintenfisch erwischt. »Es gab so viel innen und außen zu tun, dass man dankbar ist, wenn es Hilfe gibt. Schließlich willst du doch hier etwas erleben!«, sagt Asma. Eigentlich wollen wir höchstens drei Tage in der Marina bleiben, um zu duschen, richtig auszuschlafen, die Batterien zu laden und Wasser zu tanken. Aber die Liegekosten von knapp 9 € sind zu verlockend. Also zögern wir unsere Weiterfahrt Tag um Tag hinaus und liegen mit unseren Freunden am Pool. Als ich nach ein paar Tagen endlich unsere Schmutzwäsche zusammenpacke, staunen wir nicht schlecht, wie viel das eigentlich ist. Aber ich will auch das Bettzeug gewaschen haben, die Unmengen an Schweiß, die auf dem Atlantik in unsere Kojen gegangen sind, müssen weg. Johannes hatte mir schon erzählt, dass es in der Karibik überwiegend üblich ist, die Wäsche abzugeben. Meist wird sie dann zu Hause privat von den Frauen, die einen Wäscheservice anbieten, gewaschen. Am Ende bekommt man sie sauber, trocken und gefaltet zurück. Hier gibt es sogar so etwas wie eine Wäscherei. Was das alles kosten soll, kann man uns nicht sagen, aber letztlich haben wir keine Wahl, denn der Weg in den nächsten Ort ist – insbesondere mit der ganzen Wäsche – zu beschwerlich. Nach zwei Tagen ist unsere Wäsche fertig und wir müssen unglaubliche 258 EC-$ bezahlen. Das sind etwa 86 €. In der Marina kann man sich kostenlos einen Strandkatamaran leihen. Ich bin noch nie auf so einem kleinen Teil gewesen, und deshalb müssen wir das unbedingt ausprobieren. Der Wind ist ordentlich, und wir flitzen nur so durchs Wasser. Die eine Kufe hebt ständig ab, und im engen Ankerfeld bekommen wir ordentlich Speed. »Eigentlich sollte ich ja mal segeln lernen«, sage ich zu Johannes. »Viel zu gefährlich«, jauchzt er. Vermutlich macht es ihm einfach gerade selbst zu viel Spaß … Neben allem Traumhaften, was wir hier auf Grenada erleben, müssen wir aber auch die unangenehmen Dinge in Angriff nehmen. Und so bringt Herbert
Johannes in eine kleine Klinik, damit er seine Blase untersuchen lassen kann. Der Arzt ist sehr nett und spricht verblüffenderweise sogar etwas Deutsch. Noch verblüffter ist Johannes allerdings, als er seine Urinprobe in einen schon mal verwendeten Becher abgeben muss. Bei meinem Blutcheck, der auch ansteht, werden glücklicherweise keine benutzten Spritzen verwendet. Unter dem Medikament, das ich gegen die MS nehme, ist es zu Todesfällen gekommen, weshalb ich seit Madeira regelmäßig meine aktuellen Blutwerte zu meiner Ärztin nach Hamburg schicken muss. Unter diesen Umständen nur vernünftig. Allerdings sind diese neu verordneten Checks ein unerwarteter Posten, der immer wieder ein Loch in die eh schon knappe Reisekasse reißt. Denn die Auslandskrankenversicherung greit nicht bei chronischen Erkrankungen. Johannes bekommt erneut ein Antibiotikum verschrieben. Mittlerweile das dritte. So langsam wollen wir dann aber wirklich weiter, denn aus den drei Tagen Ankommen ist mittlerweile eine ganze Woche geworden. Ein Highlight wollen wir aber doch noch erleben: Am Sonntag findet ein Dingikonzert statt. Herbert hat uns ganz begeistert davon vorgeschwärmt. Die Idee dahinter ist einfach: In der Mite der Calivigny Bay, der Bucht vor der Marina, wird ein Ponton mit einer Bühne darauf befestigt. Dann hängen sich die Segler mit ihren Dingis in Trauben an den Ponton und lauschen der karibischen Musik. In der Sonne ist es heiß, deshalb gibt es auf dem Ponton auch eine Bar, und es ist ziemlich witzig, wenn jemand, der mit seinem Dingi ganz hinten im Päckchen liegt, über alle anderen Boote klettern muss, um sein Getränk zu bekommen. Wem der Rückweg dann zu lang ist, der lässt sich einfach ins Wasser fallen, den Daumen auf der Flasche, um gemütlich zu seinem Dingi zurückzuschwimmen. Bei 27 °C warmem Wasser noch nicht mal eine richtige Abkühlung. Was für ein tolles Erlebnis!
EYOLA
Von Johannes
Einzelne Worte haben häufig eine tiefe Bedeutung. Vor allem, wenn sie eine Verbindung zu Erlebtem herstellen. Bei mir gibt es ein bestimmtes Wort, das mein Herz öffnet und meine Seele in Gedanken auf Reisen schickt. Das Wort stammt von einem Kontinent, auf dem ich noch nie gewesen bin, den ich aber immer schon mal bereisen wollte: aus Afrika. Aus einer Sprache, die ich nicht spreche: Zulu. Dort bedeutet »Eyola«: »Gold«. Das allein schafft für mich noch keine Verbindung, denn mit Schmuck hatte ich noch nie etwas am Hut. Was dem Begriff für mich eine unvergessliche Bedeutung verleiht, ist die Tatsache, dass es sich dabei nicht um die Beschreibung eines Gegenstands handelt, sondern um einen Namen, und zwar den eines Schiffes. Die Hälfte meines Lebens – vom jetzigen Standpunkt aus betrachtet – habe ich nicht mehr über das Schiff gewusst als den Namen, das Baumaterial, die Länge und die Takelage, außerdem, dass es irgendwann in den 1970er-Jahren in Afrika gebaut worden ist. Sonst nichts. Und trotzdem hat kein anderes Schiff meine Träume mehr beflügelt, meinen Atem kurz zum Stocken gebracht, wenn ich etwas Neues über es herausgefunden habe. Mit 16 Jahren bin ich über Freunde zum Segeln auf Traditionsschiffen gekommen. Eigentlich interessierten mich diese damals nicht sonderlich, denn die Dinger waren mir zu groß, zu viel Crew nötig, um sie zu bewegen und zu unterhalten. Aber für einen 16-Jährigen, der im tiefsten Binnenland Deutschlands groß geworden ist, boten sie eine gute Gelegenheit, mal auf See zu segeln. Zunächst auf der Ostsee, mit 40 anderen Gästen im Rahmen einer christlichen Segelfreizeit. Schnell hatte ich mich dann mit der Crew angefreundet und war einige Wochen später schon wieder an Bord des 47 Meter langen Stagsegelschoners PEDRO DONCKER. Diesmal nicht als Gast, sondern als Deckshand bei der Rostocker »Hansesail«. Ein halbes Jahr später flog ich
dann allein nach Teneriffa und durfte die 50 Meter lange Barkentine ANTIGUA mit nach Lissabon überführen, dabei erste Atlantikerfahrungen sammeln. Eine Reise, die den Ausschlag dafür gegeben hat, dass ich zwei Jahre später mit 19 Jahren und eigenem Boot von Lissabon aus über den Atlantik gestartet bin. Zwischen meiner ersten Reise als Deckshand und der Atlantiküberführung hatte mich dann das Großseglerfieber gepackt, und ich stellte mir vor, wie es wäre, selbst so ein großes Schiff zu besitzen und mit Freunden und zahlenden Gästen um die Welt zu segeln. Oliver, der Skipper der PEDRO DONCKER, war damals Mitte 30 und besaß bereits seinen eigenen 49 Meter langen Toppsegelschoner. Ein beeindruckendes Ziel für mich, da ich damals noch überhaupt nicht wusste, wohin mein Leben führen sollte. Seit ich irgendwann die Micky-Maus-Hefte zur Seite gelegt hatte, war ich Stammleser der Boots-Börse. Ich studierte jedes Heft von vorn bis hinten. Gut, ausgenommen die Motorbootverkäufe. Ich kannte fast jede Ausstattungsvariante der gängigen Gebrauchtboote und hatte damals schon einen exakten Überblick über den Gebrauchtbootmarkt, was mir später als Redakteur die Aufgabe bescherte, die Gebrauchtbootgeschichten zu schreiben. Und eines Tages stand dort unter »Großsegler« folgende Annonce: Ferro-Cement Brigantine Schooner, Werftbau, L 2500, B 520, T 260; Standort Karibische See, Caterpillar D330, überholungsbedürftig, Gelegenheitskauf, Euro 35.000,-.
Viel Schiff für wenig Geld. Natürlich hatte ich als 16-Jähriger weder Mittel noch Wege, eine alte Brigantine zu kaufen, doch ließ mich die Annonce nicht los. Wäre ich doch nur zehn Jahre älter und hätte das Geld auf dem Konto, ich würde alles in das alte Schiff investieren. Aus reinem Interesse schrieb ich eine Mail an die angegebene Adresse: »Ich habe zwar keine Möglichkeit, das Schiff zu kaufen, aber es würde mich sehr interessieren, um was für ein Schiff es sich dabei handelt. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als auf einer Brigantine durch die Karibik zu segeln und zum Segelbergen in die Rahen zu klettern.« Einige Tage später bekam ich eine Antwort. Der Eigner namens Nikola erzählte mir, dass sie ihr Geld mit Kühltransporten nach Venezuela verdienten und zwei
Schiffe hätten. Einen Fischkutter und die Brigantine. Eines müsse sie verkaufen, auf dem anderen wolle sie wohnen und lade mich ein. Sollte ich je in die Karibik kommen, und sollte sie das Schiff dann immer noch haben, dann wäre ich sehr willkommen, mit zu segeln. »Aber wehe, du fällst von der Rah.« Angehängt an die Mail waren zwei Fotos. Eines zeigte einen Fischkutter namens ALBATROS. Und daneben lag sie, die Brigantine. Der vordere Mast war deutlich kürzer als der hintere, weshalb sie auch nur zwei Rahen am Fockmast trug. Das Schiff war fast direkt von vorn zu sehen, und der gewaltige Klipperbug verdeckte fast alles andere. Die Linien waren sehr gefällig, wunderschön. Die zweite Datei enthielt eine Skizze, auf der auch etwas vom sehr klobigen Aufbau zu erkennen war. Ein Deckshaus mit Fenstern. Die Rumpffenster waren kreisrund. Auffällig war auch das Achterkastell, das toll in die Form integriert war. Der Konstrukteur hatte ein wunderbares Gefühl für Linien. Und über der Skizze war der Name zu lesen: EYOLA. Ich wusste damals nicht, was er bedeutet, oder ob das überhaupt der Name des Schiffes wäre. Aber das nahm ich einfach an. Ich habe danach nie wieder Kontakt mit den Eignern gehabt und nie weitere Infos bekommen. Aber dieses Schiff begleitete mich ab dahin mein ganzes weiteres Leben. Immer, wenn ich zum Beispiel in langweiligen Unterrichtsstunden in Gedanken abschweifte, segelte ich auf der EYOLA durch die Karibik. Als ich 2006 dann mit meiner kleinen MAVERICK durch die Karibik segelte, meinte ich mich zu erinnern, dass das Schiff in St. Martin läge. Ich klapperte jede Bucht mit meinem Dingi ab, denn so ein großes Schiff musste doch zu finden sein. Doch ohne Erfolg: Das Schiff war nicht da. Als Google irgendwann das Standardwerkzeug für Internetsuchen wurde, begann ich, regelmäßig nach der EYOLA im Internet zu fahnden. Doch anfangs, während des Studiums, hatte ich keinen Erfolg. Erst als ich Redakteur wurde, spuckte die Suchmaschine über die Jahre nach und nach immer mehr kleinere Anhaltspunkte aus, die ich zu einem Bild verband. Angefangen mit einem Zeitungsartikel, der 2008 in der Zeitung Oregon Local News veröffentlich wurde. Er handelte von einem älteren Mann namens Hennie Page, bei dem unheilbarer Krebs diagnostiziert worden war. Er hatte nur noch einen einzigen Wunsch für sein verbleibendes Leben: Er wollte noch ein letztes
Mal segeln gehen. Eine traurige Geschichte. Die Autorin hatte Hennie Page in seiner kleinen Einzimmerwohnung im Stadtteil Sherwood südwestlich von Portland besucht. Weit im Binnenland, eineinhalb Stunden Fahrt von der Pazifikküste entfernt. Hennie Page lebte zurückgezogen und einsam und freute sich sehr über die Besucherin, die mit ihm über seinen letzten Segeltörn reden wollte. »Es dauert manches Mal eine Weile. Aber wer genug Zeit mitbringt und wen die längeren stillen Pausen nicht stören, die Page in seinen Erzählungen macht den nimmt der alte Mann mit in seine Erlebnisse, die es lohnen, sich etwas Zeit zu nehmen.« Und weiter: »Aus einem Stapel Papier, der sich auf seinem Kühlschrank auftürmt, zieht Hennie Page ein altes Logbuch heraus und reicht es seinem Gast. ›Von EYOLA‹, sagt er. Sie war solch ein wundervolles Schiff.« Als ich diesen Artikel las, blieb mir die Luft weg. Das war sie. Das musste sie sein. Nie zuvor und nie danach hatte ich gelesen, dass jemand sein Schiff EYOLA genannt hätte. Ungeduldig rutschte ich auf meinem Bürostuhl nach vorn und scrollte hinunter. Die Autorin erzählte, dass Page ihr ein Bild seines Schiffes zeigte, das an der Wohnzimmerwand hing. Zum ersten Mal erfuhr ich Details über das Schiff: »EYOLA war Pages große Liebe. Sein Heim, seine Besessenheit, und für viele Jahre seine Lebensgrundlage, mit dem er zehn Jahre lang Charter in der Karibik fuhr … Das 90 Fuß lange Schiff mit Teakinnenausbau, einer Wendeltreppe (!), vier Kabinen und schneeweißen Segeln, das ihn von seiner Heimat Südafrika hinüber nach Südamerika getragen hat. EYOLA war ein Schiff, das dich augenblicklich dazu bringt, die Bürotür für immer hinter dir zu schließen und ein Leben auf See zu führen.« Hennie Page hatte die Tür zu seinem alten Leben in Südafrika in dem Augenblick hinter sich zugeschlagen, an dem die EYOLA zu Wasser ging. Das war im Jahr 1977. Und die folgenden 30 Jahre waren für Page ein Leben voller Abenteuer. Die Autorin schrieb: »An einem guten Tag, wenn Page gesprächig ist, würde er seinen Zuhörern von der Überfahrt nach Brasilien erzählen. Der Unfall auf See, mitten im Sturm, der sein Bein zerschmettert hat. Trotz des rauen Wetters rief die Crew einen Helikopter zu Hilfe und ließ Page abbergen. ›Ich wollte nicht von Bord gehen, aber ich hatte keine Wahl‹, erklärt der 78-Jährige.« Viele Jahre fuhr Page mit der EYOLA Charter in der Karibik. Doch dann lernte
er dort seine dritte Frau kennen, verkaufte irgendwann das Schiff und folgte seiner Frau nach Oregon, wo er nun geschieden und allein seinen Lebensabend verbrachte. Dann hieß es weiter: »Vor acht Jahren zog seine Tochter Yolanda Smidt ebenfalls in die USA, um näher bei ihrem Vater zu sein.« Ein neuer Anhaltspunkt. Schnell sprang ich zu Google und suchte nach diesem Namen. Nichts. Erst viele Jahre später brachte eine Facebook-Suche Erfolg. Ich fand Yolanda tatsächlich. Da wir aber nicht befreundet waren und keine gemeinsamen Freunde hatten, sortierte Facebook meine Nachricht in den Spamordner. Sackgasse. Mit den Stichworten »Ferrozement-Rumpf«, »Brigantine« und den Maßen war ich zur ungefähr selben Zeit auf die Website eines Mannes gestoßen, der ein Schiff auf St. Martin gekauft hatte, das der EYOLA verblüffend ähnelte. Er besaß es nur zwei Jahre und wollte es eigentlich renovieren, verkaufte es dann aber doch weiter. Das lag alles schon fast 20 Jahre zurück. Nun hatte er jedoch ein Buch über seine Zeit mit dem Schiff geschrieben. Der Großteil war Fiktion, um die Geschichte des Bootes herumgesponnen, ein paar wahre Dinge enthielt es aber auch. Also bestellte ich das Buch und begann zu lesen. Darin verliert der Bauunternehmer David Reed 1986 durch eine Steuerreform sein Geschäft und nutzt die Gelegenheit, um etwas Neues zu wagen. In einer Zeitung liest er eine Annonce, die ihn neugierig macht. Die Universität in West Palm Beach verkauft eine 90 Fuß lange Brigantine auf der Karibikinsel St. Martin. Ein Arzt in Florida hatte diese gekauft und kurz darauf der Universität gestiftet. Ihr Name gefällt David Reed nicht, weshalb er sie SEA PRINCESS tauft. Erst Jahre später kann ich beurteilen, dass dieser Teil der Geschichte stimmt. Der Rest ist allerdings erfunden: Das Schiff im Buch heißt AYOLLA. Dessen Bootsmann Fritz stellt sich als Drogenschmuggler heraus, der sich das Schiff unter den Nagel reißen will. David Reed als neuer Eigner kommt da sehr ungelegen. Deshalb erzählt Fritz ihm, dass der Teakausbau des Schiffes aus einer abgerissenen afrikanischen Kirche stamme und es an Bord spuke. Reed bekommt Albträume. Später stiehlt Fritz das Schiff und kidnappt Reed. Zum Glück kann er die Küstenwache auf sich aufmerksam machen. Zwei Jahre später verkaufte der reale Reed das Schiff wieder, und die Spur verlief sich. Auf meine Mails hat er nie geantwortet.
Kontakt bekam ich über Facebook jedoch zu Hennie Pages Sohn Ryan Page. Dieser stellte dann den Kontakt zu Yolanda her, die mir daraufhin viele Mails schrieb und Fotos schickte. Ausschnitte aus dem Prospekt der Charterreisen, die Hennie Page mit Cowboyhut an Bord seiner EYOLA zeigen. Außerdem erzählte sie mir, dass »Hennie« nur der Spitzname ihres Vaters gewesen sei. Er hieß eigentlich Johannes! Yolanda schickte auch Bilder vom Bau des Schiffes in Durban. Der Designer Peter Strong war damals in Südafrika weit bekannt. Seine Entwürfe wurden fast alle in Ferrozement gebaut, der damals in Südafrika boomte. Die von ihm gezeichneten Schiffe hatten einen guten Ruf, und die EYOLA war sein größter Wurf. Bei Google Maps verglich ich Gebäude aus dem Hintergrund mit heutigen Bildern, fand heraus, wo früher was gestanden hatte, und konnte so sogar den genauen Bauplatz der EYOLA bis auf 50 Meter eingrenzen. Irgendwann fand ich dann auch eine alte Gerichtsakte im Internet und las die Geschichte, wie das Schiff in die Hände der Universität in West Palm Beach gekommen war: 1984 lernt Hennie Page den amerikanischen Arzt Joseph Carozza kennen, der sich sehr für die EYOLA interessiert. Die beiden verhandeln über einen Verkauf. Page hätte gern 400.000 US-$ für das Schiff, was einem heutigen Wert von 900.000 € entspricht. Carozza möchte das Schiff unbedingt haben und schlägt einen Deal vor. Er bezahlt Page sofort 80.000 US-$ und 20.000 weitere US-$ werden mit den nötigen Reparaturen am Schiff verrechnen, die Page ohnehin hätte erledigen lassen müssen, bevor er es verkauft. Die übrigen 300.000 US-$ möchte er Page in Form von 85.000 Aktienanteilen seiner neu gegründeten Firma Omni Health Systems Inc. geben. Hennie Page wittert ein gutes Geschäft und schlägt ein. Die EYOLA wird auf den neuen Eigner eingetragen und umgeflaggt. Doch der Deal ist faul. Schon beim Abschluss des Vertrages gesteht Carozza, dass er nur 55.000 US-$ hat. Ein paar Tausend weitere US-$ stottert er in den folgenden Monaten ab. Den Rest bleibt er schuldig. Kaum ist er jedoch offiziell im Besitz des Schiffes, lässt er dessen Wert durch einen Gutachter auf 375.000 US-$ schätzen und stiftet es dem Palm Beach Atlantic College. Mithilfe der Spende kann er seine Steuerschulden beim Staat begleichen, und Hennie Page ist der Dumme. Sein Schiff ist weg, und als Gegenleistung hat er nicht einmal 16 Prozent der geforderten Summe bekommen. Als Hennie Page 1991 mit seinen Forderungen vor Gericht zieht, ist der Fall
bereits aussichtslos. Er ist übers Ohr gehauen worden. Doppelt, denn auch die versprochenen Aktien wären nicht das Geld wert gewesen, das ihm Carozza versprochen hatte. Carozza sagt aus, dass er nie eine Aussage zum Wert der Aktien getroffen hätte. Das Gericht hat jedoch Gegenbeweise und urteilt, dass sich Carozza des Betrugs schuldig gemacht hat, indem er den Wert der Aktien falsch dargestellt hat. Eine Darstellung, auf die Page vertraut und auf die er seine Entscheidung des Schiffsverkaufs begründet hat. Hennie Page bekommt recht. Ihm werden die fehlenden 317.000 US-$ zugesprochen. Doch das bringt ihm nichts, denn im Juli 1991 erklärt Joseph Carozza seinen Bankrott. Geld und Schiff sind weg. Das Palm Beach Atlantic College inseriert die EYOLA bereits 1988 im Wall Street Journal und David Reed schlägt zu, gibt dafür ein Haus in Colorado in Zahlung. Fast die ganze Geschichte bis 1991 habe ich im Lauf der Zeit zusammengetragen. Doch keinen Schimmer, wo sich das Schiff momentan befindet, noch, warum ich so eine tiefe Verbindung zu ihm habe. Bis zu diesem Tag im März 2015, an dem ich eine Dingitour mache. Wir liegen zwar mit MAVERICK TOO an einem Marinasteg und können ganz einfach über die Windsteueranlage am Heck zum Steg übersteigen, aber ich habe gerade trotzdem Lust, nach der Atlantiküberquerung das Dingi auszupacken und ein paar Fotos zu machen. Dafür habe ich mir von Herbert extra ein großes Teleobjektiv geliehen. Kaum ist das Dingi im Wasser, mache ich mich auf den Weg hinüber zur westlichen Bucht und tuckere dabei durch die Brücke bei Hog Island. Dabei fällt mir ein alter Shrimpkutter aus GFK auf. Auf dem Bug steht in großen Lettern der Name: ALBATROS. Der Groschen fällt pfennigweise. Dann realisiere ich: Das muss der Kutter sein, der damals auf dem Bild war, das mir Nikola gemailt hatte! Das liegt zwar fast 14 Jahre zurück, doch was Schiffe angeht, habe ich ein fotografisches Gedächtnis. Stimmt, auch der Hintergrund ist ähnlich. Mangroven. Und ein Hügel. »Aber Moment mal«, höre ich mich sagen. »Wenn der Kutter noch hier ist, ist dann auch …« Ich gebe Gas, umrunde den Kutter, und plötzlich fängt mein Herz zu rasen an. Ein Betonschiff liegt vor mir. Ohne Masten. Dafür mit Pflanzen an Deck. Es sieht aus wie ein botanischer Garten. Doch die Linien, die Knicke am Rumpf … das ist die EYOLA. Kein Zweifel. Ich reiße die Kamera hoch und schalte auf höchste Qualität. Ich will sichergehen, dass die Bilder etwas werden. Ich drücke wieder und wieder ab. Immer dasselbe Motiv, schräg von vorn. Nur die Drift des Dingis ändert den
Winkel. Ich bin total überfordert, weiß nicht, was ich, außer abzudrücken, sonst mit diesem Moment anfangen soll. Luft holen. Ich kann es nicht fassen. Ich habe sie gefunden. Ganz zufällig. Ich besinne mich, versuche, näher an den Kutter heranzufahren. An die EYOLA selber traue ich mich nicht näher heran. Die Ehrfurcht ist zu groß. Neben dem Kutter liegt noch ein gesunkenes Holzschiff, etwa 20 Meter lang. Auf dem Kutter scheint keiner zu sein, nur ein Hund bellt mich an. Ich bleibe auf Distanz. Ob das Schiff immer noch derselben Person gehört? Ob sie es nie verkauft hat? Als ich zurück zur MAVERICK TOO fahre, bin ich tief in Gedanken. Doch dann gebe ich Gas, jage zurück zur Marina. Cati kommt an Deck, als ich die Vorleine auf der Mittelklampe belege. »Du glaubst es nicht«, beginne ich. Und kürze ab. Keine Zeit für Umschweife. »Ich hab die EYOLA gefunden.« »Nee!!!«, ruft sie. »Das is ja irre.« Sie weiß sofort, wovon ich rede. Ich habe all die Jahre nicht oft von dem Schiff erzählt. Aber wenn, so sagt Cati, dann mit leuchtenden Augen. Sie weiß, wie viel mir das Schiff bedeutet. Aber auch am nächsten Tag kann ich an Bord des Kutters niemanden sehen, nur den Hund. Nach zehn Tagen in der Marina wollen wir jedoch weiter. Es ist ja schon bald Ende März. Aber einen letzten Versuch will ich noch wagen: Ich habe bei unserem Heimatbesuch im letzten Dezember zufällig die alte BootsBörse mit der EYOLA-Annonce in Händen gehabt und intuitiv ein Handyfoto geschossen. Die darin angegebene Mail-Adresse funktioniert nicht mehr, das habe ich in den vergangenen zehn Jahren schon zigmal versucht. Aber vielleicht die Handynummer. Als ich sie in mein Telefon tippe, erkenne ich, dass sie dieselbe Vorwahl hat wie meine eigene. »Grenada. Das Schiff war immer hier. Warum habe ich dann gedacht, es wäre in St. Martin?« Wahrscheinlich wegen der Geschichte aus dem Roman, der in St. Martin spielte. Die Nummer existiert noch, aber es geht nur die Mailbox ran. Also schreibe ich eine SMS und sende sie ab, in der Hoffnung, dass irgendjemand irgendwann die Nachricht liest. Am nächsten Morgen legen wir schweren Herzens ab. Unser Kurs führt uns zunächst nach St. George’s und dann endlich weiter nach Norden. Der Diesel muss schwer ackern. Immer wieder stampfen wir uns in den Wellen fest. Aber segeln wäre noch anstrengender, der Wind kommt genau von vorn. Ein kleines Stück nördlich von Grenada werfen wir vor Ronde Island den Anker, zum ersten Mal in der Karibik. Die in Spanien montierte Anker-winsch funktioniert hervorragend, und kurz danach bereiten wir uns auf das Highlight des Tages, der
Woche, womöglich des ganzen Monats vor: Wir wollen an Bord grillen. Darauf habe ich mich die letzten Jahre so sehr gefreut. Satt und glücklich schießen wir am Abend ein paar Selfies und verkriechen uns dann in die Vorschiffskoje. Der Platz hinter der kleinen Insel ist nicht optimal, wir rollen die Nacht hindurch ordentlich. Aber alles ist vergessen, als ich am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang bereits mit einem Kaffee im Cockpit sitze. Was für ein herrlicher Morgen. Ich liebe es, in der Karibik morgens mit der Sonne wach zu werden. Etwas später gehen wir Anker auf, da wir die zwölf Seemeilen bis in die Tyrrel Bay auf Carriacou noch vor dem Mittag hinter uns haben wollen. Wieder weht es genau gegenan, und wir entscheiden uns, zu motoren. Seit den Motorproblemen in Galicien prüfe ich bei längeren Motorfahrten regelmäßig die Temperatur verschiedener Bauteile mit dem Laserthermometer. Zylinderkopf, Thermostatgehäuse, Wärmetauscher, Getriebe, Wassersammler. Als ich nach einer Viertelstunde Fahrt den roten Punkt auf den Zylinderkopf setze, bekomme ich einen Schrecken. »130 Grad! Cati, Gas weg! Der Motor ist zu heiß, wir müssen ihn abschalten!« Wie konnte das ieren? Und so schnell! So heiß ist der alte Diesel noch nie gewesen. Doch als ich mich in den Motorraum neige, um den Abschalter zu betätigen, begreife ich. Ich sehe noch mal auf das Thermometer und lese: Fahrenheit. Irgendwie muss ich auf den Knopf gekommen sein. 130 Grad sind ungefähr 54 °C. Also Entwarnung. Punkt 12 Uhr fällt der Anker in der Tyrrel Bay. Später springen wir beide ins Wasser, das hier vor Anker nur etwa drei Meter tief ist. Für Cati ist es das erste Mal, dass sie vom Boot aus schwimmt, und sie hat sich vorgenommen, ab der Karibik jeden Tag fünf Runden ums Boot zu schwimmen. Ich schnappe mir Taucherbrille und Flossen und schaue mir in der Zeit an, wie der Anker hält. 25 Meter vor dem Schiff finde ich ihn. Oder eigentlich nur den Wirbel. Der Anker ist komplett im Sand verschwunden. Auf dem Rückweg zum Heck schaue ich mir das Unterwasserschiff genau an und bin sehr zufrieden. Unsere Laminierarbeiten während der Osmosesanierung sind immer noch erstklassig. Keine Delaminationen, keine Macken. Doch am Bug sehe ich einen Kratzer, der sich bei genauerem Hinsehen fast bis zum Heck durchzieht. Nicht tief, nur durchs Antifouling und die letzte Grundierungsschicht durch. Irgendwas müssen wir auf dem Atlantik gerammt haben. Schwimmt ja genug Müll herum. Gut, dass wir das Schiff so stabil laminiert haben.
Unser erster Landgang ist für Cati ein ganz besonderer, denn noch nie haben wir irgendwo geankert und sind mit dem Dingi angelandet. Erst mal ist es ein ganz schöner Akt, das Boot startklar zu bekommen. MAVERICK TOO rollt vor Anker, und der große Viertaktmotor muss irgendwie über die Reling und ans Heck des Beiboots. Ich stelle ihn von außen an die Reling und steige hinunter, während Cati ihn aufrecht hält, und übernehme ihn dann. Zehn Sekunden muss ich ihn freihändig im Dingi balancieren, jetzt bloß nicht umfallen. Klank, da hängt er. Puh. Das Dingidock ist vollkommen mit Booten belegt, aber ansonsten menschenleer. Also montieren wir unsere Videokamera, fahren noch einmal ein paar Meter weg und landen für die Kamera noch einmal an. Noch immer geben wir uns große Mühe mit den Filmaufnahmen, hoffen wir doch, dass das ZDF aus unserem Pilotfilm eine Serie macht. An Ostersonntag ist die Erstausstrahlung geplant. Um 6:30 Uhr morgens! Das kleine Dorf an der Tyrrel Bay ist niedlich, aber auch schnell erkundet. Von der großen und beliebten, leider auch geschlossenen Pizzeria »Lazy Turtle« im Süden bis zum deutschen Tauchshop »Arawak Divers« im Norden sind es zu Fuß nur ein paar Minuten. Mitten auf dem Weg steht eine Art Carport aus morschem Holz, mit Bänken und Stühlen. Darüber ein großes Schild »free WiFi«. Unfassbar. Heute scheint wirklich jede Palme der Karibik einen Internetanschluss zu haben. Während Cati später noch ein paar Runden ums Boot schwimmt, ist bei mir wieder das EYOLA-Fieber entbrannt. Ich erinnere mich, dass ich vor vielen Jahren mal ein Foto einer Brigantine im Internet gefunden habe, die der EYOLA verblüffend ähnelte. Da das Internet hier vor Anker ziemlich gut ist, steige ich in die Recherche über dieses Schiff ein. Und habe Erfolg. Folgendes finde ich heraus: Der Amerikaner William Albert Robinson war gerade 25 Jahre alt, als er sich im Juni 1928 daranmachte, mit seiner nur 32 Fuß langen Sloop SVAAP um die Welt zu segeln. Das Schiff war damals das kleinste, das diese Reise je versucht hatte. Als Robinson nach seiner Reise westwärts mit dem at und durch das Rote Meer wieder in den USA ankam, war er von einem Tag auf den anderen ein gefeierter Held. Nicht nur sein Buch Deep Water and Shoal wurde schnell zum Bestseller, er reiste auch durch die ganzen USA, um Vorträge zu halten, und lernte dabei viele Menschen kennen. Darunter seine spätere Frau Florence
Crane, Urenkelin des Chicagoer Industriellen Richard T. Crane. Ihre Familie hatte einen Sommersitz in Connecticut, dazu eine Menge Land, auf dem Robinson eine Werft eröffnete. Ursprünglich sollten in dieser Segelschiffe gebaut und restauriert werden. Doch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veränderte alles und machte Robinson zum Multimillionär. Denn fortan wurden in seiner Werft Landungsboote und Minenräumer für die US Navy produziert. Während der Kriegstage beschäftigte die Werft insgesamt 600 Bootsbauer, die rund um die Uhr arbeiteten und 200 Schiffe bauten. Die Werft wuchs und wuchs, und Robinson nutzte die Gelegenheit, nebenbei sein Traumschiff bauen zu lassen. Dazu engagierte er seinen alten Freund Starling Burgess. Dieser Yachtkonstrukteur hatte bereits viele erfolgreiche Regattayachten entworfen, unter anderem den America’s Cupper RANGER. Er sollte Robinson ein 70 Fuß langes Schiff bauen, das für alle Weltmeere geeignet wäre. Das Ergebnis war wundervoll, eine Yacht aus Holz auf Stahlspanten, mit fast flachem Deck, ohne viele Aufbauten, aber einem Klippersteven und langem Klüverbaum. Angetrieben von einem Deutz-Diesel mit 47 PS und zweiblättrigem Verstellpropeller. Das Ungewöhnliche dabei war, dass die Welle nicht mittschiffs war, sondern an Backbord. Die Maschine saß zudem mehr als zehn Meter vom Heck entfernt und muss eine irre lange Welle besessen haben. Der Rumpf war eine Sache, das Rigg eine andere. Denn das Schiff sollte sowohl gut vor dem Wind als auch gut hoch am Wind laufen können. Zwei Eigenschaften, die im Yachtbau schwer zu kombinieren sind. Um optimal am Wind zu segeln, bot sich bei der Größe ein Schonerrigg an. Um aber auch gut vor dem Wind zu segeln, bräuchte es Rahen. Der befreundete Konstrukteur L. Francis Herreshoff übernahm die Takelage und riggte das Schiff als Schonerbrigg bzw. Brigantine. Schon während der Kriegstage wohnte Robinson auf dem Fluss an Bord des fertigen Rohbaus und träumte davon, zu dem für ihn schönsten Ort seiner Weltumsegelung zurückzukehren: Tahiti. Daher taufte er das neue Schiff VARUA, was auf Tahitianisch »Seele« oder »Geist« bedeutet. Seine Ehe war längst in die Brüche gegangen und seit einem Jahr geschieden. Also hielt ihn nichts mehr in den USA. Kaum waren die Verträge mit der US Navy erfüllt, setzte Robinson zusammen mit seiner neuen Frau Sarah auf dem halb fertigen Schiff die Segel. Die VARUA erreichte Tahiti und wurde von Robinson in den folgenden zehn Jahren von seiner neuen Heimat aus noch mehrfach über den
Pazifik gesegelt. Auf dem Rückweg von Chile segelte er dabei einmal durch einen schweren Sturm, in dem sich das Schiff hervorragend machte. Das Erlebnis und den Umgang mit dem Sturm beschrieb er später in seinem Buch To the Great Southern Sea, aus dem viele Zitate in jedem Standardwerk über Schwerwettersegeln zu finden sind. Irgendwann verkauft er jedoch die VARUA und setzt sich auf Tahiti zur Ruhe. Eine nachfolgende Eignerin, Cynthia D’Vincent, nutzte das Schiff später zur Walforschung zwischen Hawaii und Alaska. Doch die weitere Geschichte ist eher traurig. Jahrzehntelang verkümmerte das Schiff in allen möglichen Häfen und liegt heute verwahrlost und der Hälfte seiner Planken beraubt in Anacortes im Bundesstaat Washington. Ein ähnliches Schicksal wie das der EYOLA. Und wenn ich mir die Linien anschaue, ist für mich klar: Die EYOLA ist ein Nachbau der VARUA. Ein paar Tage später, eine Insel weiter, sind wir zu Fuß in Clifton Harbour unterwegs. Als wir durstig sind und uns einen Kaffee gönnen wollen, setzen wir uns ins Café »Captain Gourmet«, eine Art Bäckerei. Dort können wir auch ins Internet und ein paar Bilder für einen Artikel hochladen. Plötzlich vibriert es in meiner Hosentasche, ich schaue aufs Handy und lese ungläubig den Absender: EYOLA. Ich halte die Luft an und gebe den PIN-Code ein. Falsch. Noch mal. Falsch. »Was ist denn heute mit dem Ding los?« Dritter Versuch. Entsperrt. Ich öffne die Nachricht:
»Hallo Johannes, habe deine Nachricht erhalten. Hier ist meine E-Mail-Adresse. Grüße, Nikola.«
»Unglaublich …«, stutze ich, »es scheint immer noch derselbe Eigner zu sein.« Ich antworte sofort, erzähle, wer ich bin und dass wir vor vielen Jahren Kontakt hatten. Und warte. Angespannt. »So ein Ärger, dass wir schon so weit weg sind. Was machen wir denn jetzt?« »Wir segeln zurück, ganz klar«, ist Catis Antwort. »Waren ja nur 60 Meilen.« Damit steht der Plan, und am folgenden Tag klarieren wir wieder aus und gehen auf Kurs Süd. Ein bisschen ins Blaue hinein. Aber das Risiko ist es uns wert.
Am Morgen vor der Abfahrt müssen wir jedoch noch Wasser tanken. Als eine der letzten Privatyachten in der Karibik sind wir nämlich noch ohne Watermaker unterwegs, der aus dem sauberen Salzwasser um uns herum brauchbares Süßwasser machen würde. Doch die Anschaffung einer solchen Anlage konnten wir uns einfach nicht leisten. Also müssen wir regelmäßig unseren 200-LiterTank füllen. Hier in Clifton Harbour gibt es einen klapprigen Holzsteg, an dem man zum Bunkern anlegen kann. Vor uns ist bereits eine Warteschlange, denn die Charterboote haben ebenfalls keine Entsalzungsanlagen an Bord. Als drittes Boot kommen wir dran, und das Wasser läuft. Der Typ am Steg möchte ein kaltes Bier von uns und verwickelt uns anschließend in Small Talk, will wissen, wie lange wir denn gechartert haben. Offenbar denkt er, auch wir wären ein Charterboot. Nach 15 Minuten ist der Tank voll. Als ich dann zum Bezahlen ins Büro nebenan laufe, bin ich überrascht: 500 Liter sollen in unseren Tank geflossen sein. »Irrtum unmöglich«, versichert mir die Dame hinter dem Tresen. »Das macht 150 EC-$.« Etwas mehr als 50 €. Der grimmig ausschauende Kerl neben ihr verleiht der Forderung mit seinen vor der Brust verschränkten, muskulösen Armen Nachdruck. Scheiße. Die wollen uns linken und lassen auch nicht mit sich reden. Offenbar machen die das hier mit Charterbooten immer so, denn die meisten Charterer haben keine Ahnung, wie viel Wasser in ihre Tanks t. Wir setzen schnell Segel, nehmen Kurs auf Grenada. Ich ärgere mich zwar ein bisschen, dass wir übers Ohr gehauen worden sind, aber so richtig sauer kann ich nicht sein, denn ich bin voller Vorfreude auf die EYOLA. Ein herrlicher Sonnenuntergang auf See, bei leichtem Wind und Vollzeug. Im Dunkeln werfen wir gegen 21 Uhr außen vor St. George’s den Anker und segeln am nächsten Morgen weiter in die Woburn Bay. Dort fällt der Anker in Sichtweite der EYOLA auf acht Meter Tiefe. Sofort motoren wir rüber. »Lass uns alle Kameras mitnehmen«, sage ich zu Cati. »Ich möchte möglichst viele und gute Fotos und Videos von dem Schiff haben.« Die letzten zwölf Jahre hat es mich gefesselt wie kein anderes, und ich bin mir sicher, dass ich mir noch in zehn Jahren immer wieder diese Bilder ansehen werde. Am Shrimpkutter angekommen, wissen wir nicht so recht, wo wir anlanden sollen. Die Eigner sind an Bord, also ruft Cati hinüber: »Hallo, wir sind Cati und Johannes!« Wir werden herangewunken und auf Englisch instruiert, an einem Festrumpfbeiboot festzumachen, das mich an ein altes Rettungsboot erinnert. Über mehrere Leitern erklimmen wir das Achterdeck des Kutters und lernen
unsere Gastgeber kennen. Der ältere Mann mit braun gebrannter Haut und blauer Schiffermütze auf dem Kopf stellt sich vor, jetzt auf Deutsch: »Hallo, ich bin Nikola.« Ein leichter österreichischer Akzent ist noch zu erkennen. Nikolas Lebensgefährtin Sylvie ist etwa 20 Jahre jünger als er und stammt aus Afrika, spricht aber ebenfalls hervorragendes Deutsch. Wir bekommen einen Kaffee angeboten und setzen uns auf einer alten Schiffstruhe an einen aus groben Holzbrettern zusammengebauten Tisch. Möglicherweise aus einem alten Schiff recycelt? Während unsere Gastgeber den Kaffee vorbereiten, haben wir Gelegenheit, uns umzuschauen. Überall auf dem Achterdeck stehen Schiffsteile. Ein Tauchkompressor und sogar ein uralter GardnerDieselmotor, sicher aus den 1920er-Jahren. Nikola kommt zurück und beginnt zu erzählen: »Es ist ein Wunder, dass ich deine Nachricht überhaupt gelesen habe. Das Telefon lag die letzten Jahre ungenutzt in einer Schublade, und gerade vorgestern habe ich es wiedergefunden und dachte, ich schau mal nach, ob es noch geht. Es war voller Spam-Nachrichten. Ich habe also gelöscht und gelöscht und plötzlich denke ich: ›Halt mal, das ist Deutsch‹, und lese deine Nachricht.« Verblüffender noch, was er dann erzählt: »Als ich sie gelesen habe, wusste ich sofort, wer du bist. Ich habe deine Mail in all den Jahren nicht vergessen, denn ich war sehr berührt, dass ein so junger Bengel nach dem Schiff fragt.« Und nun sitzen wir uns gegenüber auf seinem Shrimpkutter in der Karibik. Wer hätte das gedacht. Und neben uns liegt das Schiff, durch das wir uns kennengelernt haben, die EYOLA. Immer wieder schiele ich hinüber. Der Rumpf ist noch überraschend gut in Schuss, allerdings sind auch einige Löcher im Deck zu sehen. Der Holzaufbau ist fast komplett weg. Dafür hat Nikola eine Art Garten an Deck angelegt. Überall stehen Kästen mit Erde, aus denen Pflanzen wachsen. »Du wunderst dich sicherlich, warum die EYOLA noch immer bei uns liegt«, beginnt Nikola. »Nun, die Sache ist einfach: Ich bin genauso ein Träumer wie du. Auch für mich hatte die EYOLA eine magische Anziehungskraft. Deshalb habe ich sie 2001 auch gekauft. Doch ich konnte das nötige Geld nicht aufbringen, um sie zu renovieren.« Und inzwischen ist der Zustand nicht besser geworden. Nikola und Sylvie haben sich hier auf Grenada ein kleines, idyllisches Eckchen geschaffen. Früher haben die beiden mit einem Frachter Kühltransporte nach
Venezuela gemacht und später dann mit ihrem Schlepper Schiffe von Felsen gezogen und abgewrackt. Heute t Nikola auf allerlei Yachten auf, deren Eigner nach Grenada gesegelt sind und dann ihre Schiffe längere Zeit zurücklassen müssen. »Wir haben hier an dieser Stelle die Hurrikane Ivan und Emily überlebt«, sagt Nikola. »EYOLA hat wahrscheinlich unser Schiff, die ALBATROS, gerettet, als sie auf Hog Island zu stranden drohte. Mit ihrem Kiel hat sie einen Kanal ausgestampft, der die ALBATROS, die nebenan festgemacht war, daran hinderte, am Grund aufzuschlagen.« Die kommenden Tage sind wir häufig an Bord der ALBATROS und haben mit Nikola und Sylvie wohl die eindrücklichste persönliche Begegnung dieser Reise. Erstaunlicherweise bleibt die EYOLA dabei sogar eher Nebensache. »Ich geniere mich, sie dir zu zeigen«, sagt Nikola irgendwann. »Ich habe sie jahrelang als Lagerhaus benutzt, und sie sieht schaurig aus.« Stattdessen hören wir Tag um Tag die spannendsten Geschichten von Nikola, die nur das Leben schreiben kann. Etwa wie Nikola versucht hat, über den Atlantik zu rudern. Wie er jahrelang mit einem Frachtsegler flussaufwärts die Indianerdörfer Brasiliens beliefert hat. Wie er mit seinem Boot in Frankreich lag, einen Job suchte und in einem Film mit Louis de Funès mitspielte. Oder wie er den Shrimpkutter gekauft und mit dem Innenleben alter Liberty-Frachter aus dem Zweiten Weltkrieg ausgebaut hat. Immer wieder sitzen wir bei den beiden an Bord, trinken Kaffee und lernen Stück für Stück zwei Menschen kennen, die viel gesehen und das Träumen nie verlernt haben. Nikola beeindruckt mich. Er ist mittlerweile 73 Jahre alt, aber immer noch fitter als manch 30-Jähriger. »Ich schwimme jede Woche einmal um Hog Island«, sagt er. Das sind etliche Seemeilen. »Manchmal nehme ich sogar den Hund mit.« Vor allem hat sich dieser beeindruckende Mensch in all den Jahren die Neugier auf das Leben bewahrt, den Hunger nach Neuem. »Ich schaue mir bei Youtube gerade viele Videos über moderne Technologien an«, erzählt er uns eines Tages beiläufig. »Über Brennstoffzellen und alternative Antriebe. « Natürlich reden wir auch viel über die EYOLA. Ich kann einige Lücken ihrer Geschichte füllen, und Nikola ist verblüfft, was ich alles herausgefunden habe. Er erzählt mir, dass das Schiff fast zehn Jahre im Hafen von Grenada gelegen und einem Mann namens Frick gehört hat. Könnte das der Pirat Fritz aus dem Buch sein? Nikola kann auch meine Vermutung bestätigen, dass die EYOLA ein Nachbau der VARUA ist. Er hat sogar das Buch von William Albert Robinson an Bord, in dem das Schiff genau beschrieben ist. »Sogar die Propellerwelle ist seitlich angebaut. Eine gute Kopie des berühmten Schiffes.« In seinen Akten hat
Nikola auch ein paar alte Prospekte aus der Zeit, in der die EYOLA in Charter lief. Allerlei berühmte Leute müssen damals an Bord gewesen sein, so zum Beispiel die gesamte Familie des Aga Khan. Und dann überrascht Nikola uns. »Ich habe schon damals überlegt, dir das Schiff zu schenken«, sagt er plötzlich. »Aber du warst noch so jung, und was hättest du damit machen sollen?« Und ein paar Minuten später: »Also, wenn du es haben möchtest. Da ist es.« Was für ein Angebot. Plötzlich könnte ich der Eigner einer wunderschönen, fast 30 Meter langen Brigantine sein. Gut, sie bräuchte eine Menge Arbeit. Gut drei Jahre, schätze ich. Jeden Tag. Aber durch sein gerupftes Gefieder hindurch sehe ich immer noch einen wunderschönen Schwan in dem Schiff. Nikola beginnt, Nägel mit Köpfen zu machen. »Siehst du das Segelschiff, das hier neben unserem Kutter auf Grund liegt?« Der Rumpf ist unter, das Deck aber über Wasser. »Das habe ich von einem Riff gezogen und hier als Ersatzteillager abgelegt. Es ist fast alles da, um die EYOLA wieder fit zu machen. Ich habe das mal überschlagen, man bräuchte etwa 30.000 €.« Das klingt optimistisch. Aber es scheint wirklich alles da zu sein. »Die Segel sind 40 Jahre alt, aber noch gut. Und ich würde dir sogar den Gardner-Diesel geben, den ich hier stehen habe.« Was für ein verlockendes Angebot. Aber erst einmal wollen wir unsere Reise auf MAVERICK TOO machen. Darauf haben wir schließlich jahrelang hingearbeitet, dazu sind wir aufgebrochen …
BLASENPROBLEME
Von Johannes
Die Windward Islands vom Süden bis zum Norden der Karibik zu besegeln, ist so ähnlich, wie einen Berg hinauf- und dann wieder hinunterzuklettern. Das liegt daran, dass jetzt im Frühjahr der Wind ziemlich konstant aus Ostnordost weht und wir immer hoch am Wind segeln müssen. Martinique liegt auf dem Gipfel, am weitesten im Osten. Von dort wird der Weg weniger beschwerlich, denn wir können dann etwas abfallen. Doch zunächst wollen wir uns Martinique anschauen, das ich noch nicht kenne. In der Bucht von Le Marin liegen ständig viele Hundert Schiffe, und zwar nicht nur kurz, sondern viele auch permanent. Das Flair hier ist europäisch, und durch die vielen europäischen Supermärkte ist es auch ungemein günstig. Das Ankerfeld ist so eng, wie wir es nie zuvor erlebt haben. Wir werfen unseren Anker direkt unter das Heck der MAYA. Und zwar genau in dem Augenblick, als ihr Heck kurz beiseiteschwoit, damit wir möglichst viel Kette geben können. Eine unserer ersten Touren mit dem Dingi führt uns zu Leader Price, einem Supermarkt, der Aldi sehr ähnelt und sogar ein eigenes, immer voll belegtes Dingidock besitzt. Denn die Fahrtensegler bunkern und bunkern. Im Laden können wir unser Glück kaum fassen. Eine Flasche Rotwein für 2,50 €! Auf St. Lucia nebenan hat die billigste 15 € gekostet. Plötzlich gibt es wieder all das, was uns in den vergangenen Monaten zu teuer oder nicht erhältlich war, im Überfluss. Und überhaupt, wieder mit Euro zu bezahlen, fühlt sich komisch an. Insgesamt drei Mal machen wir das Dingi randvoll und verstauen alles irgendwie an Bord. Als wir gerade die letzten Dosen einräumen, sehen wir durchs Fenster, dass uns ein Dingi immer wieder umkeist. Ein Parsun-Außenborder am Heck. Eine Com-Eigenmarke, also ganz sicher ein Deutscher. »Moin«, begrüßen wir ihn.« »Ihr müsst Cati und Johannes sein«, erwidert der Dingifahrer. Und so lernen wir Matthias kennen, der mit seiner Freundin Regina auf der JASINA, einer Etap 32s, auf Weltumsegelung ist. Das ist eines der kleinsten Boote, das
wir auf der ganzen Reise treffen werden. Am nächsten Tag sind wir bei den beiden an Bord eingeladen. Sie sind vor drei Jahren in Lübeck gestartet und haben sich viel mehr Zeit als wir gelassen. Sie waren noch in Afrika und sind im Senegal und in Gambia Flüsse hinaufgefahren. Beneidenswert. Auch sie haben einen Blog (www.etappen.wordpress.com) und verfolgen unseren. So wussten sie bereits, dass wir auf dem Weg nach Martinique sind. Drei Jahre später, als wir dieses Buch schreiben, haben sie es gerade nach Panama geschafft. Regina ist eine begnadete Zeichnerin, die zahlreiche Etappen ihrer Reise in fantastischen Bildern festhält. Um die Bordkasse aufzubessern, nehmen die beiden ab und zu Gelegenheitsjobs an. Beispielsweise das Überführen von Yachten oder, wie hier in Martinique, die Arbeit in einer der vielen Charterfirmen. Und dabei hören sie wahnwitzige Anekdoten:»Du glaubst gar nicht, was diese Gelegenheitssegler aufgrund fehlender Erfahrung alles anstellen.« Meine Lieblingsgeschichte ist diese hier: »Da kam eine Chartercrew von ihrer Reise zurück und wollte den Dieseltank füllen. Also haben sie sich nach dem Einfüllstutzen umgeschaut. Nirgendwo zu sehen. Aber halt, doch, da. Genau unter dem Steuerrad. Also haben sie den Deckel abgedreht, den Rüssel reingesteckt und gewartet. 200, 300 Liter gehen durch den Schlauch. ›Wow, wir haben aber viel verdieselt‹, denken sie. Bis es ihnen irgendwann merkwürdig vorkommt, dass sich die Tanknadel kein bisschen bewegt. Irgendwann merkt dann jemand, dass es unter Deck merkwürdig nach Diesel riecht. Und sie kapieren: Sie haben gerade zighundert Liter Diesel direkt in die Achterkabine gefüllt! Die Matratze hat sich derart vollgesaugt, dass sie mit vier starken Männern von Bord getragen werden muss, und das Schiff fällt monatelang in der Charter aus.« Die Bucht von Le Marin ist grässlich dreckig. Ins Wasser gehen möchte hier niemand. Dennoch springe ich am nächsten Morgen rein, um mich gründlich zu waschen, denn es steht ein Arztbesuch an. Wir wollen ins Krankenhaus nach Le Lamentin, da ich diese Blasenentzündung einfach nicht vollständig loswerde. Mittlerweile hatte ich drei verschiedene Antibiotika. Keins schlug an. Mir graut vor der Untersuchung, denn meine Internetrecherche hat ergeben, dass höchstwahrscheinlich auch eine Blasenspiegelung ansteht.
Die Kommunikation ist wegen unserer fehlenden Französischkenntnisse kniffelig. Zum Glück ist Geraldine vom Empfang unheimlich engagiert und spricht gut Englisch. Sie erklärt uns, wie wir die Urologie finden und der Ablauf sein wird. Und sie sorgt dafür, dass ich einem Arzt zugewiesen werde, der etwas Englisch spricht. Und dann ist da noch die Sorge über die Kosten. Wie teuer mag wohl eine Blasenspiegelung sein? Wir haben zwar eine Auslandskrankenversicherung, müssen aber erst mal alles selbst bezahlen. Fast zwei Stunden warten wir auf einem vollen Flur, bis irgendwann ein »Monsier Ärtman« ausgerufen wird. Es dauert ein paar Sekunden und einen Anstupser von Cati, bis ich kapiere, dass ich gemeint bin. Dr. Comlan hat in Frankreich studiert, kann aber leider nur sehr wenig Englisch. Wir schildern ihm meine Krankengeschichte. »Was, das erste Antibiotikum hat man dir nur für vier Tage verschrieben? Das muss man mindestens drei Wochen lang einnehmen!«, erklärt er. Dann geht die Geschichte weiter: »In Grenada habe ich dieses Antibiotikum bekommen, auf Union Island jenes …« Dr. Comlan fragt: »Hat irgendjemand auch mal Tests gemacht? Oder einfach ein Antibiotikum verschrieben?« »Also ich musste in einen Becher pinkeln«, erwidere ich. »Aber dabei wurde nichts gefunden.« »Die Bakterien wurden damals auf Madeira nicht abgetötet und haben sich im Körper festgesetzt«, meint er. »Nun müssen wir sehen, ob sie Schaden angerichtet haben und wie wir sie wegbekommen.« Dafür sind einige Tests notwendig. Ich bekomme einen Laufzettel und einen Klaps in den Nacken. Los geht’s. Wir finden uns in dem großen Krankenhaus mit französischer Beschriftung jedoch überhaupt nicht zurecht und fragen immer wieder an der Rezeption bei Geraldine nach. Sie schaut auf die Uhr, geht hinüber zu ihrer Kollegin, instruiert sie kurz und macht dann ihren Schalter dicht. »Kommt mit, ich führe euch herum.« Wahnsinn. Als Erstes sind Röntgenaufnahmen dran, danach eine Blutprobe und schließlich eine Urinprobe. Anschließend bringt uns Geraldine zurück zum Haupteingang und macht mit uns einen Termin für den zweiten Besuch zwei Tage später aus. Der Arzt hat mir noch zwei weitere Antibiotikaladungen verschrieben, mit denen ich sofort anfangen soll. Hoffentlich schlagen sie an und mir bleibt das Übel mit dem Endoskop erspart. Als wir zwei Tage später wieder an seinem Schreibtisch sitzen, erklärt uns Dr. Comlan, dass in der Urinprobe nichts zu finden war. Also führt er mich in ein Untersuchungszimmer. Dort bekomme ich von einer Schwester einen OP-Kittel
und zwei merkwürdige Lappen aus dem gleichen Stoff überreicht, die rundherum einen Gummizug aufweisen. Ich habe keine Möglichkeit, zu fragen, was ich damit machen soll, und werde in eine Umkleidekammer bugsiert. Da stehe ich nun, lasse die Hose runter, ziehe das Hemd aus und stattdessen den Kittel an. »Was soll das denn, der ist ja hinten offen«, denke ich. »Die müssen doch vorne ran.« Oder habe ich ihn falsch herum an? Dasselbe mit den beiden Badekappen. Sehen aus wie Mützen. Aber ich habe doch nur einen Kopf. Oder müssen die an die Füße, so wie die Schuhüberzieher auf den Bootsmessen? Ich stehe vor der Wahl: Mache ich mich zum Deppen oder zum Volldeppen? Ziemlich albern, wenn ich aus der Kabine komme und eine Socke auf dem Kopf habe, die an die Füße gehört. Andersherum auch nicht besser, mit zwei Mützen an den Füßen. Hmm, ich entscheide mich für die Füße, gehe ins Behandlungszimmer und stelle mich mitten in den Raum. Keiner lacht, keiner reagiert in irgendeiner Weise. Irgendwann nimmt mich die Schwester an der Hand und führt mich zu einem merkwürdigen Stuhl. Bin ich beim Frauenarzt gelandet? Irgendwie klettere ich da hinauf, rutsche runter, ein Bein links, ein Bein rechts. Augen zu und an was Schönes denken. Eisige Gewässer, und wir mit einer Aluyacht unterwegs. Grönland. Die Nordwestage. Herrlich. Plötzlich eilen die Gedanken voraus, und ein Bild eines alten VHS-Camcorders schiebt sich in den Fokus, mit dem Dr. Comlan bei mir eine Blasenspiegelung durchführen will. Aua. Dann geht die Tür auf und Dr. Comlan ist da. Mit der Kamera. Und die ist RIESIG! Wo hat er die her, Conrad Elektronic? Die ist doch für Klempnerarbeiten gedacht, aber nicht für menschliche Weichteile! Mir wird ein bisschen bange. »Ello!«, begrüßt er mich wieder mit seinem französischen Akzent, den ersten Buchstaben verschluckend. »’et’s do it!« Und dann geht es los … Nach der Blasenspiegelung erklärt mir Dr. Comlan, dass er nichts gefunden hat, nur eine Rötung im Eingangsbereich. Aber mit dem Antibiotikum für die nächsten drei Wochen sollte auch die abklingen. Ich bin erleichtert. Zumindest nichts Schlimmes gefunden. Aber es soll dann tatsächlich noch gut drei Monate dauern, bis alle Beschwerden vollständig verschwunden sind. »Wie war’s?«, begrüßt mich Cati aufgeregt. »Unangenehm«, fasse ich kurz zusammen und ergänze: »Wenn der solche Sachen mit mir macht, hätte er mir wenigstens vorher einen Drink spendieren können.«
SAMMY AN BORD
Von Johannes
Zwei Tage später setzen wir wieder Segel, denn wir müssen nach Fort-de. Dort will mein alter Freund Sammy an Bord kommen. Seine Reise in die Karibik ist eine große Sache, denn er ist noch nie so richtig aus Deutschland weg gewesen. Schon auf meiner ersten Reise hatte ich ihn eingeladen, ein paar Wochen mit mir zu segeln. Doch damals, kurz nach der Schule, fehlte das Geld. Deshalb kommt er diesmal und segelt vier Wochen lang mit. Beeindruckt hat mich an ihm schon immer seine unglaubliche Gelassenheit allen Dingen gegenüber, mit denen das Leben so wirft. So auch diese Flugreise. Mit Air nach Martinique, samt Umstieg und Flughafenwechsel in Paris. Fast jeder, der das schon mal machen musste, weiß: Das ist eine knappe Angelegenheit. Landung in Charles de Gaulle, Koffer einsammeln, Shuttle finden, quer durch die Stadt fahren und in Orly wieder pünktlich einchecken. Das alles in drei Stunden auf dem Boden. Noch dazu, weil Sammy nicht die beste Orientierung hat. »Sammy, wo bleibste?«, haben wir ihn oft gefragt, als er uns in Oberndorf besuchen wollte, aber Stunden später als geplant noch nicht da war. »Bin gleich da, schon auf der Elbfähre«, war dann häufig die Antwort. Dabei liegen Wolfsburg und Oberndorf beide südlich der Elbe. Trotzdem hat Sammy mit seinen Jungs immer wieder tolle Reisen und Abenteuer erlebt. Vor einigen Jahren beispielsweise haben sie sich mit Mitte 20 alle noch mal eine alte Mofa gekauft, um damit in den Urlaub nach Sylt zu fahren. Vier Jungs, vier Mofas, 25 km/h. »Man denkt sich gar nicht, wie kompliziert es mit der Mofa ist, über die Elbe zu kommen«, hat er damals erzählt, »denn du kannst ja keine Schnellstraßen oder den Elbtunnel nehmen.« Damit die Truppe auch den Weg nach Sylt findet, hat Navigator Sammy sich eine große Autobatterie auf den Gepäckträger geschnallt, um das Handy-Navi auf dem Lenker betreiben zu können. »Eine sichere Sache, dachte ich«, erzählte er später, »aber was meinste, wie wir geguckt haben, als wir tanken und die wollen dänische Kronen von uns!«
Sammy freut sich aufs Segeln. Und wir auch, nach der langen Motorfahrt in den Norden. Also segeln wir am Morgen nach seiner Ankunft hinauf nach SaintPierre im Norden von Martinique und werfen den Anker. Es ist irre tief, gut zehn Meter. Aber die Nacht soll ruhig sein, und wir stecken alle 50 Meter Kette. Im flacheren Teil der Bucht liegen leider schon jede Menge Boote. Wir gehen schnorcheln. Die Sicht ist ziemlich schlecht, aber da Sammy noch nie richtig geschnorchelt hat, geht er jetzt vollkommen darin auf. Wir erkunden das Umfeld, schwimmen hinüber zu einer Hallberg-Rassy und verfolgen die Ankerkette. »Wow, der hat weit über 80 Meter draußen. Dabei ist es dort nur vier Meter tief«, staune ich. Als wir dann nachmittags beim Kaffee im Cockpit sitzen, flaut der Wind immer mehr ab. Die Schiffe beginnen sich zu drehen, und die Hallberg-Rassy schwoit volle Lotte in das Nachbarboot. Sofort ist man dabei, Fender zwischen die Rümpfe zu hängen. Da wir einen Landausflug machen wollen, werfen wir das Dingi zu Wasser. Sammy hat als Jugendlicher einen Großteil seiner Sommerferien auf einem Campingplatz an der Eckernförder Bucht verbracht. Darum habe ich ihn damals immer beneidet. Schon mit zwölf war er jede Woche mit seinem eigenen Schlauchboot auf dem Wasser, während ich in Wolfsburg an Land saß. Deshalb machen wir Sammy jetzt kurzerhand zum Dingi-Operator. Doch der Motor will heute nicht. Schon gestern hatten wir Probleme. Ehe ich mich versehe, hat Sammy den Motor am Heckkorb hängen, meine Werkzeugkiste ausfindig gemacht, und der Vergaser liegt in Einzelteilen im Cockpit. Der Automobilingenieur ist nicht nur Theoretiker, sondern ein begeisterter Schrauber, und ich hätte ihm keine größere Freude für den ersten Urlaubstag machen können, hätte ich die Düsen des Vergasers selbst verstopft. Keine Stunde später läuft der Motor wieder, und wir brettern an Land. Vor seiner Abreise hatte Cati an Sammy eine Packliste geschickt. Neben Badehose, Sonnenbrille, Sonnencreme mit LSF 50, Badehandtuch und Schnorchelzeug stand darauf auch »Flipflops, keine zu billigen«. Also hat Sammy bei Amazon die mit den besten Bewertungen bestellt. Ein Satz Schlappen von »Reef«. Glückstreffer. Die benutzen wir auch. Aber Sammy hat noch nie Flipflops an den Füßen gehabt – und es ist köstlich für uns zu beobachten, wie er die Fußwege in St. Pierre durchschlappt und dabei ständig begeistert auf seine Füße schaut. Staunt, dass die Schlappen daran kleben bleiben und wie sich der große und der Zeigezeh um den Haltenippel in der Mitte klammern. »Irre, wie das funktioniert.«
Saint-Pierre ist ein interessanter und zugleich auch unheimlicher Ort. Seine Geschichte können wir überall auf den aufgestellten Gedenktafeln nachlesen: Die einst blühende Haupt- und Hafenstadt war eine der größten und am besten entwickelten sowie wirtschaftlicher Mittelpunkt der Karibik. Um 1900 besaß die Stadt, die auch Klein-Paris genannt wurde, bereits ein elektrisches Straßenbeleuchtungsnetz, einen großen botanischen Garten und ein beeindruckendes Theater mit 800 Plätzen. Bis zum Mai 1902. Schon Tage zuvor hatte es im benachbarten Vulkan Mont Pelé einige Eruptionen gegeben, und etwa 2.000 Menschen verließen die Stadt. Doch der Bürgermeister versuchte, die übrigen Anwohner zu beschwichtigen, und die meisten blieben. Am Morgen des 8. Mai folgten dann drei weitere Eruptionen, die den Berg zum Bersten brachten. Die Glutwolke vernichtete innerhalb kürzester Zeit die gesamte Stadt und brachte das Meer um die Stadt herum zum Kochen. 17 vor Anker liegende Schiffe sanken. Von 28.000 Einwohnern überlebten nur drei den Ausbruch. Zwei, weil sie sich am Rand der Stadt befanden und flüchten konnten, und ein Mann, Louis-Auguste Cyparis, weil er wegen einer Schlägerei in einem Gefängnis mit einem Meter dicken Mauern und ohne Fenster in Haft saß. Die Ruinen der Stadt brannten noch mehrere Tage lang, und erst drei Tage später konnte er gerettet werden. Heute ist die vollständig zerstörte Stadt wieder auf rund 4.300 Anwohner angewachsen. Viele historische Gebäude sind freigelegt worden, und so schauen wir uns sowohl das Theater als auch das Gefängnis an, in dem Louis-Auguste Cyparis überlebt hat. »Ich hab mir das alles hier aber ein bisschen exotischer vorgestellt«, sagt Sammy plötzlich. Und er hat recht: Martinique ist optisch nicht viel anders als eine typische Mittelmeerstadt. Aber bereits auf der Nachbarinsel soll alles ganz anders sein. Also setzen wir am nächsten Morgen Segel und nehmen Kurs auf Dominica.
DOMINICAS MUMMETS
Von Cati
Dominica soll Sammys erste wirkliche Karibikinsel werden: Anders als die französischen Übersee-Départements Guadeloupe im Norden und Martinique im Süden, zwischen denen Dominica eingekeilt liegt, ist die Insel nämlich so gar nicht europäisch. Die Insel ist die ursprünglichste unter ihresgleichen, denn ihre Pflanzen- und Tierwelt ist üppig und atemberaubend. Als »The Nature Island« wird Dominica, deren Nationalpark seit Ende der Neunziger sogar zum UNESCO-Weltnaturerbe gezählt wird, bezeichnet. Leider ist die Insel auch zugleich die ärmlichste, denn durch die mangelnde Infrastruktur herrscht nur vereinzelt Tourismus, und das bisschen, das vorhanden ist, wird regelmäßig durch Hurrikans erschwert, die die Insel verwüsten. Wir sind auf jeden Fall gespannt. Nicht nur darauf, die Insel kennenzulernen, sondern vor allen Dingen, wie das Ganze wohl auf Sammy wirken mag.
Mit Einbruch der Dunkelheit werfen wir den Anker vor der Hauptstadt Roseau im Süden der Insel. Doch das Schiff rollt die ganze Nacht so erbärmlich in der Dünung, dass wir bereits am frühen Morgen unseren Frieden in der Flucht suchen und die Leeküste hinauf nach Norden motoren. Es herrscht Flaute, aber immerhin ist keine einzige Wolke am Himmel zu sehen. Praller Sonnenschein. »Ha, dann kann ich mich ja ein bisschen bräunen«, sagt Sammy begeistert und entledigt sich schon seines T-Shirts, »neben euch sehe ich ja direkt kränklich aus!« In mir setzt direkt ein Mutterinstinkt ein: »Aber creme dich gut ein«, ermahne ich ihn, »sogar wir benutzen noch Lichtschutzfaktor 50. Die Sonne knallt hier echt ganz anders, noch dazu auf dem Wasser.« Weil wir unter Motor fahren, müssen wir auch wieder von Hand steuern. Dabei wechseln wir uns ab, wer nicht steuert, döst auf dem Vorschiff oder verkriecht
sich unter Deck um etwas zu lesen. »Das gibt’s ja nicht«, ruft Sammy irgendwann ganz aufgeregt. »Cati, guck mal, da vorne ist ein Wal!« Als ich schnell an Deck komme, sehe ich tatsächlich etwas sehr Großes und Dunkles im Wasser auf uns zukommen. Genau zwischen uns und der Küste, an der wir so dicht entlangfahren. Ich will es deshalb erst gar nicht glauben, dass es ein Wal sein soll. Mir erscheint das viel zu dicht unter Land. Doch dann kommt ein etwa sechs Meter langer Grindwal zum Lutschnappen an die Wasseroberfläche und zeigt uns seinen mächtigen Rücken. »Was ich alles bei euch erlebe«, staunt Sammy und strahlt über das ganze Gesicht. Ich bin natürlich wieder schissig. »Willst du nicht etwas weiter nach links fahren?«, frage ich Johannes, der gerade am Ruder steht. Wale sind und sind mir auf See einfach nicht geheuer. Mir zuliebe dreht Johannes ein wenig ab, obwohl er und Sammy ganz fasziniert sind, das Tier so nah sehen zu können. »Das Ding kommt uns ja hinter uns her, guck mal!«, rufe ich schon wieder mit erhöhter Stimmlage. Und tatsächlich, die MAVERICK scheint den Wal zu interessieren. Auch er weicht von seinem Kurs ab und schwimmt uns weiter entgegen. »Genau auf uns zu, genau auf uns zu! Jetzt weiter rechts«, kreische ich fast schon vom Vorschiff. »Was machst du denn da?«, rufe ich und bin jetzt wirklich etwas hysterisch. »Näher ranfahren«, antwortet Johannes, »dann kann ich bessere Bilder machen.«
Nach einigen Kreisen, die Boot und Wal umeinander ziehen, verliert das Tier das Interesse und geht auf seine alte Bahn zurück. »Wal: Check!«, sagt Sammy begeistert und zeichnet einen imaginären Haken in die Luft. Als ich ihn angucke, strahlt nicht nur sein Gesicht. Rücken und Arme leuchten verdächtig rot. »Willst du nicht mal langsam aus der Sonne kommen?«, frage ich Sammy. »Du siehst schon ganz schön verbrannt aus.« »Meinst du?«, entgegnet er mir. »Ist doch noch nicht mal ’ne Stunde gewesen. Und du hast mich ja auch richtig gut eingecremt«, grinst er.
In Portsmouth angekommen, schießen direkt ein Dutzend Boatboys mit ihren Holzbooten auf uns zu. Jeder will der Erste sein, um uns eine Muring zu vermieten. Vielleicht buchen wir dann ja noch eine Tour ins Landesinnere bei ihnen?! Boatboy Monty ist der schnellste. Er rammt zwar mit Schmackes unser Boot und zieht uns eine tiefe, rote Schmarre in den Lack, aber wir sehen es gelassen: Ein weiteres Souvenir für die weite Reise, die MAVERICK auf sich
genommen hat. Außerdem wirkt Monty unglaublich höflich, fast schon etwas schüchtern. Früher konnte der Indian River mit dem eigenen Beiboot erkundet werden. Heute ist er ein Naturschutzgebiet. Für etwa 20 € pro Person muss ein Boatboy engagiert werden, der seine agiere den Fluss hinaufrudert. Als eine der Haupteinnahmequellen auf der ärmlichen Insel sind wir damit ohnehin einverstanden und machen mit Monty aus, dass er uns am nächsten Morgen um 10 Uhr abholen kann.
»Nicht, dass die uns in der Zeit das Boot ausräumen, wenn sie wissen, dass wir nicht da sind«, sagt Sammy. Seine Recherchen zur Kriminalität in der Karibik haben ihn etwas skeptisch werden lassen. »Das können sich die Bewohner von Dominica eigentlich gar nicht erlauben«, antwortet Johannes, »stell dir vor, was das für den Ruf der Insel bedeuten würde, wenn bekannt wird, dass Touristen systematisch beklaut werden.« Tatsächlich erleben wir bald positiv, dass die Boatboys untereinander sehr gut organisiert sind. »Hey Man!«, ruft es ständig und man will uns Obst und Gemüse und zumindest auch einen Ausflug in den Indian River verkaufen. Bei der Erwähnung von Monty ist das Verkaufsgespräch aber immer beendet, die Zuständigkeiten unter den Boatboys geklärt. Monty kümmert sich um uns, und die anderen halten Abstand.
Den Gang zum Einklarieren wollen wir auch nutzen, um uns in Portsmouth umzusehen. An einem klapperigen Steg schließen wir das Dingi an und laufen über eine sandige Straße in den Ort. Es riecht stark nach schlechtem Fisch. An dem Anleger verkaufen auch die Fischer täglich ihre Ware. Die Straßen sind einfach asphaltiert, die Hä bunt und leicht ramschig. Überall laufen Einheimische scheinbar ziellos und teilweise zugekifft herum. Kinder spielen auf der Straße. Manche Fenster sind mit schweren Eisenstäben vergittert. Sammy macht große Augen. Wir lieben das Flair. Es ist sehr karibisch. Man schickt uns erst zur Polizei, dann ins Immigrationsbüro und wieder zur Polizei zurück. Das macht durstig. Zur Unterstützung der örtlichen Wirtschaft wollen wir uns im örtlichen Supermarkt ein kaltes »Ting« holen, eine
Grapefruitlimo. Außerdem sind wir gespannt, wie Sammy so einen Laden wohl findet. Er kennt schließlich ja nur Real, Edeka und Rewe. Im dunklen Supermarktraum zeigen wir ihm die uns mittlerweile vertrauten Produkte und öffnen Haushaltskühlschränke, in denen das Fleisch gelagert wird. Es ist dort ganz normal in Kühltruhen zu schauen, die nicht, wie von zu Hause gewohnt, eine transparente Scheibe haben und ihren Inhalt dem Kunden verraten. Manchmal klebt außen auf dem Deckel eine handschritliche Übersicht. Oft hat sie aber nichts mit dem tatsächlichen Inhalt der Kühltruhe gemein, und es kann ieren, dass man ein ganzes totes Tier am Stück freilegt, wenn man in tieferen Schichten nach einem Brot wühlt. Kurios für uns, normal für viele Inseln der Karibik. Als wir aus dem Supermarkt kommen, steuert ein sehr alter Rastafari mit beachtlichem Dreadlock-Turban, zerrissenem T-Shirt und staubigen Füßen in ausgelatschten Sandalen direkt auf uns zu. Hinter sich her zieht er ein Wägelchen mit einer Styroporbox. »Hey Man!«, ruft er uns zu. »Wanna buy juice – Wollt ihr Saft kaufen?« Er strahlt uns an und legt dabei sein Gebiss frei, in dem nur ein einzelner, brauner Zahn prangt. »Ist frisch gepresst«, erklärt er uns stolz. »Du kannst doch hier keinen Saft kaufen«, protestiert Sammy mit ernstem Gesicht und bedenklicher Miene »so mitten auf der Straße … von einem Mann, der nur einen Zahn hat.« Der Mann öffnet seine Kühlbox und legt den Blick auf mehrere Fruchtsaftflaschen ohne Etikett frei. »Wow, das sieht aber gut aus«, sagt Johannes zu uns, »entweder ist der wirklich selbstgemacht oder er hat sich richtig viel Mühe gegeben, um die Etiketten abzulösen. Was auch immer es ist – das muss belohnt werden«, zwinkert Johannes Sammy zu und zückt einen Dollarschein. Sammy probiert mal, verzichtet dann aber. Er sei eh nicht so für Saft. Der Maracujasaft ist dickflüssig, richtig kalt, nicht zu süß und extrem lecker. »Bakterien …«, höre ich Sammy murmeln.
Wegen unseres recht frühen Aufbruchs in Roseau ist sogar noch genügend Zeit, sich erneut den Außenborder anzusehen. Sammy klettert ins Dingi und beginnt, akribisch alle Einzelteile zu reinigen. Zwischendurch versucht er testweise den Motor anzureißen. Offensichtlich sieht das ein Boatboy, denn plötzlich hält ein weiteres Holzboot neben uns. Auf der Seite prangt groß der Schriftzug »Dr. Love«. »Hey Man«, ruft Dr. Love schon von Weitem, »gotta problem? What’s de problem?« Das Problem ist ziemlich sicher der schlechte Sprit, den wir getankt haben und der jetzt die Düsen verstopft hat. Nach der Reinigung sollte
alles wieder funktionieren. »I can help – ich kann euch helfen«, sagt Dr. Love und ist schon zu Sammy ins Dingi gehüpft. »Bist du ein Mechaniker?«, fragt er Sammy, den Automobilingenieur. »Nö«, grinst Sammy, der neugierig geworden ist, wie man in der Karibik mit so einer Sache umgeht. »Ich bin nämlich ein Mechaniker«, erklärt Dr. Love. Enthusiastisch reißt er am Anlasszug. So heftig und mit solch einer Inbrunst, dass Sammy Sorgen hat, dass ihm gleich Kolben und Ventile um die Ohren fliegen. Seine vor Überraschung aufgerissene Augen wandern immer zwischen unserem kleinen Motor und Dr. Loves Antrieb hin und her. An seinem einfachen Boot hängt ein 50 PS Yamaha – zum Anreißen. Kein Wunder, dass er so viel Kraft und Ausdauer hat. Doch als eine andere Yacht in die Bucht einläuft, wittert Dr. Love das größere Geschäft und verschwindet. Sammy zerlegt den Vergaser und hat den Motor eine Viertelstunde später wieder am Laufen.
»Wie wäre es, wenn ich uns eine Kartoffelsuppe mache?«, frage ich nach einem Blick auf unseren Proviant. Die Kartoffeln müssen langsam mal weg. Sammy ist begeistert. Kartoffelsuppe hat er bei seiner Oma schon immer gerne gegessen. Als er sich zum Essen ein frisches T-Shirt anziehen will, fällt mein Blick auf seinen Rücken. »Krass, du schwitzt ja total doll, Sammy«, sage ich. »Ja? Mir ist gar nicht so warm«, antwortet er, »wobei … mein Rücken fühlt sich doch ganz schön heiß an.« Und da erkenne ich es: Was ich für Schweißperlen gehalten habe, sind alles kleine Hautblasen. Sein Rücken sieht aus wie eine Raufasertapete. »Oh nein, Sammy, du hast dich ganz doll verbrannt«, sage ich ihm »da sind überall Brandblasen!« »Ist doch nur ein bisschen Sonnenbrand«, antwortet Sammy cool. Wie immer male ich mir das Schlimmste aus. Wie Sammy eine Infektion bekommt. Und dann eine Blutvergiftung. Und dann müssen wir ihn in die Sturmfock einnähen und seinen Leichnam im Meer versenken. So machen das Seeleute doch mit Toten. »Schmier mir da Aftersun-Lotion drauf, ich ziehe mir ein sauberes TShirt an und dann gibt’s erst mal Kartoffelsuppe«, weist er mich an. Am nächsten Morgen klopft Monty an unser Boot und wir steigen zu ihm um. Gemächlich rudert er uns zur Flussmündung. Der Indian River erhielt seinen Namen von dem Indianervolk, das früher an der Mündung lebte. Er hat vor allem durch den zweiten und dritten Teil des Films Fluch der Karibik Bekanntheit erlangt, als er als Kulisse diente. Monty erweist sich für uns als
absoluter Glücksgriff. Mit ruhiger Stimme erzählt er uns von der Tier- und Pflanzenwelt Dominicas, weist uns auf bestimmte Vögel hin und rudert und immer weiter den Fluss hinauf. Das Blätterdach über uns wird immer dichter, und obwohl ich die Fluch der Karibik-Reihe nie gesehen habe, kann ich mir ausmalen, wie gut dieser Fluss zu den Piratengeschichten get hat. Wir fahren vorbei an Mangroven und gewundenen Bäumen, deren knorpelige Wurzeln sich uns vom Ufer entgegenrecken. Das Wasser ist ganz torfig und doch klar. Alles spiegelt sich in der Oberfläche, und durch die Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach wirkt es, als würde ein verwunschener Nebel über dem Fluss schweben. Je weiter wir in den Dschungel eintauchen, desto lauter wird es. Grillenzirpen, Vogelschreie, das Rauschen der Blätter. Mich würde es nicht wundern, wenn Tarzan auf einer Liane durchs Bild geschwungen käme. Es herrscht nur eine ganz leichte Strömung; Monty muss kaum Kraft aufwenden, um uns mit den einfachen Paddeln auf dem Fluss zu bewegen. Die Fahrt endet an einem kleinen Anleger. Von dort können wir zu Fuß zu einer kleinen Bar laufen, die mitten im Urwald für die Touristen aufgebaut ist. Und Johannes und Sammy ziemlich gelegen kommt. Die Kneipe ist eine Holzhütte mit wenigen Tischen und aus Baumstämmen gehauenen Stühlen. Außerdem gibt es einen langen Tresen mit einer gut ausgestatteten Getränkewand, wo viele Flaschen vor eine grüne Wand dekoriert sind. Manche Etiketten sind uns bekannt, in vielen Behältern gären aber auch Eigenkreationen. In Schnaps eingelegte Früchte, Nüsse, Schoten und Kräuter zieren den Raum. Wir fragen nach dem beliebtesten Cocktail und bekommen einen »Dynamite«, eine Art Rumpunch mit vielen Früchten. Lecker. Wir schlürfen unsere Getränke und nehmen die Eindrücke auf. In einer Ecke sitzt ein kleiner Mischlingswelpe, der offensichtlich gerade im Fluss gebadet hat. An einem Tisch fädelt ein Rastafari perlengroße graue Samenkörner zu Armbändern auf. Hinter der Bar schwirren kleine Vögel, und in unbeachteten Augenblicken setzen sie sich auf den Flaschenhals und trinken die Tropfen, die noch an den Verschlüssen hängen. Offensichtlich Schnapsdrosseln. Monty hatte auf der Fahrt durch den Dschungel ein Palmenblatt abgerissen. Jetzt schenkt er uns Tiere, die er daraus gebastelt hat: Johannes und Sammy bekommen jeweils einen Grashüpfer und ich einen Vogel und einen Fisch am Stiel. Abends lege ich beides in mein Tagebuch zum Trocknen und Pressen. Souvenir. Kaum sind wir zurück an Bord, kommt Dr. Love wieder mal für ein Pläuschchen vorbei. Und um uns auszuhorchen, was für Dienstleistungen er uns verkaufen
könnte. In dem Augenblick kommt plötzlich Doris die Badeleiter hinauf. Unsere Freunde von der Schweizer Yacht RIOCAJA waren am Nachmittag eingelaufen und sie war nun herübergeschwommen um uns zum Apéro einzuladen. »Hey hey, are you a mummet?«, zwitschert Dr. Love ihr zu. »Was bin ich?«, fragt uns Doris, in der Hoffnung, dass wir das karibische Englisch von Dr. Love verstanden haben. »A mummet, a mummet! Beautiful girl and fish!«, versucht er zu erklären. »Ach soooo, eine Mermaid, eine Meerjungfrau!«, schlussfolgere ich.
Sammys Brandblasen haben sich in den letzten 24 Stunden einigermaßen gut entwickelt. Er schwört immer noch, keine Schmerzen zu haben. Einige Blasen haben sich geöffnet, aber der Rücken sieht nicht entzündet aus. Gestriegelt erscheinen wir abends auf der RIOCAJA und genießen den Ankerplatz mit unseren Freunden. Doris erzählt uns von einer Wandertour, die sie von Roseau aus ins Landesinnere gemacht haben. Die beiden wollen noch ein paar Tage bleiben, damit sie möglichst viel sehen können. »So tolle Wasserfälle und viele Tiere«, schwärmt Doris, »und erst die Pflanzenwelt. Die machen hier ganz viel Medizin aus den Pflanzen und helfen sich selber. Ich habe gleich mal gefragt, was das denn alles für Pflanzen sind, unglaublich interessant. Muss man doch alles wissen, wenn man schon mal hier ist. Ihr Mann Hans, ein eher stiller Typ, lehnt sich daraufhin langsam ins Licht und sagt mit einem Lächeln und schweizerischem Akzent: »Ach, die Doris. Die redet und redet und fragt und fragt …«, und ergänzt einige Sekunden später: »Und mir das alles so egal. Ich find das auch schön, wenn ich nicht weiß, was das ist!«
ST. MARTIN
Von Johannes
Die französischen Inseln in der Karibik sind aus mehreren Gründen so beliebt: die gut sortierten, günstigen Supermärkte, das einfache Einklarieren und das europäische Flair. Bei meinem letzten Besuch von St. Martin habe ich auf der holländischen Seite im Süden geankert, aber diesmal werfen wir den Haken in der dicht belegten Marigot Bay im französischen Teil. Wir haben an Deck noch gar nicht richtig aufgeräumt, da werden wir schon entdeckt und mit schallendem Gelächter bret-tert Thomas in seinem Dingi auf uns zu. »Das gibts ja nicht, was macht ihr denn hier?« Seit Monaten sind er und seine Freundin auf ihrer Oceanis 32 PANCHO vor uns her gesegelt. Immer nur etwa 100 bis 200 Seemeilen. Aber immer haben wir uns vert. Die beiden wollen von St. Martin aus den Rückweg über die Azoren antreten, und so ist es wirklich Zufall, dass wir sie gerade noch erwischen. »Was habt ihr vor? Wollen wir Kaffee trinken und plaudern?«, fragt Thomas. »Wir müssen erst mal einklarieren und zusehen, dass wir Internet an Bord bekommen, denn ich muss dringend einen neuen Artikel abliefern, Geld verdienen.« Thomas kennt das, denn seine Freundin arbeitet auch von Bord aus, als Architektin. Doch unser Problem versteht er nicht. »Habt ihr denn kein AldiTalk?«, fragt er. »Bitte was?« »Na, kennt ihr denn den besten Trick der Karibiksegler nicht?«, erwidert er. »Eine Prepaidkarte von Aldi mitzunehmen. Die haben superbillige Roamingpakete und funktionieren auf allen französischen Inseln.« Sammy lacht, denn auch er hat so eine Karte im Handy. Abends kommen Thomas und Steffi an Bord. Die beiden sind überrascht, wie klein unser Schiff ist. »Ihr habt doch einen Fuß mehr als wir, oder? Und trotzdem so wenig Platz?« Das ist der Schiffbau der 1970er-Jahre. Damals wurde die Contest 33 sogar als Raumwunder angepriesen. Steffi klettert unter Deck, dreht sich um und ist überrascht: »Wie, nicht mal eine Achterkabine?«
Ihr Schiff haben die beiden vor der Reise am Rhein in Krefeld liegen gehabt und sind nur zwei Monate vor uns von dort aus gestartet. Das Überraschende: Ihr Schiff wird von einem Radpiloten gesteuert, einem stinknormalen Radpiloten. Das gleiche Prinzip wie unserer, nur ein anderer Hersteller. In England war ja das Getriebe das erste Mal kaputt, in Spanien das zweite durch und kurz darauf ist der Zahnriemen gerissen. »Wir staunen auch, dass er es bis hierher gepackt hat«, sagt Thomas. Entweder liegt das Schiff so ausgeglichen auf dem Ruder, dass der Radpilot nichts zu tun hat, oder die beiden haben mächtig Glück gehabt. Am nächsten Tag lege ich einen Bürotag ein. Cati und Sammy wollen an Land unsere Wäsche waschen, damit ich ein paar Stunden in Ruhe arbeiten kann. Aber wieder einmal versagt der Außenborder, und sie kehren nach einigen Minuten zurück. Cati im Schlauchboot und Sammy mit der Vorleine schwimmend, das Boot schleppend. Eine neue Zündkerze tut Wunder. Die beiden sind einige Stunden verschwunden, und ich tauche in die Physik von LED-Lampen ein. Der neue Artikel soll MAVERICK TOOS Umbau auf LEDTechnik und den geschickten Einsatz der Lampen zur indirekten Beleuchtung beschreiben. Die Bilder für den Artikel habe ich schon in Martinique geschossen und zwei Tage lang mühselig in einem Café hochgeladen, denn immer, wenn der fast fertig war, ist das Netz ausgefallen. »Ich glaube, die Bedienung ist verliebt in dich und will nicht, dass du gehst«, hat Cati gemeint. Nach drei Stunden kommt Sammy wieder. Mit vollkommen durchnässten Klamotten und nassen Haaren. »Sag mal, bist du ins Wasser gefallen?«, frage ich lachend. »Cati ist der Dingischlüssel ins Wasser gefallen, und ich musste ihn aus drei Meter Tiefe hochtauchen«, erwidert er kurz. »Ist da nicht ein Schwimmer dran? Und warum hast du nicht die kurze Hose ausgezogen?« »Der Schwim mer kam nicht gegen die vielen Schlüssel an. Sieht aus, als wärst du ein Hausmeister.« Aber Sammy ist in Eile. »Komm mal schnell mit an Land. Wir haben in einem Preisausschreiben gewonnen, und nun wollen die, dass wir mit zu einem Hotel fahren und den Preis abholen.« »Was?« Tatsächlich wurden die beiden in der Wäscherei von einem jungen Paar angesprochen, sollten ein paar Symbole auf einem Zettel freirubbeln und haben dann erfahren, dass sie gewonnen haben. »Entweder ein iPad, 1.000 US-$ oder eine Reise.« »Bist du dir sicher, dass das alles stimmt?«
Ich bin skeptisch, fahre aber mit. Da steht Cati am Steg, mit den beiden fremden Leuten. Ich stelle Fragen, und es stellt sich heraus, dass die beiden gegen Provision Preisausschreiben für ein Hotel veranstalten. Sammy und Cati sollen nun mit und den Preis abholen. »Ihr müsst aber so tun, als wärt ihr verheiratet. Und ihr dürft nicht erzählen, dass ihr von einem Boot kommt«, sind die Bedingungen. »Pah, aber küssen werde ich dich nicht«, lacht Sammy. Die beiden sind Feuer und Flamme. Aber ich ahne, dass das Ganze eine Masche ist. Sie eigentlich auch. Aber sollen sie mal machen, dann habe ich Zeit zum Arbeiten. Demonstrativ schieße ich noch drei Fotos von dem Auto, in das Cati und Sammy einsteigen sollen, dem Nummernschild und den Fahrern, damit diese wissen, dass sie Cati und Sammy nicht irgendwo aussetzen können, und gehe zurück zum Dingi. Tatsächlich stellt sich heraus, dass die beiden mit dem Preisausschreiben nur geködert werden, um einem Vortrag über ein Hotel-Timesharingsystem zu lauschen. Eine Stunde lang werden sie über die Insel gefahren und dann weitere zwei Stunden durch ein edles Hotel in der Nähe von Philipsburg geführt. Dort müssen sie noch mal auf einem Zettel ein paar Symbole freirubbeln und gewinnen letztlich eine »kostenlose« Übernachtung in dem Hotel, für die allerdings eine Zuzahlung nötig ist. Aber was soll’s – die beiden hatten eine kostenlose Sightseeingtour, und ich habe einen Großteil des Artikels geschafft. Am nächsten Tag wollen wir eine Dingitour quer durch die Lagune auf die holländische Seite der Insel unternehmen. Dort gibt es den größten BudgetMarine-Laden der Karibik. Die Fahrt durch die Kanäle und die Lagune ist ein tolles Erlebnis. Viele abgehalfterte und halb versunkene Kähne auf der französischen Seite, viele Megayachten auf der holländischen. Wie ein großer Überseecontainer ist die Halle von Budget Marine, dem großen Bootsausrüster, bereits am Horizont zu erkennen. Meine Augen leuchten. Ein großes Wunderland für einen Bootsfreak wie mich. Was es da alles an toller neuer Technik gibt, und wie gern ich davon etwas an mein Boot schrauben würde. Brauchen wir zwar alles nicht. Aber »haben« ist ja bekanntlich besser als »brauchen«. Doch ich reiße mich zusammen. Wir kaufen lediglich ein bisschen Kleinkram und Ersatzteile. Außerdem einen Riegel, damit wir für ein bisschen Privatsphäre unsere Vorschiffskabine durch die Klapptür vom Salon abtrennen können. Als wir zurück zum Boot fahren wollen, springt der Dingimotor nicht an. »So
ein Mist. Das wird eine lange Paddeltour.« Etwa drei Seemeilen, schätze ich. Wir gehen auf Ursachensuche. Sammy ist der Autoingenieur, aber ich kenne mich besser mit Elektrik aus. Und es klingt, als hätten wir keinen Zündfunken. Glücklicherweise haben wir immer Werkzeug dabei und können bei Budget Marine eine neue Zündkerze kaufen. Die Kerzen hatten in letzter Zeit häufig Salz am Kopf. Nicht gut. Das deutet auf eine kaputte Zylinderkopfdichtung hin. Doch das ist nicht die Ursache. Vielmehr ist der Kerzenstecker kaputt. Durch die zahlreichen Zündkerzenwechsel ist der Kontakt gebrochen. Aber hier beim größten Ausrüster der Karibik wird es doch wohl Ersatz geben. Leider Fehlanzeige. Also laufen wir los und klappern alle Läden rund um die Bucht ab. Bootsausrüster, Autoläden, Bootsmotorenhändler, einen Baumarkt. Alle haben nur fertige Kabelbäume, aber keinen einzelnen Stecker. Bei Harley-Davidson werden wir dann überraschend fündig. Der Kerzenstecker t auf die Kerze. Doch zurück am Außenborder stellen wir fest, dass der Stecker zu lang ist und sich nicht in die Motorwanne montieren lässt. Also werde ich zu Mac-Gyver, kaufe ein paar metallene Einzelteile und dengele mir selbst einen Stecker, der t. Bis in die Bahamas fahren wir mit dieser Lösung. Doch die Kopfdichtung bleibt ein Problem. Tags darauf nimmt sich Sammy zusammen mit Ankerplatznachbar Ralf von der GRACE dem Problem an. Und siehe da, die Zylinderkopfdichtung ist tatsächlich im Eimer. Sie ist vollkommen verzogen und lässt Salzwasser an den Kolben durch. Die beiden kleben die Dichtung neu auf, ziehen alle Bolzen gleichmäßig fest und fortan läuft der Motor mit gefühlt zwei PS mehr. Nach fünf Tagen auf St. Martin wird es dann Zeit, weiterzuziehen. Denn Sammys Bruder Christian hat sich angemeldet und will uns auf den Britischen Jungferninseln besuchen. Als wir davon erfahren, denke ich erst mal: »Wow, dass der sich selbst einlädt …« Aber dann fällt es mir langsam wieder ein. Als wir letzten Winter kurz zu Hause in Deutschland waren, bin ich mit Sammy und Christian einen Abend auf dem Weihnachtsmarkt in Wolfsburg gewesen. Irgendwie sind wir danach noch im Pub gelandet, und als Sammy und ich nach dem dritten Guinness von dem bevorstehenden Besuch in der Karibik geschwärmt haben, muss ich wohl irgendwann betrunken gesagt haben: »Ach, weißte was, komm doch einfach auch.«
WALT DISNEYS THEMENPARK FÜR SEGLER
Von Johannes
Die 92 Seemeilen bis hinüber auf die Britischen Jungferninseln sitzen wir quasi auf einer Pobacke ab. Da Christian am nächsten Tag landen soll, wählen wir als Ziel die kleine Trellis Bay im Norden von Beef Island. Von dort sind es nur wenige Hundert Meter bis zum Flughafen, der ja üblicherweise über einen Zoll verfügt. Doch dummerweise ist es neuerdings nicht mehr möglich, dort einzuklarieren. Wir sollen ein Taxi in den Ort nehmen und dort einchecken. Da in der winzigen Ansiedlung aber ohnehin der Hund begraben ist, holen wir den Anker ein und segeln nach Road Town. Dort ist es schwer, einen Liegeplatz zu bekommen. Alle Plätze sind belegt, und die Ankerbucht ist mehr als unruhig. Eine lange Pier wird allein schon von Richard Bransons 31 Meter langem Riesenkatamaran NECKAR BELLE eingenommen. Doch mit viel Betteln bekommen wir eine Lücke in der Village Cay Marina. Eine Stunde nach dem Anlegen sind Sammy und ich wieder am Flughafen, sitzen auf einer Bank am Parkplatz und schauen in Erwartung von Christians Flugzeug auf das Rollfeld. Neben uns sitzen Hühner und Hunde. Irgendwann klopft es auf meiner Schulter. »Moin.« Christian ist längst da, die Maschine etwas früher gelandet. Dabei wollte man ihn beim Umstieg in Sint Maarten erst gar nicht mitlassen, da er kein Rückflugticket hat. Schnell haben wir ihm noch per Handy eine schriftliche Erklärung geschickt, dass wir ihn von den Britischen Jungferninseln in die Dominikanische Republik aussegeln, von wo er zurückfliegen wird. Aber nun hat ja alles geklappt, und es kann zurück zum Boot gehen.
»Lasst mich mal das Taxi bezahlen«, sagt Christian unterwegs und zieht eine fünf Zentimeter dicke grüne Geldrolle aus der Tasche. »Alter, was geht denn bei dir?« »Ich hab schon in Deutschland Geld getauscht und hatte so einen Riesenstapel Dollar. Wollte einmal wie ein echter Proll in den Urlaub fliegen«, lacht er. Am nächsten Morgen machen wir uns auf den Weg nach Virgin Gorda, die ihren Namen angeblich daher hat, dass sie auf der Karte von oben wie eine korpulente, auf der Seite liegende Jungfrau aussieht. Im Gegensatz zur südlichen Karibik finden wir hier im Norden fast nur Muringfelder vor. Selten ist es möglich, direkt daneben zu ankern. Deshalb zahlen wir für die Nacht 35 US-$ und sind zum ersten Mal mit dem kleinen Boot im Nachteil. Denn neben uns liegt ein 60Fuß-Katamaran an einer baugleichen Muring und bezahlt dasselbe. Der Bitter End Yacht Club ist ein traumhaft schön angelegtes Resort voller Palmen und idyllischer Strände. Kein Wunder, dass die Britischen Jungferninseln so beliebt sind. Seglerisch ist es auch ein sehr einfaches Revier. Die Distanzen sind kurz, häufig zwischen zehn und 15 Seemeilen, und es gibt andauernd tolle Attraktionen zu bewundern. Morgen wollen wir uns den Strand »The Baths« anschauen, dann ein altes Dampfschiffwrack erschnorcheln. Außerdem gibt es alte Piratenhöhlen und verwunschene Buchten. Nicht ohne Grund nennen viele Amerikaner die Inselgruppe »Disney World für Segler«. Denn wenn Walt Disney einen Themenpark für Segler hätte anlegen wollen, würde er wohl so aussehen wie die Britischen Jungferninseln. Am nächsten Morgen schnorcheln wir durch die Riffe rund um den Yachtclub und sehen sogar einen Feuerfisch. Diese wunderschönen Fische tragen Gift in den langen Stacheln auf dem Rücken und haben in der Karibik eigentlich überhaupt nichts zu suchen, sondern stammen aus dem Indopazifik oder dem Roten Meer. Man vermutet, dass entweder ein Sammler irgendwann einige Fische in Florida freigelassen hat oder dass die Fische bei einem Hurrikan aus einem Seeaquarium geweht worden sind. Möglich ist auch, dass sie als Jungfische mit dem Ballastwasser eines Frachtschiffs eingeschleppt worden sind. Seitdem breiten sie sich rasend schnell in der Karibik aus, und alle Sportfischer sind dazu angehalten, sie bei Sichtung zu speeren und zu essen. Sie sind sehr lecker, man muss nur zuerst an den Stacheln vorbei, um den Fisch zu zerlegen. Wenn die Britischen Jungferninseln in einem Reisekatalog vorgestellt werden, dann zumeist mit einem Foto von »The Baths«. Dieser Strand im Süden von
Virgin Gorda sieht aus, als hätte vor Tausenden von Jahren ein Riese ein paar gewaltige, rund geschliffene Kieselsteine am Strand ausgestreut. Damit der Weg dorthin nicht zu weit ist, verholen wir in den Yachthafen von Spanish Town, von wo wir dann laufen wollen, um wenigstens das Geld für den Bus zu sparen. »Drei Kilometer. Das sollte kein Problem sein«, sind wir uns am Morgen einig. Doch keiner hat die Rechnung mit der Schwüle gemacht. Schon nach dem ersten Kilometer sind wir fertig und durchgeschwitzt. Zum Glück hält ein Pick-up. »Hey guys, seid ihr bekloppt, hier rumzulaufen? Ich nehm euch mit.« »Aber wie sollen wir alle in die Kiste en, der hat doch nur zwei Plätze«, ist Sammys Einwand. »Hinten rauf, auf die Ladefläche«, lacht der Einheimische, der sich nur mit seinem Nachnamen vorstellt. »Ich hab euch schon auf dem Weg zum Supermarkt gesehen und gedacht: ›Die wollen die lange Strecke doch wohl nicht laufen?‹«, lacht er. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen und springen hinten drauf. Die Felsen sind der Hammer. Von oben und vor allem von innen. Etwa zehn Minuten dauert der Weg durch die Tunnel, die sich zwischen den Klötzen ergeben, bis auf die andere Seite. Der Besuch lohnt sich wirklich. Und auch die Unterwasserwelt ist toll, denn selbst da unten liegen riesige Steine. Am nächsten Morgen segeln wir zeitig los, um das Wrack des alten Postschiffs RMS RHONE zu erschnorcheln, das 1867 vor Salt Island in einem Hurrikan gesunken ist. Es liegt zwar gut 17 Meter unter Wasser, und wir können nicht so tief runter, aber selbst darüberzu-schweben und das Schiff von oben zu sehen, ist sicher ein Erlebnis. Doch MAVERICK TOO hat andere Pläne. Als wir die Segel bergen, springt der Motor nicht an. Unsere zwei Ingenieure wittern Ablenkung und greifen nach der Werkzeugkiste. »Scheint, als hätte es der Anlasser hinter sich«, ist nach kurzer Fehlersuche die Diagnose. Glücklicherweise habe ich noch einen an Bord, und die beiden haben einen Mordsspaß, auf See am Motor zu schrauben. Kaum gebe ich den Brüdern einen Knarrenkasten, fliegen auch schon die Muttern durch die Kajüte. Innerhalb einer halben Stunde ist das Bauteil getauscht, und es ertönen erneut die vertrauten Klänge aus dem Auspuff. Doch nun haben wir ein anderes Problem – der Motor leckt Kühlwasser, und das nicht zu knapp. Die Zweikreiskühlung wurde vor 30 Jahren nachgerüstet, und die Dichtringe scheinen nach der Demontage ihren Dienst nicht mehr zu erfüllen. Also entscheiden wir uns für eine Kursänderung und segeln in die Nanny Cay Marina auf Tortola.
Wir finden einen Liegeplatz und checken ein. Der Hafen ist nobel und gefällt uns auf Anhieb. Die Sanitäranlagen sind so ziemlich die schönsten, die wir bisher gesehen haben. Reichlich Kabinen, jede mit einer Dusche und einer Toilette versehen und mit Mahagoni verkleidet. Entsprechend ist allerdings auch der Preis: 50 US-$ plus Wasser. Das Leben zu viert an Bord des kleinen Zehn-Meter-Schiffes klappt besser als erwartet. Die beiden Jungs sind ziemlich anspruchslos und Cati hart im Nehmen. Christian schläft rechts auf der Salonkoje, Sammy links. Es ist sehr spannend, so viel Zeit mit den beiden zu verbringen. Mit Sammy bin ich zwar Haus an Haus groß geworden, doch nach der Schule haben wir uns für gut acht Jahre ziemlich aus den Augen verloren. Christian kannte ich zwar aus Deutschland ein bisschen, aber so richtig lerne ich ihn erst jetzt kennen. Und es ist verblüffend, wie unterschiedlich die Brüder sind. Während Sammy seine Habseligkeiten schon am zweiten Tag an Bord über das ganze Schiff verteilt hat, hält Christian alles sauber beisammen und in seiner Tasche. Während Sammy sich abends zum Schlafen einfach nur seine Decke krallt und sich aufs Sofa wirft, macht sich Christian immer fein säuberlich das Bett und sorgt überhaupt immer sehr dafür, dass alles ordentlich ist. Er erkennt, wenn im Bordhaushalt etwas zu tun ist, und packt immer mit an. »Wir sollten öfter so Gäste wie Christian haben«, sagt Cati eines Tages, als Christian den Müll rausbringt. Auf der anderen Seite hat Christian eine ganz andere Schamgrenze als Sammy. Des Öfteren zieht er sich mitten im Salon stehend die Hose runter, um auf Badehose zu wechseln, hält dann jedoch inne, greift sich das Handy und checkt drei Minuten lang seine Mails. »Ich weiß dann gar nicht, wo ich hingucken soll«, sagt Cati. Am selben Nachmittag noch machen sich die Jungs daran, die Kühlwasserleitungen zu dichten. Glücklicherweise gibt es einen Bootsausrüster gleich neben dem Hafen. Ich zeige ihnen, wie man das Seeventil nach jedem Startversuch schließt. Das ist wichtig, da der Motor unter der Wasserlinie montiert ist und nach einer Weile über die Abgasanlage vollliefe, wenn man das Ventil nicht schließen würde. Eigentlich ist in solch einem Fall eine Art »Schnüffelstück« in die Kühlwasserleitung eingebaut, das über die Wasserlinie geführt Luft zieht und damit den Wasserfluss unterbricht. Doch so etwas ließ sich bei diesem Motor durch den merkwürdigen, nachträglich montierten zweiten Kühlkreis nicht nachrüsten. Bislang hat es deswegen auch nie Probleme gegeben, da wir immer daran gedacht haben, das Ventil zu schließen. Es klopft an Deck. »Hallo, Jungs und Mädel. Da seid ihr ja!«, kündigt sich
Renato an. Diesen hat Cati in der Village Cay Marina kennengelernt, als Sammy und ich auf dem Weg zum Flughafen waren. Und nun liegen wir zufällig in dem Hafen, in dem er seine Sun Odyssey 52.2 reparieren lässt. Das Schiff war im Osten von Virgin Gorda auf ein großes Riff gelaufen und hatte schwere Schäden davongetragen. Es ist ein trauriges, aber auch beeindruckendes Bild, wie es nun in der Werft liegt. Der Kiel ist abgerissen und die Bordwand hat ein Loch. Innen ist die gesamte Einrichtung an Steuerbord demontiert, da alles drei Zentimeter nach innen gedrückt worden und gebrochen ist. Dazu standen 30 Zentimeter Wasser im Schiff. Was für rohe Kräfte dort gewaltet haben müssen. Sehr erstaunt sind wir deshalb, kaum mehr als einen Monat später zu lesen, dass Renato schon wieder unter Segeln unterwegs ist. Renato bietet uns an, mit uns im Mietwagen in den Ort zu fahren. Und dafür haben wir tatsächlich Bedarf, denn Catis nächster Besuch im Krankenhaus ist fällig. Zuletzt hatte sie ihr Blut Mitte März in Grenada checken lassen, und nun ist es fast schon Mitte Mai. Also nehmen wir das Angebot an und verabreden uns für den nächsten Morgen. Die Untersuchung dauert nie lang, wird aber ständig teurer. Während wir für das einfache Blutbild mit Leberwerten in Portugal noch 16 € bezahlt haben, sind es hier auf den Britischen Jungferninseln schon 180 US-$. Dafür haben wir eigentlich kein Budget eingeplant, denn bei unserer Abfahrt aus Deutschland gab es noch keine Todesfälle unter diesem MS-Medikament. Da Cati es aber auch nimmt, sind nun sicherheitshalber ständig Bluttests nötig. Bisher ist aber immer alles in Ordnung.
DIE KOPFDICHTUNG GEHT FLÖTEN
Von Johannes
Nach einer Woche in den Britischen Jungferninseln haben wir endlich mal wieder perfekte Segelbedingungen. Also gehen Groß und Genua direkt hinter der Hafenausfahrt hoch, und wir preschen mit 6,5 Knoten gen Westen. Unser Ziel ist die nach einem alten holländischen Piraten benannte Insel Jost Van Dyke, genauer die White Bay. Denn hier steht die »Soggy Dollar Bar«, in der »Painkiller« erfunden worden ist. Das ist ein Cocktail, dessen Name Programm ist, da spätestens nach dem zweiten alle Schmerzen aufhören. Vor vielen Jahren bin ich mal nach der »Hanseboot« in Hamburg mit ein paar Kollegen in einer Cocktailbar zwischen Fischmarkt und Reeperbahn gelandet. Diese hat mich schwer beeindruckt, denn es gab dort über 200 Sorten Rum, und die Cocktailkarte war lang und las sich wie ein Telefonbuch. »Was sollen wir trinken?«, war natürlich die Frage. Und recht schnell fanden wir die Lösung: »Painkiller«, den es dort sogar für leichte und für schwere Fälle gab. Ein leckerer Cocktail, der hauptsächlich aus Ananas- und Orangensaft besteht. Dazu Kokossirup und Pusser’s Rum. Serviert in original Pusser’s Metallbechern und garniert mit ein bisschen Muskatnuss. »Genauso wie dort, wo er erfunden wurde«, erklärte uns der Barkeeper stolz. Der Cocktail war unglaublich lecker. Und die Metallbecher gefielen mir. »Die sind immer schwerer zu bekommen«, erzählte uns der Chef. »Ab und zu haben wir Glück und können noch welche bei eBay ersteigern.« Und der Cocktail funktionierte. Nach zwei Bechern hörten die Schmerzen der letzten Messetage in Rücken und Beinen tatsächlich nach und nach auf, und es wurde ein schöner, geselliger Abend. Deshalb war mir klar, dass wir den Ort besuchen müssen, an dem der Painkiller in den 1970er-Jahren erfunden worden ist – die »Soggy Dollar Bar«. Direkt vor der White Bay liegt ein gewaltiges, lang gezogenes Riff, das den Ankerplatz sehr gut vor Wellen schützt. Kurz vor der Riffage werfen wir den
Motor an und tuckern hinein in die schmale Gasse. Und die ist schon jetzt, gegen 14 Uhr, fast voll. Wir umkreisen die ankernden Schiffe und versuchen, noch eine Lücke zu finden. Kniffelig. Doch dann entdecken wir einen Ankerplatz, der gerade eben tief genug ist. Den Anker werfen wir ins flache Wasser auf 1,8 Meter Tiefe und lassen uns dann zurücksacken, bis wieder ein halber Meter Wasser unter dem Kiel ist. Um sicher zu gehen, dass sich der Anker gut eingegraben hat und wir gut liegen, schnalle ich mir die Taucherbrille um den Kopf, ziehe meine Flossen an und springe über den Bug ins Wasser. Der Anker hat natürlich wieder super gegriffen und sich komplett eingegraben. Das Wasser ist herrlich klar, die Sicht fantastisch. Ich tauche kurz auf und gebe Signal, »alles okay«. Christian ruft zurück, ob sie denn schon den Motor abstellen sollen. »Gute Idee! Könnt ihn ausmachen.«
Bevor wir in die Bar können, muss ich noch einen Behördengang erledigen. Eine Bucht weiter, in der Great Harbour Bay, ist ein Zollbüro, in dem ich heute noch ausklarieren möchte, damit wir gleich morgen früh mit dem ersten Tageslicht lossegeln können. Dann haben wir etwa 50 Stunden Zeit für die 210 Seemeilen bis nach Punta Cana in der Dominikanischen Republik. Dort werden Sammy und Christian uns verlassen und den Rückweg nach Deutschland antreten. Ein langes Seestück liegt also vor uns. Gern hätten wir die beiden etwas näher abgesetzt, beispielsweise auf den Amerikanischen Jungferninseln oder Puerto Rico. Von dort wären auch preiswerte Rückflüge über die USA möglich gewesen. Aber leider haben beide kein US-Visum, das für die Einreise per Boot unbedingt nötig ist. Zwar könnte man auch mit der Fähre hinüber auf die Amerikanischen Jungferninseln fahren, um dort per Visa Waiver Program ein Kurzzeitvisum zu bekommen und dann einen Tag später mit dem eigenen Boot und dem bereits vorhandenen Stempel im noch einmal einzureisen. Aber das wussten wir bei der Buchung nicht, und außerdem hätte das zwei Fährfahrten nötig gemacht. Das Wetter für die Überfahrt in die Dominikanische Republik sieht gut aus. Eher zu flau als zu windig. Dazu atwind von hinten. Ich mache mir daher keine Sorgen, dass wir die beiden nicht pünktlich abliefern werden. Mit dem Dingi fahre ich allein in den Nachbarort, mache das Zollbüro zwischen all den anderen Hän ausfindig und checke uns aus. Nun haben wir 24 Stunden Zeit, um die Inselgruppe zu verlassen.
Zurück an Bord, wartet die Crew schon ungeduldig. »Ich hab schon einen stechenden Durst«, sagt Sammy. »Lass uns was gegen die Schmerzen tun.« Dazu haben die beiden noch jeder etwa 150 US-$ in der Tasche, mit denen sie in der Dom Rep nichts anfangen können. »Heute trinken wir mal einen Becher mehr«, kündigt Christian an. Mit dem Dingi landen wir am Strand an. Da das Wasser bis zum Strand noch ziemlich tief ist, wird meine Hose nass, als ich ins Wasser springe. Nun verstehe ich auch den Namen der Bar – »Soggy Dollar« »Nasser Dollar«. Das »Soggy Dollar« ist simpel, aber urig. Eine weiß gestrichene Holzhütte, mit türkisfarbenen Dachbalken und -trägern. In der Mitte steht eine große, hölzerne Bar im Shabby-Chic-Look. Hier ist schon so mancher Painkiller über den Tresen gegangen. Die Zeiger einer großen Uhr in der Ecke laufen offenbar etwas langsamer als bei gewöhnlichen Uhren. Sie zeigen auch nicht auf Stunden, sondern auf Wochentage. Wir sind in einer anderen Zeitzone angekommen, Island Time. »Hey guys, welcome to the Soggy Dollar Bar«, werden wir begrüßt. »Was wollt ihr trinken?« »Medizin!« »Alles klar«, antwortet die Bedienung mit einem Augenzwinkern und stellt vier Plastikbecher auf den Tresen. »Das mit den Blechbechern ist wohl Vergangenheit«, stelle ich fest. »Schade eigentlich. Die Dinger hatten Stil.« Und tatsächlich kann man die Blechbecher noch im Merchandising-Shop der Bar kaufen, der ziemlich gut bestückt ist. Aber die Plastikbecher sind irgendwie auch nett. »Das macht 28 US-$.« Wir schnappen uns unsere Becher und setzen uns an einen großen Holztisch am Strand. »Cheers!« Der Drink ist genau so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Nur der Ausblick ist hier in der White Bay deutlich schöner. Und er knallt gewaltig, vor allem auf nüchternen Magen. Viel zu schnell stürzen wir das köstliche Zeug runter. War ja ein heißer Tag. Christian hat die erste Runde spendiert, ich hole die zweite. »Noch mal vier Painkiller«, bestelle ich und sehe erst jetzt, wie die Drinks gemixt werden. Die einzelnen Bestandteile werden mit einem großen Trichter in leere Gallonenwasserkanister gegossen. Deckel drauf und schütteln. »Was genau ist denn da jetzt drin?«, möchte ich gerne wissen. »Das ist ein Geheimrezept«, lacht die Barkeeperin. »Das kann ich dir nicht verraten.« Aber über die kommenden zwei Jahre gelingt es mir relativ gut, den Drink nachzumixen. Nach dem zweiten Painkiller liegt Cati kichernd auf dem Sandboden unter dem
Tisch und spielt mit einem streunenden Hund, krault ihm den Bauch. »Oaaah … ich glaub, ich muss nach Hause« meint sie. Also bringe ich sie zurück zum Dingi, fahre mit ihr zum Boot und befördere sie in die Bugkoje. »Wir haben noch gar nichts gegessen«, fällt ihr auf. »Vielleicht bin ich deshalb so duselig.« Also suche ich ihr eine Scheibe Toastbrot aus der Pantry und drücke sie ihr in die Hand. Zurück an Land, stehen schon die nächsten zwei Painkiller für mich bereit. »Du liegst eine Runde zurück und solltest schnell aufholen«, lacht Christian. »Ey, Jungs, wir haben noch gar nichts gegessen«, wende ich ein. Das war den beiden auch schon aufgefallen. Aber das zur Bar gehörende Restaurant serviert nur bis 19 Uhr Essen, und die Hauptgerichte beginnen bei 28 US-$. Also bleiben wir bei Flüssignahrung. Die Party ist in vollem Gang. Wir staunen, wo die ganzen Leute herkommen. Jost Van Dyke hat nur 300 Einwohner und nur drei kleine Hotels. Alle anderen Gäste müssen per Fähre gekommen sein oder mit den Charterbooten. Die Bar brummt jedenfalls, und Christian und Sammy sorgen abwechselnd für Getränke. Irgendwann setzen dann meine Erinnerungen an den Abend aus. Am nächsten Morgen bimmelt der Wecker mit ohrenbetäubender Lautstärke. Gleißendes Licht strahlt durch das offene Luk an Deck und brennt sich in mein Gehirn. Irgendwer poltert auch schon im Salon herum. Ich will nicht aufstehen. Und selbst wenn ich wollte, würde ich mit dem dicken Schädel überhaupt durch die Tür kommen? Wer hat überhaupt den Wecker so früh gestellt? Doch dann dämmert es mir … Wir müssen ja los, rüber in die Dom Rep. Mist. Ich stolpere aus der Koje und in den Salon. Sammy sitzt schon relativ fit im Cockpit in der Sonne, während Christian so elend aussieht, wie ich mich fühle. Cati springt aus der Koje und brüllt mir direkt ins Ohr: »NA, JUNGS, WIE GEHT ES EUCH?« Zumindest fühlt es sich so an. Wahrscheinlich hat sie sogar geflüstert. Wo sind die Aspirin? Cati haut ein paar Eier in die Pfanne. Dazu Toast. Ein schnelles Katerfrühstück, denn wir müssen ja los. »Wir haben jetzt ja zwei Tage Zeit, um auszunüchtern«, sage ich. Sammy und Christian gelingt es irgendwie, den Motor vom Dingi zu nehmen und das Schlauchboot an Deck zu hieven, ohne dass irgendwas oder irgendwer ins Wasser fällt. Dann ist 8 Uhr durch. »Wird Zeit, dass wir losfahren«, sage ich und bücke mich hinunter zur Bilge, um den Hahn des Seeventils zu öffnen. Doch ich stutze. Er ist bereits offen. Doch der Kopf ist
noch zu duselig, um genauer darüber nachzudenken. Ich klettere an Deck, schiebe den Gashebel vor und drehe am Schlüssel. Es macht »klank«. Dann Stille. »Hä, was soll das denn?« Noch mal. »Klank.« Stille. »Ist der Anlasser schon wieder kaputt?« Ich klettere in den Salon, mache die Klappe zum Motor auf. »Sammy, starte du mal!« »Klank.« Dann höre ich, wie eine Menge Wasser deutlich hörbar in den Wassersammler gedrückt wird. Dort, wo eigentlich viel mehr Abgase als Wasser ankommen sollten. Ich zähle eins und eins zusammen und bin plötzlich hell wach und stocknüchtern. »Scheiße. Der Motor ist voll Wasser!«, rufe ich. Das Seeventil muss gestern beim Abstellen des Motors offen geblieben sein. Da der Motor unter der Wasserlinie sitzt, hat der Druck das Wasser dann langsam durch den Impeller gedrückt, die Abgasanlage ist vollgelaufen, und von dort ist es rückwärts über den Krümmer in die Zylinder gelaufen. Ich ärgere mich über mich selbst. Ich hätte gestern kontrollieren müssen, dass das Ventil zu ist. Und hätte heute früh einen klaren Kopf haben müssen, als ich den Motor anstellen wollte. Schlechte Seemannschaft. Und nun haben wir den Salat. Der Motor ist hin. »Wahrscheinlich hat der Motor versucht, das Wasser zu komprimieren, und dabei ist etwas kaputtgegangen«, versuchen die Autoingenieure den Fehler zu finden. »Kopfdichtung kaputt, Kolbenringe oder sogar eine Pleuelstange verbogen?« Übermorgen müssen wir aber in der Dominikanischen Republik sein, denn dann geht mittags ihr Rückflug. Wir können dorthin segeln, der Wind sollte reichen. Aber dazu müssen wir erst mal aus dem Riff hier raus. »Sollen wir das Dingi wieder zusammenbauen und uns selbst hinausschleppen?«, schlage ich vor. Ernste Mienen bei den Motorenbastlern. Immer wieder orgelt der Anlasser der Maschine, doch es iert nichts. Wir arbeiten gegen die Zeit. Ob wir es pünktlich bis Punta Cana schaffen? Mich quälen Gewissensbisse. Habe ich den Törnplan zu eng gelegt? Und was, wenn der Motor nun endgültig im Eimer ist? Dann erste Zündungen, doch der Motor schafft es nicht. Nach einer Stunde etwa werden die Zündungen regelmäßiger, klingen kräftiger. Und dann endlich springt er an. Ich lege den Gang ein, und zeitgleich zieht jemand vorn mit der unheimlich starken Ankerwinsch an der Kette. Das zusammen ist zu viel für den Motor, der wieder abstirbt. Es dauert erneut eine Dreiviertelstunde, bis er wieder anspringt. Und diesmal riskieren wir nichts, lassen den Motor eine halbe Stunde laufen. Hand über Hand holen Christian und Sammy anschließend die Kette ein, und es gelingt uns, aus dem Riff herauszufahren. Wir ziehen die Segel hoch, lassen den Motor aber sicherheitshalber weiter mitlaufen. Denn der Wind ist viel schwächer
als erwartet, und ohne Motor wären wir aufgeschmissen. Also motoren wir bis in die Nacht hinein an Puerto Rico vorbei. Alle halbe Stunde schaue ich nach der Maschine, unter der sich inzwischen eine dicke Ölpfütze gebildet hat. Dort, wo das Öl nachgefüllt wird, gibt es eine Schlauchverbindung vom Deckel zum Luftfilter. Und aus dem Luftfilter tropft ständig Öl. Als ich den Schlauch abziehe, sehen wir, wie aus dem Ölnachfülldeckel Abgase kommen. »Das scheint tatsächlich die Kopfdichtung zu sein«, folgert Christian. »Der verdichtet ins Kurbelwellengehäuse.« Aber wir können dankbar sein, dass offenbar nur eine der beiden Kopfdichtungen geplatzt ist und wir noch auf dem zweiten Zylinder fahren können. So haben wir zwar nur noch 11,5 PS, aber zumindest läuft er. Regelmäßig kippe ich etwas Öl nach, das langsam zur Neige geht. Gegen Mitternacht hat sich der Wind dann durchgesetzt. Wir haben schon einen beachtlichen Teil der Küste Puerto Ricos hinter uns gebracht und stoppen die Maschine, in der Hoffnung, dass sie wieder anspringt, wenn wir sie brauchen.
200 SEEMEILEN OHNE MASCHINE
Von Johannes
Der Wachrhythmus beginnt kurz nach Mitternacht. Mit Christian haben wir nun ja ein Crewmitglied mehr für die Nachtfahrten. Schade, dass wir nur zwei seetaugliche Kojen im Salon haben, denn im Vorschiff kann bei dem Geschaukel leider keiner schlafen. Sonst könnten wir drei Wachgruppen einteilen und sechs statt drei Stunden Schlaf bekommen. Christian und ich übernehmen die erste Wache. Und wir haben sehr mit unserer Müdigkeit zu kämpfen. Die Nacht ist stockduster, aber der at schiebt uns beständig nach Westen. Leider nur mit 2,5 Knoten. Als Cati und Sammy uns gegen 15 Uhr ablösen, sind wir froh, in die Kojen zu kommen. Cati weckt mich gegen 7 Uhr morgens wieder. Das Kaffeewasser steht schon auf dem Herd und die Sonne tief am Himmel. Aber noch etwas fällt mir auf: Der Wind hat noch mehr nachgelassen. Gar nicht gut, denn wir segeln ja mit einem Terminplan. Deshalb wühle ich gleich nach dem Kaffee den großen Genna-kersack aus der Hundekoje. Die 72 Quadratmeter Tuch entfalten sich beeindruckend schön am Himmel, beschleunigen das Schiff aber leider kaum. 3,5 Knoten. Das macht 84 Seemeilen in 24 Stunden. Ich sehe Sammy und Christian an, dass sie sich sorgen, ihren Flug zu veren. »Keine Angst«, versuche ich zu beruhigen. »Für heute Nachmittag ist etwas mehr Wind angesagt.« Für heute früh war das aber eigentlich auch schon der Fall … Das Segeln mit Gennaker erfordert sehr genaues Steuern. Das schafft die Windsteueranlage nicht, und so fällt das Segel ständig in sich zusammen. Christian bekommt eine Fahrstunde in Gennakersegeln und stellt sich als Naturtalent heraus. Das Segel steht gut und voll, und wir laufen dem Ziel entgegen. Doch die Geschwindigkeit nimmt weiter ab. Erst 3 Knoten, dann 2,5. Es ist kaum noch ein Keil im Kielwasser zu sehen. So wird das nichts.
Gegen Nachmittag beginnt das Kielwasser unseres Schiffes endlich wieder zu glucksen. »Wir sollten morgen gegen 10 Uhr einlaufen«, überschlage ich. Das könnte gerade so klappen. Die Augen leuchten. Eine Stunde später: »Halb zehn. Dann können wir noch in Ruhe Kaffee trinken, bevor ihr fliegt.« Die Stimmung steigt. Irgendwann müssen wir sogar den Gennaker einholen, da der Wind zu sehr auffrischt. Mit Rauschefahrt geht es in die Nacht hinein. In der Nacht ieren wir die Mona-age und liegen um 7 Uhr morgens vor Punta Cana im Osten der Insel. Ein langes, betonntes Fahrwasser führt durch ein Flach hindurch in den Hafen. Der Motor muss ran. Ängstlich klappe ich die Seewasserblende über dem Motorpaneel hoch, schalte die Zündung an und schicke ein Stoßgebet gen Himmel. »Klonk, klonk, klonk«, beginnt der Anlasser zu orgeln, bevor Sammy die Dekompressionshebel nach unten drückt und dem Motor Kompression gibt. »Pött, pött, pött, pött«, er läuft. Gott sei Dank! Wir holen die Segel ein und nehmen Kurs auf das Fahrwasser. Es ist ziemlich eng und das Wasser nebenan reichlich flach. Ich lasse als Plan B, falls der Motor ausfällt, den Anker auf dem Vorschiff vorbereiten, klar zum Fallen. Dann muss alles schnell gehen. Doch alles geht glatt. Die gelbe Quarantäneflagge ist gesetzt, und wir motoren still und leise in den gigantisch großen Hafen hinein. Dicht an dicht liegen die millionenteuren und auf Hochglanz polierten Motormegayachten an der Pier. Jedes Jahr kommen mehrmals Sportfischer aus der ganzen Welt nach Punta Cana, um in der Mona-age Marlins zu fischen. Die Schiffe sind eineinhalbmal bis doppelt so groß wie unsere MAVERICK TOO. Vom Volumen her wohl eher das Sechsfache. Und sie haben keinen anderen Zweck, als ihren Eigner innerhalb von einer Stunde die 30 Seemeilen hinaus bis ins tiefe Wasser zu bringen, damit er dann den ganzen Tag angeschnallt im »Fighting Chair« auf dem Achterdeck mit den großen Fischen kämpfen kann. Nur zwei Segler liegen zwischen all den weißen Prunkschiffen. Ein verlassener Einrumpfer, etwas größer als wir, und ein Katamaran. Ganz am Ende des Hafens finden wir eine Boxengasse, die unseren Abmessungen etwas mehr entspricht und ein paar freie Plätze aufweist. Dort steht auch bereits der Hafenmeister. Wie Rumpelstilzchen hüpft er mit hochrotem Kopf auf der Pier, brüllt und zeigt immer wieder auf sein Handfunkgerät. Oh, jetzt hören wir es tatsächlich von unten knarzen. Der laute Volvo hat das Funkgerät übertönt, das eigentlich immer mitläuft, wenn wir in Küstennähe sind. »Foreign vessel, foreign vessel MAVERICK TOO, this is Punta Cana Marina!« Wir werden an einen leeren Steg gelotst, werfen Leinen über, und noch bevor wir fest sind, bricht ein
Donnerwetter über mich herein. »Ihr spinnt ja wohl! Wie könnt ihr einfach in einen Hafen einlaufen, ohne euch vorher anzumelden?« Vorwürfe über Vorwürfe. Eine Standpauke, die sich gewaschen hat. In unseren Handbüchern stand nichts davon, dass man sich hier unbedingt vorher anmelden muss. »Das mussten wir bisher ganz selten machen«, rechtfertige ich mich. »Nur dort, wo viel Fährverkehr ist und der Verkehr koordiniert werden muss.« Der Hafen hier hingegen wirkt vollkommen tot, und aus der Karibik kennen wir das ohnehin gar nicht, dass man sich irgendwo anmelden muss. »Hier wird der Verkehr genau überwacht, weil so viele Drogen und Menschen geschmuggelt werden«, erklärt der Hafenmeister, immer noch mit grimmiger Miene. »Und die Marine wurde bereits verständigt, dass da ein Schiff in den Hafen einläuft, das nicht auf Funk antwortet.« Keine Ahnung, ob das stimmt. Und wie wollten die uns auch als Schmuggler darstellen? Wir hatten die Quarantäneflagge oben und den AISTransponder an. Auf jedem Plotter im Umkreis von 25 Seemeilen waren wir daher als klar identifiziertes Ziel zu erkennen. Drei Sekunden später bremst ein Golfcart auf der Pier. Die Version mit langem Radstand und sechs Plätzen, alle belegt mit Beamten. Zoll, Einwanderung, ein Vertreter der Marine in Uniform, ein Arzt, ein Fahrer und noch irgendjemand. Ich klettere mit unserer Schiffsmappe und den Pässen an Land und reiche ihnen alles rüber. Etwa 100 US-$ werden fürs Einklarieren fällig. Die letzten Unterlagen werden unterschrieben und gestempelt, dann braust das Golfcart mit quietschenden Reifen davon. Ich werde in einem zweiten Golfcart mit zum Hafenmeisterbüro genommen. Ein Palast, alles mit weißem Marmor gefliest und klimatisiert. Ich öle und schwitze, setze mich in einen weißen Lederstuhl und reiche noch einmal die Schiffspapiere rüber. Auch einen Versicherungsnachweis will man haben. Oh, gerade abgelaufen, stelle ich fest, als ich das Formular überreiche. Hoffentlich merkt das keiner. Die Versicherung ist zwar verlängert, nur liegt die neue Blaue Karte in Deutschland im Briefkasten. »Ich bin übrigens Costello«, meint der Hafenmeister irgendwann. Der Ärger über unser nicht im Ansatz vorschriftsmäßiges Einlaufen ist vergessen. Wir bekommen eine zweite Chance für ein Kennenlernen. Costello erklärt, dass die Marina eigentlich nur zur Hauptsaison richtig brummt. »Also dann, wenn hier viele Angelturniere sind.« Im Moment ist hier der Hund begraben. Nur ein paar Bootsjungen sind vor Ort, um die Schiffe zu pflegen. Aber Costello hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich hervorragend um die paar Segler zu kümmern, die sich hierher verirren. Der Liegeplatz kostet etwa 40 US-$ die Nacht, also entscheiden wir uns, zwei Tage zu bleiben, um den Motor gründlich
durchzuchecken und Öl zu besorgen. »Wenn ihr mal bei Klimaanlage ins Internet wollt oder Lust auf einen Kaffee habt, kommt gerne ins Büro«, verabschiedet mich Costello. Der Weg zurück zum Boot ist lang und heiß. Dabei ist es erst 9 Uhr morgens. Um 12:30 Uhr geht der Flieger. Also sollten wir langsam in die Puschen kommen. Wir suchen die Duschen und finden sie unterhalb eines Parkhauses im Rohbau. Irgendwie scheint der Teil der Marina, in dem wir liegen, noch nicht ganz fertig zu sein. Kaum sind wir zurück an Bord, sind wir wieder durchgeschwitzt. »Ich weiß, wo es Kaffee und eine Klimaanlage gibt«, sage ich. Also Kehrtwende, ab ins Hafenmeisterbüro. »My friends!«, begrüßt uns Costello fröhlich. »What can I do for you?« »About that coffee …«, fange ich an, und schon nickt er und schickt seine Sekretärin in die Küche. Fünf Minuten später sitzen wir in der angenehmen Kühle des Empfangsraums und schlürfen leckeren Kaffee aus weißem Porzellan. Ich erkläre unsere Situation, dass Sammy und Christian zum Flughafen müssen. »Kein Problem, ich fahr euch nachher rüber«, bietet er an. Der Flughafen sei klein, wir bräuchten nicht viel früher als eine Stunde vor Abflug dort zu sein, meint er. Sein Pick-up ist klein, weshalb wir uns die Rückbank zu viert teilen. Kaum sind wir auf der Straße, stellt Costello fest, dass er Sprit braucht. Also ab zur Tankstelle, die aber geschlossen hat. Sammy rutscht ungeduldig auf der Rückbank hin und her. Costello fährt zurück zur Marina und hinauf auf den langen Steg, der zur Tankpier führt. Dort füllt er den Diesel an der Bootstanke auf. Irre. 20 Minuten später werden wir am Flughafen abgesetzt, und Costello verspricht, Cati und mich in 20 Minuten abzuholen. Wir haben genügend Zeit, unsere Freunde zu verabschieden. Am nächsten Morgen möchte ich im kleinen Bootsladen in der Marina Öl kaufen, um einen Ölwechsel zu machen und Reserven für die weitere Strecke zu haben. Der Motor säuft gut ein Schnapsglas pro Stunde. Offenbar bin ich jedoch der erste Kunde in diesem Jahr, und das junge Mädchen hinter dem Tresen ist vollkommen überrascht. Öl hat sie leider keines. Ich frage Costello, der wieder eine Lösung parat hat. »Ich fahre nachher in die Stadt und besorge dir welches. Was brauchst du? 10W-40?« Am Abend bremst dann ein Golfcart vor der MAVERICK TOO. Auf der Ladefläche steht ein 20-Liter-Fass. »70 €. Ist das okay?« Unsere Wäsche hat er auch dabei. Weil man in der Marina noch keine
Wäsche waschen kann, hat er ein Zimmermädchen des Hotels überredet, das zu übernehmen, für ein winziges Trinkgeld. Was für ein Service! Wir sind hellauf begeistert. Und fast wehmütig, am nächsten Morgen aufzubrechen. Aber wir wollen weiter auf die Bahamas. Dort, so habe ich Cati gesagt, ist es am schönsten.
ENDLICH ENTSPANNUNG
Von Cati
Der Motor erwacht nur unter Protest zum Leben, läuft dann aber relativ gleichmäßig. Johannes hat zwar seine Vermutungen, weiß aber nicht sicher, woher die Probleme genau kommen. Mit dem Riesenölfass sind wir aber auf jeden Fall für den gewaltigen Ölverbrauch gerüstet. Letztlich sind wir auch ohne Alternative: Die nächste Volvo-Werkstatt ist etwa 1.000 Seemeilen entfernt in den USA. Bis dahin muss die Maschine einfach durchhalten. Leider müssen wir noch einmal kurz anlegen, damit unser Boot vor der Abfahrt von offizieller Seite durchsucht werden kann. Die Beamten sind auf der Suche nach blinden agieren, Flüchtlingen und Drogen. Sie durchsuchen daher alle größeren Schapps und Schränke, in denen sich jemand versteckt haben könnte. Auch unsere vollgestopfte Hundekoje sowie den Kleiderschrank. Ziemlich schnell wird klar, dass wirklich nur Zwerge bei uns eine Nische als Versteck finden würden. Bei unserem Süßigkeitenschapp wird einer der Beamten aber offensichtlich misstrauisch: »Was ist in diesen Säcken?«, fragt er und beginnt, die großen, schwarzen Müllsäcke abzutasten. »Das ist nur …«, setze ich zu einer Erklärung an, aber da hat er sie schon geöffnet, und es kommen haufenweise Päckchen mit weißem, pudrigem Inhalt zum Vorschein. »Das sind alles Brotbackmischungen aus Deutschland«, erkläre ich. »Viele Körner. Schmeckt gut!«, schiebe ich nach. Wir hatten kurz vor der Abfahrt etwa 15 Backmischungen gekauft: Sonnenblumenbrot, Vollkornbrot, Mehrkornbrot, Sechskornbrot. Schließlich ist unser deutscher Gaumen verwöhnt und braucht seine Kruste. Und das ist außerhalb der deutschen Hoheitsgewässer wirklich schwierig. Diese Backmischungen sind daher überaus sinnvoll – eigentlich. Denn wir
hatten nicht so recht bedacht, wie lang der Ofen an sein muss, bis so ein Brot fertig ist, und wie viel Gas das kostet. Auch ergibt eine Backmischung locker zwei große Laibe, ein bisschen viel, wenn man nur zu zweit ist. Irgendwann ist es im Schapp unter dem Herd, wo wir die Pakete gelagert hatten, feucht geworden, weshalb wir sie in schwarze Müllsäcke gestopft und ins Süßigkeitenschapp gepackt haben. Und da liegen sie nun, scheinen nicht weniger zu werden und wirken wie kiloweise Heroin. Skeptisch öffnet der Beamte eine schon angebrochene Tüte, riecht an dem Inhalt und probiert diesen vorsichtig. »Mehl«, meint er. »Sie können gerne eine …«, lege ich schon los, als mich Johannes in die Seite knufft. Es wird nicht das letzte Mal bleiben, dass ich unabsichtlich beinahe einen Beamten besteche. Bis zu den Bahamas sind es etwa 600 Seemeilen. Wir könnten noch einen Abstecher nach Haiti machen, das sich mit der Dominikanischen Republik die Insel Hispaniola teilt. Oder Kuba besuchen. Auf jeden Fall liegen die Turks- und Caicosinseln auf dem Weg. Alles spannende und reizvolle Ziele. Trotzdem denken wir nur an die Bahamas und immer wieder die Bahamas. Wenn wir allerdings noch etwas von diesen haben wollen, müssen wir ohne Abstecher dorthin segeln, damit wir zu Beginn der Hurrikansaison das gefährdete Gebiet hinter uns haben. Ich bin gespannt und kann mir kaum vorstellen, dass die Bahamas so anders als die übrige, klassische Karibik sein sollten. Das aber behauptet Johannes immer wieder. »Ganz anders!«, betont er noch mal. »Das Klima, die Landschaft, das Wasser … total anders!« Zu Beginn ist es recht komisch, plötzlich wieder nur zu zweit zu sein. Es ist nicht so, dass das Segeln mit Sammy und Christian anstrengend gewesen wäre. Im Gegenteil, beide waren angenehme Gäste und haben uns Arbeit abgenommen, wo sie nur konnten. Trotzdem fällt eine gewisse Anspannung von uns ab. Keiner, für den man zusätzlich verantwortlich ist. Keiner, dem man Anweisungen geben muss. Manchmal genießen wir jetzt einfach nur mal ohne Worte das Segeln, das schöne Wetter und die Ruhe. Wir sind mittlerweile in den Standardsituationen so aufeinander eingespielt, dass es keiner großen Erklärungen mehr bedarf. Johannes sitzt meistens im Cockpit, lässt seinen Blick und seine Gedanken schweifen, während ich lese. »Wir sind wirklich viel entspannter geworden«, sage ich. »Du vor allem«,
antwortet Johannes zwinkernd. Ich muss grinsen. »Du bist jetzt aber auch lockerer als zu Beginn«, stelle ich fest. Tatsächlich ist Johannes mittlerweile deutlich ruhiger. Sonst war aber auch immer irgendetwas: Die Zeit saß uns im Nacken, Krankheiten, einzuhaltende Termine usw. Wahrscheinlich sind wir beide nun endlich richtig im Fahrtenseglermodus angekommen. Wir machen uns keine Sorgen um die Zukunft, sondern nur um das, was unmittelbar bevorsteht. Oder sogar um das nicht, denn irgendwie geht es immer weiter. Zum ersten Mal bemerke ich bewusst, dass mir diese Einstellung ins Blut übergegangen ist. Ich neigte grundsätzlich dazu, erst mal alles Schlimme durchzudenken. Bislang dachte ich, dass mir das dabei hilft, wenn dann wirklich etwas Schlimmes iert. Sicherheitsdenken. Viel zu oft habe ich mich umsonst aufgeregt.
EXUMAS IN SLOW MOTION
Von Johannes
Neun Jahre bin ich nicht in Georgetown gewesen, und meine Erinnerungen, wo was ist, kommen nur langsam wieder. Aber das macht es umso spannender. Damals habe ich hier meine Freunde Georg und Irene an Bord genommen, die extra aus Deutschland gekommen waren. Zusammen haben wir zwei Wochen lang die Inselwelt der Exumas erkundet. Seitdem sind diese mein Traumrevier, das ich unbedingt noch einmal mit viel Zeit erleben möchte. So ganz funktioniert das aber auch dieses Mal nicht, denn die Hurrikansaison sitzt uns etwas im Nacken. Aber zumindest vier Wochen sollten noch drin sein. Wohin wir segeln? Erst mal die Exumas rauf. Eine Inselkette mit 365 Inseln, eine für jeden Tag des Jahres. Aber damit erschöpfen sich unsere Planungen auch schon. Nach dem Einklarieren gehen wir erst mal ein wenig durch den Ort. Lange waren wir auf See, und ich würde gern meine Mails abrufen. Neben einer Telefonzelle finde ich einen offenen Hotspot. Werbung, Spam, ein paar interessante Sachen. Dann schaue ich bei Facebook rein und lese, dass Lydia mit ihrer Familie in Panama ein Schiff gekauft hat. Eine Alu-Reinke. Das freut mich sehr für sie. Wir haben uns vor vielen Jahren kennengelernt, als ich eine RefitGeschichte geschrieben und die schönsten Bootsrenovierungsprojekte vorgestellt habe. Und die Geschichte von Lydia und Christian stach dabei besonders hervor. Christian wollte sich Arbeit sparen und hatte deshalb das neun Meter lange Familienschiff zum Verkauf inseriert. Dabei lernte er Lydia kennen, die das alte, rostige Stahlschiff kaufte. Doch losgeworden ist er das Boot damit nicht, sondern musste es bald darauf mit seiner neuen Ehefrau auch noch renovieren. Das Paar träumte von einem Jahr Auszeit in der Karibik, war sogar schon für die ARCRallye gemeldet. Doch dann kündigte sich plötzlich die erste Tochter Sarah an. Die Rallye musste abgesagt werden. Kurz darauf folgten Zwillinge, Laura und Anna, und der Traum musste erneut verschoben werden. Umso schöner, dass die
fünf die Karibik nun mit dem neuen Schiff zusammen erleben können. SALANA heißt es, aus den Namen der Mädchen zusammengesetzt. Zuletzt haben sie sich von den Kaimaninseln gemeldet, nicht weit von hier. »Vielleicht segeln wir ihnen noch über den Weg«, denke ich. Als wir am Nachmittag an Bord sind, nehme ich mir den Außenborder vor. Christian hatte eine neue Zündung mitgebracht, die ich nun endlich montieren will. Da stoppt plötzlich ein Schlauchboot. »Moin, schön, euch hier zu treffen!«, und so lernen wir Carsten und Conny kennen. Die beiden Kieler haben als Skipper und Crew auf einer 76-Fuß-Sloop eines Deutschen angeheuert, der auf Nassau lebt. Als die Sonne untergeht und wir noch nichts gehört haben, schalte ich das Funkgerät ein und höre: »MAVERICK TOO, MAVERICK TOO, hier ist SALANA.« Hey! Was für eine Überraschung! Die Alu-Reinke liegt drüben auf Stocking Island vor Anker. Die werden wir morgen gleich mal besuchen. Am nächsten Morgen beginnen dann die wundervollen, unbeschwerten Tage in den Exumas, die wir ausgiebig genießen. Zu zweit erkunden wir meine Lieblingsinseln, nach denen ich mich all die Jahre so sehr gesehnt habe. Wir treffen dabei immer wieder auf die SALANA, sehen Carsten und Conny in Nassau wieder und verbringen eine herrliche Zeit. Mitte Juni geht es dann weiter Richtung USA, wo wir in Palm Beach einreisen wollen.
MOTORSCHADEN IM KLEINEN WÖRTHERSEE
Von Cati
Von der Crew eines Schiffes, das unter fremder Flagge in die USA einläuft, wird so einiges verlangt. Das geht damit los, dass Segler ein Visum für die Staaten brauchen. Touristen im Flugzeug oder auf einem Kreuzfahrtschiff können einfach am Visa Waiver Program teilnehmen. Das gilt aber nicht für die Einreise auf eigenem Kiel. Deshalb sind wir im Mai letzten Jahres nach Berlin zum Interview in die amerikanische Botschaft gefahren, denn am unkompliziertesten ist es, das Prozedere im Heimatland auf sich zu nehmen. Visum? Erledigt! Als Nächstes müssen Boot und Crew bei der Custom and Border Protection telefonisch angemeldet werden. Ich bin überaus aufgeregt, als ich meine Auswahl in der Warteschleife treffe (»If you’re not a local option member and want to report your international arrival into the United States, please press four«). Der Ruf amerikanischer Beamter ist ja nicht gerade der beste. Und hoffentlich werde ich überhaupt verstanden, denn ich habe noch nie mit einem Amerikaner telefoniert. Meine Sorgen sind jedoch unbegründet. Ich habe einen überaus netten Mann am Telefon, der mich erst mal für mein gutes Englisch lobt. Das Telefonat dauert ziemlich lange, etwa 20 Minuten, was vor allem daran liegt, dass ich alle Eigennamen buchstabieren muss. Dabei wird mir peinlicherweise bewusst, dass ich das NATO-Alphabet gar nicht beherrsche, und hoffe inständig, dass der Beamte meine Erfindungen trotzdem versteht. Zum Schluss bekomme ich eine 20-stellige Nummer, mit der wir bei der zuständigen Einwanderungsbehörde vorstellig werden und unsere Pässe stempeln lassen müssen. Außerdem brauchen wir ein Cruising Permit, das uns das Befahren der amerikanischen Küste unter nicht amerikanischer Flagge erlaubt. Telefonische Anmeldung? Erledigt!
Weil heute Samstag ist, hat die Zollbehörde im Hafen von West Palm Beach geschlossen. Wir müssen deshalb zum etwa zehn Kilometer entfernten Flughafen fahren, wo es auch einen Zoll gibt. Unser Plan ist, an Land zu gehen, ein Taxi anzuhalten, zum Flughafen zu fahren, unsere Pässe stempeln zu lassen, mit einem Taxi vom Flughafen zu einem T-Mobile-Shop zu fahren, um eine SIMKarte zu kaufen, dann kurz in einen Supermarkt, wieder ein Taxi rufen und zurück zum Boot. Dass dieser Plan allerdings schwer umzusetzen ist, merken wir direkt, als wir mit dem Dingi einen Platz zum Anlegen suchen. Das Ufer ist gesäumt von privaten Grundstücken. Wir müssten bei jemanden durch den Garten gehen, wenn wir einfach irgendwo anlegen. Schließlich beschließen wir, bei einem Segelclub am Wasser zu fragen, wo die nächste Anlegestelle ist oder ob wir unser Schlauchboot vielleicht sogar bei ihnen lassen dürfen. Im herrlich klimatisierten Clubhaus sind gerade etwa zehn Erwachsene dabei, die Räume für eine bevorstehende Feierlichkeit zu putzen und zu schmücken. Alle sind fröhlich, scherzen miteinander und begrüßen uns im Vorbeigehen. Keinem kommt es komisch vor, dass zwei Fremde in ihrer Eingangshalle stehen. Eine Frau lädt uns direkt zum Sommerfest des Segelclubs ein. Wir werden mit unseren Fragen an Bob verwiesen. »Hier könnt ihr leider nicht dauerhaft liegen«, sagt er bedauernd. »Seht ihr die ganzen Yachten im Ankerfeld? Die haben bei uns Liegeplätze für ihre Beiboote gemietet oder sogar gekauft, quasi wie Parkplätze.« Manche von den Seglern wohnen auf den Booten, fahren morgens mit dem Dingi an Land und dann mit dem Auto zur Arbeit. Andere sind nur am Wochenende beim Boot und lassen unter der Woche ihr Schlauchboot an den Dingiplätzen zurück. »Wenn ihr da einfach festmacht, ist das schon fast wie Hausfriedensbruch«, erklärt er uns. Bedröppelt fragen wir nach einem anderen Anlegeplatz, aber auch da kann er uns nicht weiterhelfen. Das finden wir komisch, denn wir können uns kaum vorstellen, dass wir die Ersten sind, die mit solch einer Frage kommen. »Und ihr wollt nur schnell einklarieren?«, fragt Bob, der uns offenbar weiterhelfen möchte. Ich soll ihm zeigen, wo wir festgemacht haben, und er entscheidet dann, dass wir dort ruhig liegen bleiben können, wenn wir ohnehin nur kurz unterwegs sind. Geld will er auch keins. »Ich kann euch ein Taxi rufen«, bietet er an. Während wir auf das Taxi warten, ruft Johannes bei seiner Mutter an, um durchzugeben, dass wir es in die Staaten geschafft haben. Das Gespräch wird leider ziemlich schnell unterbrochen, denn das Guthaben auf der deutschen
Handykarte ist nach dem langen Telefonat mit der Custom and Border Protection nun zu Ende. Das Zollbüro liegt außerhalb des Flughafens, und der Taxifahrer findet es nicht auf Anhieb. »Falls wir dort noch ankommen, wie kommen wir denn dann später wieder weg?«, frage ich Johannes. »Einfach ein Taxi vor der Tür zu nehmen, könnte etwas schwierig werden, und anrufen können wir auch niemanden mehr.« Die Idee, den Taxifahrer einfach warten zu lassen, verwerfen wir. Wer weiß, wie lange wir brauchen. Und wenn dann noch ein Taxameter läuft … »Uns wird schon etwas einfallen«, meint Johannes. Nach einigem Herumkurven kommen wir doch noch am Zollgebäude an. Eine kleine Menschentraube steht vor einer Panzerglasscheibe, die wie ein Fenster in die Außenseite des Gebäudes eingelassen ist. Als wir an der Reihe sind, müssen wir die lange Nummer durchgeben und dann warten. Nach einer Viertelstunde ruft uns ein anderer Beamte an den Panzerglasschalter. »Offenbar hat es einen Übermittlungsfehler gegeben«, teilt er uns mit. »Eure daten sind nicht vollständig im Formular eingetragen.« Johannes kramt in unserem Rucksack die Pässe hervor. »Kein Problem, die haben wir ja dabei«, sagt er. »Ich bin nicht autorisiert, Änderungen an der Datei vorzunehmen«, sagt der Beamte. »Ruft einfach noch mal bei der Custom and Border Protection an.« Johannes macht ein langes Gesicht. »Es tut mir leid, aber das können wir nicht. Wir haben kein Telefon«, antwortet er. »Was seid ihr denn für Leute?«, poltert der Beamte los. »In die USA einreisen und dann kein Telefon haben? Wie habt ihr euch denn das erste Mal gemeldet? Nutzt doch einfach das Telefon!« Als Johannes von dem fehlenden Guthaben und unserem Plan, nachher eine amerikanische SIM-Karte zu kaufen, erzählt, übernimmt der erste Beamte wieder unseren Fall. Der andere verschwindet verärgert ins Hinterzimmer. »Ich kläre das«, verspricht der erste. 20 Minuten später wird Johannes durch eine gepanzerte Tür in das Gebäude gebeten. Eine Dreiviertelstunde warte ich auf ihn und hoffe inständig, dass alles gut geht. Als Johannes wieder nach draußen kommt, wedelt er gut gelaunt mit unseren Pässen. »Sind gestempelt«, erzählt er mir. Offenbar durfte er das Telefon des netten Beamten benutzen. »Ein Cruising Permit haben die uns auch ausgestellt«, sagt Johannes. »Allerdings müssen wir immer, wenn wir das Schiff bewegen, eine Nummer anrufen und unseren neuen Standort durchgeben. Das war auf meiner ersten Reise noch nicht so.« Cruising Permit? Erledigt! Welcome to America!
»Und wie kommen wir hier jetzt weg?«, frage ich. Vom Zollgebäude aus können wir die Abflughalle sehen. Dazwischen liegen allerdings die Rollfelder. »Laufen«, antwortet Johannes. Natürlich haben wir uns nichts zu trinken mitgenommen, und natürlich ist es sehr, sehr heiß. Wir laufen vorbei an Hangars und zahlreichen Geschäftsgebäuden. Hin und wieder versuchen wir dort, ein Telefon zu finden, aber offensichtlich ist am Samstag niemand im Büro. Nach etwa der Hälfte der Strecke taucht ein mexikanisches Fast-Food-Restaurant auf. Drinnen erwarten uns ein herrliches Frühstück und das Internet mit der Information, dass sich in etwa zwei Kilometer Entfernung ein T-Mobile-Laden befindet. Die kurze Strecke können wir auch noch laufen und uns dann endlich ein Taxi für die Fahrt zurück in den Segelclub rufen. Zurück an Bord, ankern wir noch schnell um. Johannes hat im Internet gelesen, dass in einer anderen Ecke ein Supermarkt sein soll. Wenn nur nicht wieder die Anlegesituation wäre … Um dem Elend ein Ende zu bereiten, riskieren wir es und legen mit dem Dingi an einem kleinen Sandstreifen an, wo es nicht so aussieht, als ob uns die Eigentümer direkt wieder wegjagen würden. Um sicherzugehen, springt Johannes nur schnell ab, und ich bleibe im Schlauchboot, damit ich jederzeit abhauen kann. Schmiere stehen. Unsere Einkaufssituation mit Schmierestehen ist dauerhaft nichts für meine Juristenseele. Halbkriminell. Hausfriedensbruch gar. Auch für eine mögliche Motorreparatur ist der Ankerplatz ohne vernüntigen Landanschluss mehr als unpraktisch. Unser Freund Bernie, der sich hervorragend in Palm Beach auskennt, schlägt uns den Ankerplatz im Little Lake Worth sechs Seemeilen nördlich in North Palm Beach vor. Das ist ein kleiner See am Rande des Intracoastal Waterway. Dort soll es eine Art Dingidock für Ankerlieger geben und etliche Versorgungsmöglichkeiten in Laufweite. Wir tuckern vorbei an der kleinen Peanut Island, einem sehr beliebten Ausflugsziel. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts das danebenliegende Lake Worth Inlet und der große Hafen ausgebaggert wurden, entstand die nicht mal einen halben Quadratkilometer große Insel. Diese sollte zunächst zu einem Erdnussölumschlagplatz werden, was aber nach dem Zweiten Weltkrieg scheiterte. Kurz nach der Wahl von Kennedy zum Präsidenten wurde dort dann heimlich ein Schutzbunker gebaut. Dieser kann heute besichtigt werden, zumal die Insel 2005 zu einem Ausflugsziel ausgebaut worden ist. Mittlerweile gibt es dort etliche Möglichkeiten, sein Zelt aufzubauen, eine Pier und sogar ein künstlich angelegtes Riff, das zum Schnorcheln einladen soll.
Es ist Sonntag, Ende Juni und dazu noch Badewetter. Die Insel und das Wasser sind quasi fleischfarbig. Nur die Fahrrinne des Intracoastals ist noch frei. Ansonsten Halbnackte, so weit das Auge reicht. Familien mit Klappstühlen, Kühlboxen und Wasserspielzeug, die an den Stränden picknicken. Männer, die ihre Grills aufgebaut haben. Verbrannte Körper, die sich noch mal umdrehen, um gleichmäßig rot zu werden. Unmengen an kleinen Motorbooten, die vor der Insel in den Kielwassern anderer Boote oder Jetskis tanzen, die waghalsig durch die Menschenmassen donnern. Menschen, die neben ihren Booten ein kühles Bier trinken. Hier könnten wir ohne Probleme trockenen Fußes an Land gelangen, so ein dichtes Gewimmel herrscht. Langsam fahren wir durch das Gewühle, immer in Sorge, dass ein Schwimmer doch zu weit in die Fahrrinne geraten könnte und uns nicht bemerkt. Hinter einer hohen Brücke, etwas abseits des Trubels, liegt unser neuer Ankerplatz. An den Ufern des Little Lake Worth oder kleinen Wörthersees, wie wir ihn schnell nennen, stehen auf der einen Seite wahre Prachtbauten. Luxushä mit Hirschskulpturen, penibel gepflegten Gärten und natürlich eigenen Anlegern. Auf der anderen Seite wird der See von mehreren Wohnanlagen gesäumt, manche mit fünf Geschossen, andere mit 30 oder mehr. Am letzten freien Fleck ist eine große Baustelle eingerichtet. Offenbar entstehen dort weitere Hochhä. In der Ferne schmiegt sich die Skyline von West Palm Beach mit ihren Wolkenkratzern an den Horizont. Ein permanentes Stadtgemurmel ist zu hören, dann und wann eine amerikanische Sirene, etwas Baustellenlärm, aber auch das Rauschen des nahen Meeres und das Rascheln der Palmen. Nach der Abgeschiedenheit auf den Bahamas genießen wir diese unterschwellige Geräuschkulisse sogar. Etwa 30 andere Boote ankern in dem kleinen Areal, größtenteils recht abgehalfterte Kähne, die entweder vergessen wurden oder deren Bewohner nicht viel für die Bootspflege aufbringen können. An der westlichen Seite des Sees befindet sich offenbar eine Marina, und am Nordende gibt es einen kleinen Stichkanal, der zu einer Ansiedlung hinter einer niedrigen Highway-Brücke führt. Hier ist auch das Dingidock, wobei das arg übertrieben ist. Eigentlich handelt es sich dabei um einen kleinen Sandstrand unter der Brücke, an dem schon andere ihr Beiboot festgemacht haben. Bernie hat uns nicht zu viel versprochen. Im direkten Umfeld befinden sich ein Supermarkt, ein paar Fast-Food-Restaurants, ein Autovermieter und sogar ein West Marine, der amerikanische Bootsausrüster schlechthin. »Klimaanlagen, Internet, Ersatzteile«, geht es uns durch den Kopf.
Am nächsten Morgen wollen wir direkt in unser neues »Büro« starten. Johannes möchte das Internet im Starbucks nutzen, um ein paar Artikel zu schreiben. Angesichts unserer recht niedrigen Spannung auf dem Bateriemonitor entschließen wir uns, vorher noch kurz den Motor anzuwerfen, um ein bisschen zu laden, denn der Himmel ist zu bedeckt, um den Verlust mit dem Solar ausgleichen zu können. Wind ist auch keiner da, unser Windgenerator gibt keinen Mucks von sich. Johannes dreht am Anlasser, und der orgelt und orgelt und orgelt. Aber der Motor will nicht anspringen, auch nicht nach ein paar Minuten. Er ist schlicht und ergreifend tot. Schon auf den Bahamas hatte Johannes mehrere Werkstätten in Florida angemailt und gefragt, ob sie sich den Motor mal anschauen könnten. »Nö, der ist zu alt. Das lohnt nicht. Aber wir können euch einen neuen verkaufen«, war die stereotype Antwort. Damals hatten wir noch eine Telefonnummer eines Mechanikers bekommen. Als wir jetzt aber hören, dass er 120 US-$ für eine Arbeitsstunde berechnet, beenden wir das Telefonat schnell. Wir sind sehr deprimiert. Johannes noch mehr als ich. Das ist ungewöhnlich, denn er ist ein absoluter Optimist. »Immerhin ist es erst hier iert«, versuche ich ihn aufzumuntern. »Überleg dir mal, wie weit uns der kaputte Motor noch gebracht hat. Das war ja nur eine Frage der Zeit. Und besser hier als auf den Bahamas. Hier finden wir bestimmt eine Lösung.« Vorsichtiger Optimismus. Es stimmt schon, wir sind wirklich dankbar, dass der Totalschaden erst hier eingetreten ist. Trotzdem kann er das Ende der Reise bedeuten. Und nicht auszudenken, was iert, wenn ein heftiges Sommergewitter über uns hinwegzieht und der Anker slippt – wir sind dann absolut manövrierunfähig. Um wenigstens die Spannungsprobleme nicht zu vergrößern, schalten wir erst mal den Kühlschrank aus. Dann eben kein kaltes Bier mehr. Diese Perspektive hebt nicht gerade die Moral. »Ich sag mal so«, fange ich vorsichtig an. »Noch mehr kannst du ja nicht kaputt machen. Und wenn ich mich recht erinnere, hast du mal gesagt, dass es noch Ersatzteile für den Motor gibt.« Johannes guckt mich fragend an. »Meinst du nicht, dass du zumindest mal in den Motor reingucken solltest?« Insgeheim glaube ich, dass Johannes die Maschine selbst reparieren kann. Sonst ist ihm fast kein Projekt zu heikel. Nur fehlt ihm jetzt irgendwie der Mut. »Du bist doch quasi MacGyver«, schiebe ich hinterher. Johannes muss ein bisschen grinsen. Und offensichtlich hilft es seinem Selbstvertrauen, dass ich von seinen Fähigkeiten so überzeugt bin. »Du hast recht. Zumindest den Zylinderkopf kann ich ja mal runternehmen.«
DER KOPF DICHTET WIEDER
Von Johannes
Während meiner ersten Langfahrt war der alte Dieselmotor für mich so etwas wie die »Büchse der Pandora« der griechischen Mythologie. Eine grüne Kiste voller böser Sachen, die rauchen und dampfen und Lärm machen. Ich wusste nicht, was genau alles darin lauerte. Doch ich wusste, wenn ich sie öffnete, würden sie entfliehen. Oder mit anderen Worten: Wenn ich den Motor aufmache oder etwas ändere, geht alles den Bach hinunter. Der alte Volvo auf der kleinen MAVERICK lief während der Reise sicherlich 500 Stunden, ohne dass ich einmal den Dieselfilter oder den Impeller gewechselt hätte. Nur das Öl habe ich mal getauscht. Am Ende der Reise. Ein Wunder im Nachhinein, dass ich nie Probleme hatte. Denn schon jetzt nach 200 Betriebsstunden mit einem baugleichen Motor auf MAVERICK TOO haben wir zwei Impeller verheizt und so manchen Filter durch karibischen Sprit verunreinigt. Mit den Jahren und den Booten habe ich eine Menge Erfahrung gesammelt, was Motoren angeht. Immer aus der Not heraus, dass die alten Maschinen nicht liefen und ich kein Geld für einen Profi hatte. Entlüften der Leitungen, Tausch von Impeller und Filter, Keilriemen und Lichtmaschine oder sonstigen Anbauteilen – das sollte ohnehin jeder beherrschen, der auf Langfahrt geht. Außerdem Zusammenhänge verstehen und die übliche Fehlersuche nach der Eselsbrücke der Bundeswehr beherrschen. Diese heißt »Wolke« und bedeutet, dass man regelmäßig Folgendes prüfen sollte, wenn ein Motor nicht anspringt:
Wasser: Bekommt der Motor Kühlwasser?
Öl: Ist der Ölstand okay? Funktioniert die Schmierung? Luft: Sind Luftzufuhr und Filter okay? Kraftstoff: Genug im Tank? Filter okay? Förderpumpe okay? Schläuche verstopft? Elektrik: Reicht die Batteriespannung? Ist die Batterie okay?
Seit ich den Respekt vor dem grünen Kasten verloren habe, habe ich mich auch an alle größeren Aufgaben getraut. Dennoch bedarf es in diesem Fall Catis Anstoß, um mich an die Kopfdichtung zu wagen. An diesem Morgen ist es dann also so weit: vermutlich meine erste Zylinderkopfdichtung im Alleingang. Wenn der Motor über die Abgasanlage vollgelaufen ist, ist ganz sicher der hintere Zylinder betroffen. Beim alten Volvo ist die Kopfdichtung zweigeteilt, und die Chance ist groß, dass nur die hintere Kopfdichtung geplatzt ist. Als Erstes schraube ich den Ventildeckel ab, löse die Ventile von den Stößelstangen, baue die Wippen ab und lege die Zylinderkopfmuttern frei, die auf Stehbolzen den Kopf an den Block pressen. Dann halte ich kurz inne. »Jetzt geht es ans Eingemachte«, murmele ich, setze mit der großen Knarre an und drehe. »Knack«, macht es. Die Mutter hat sich gelöst. Es knackt noch einige Male, und alle Muttern lösen sich problemlos. Der Kopf ist lose. Ich nehme ihn in beide Hände, wackele behutsam daran, und er löst sich. Ich kann ihn sauber von den Stehbolzen ziehen. »Wow, ist das Ding schwer«, staune ich. Aber klar, alles ist noch aus Eisen und nicht aus Aluminium. Das ist es auch, worauf meine Hoffnung ruht. Denn ein Zylinderkopf aus Gusseisen verzieht sich nicht so schnell wie der eines Autos aus Aluminium. Womöglich muss ich nur die Kopfdichtung tauschen und er läuft wieder. Wenn es die Kopfdichtung ist. Eine bange letzte Sekunde, dann habe ich Gewissheit. Ich ziehe den Kopf ganz ab, hebe ihn beiseite und stelle ihn auf dem Kartentisch ab. Dann ein neugieriger Blick. Da liegt die Dichtung auf dem Block. Sieht aus wie Plastik, mit Kupfer verstärkt. Und ganz eindeutig: Dort, zwischen dem großen Ausschnitt für den Kolben und einem Kanal, in dem normalerweise Öl läuft, ist ein deutlicher Riss. »Die Dichtung ist kaputt. Tatsächlich!« Ich lache vor Freude, ziehe die Dichtung von den Bolzen, spreize den Riss auseinander und lasse mich von Cati damit fotografieren. »Wir haben
den Fehler gefunden!«, freue ich mich. »Nun bestellen wir eine neue und bauen den Kram wieder zusammen!« Die Dichtung ist sogar noch erhältlich, kostet aber 120 US-$. »Ganz schön teuer«, meine ich auf Facebook. »Finde ich gar nicht«, kommentiert Nachbar Bert. »Wenn man bedenkt, dass die das Ding 40 Jahre lang im Lager für dich bereitgehalten haben, damit du es heute kaufen kannst.« Auch wieder wahr. Und ich bestelle sogar noch eine zweite, als Reserve. Dazu neue Muttern. Doch wir brauchen noch eine Lieferadresse. Ebenfalls von Bert haben wir vom örtlichen Trans-Ocean-Stützpunktleiter Michael Claus gehört, der in Miami wohnt und bei einer großen Spedition arbeitet. Michael erklärt sich gern dazu bereit, unsere Post anzunehmen. Also schicke ich die Bestellung ab. Einen Mietwagen brauchen wir die kommende Woche eh, denn für die Reparatur muss ich noch einen Drehmomentschlüssel finden. Wie der wohl auf Englisch heißt? Bis dahin genießen wir aber erst mal die eine Woche Wartezeit, und ich nutze Gelegenheit, um einige längst überfällige Texte für die Yacht zu schreiben. Eines Abends sitzen wir dann im Salon, als draußen über der Stadt ein gewaltiges Gewitter aufzieht. Dicke, schwarze Wolken kommen bedrohlich auf uns zu, und die Lichter der Stadt verschwinden vollkommen im Regen. Der Windmesser springt an. 10, 15, 20 Knoten. Die Ankerkette spannt sich mit deutlichem Rumpeln. Bis zu 35 Knoten Wind messen wir. Das ist kein Rekord, aber ein blödes Gefühl, wenn das Schiff am Anker hängt und die Maschine in Teilen auf dem Kartentisch liegt. Schließlich wird das Paket bei Michael in Doral abgegeben, und wir machen uns am Tag darauf mit einem Leihwagen auf den Weg. Michael wohnt schon bald 20 Jahre in Florida, und als alter Bremer Segler ist es für ihn selbstverständlich, sich um Landsleute zu kümmern, die sich an die Ostküste der USA verirren. »Ihr seid das einzige Schiff aus Deutschland hier, das keine Reinke ist«, lacht er. »Alle anderen kommen hier mit diesen Selbstbauschüsseln an.« Der drahtige Mittfünfziger hat selbst eine 40-Fuß-Yacht in Miami liegen, mit der er an den Wochenenden seine Runden dreht. Seine wahre Leidenschaft ist aber das Rennradfahren. Jedes Jahr reist er mit seinem Rad im Gepäck durch die Welt, um an den größten Radrennen teilzunehmen. »Kommt, ich lad euch zum Essen ein«, schlägt Michael vor, und geht mit uns zu seinem Auto. »Ist das ein Hummer?«, fragt mich Cati heimlich. Auch ich bin mir nicht sicher. Ein gewaltiger Pick-up. »Ich brauch die große Kiste, da wir im Sommer immer unseren Wohnwagen dranhängen und hoch in den Norden fahren«, erklärt
Michael. Ich glaube, ich habe noch nie in so einem großen Wagen gesessen. Am nächsten Morgen mache ich mich an den Zusammenbau des Motors. Penibel habe ich ihn während der letzten Tage in seine Einzelteile zerlegt, alles gereinigt, geschliffen und neu lackiert. Und genauso sorgfältig mache ich mich nun daran, alle Teile wieder zusammenzusetzen. Bei den Drehmomenten muss ich Tabellen bemühen, da die Anzugsmomente im Handbuch in Newtonmeter angegeben sind, auf meinem neuen Drehmomentschlüssel aber in Pound force inch. Am Ende sieht der Motor toll aus. Die Ventile sind eingestellt, alles sollte funktionieren. Trotzdem habe ich ein bisschen Bammel, den Startknopf zu drücken. Doch dann ringe ich mich dazu durch, und er dreht und dreht, startet aber nicht. Habe ich etwas falsch gemacht? Nach dem zehnten Versuch bin ich deprimiert. Alles für die Katz. Aber Moment mal. Ich schraube den Tankdeckel ab, stecke den originalen Peilstab aus Teakholz in die Öffnung und ziehe ihn wieder heraus. Ich muss gar nicht gucken, neben welcher der eingestanzten Zahlen der Diesel das Holz verfärbt hat. Der Tank ist fast trocken! War das etwa der Grund, weshalb der Motor vor drei Wochen plötzlich nicht mehr angesprungen ist? Sind wir mit dem letzten Tropfen hierhergekommen? Wäre er noch gelaufen, wenn nur mehr Diesel im Tank gewesen wäre? Ich fülle einen Kanister nach, entlüfte die Leitungen, drücke den Knopf – und der Motor springt an. »Yiiihaaa!«, ruft Cati. »Er läuft!«, freue ich mich. Da ist er wieder, unser alter Krieger. Nicht kaputt zu kriegen. Und tatsächlich, wahrscheinlich war nur der Sprit alle und er wäre mit mehr Sprit weiterhin auf einem Zylinder gelaufen. Mehr schlecht als recht, so, wie die letzten Monate. Daher kann ich wieder einmal nur dankbar über diese Fügung sein. Denn wäre er angesprungen, hätte ich mich bestimmt nicht getraut, ihn auseinanderzunehmen. Jetzt läuft er wieder, rund und sauber, und klingt besser denn je. Nun kann es weitergehen Richtung Norden.
AUF DER FLUCHT VOR DER HURRIKANSAISON
Von Johannes
South Carolina hat mir schon immer extrem gut gefallen. Deshalb bin ich nun gespannt, wie North Carolina aussehen mag. Auch wenn die Leute hier oft von den Carolinas sprechen, lassen sich die beiden Staaten nur bedingt in einen Topf werfen. An Land ähneln sich beide zwar und lassen sich in drei klimatische Zonen einteilen: Küste, Plateau und Berge. Aber was die Küstenregionen angeht, ist North Carolina laut Karte viel weniger besiedelt. Es gibt weite, ausgedehnte Binnenseen innerhalb der Outer Banks, die in ihrer Mitte das berüchtigte Cape Hatteras bilden. Die Netzabdeckungskarte unseres Providers zeigt uns, dass wir auf unserer Reise nach Norden gut 24 Stunden lang keinen Empfang haben werden. Die Binnenseen ermöglichen eine Reise vom Intracoastal Waterway hinauf in die Chesapeake Bay, ohne das Kap runden zu müssen. Denn das Cape Hatteras gilt als berüchtigte Wetterecke. Der warme Golfstrom trifft dort auf den kalten Labradorstrom, und so ist die See meist rau, das Wetter konfus, und es bilden sich immer wieder neue Sandbänke, neuerdings sogar eine neue Insel. Vor allem jetzt, mitten in der Hurrikansaison, ist die Binnenreise die bessere Wahl. Außerdem befindet sich unser Ziel an einem der oberen Gewässer, dem Albemarle Sound. Dort zweigt der Pasquotank River ab, der in den Norden nach Elizabeth City führt. Nicht weit nördlich beginnt dann der Dismal Swamp Canal. Als ältester über all die Jahre in Betrieb gehaltener amerikanischer Schiffskanal hat er einen legendären Ruf. Niemand Geringerer als der spätere Präsident George Washington begann im Jahr 1763 die Vermessung des Dismal Swamps, um einen Verbindungskanal von den Sunden hinauf in die Chesapeake Bay bauen zu lassen. Der 22 Seemeilen lange Kanal wurde komplett von Hand gegraben und 1805 eröffnet. Er verbindet North Carolina mit dem Bundesstaat Virginia. Genau auf der Hälfte soll sich ein Hotel befunden haben, das ein sehr
beliebter Anlaufpunkt gewesen sein soll. Dort sollen zahlreiche Duelle stattgefunden haben, denn der Gewinner wurde selten verhaftet. Die Grenzlinie der Staaten verlief nämlich quer durch den Saloon und der Gewinner musste nur vor Erscheinen des Sherrifs auf die andere Seite des Raumes gehen, schon befand er sich in einem anderen Zuständigkeitsbereich als das Opfer. Als wir auf der Suche nach einem Ort waren, an dem wir den Sommer und die Hurrikansaison verbringen könnten, habe ich in einem amerikanischen Segelforum (www.cruisersforum.com) um Tipps für eine kleine, günstige Marina in einem abgelegenen Dorf mit netten Leuten gebeten. Irgendwo zwischen Florida und der Chesapeake Bay. Es gab eine Menge Vorschläge, die wir uns alle im Internet angeschaut haben. Am besten gefiel uns dabei Lamb’s Marina in Camden, North Carolina. Deren Website war eher schlicht gehalten. Ein paar Fotos vom Yachthafen, dem Tankstellenshop samt Restaurant, dem Klohäuschen. Ein Luftbild vom Yachthafen samt Trailerpark nebenan. Und eine Preisliste. 196 US-$ pro Monat für ein Schiff unserer Größe. »Das ist ja konkurrenzlos billig«, staunte Cati, »In Florida kostet eine Nacht ja schon 60 US-$. Wir lasen noch etwas über die Geschichte von Elizabeth City und dem Dismal Swamp, und schon war die Entscheidung klar: Dort verbringen wir den Sommer. In Fort Pierce motoren wir aus dem Inlet hinaus auf den Ozean. Noch immer wollen wir der Maschine nicht zu viel zumuten. Ich traue meiner eigenen Arbeit nicht. Also setzen wir die Segel und halten auf den Golfstrom zu. »Wow, schau mal aufs GPS«, sage ich zu Cati. »Wir laufen über 7 Knoten, der Strom scheint schon zu schieben.« Aber viel mehr werden es auch nicht. Mit der klei nen MAVERICK bin ich 2006 einmal eine ganze Nacht lang ständig 8,5 Knoten gesegelt. Aber heute wissen wir nicht genau, wo der Golfstrom ist. »Mal ist er etwas weiter westlich, mal weiter östlich, mal breiter, mal schmaler …«, erkläre ich Cati. Heute ist er wohl wirklich schmal. Wir kreuzen immer wieder hin und her, werden schneller, dann langsamer. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer ist, im Strom zu bleiben«, sagt Cati. Auch ich bin verwirrt. Wochen später entdecken wir eine Website, auf der ständig die aktuelle Position des Golfstroms per Satellit dargestellt wird: www.opc.ncep.noaa.gov/sst/GulfStream_compare.shtml. Am zweiten Tag flaut der Wind ab. Nach einem 135er-Etmal schaffen wir nur noch 94 Seemeilen. Wir sind vollkommen aus dem Golfstrom raus. »Wenn uns
der Strom nicht hilft, nach Norden zu kommen, müssen wir das eben selbst machen«, meine ich und setze den Gennaker. Der Horizont sieht bedrohlich aus. Ich mache mir Sorgen, so lange ohne Wetterbericht auf See zu sein. Mitten im Juli, also mitten in der Hurrikansaison. Aber unsere Prepaidkarte fürs Satellitentelefon ist abgelaufen, und es erschien uns nicht nötig, eine neue für über 100 US-$ zu kaufen. »Das Wetter ist für vier bis fünf Tage genau. In dem Zeitraum wird sich kein Hurrikan bilden. Also bleiben wir vier bis fünf Tage auf See und laufen dann einen Hafen an, um einen Wetterbericht zu bekommen«, hatte ich Cati vor der Abfahrt meinen Plan erklärt. Damit war sie einverstanden. Doch nun kommen wir viel langsamer als geplant voran. Kein Golfstrom, kein Wind, aber ein bedrohlicher Himmel. Der Blick auf den Barografen bringt nichts. »Sag mal, ist das Ding etwa stehen geblieben?«, frage ich. »O Mist, ich hab vergessen, ihn aufzuziehen«, sagt Cati. Wir können also seit der Abfahrt keine Veränderungen ablesen. Er zeigt 1.017 Millibar an. Das Barometer im guten, teuren Minox-Fernglas 997 Millibar. Was stimmt? Wir wollen zusehen, an Land zu kommen, auch wenn wir die Zeit auf See gerade sehr genießen. Die Ungewissheit fühlt sich aber nicht gut an. Wir ändern den Kurs und peilen Southport statt Beaufort an. 100 Seemeilen weniger. Der Wind trägt uns mit 90 bis 120° Einfallwinkel perfekt auf das Inlet zu. Selbst im Fahrwasser können wir noch unter Windfahne laufen, starten dann den Motor und fahren gegen das ablaufende Wasser den Cape Fear River hinauf, um in den Intracoastal Waterway zu gelangen. Das Gewässer wird immer enger. Erst breiter und reißender Fluss, dann schmales Flüsschen. Dann biegen wir rechts ab in einen schmalen Kanal zum Intercoastal Waterway. Dort an der Biegung liegt ein Campingplatz mit einer Tankstelle. »Lass uns noch mal etwas nachtanken, dann kommen wir vielleicht bis nach Camden«, schlage ich vor und biege ab. Ich muss ordentlich vorhalten, denn der Strom reißt von der Seite. Im 45°Winkel laufe ich in den Kanal zum Campingplatz ein. Hier sind wir das größte Boot, und vermutlich ist es nur dem Hochwasser zu verdanken, dass wir in der Einfahrt nicht auf Grund laufen. 20 Minuten später und 90 Kilo schwerer sind wir zurück auf dem Weg nach Norden. Die Hitze ist kaum auszuhalten. Wir hatten uns auf See so sehr an den Fahrtwind gewöhnt, dass sie uns erst jetzt so richtig auffällt. Dazu müssen wir bei Motorfahrt selbst steuern und hinter dem Rad stehen, um über den Aufbau zu schauen. Aus den nun wieder vollen Dieselkanistern und zwei Sitzsäcken bauen wir uns einen Behelfsstuhl. Aus dem Sonnensegel und einem Paddel eine Art
Bimini. Trotzdem ist es heiß, und wir glühen. Unser Anker fällt in Wrightsville, jetzt im Sommer ein Partyort für Studenten. Trotzdem sehr seglerfreundlich, denn es gibt ein kostenloses Dingidock samt Mülltonnen und nicht weit davon eine preiswerte Sportsbar. Der Wetterbericht sieht gut aus. Wir hätten also durchaus draußen bleiben können. Doch jetzt nehmen wir den Intracoastal Waterway. Allerdings werden auf diesem aus den 100 Seemeilen Luftlinie gut drei Tage Kanalfahrt. Zudem müssen wir die age vorbei am Trainingscamp Le Jeune der US Marines gut aben. Der Intracoastal Waterway verläuft mitten durch das Trainingsrevier und wird tagsüber von 8 bis 16 Uhr gesperrt, da dann scharf geschossen wird. Unser Zwischenziel ist Beaufort. Als wir nach drei Tagen Kanalfahrt und Ankern am Rande des Intracoastal Waterways dort ankommen, wollen wir im Ankerfeld gegenüber der Stadt den Anker werfen. Doch ist dieses rappelvoll. Keine Chance, einen Platz zu finden, ohne beim Wechsel der Gezeitenströme in eine andere Yacht zu schwoien. So ein Mist. Wir versuchen es weiter östlich. Aber auch hier ist der Schwoiraum knapp. Die meisten Boote liegen an Murings. »Ey!!«, ruft da plötzlich jemand vom Ufer. »O Schiet, der will uns sicher wegjagen«, denke ich, dabei hatte ich gerade einen sehr knappen Platz als für uns ausreichend eingeordnet. »Ey!«, ruft er wieder. Und winkt. Wir motoren hinüber. »Hey guys, wenn ihr wollt, könnt ihr bei mir an den Steg gehen. Der ist gerade leer«, sagt er. »Wow, das ist ja ein tolles Angebot, das machen wir gern!« »Ich bin Jim«, stellt sich der Stegeigner vor. »Ich wohne im Haus gegenüber der Straße. Macht euch keine Sorge wegen des Stegs, ich bin selbst Segler, und mir wurde auch überall geholfen. Ist schön, wenn ich was zurückgeben kann. Kommt nachher mal auf ein Bier rüber!« »Aber gern!« Wie gastfreundlich die Amerikaner doch sind. Kurze Zeit später kommt Jim zurück zum Steg und bringt einen neuen Schlauch. »Der alte ist nicht mehr so toll. Hier habt ihr einen frischen. Dann könnt ihr eure Tanks füllen und mal das Schiff abspülen. Ich weiß doch, wie schön es ist, mal den Ankerdreck und das Salz von Deck zu haben.« Wir können die Großzügigkeit kaum fassen. »Ich hole öfter mal Segler an meinen Steg, wenn er leer ist«, erklärt Jim. »Es ist immer schön, neue Leute kennenzulernen. Die Nachbarn wundern sich schon, dass dort immer neue Boote liegen.« Als wir eine halbe Stunde später bei Jim klopfen, sprintet er gleich zur Tür. »Hey, habt ihr euch eingelebt?« »Ja, uns gehts super. Danke noch mal! Wir sind
ein bisschen knapp mit Vorräten und wollten jetzt mal schauen, wo wir einen Supermarkt finden«, sage ich. Jim greift kurzerhand um die Ecke ins Regal und gibt mir seinen Autoschlüssel. »Einfach zweieinhalb Meilen die Hauptstraße runter, kaum zu übersehen.« Wir sind baff. »Der weiß nicht mal, ob du einen Führerschein hast«, sagt Cati, als wir in den Volvo steigen. Eine Stunde später sind wir mit einem Sixpack Bier als Dankeschön zurück, da werden wir gleich in die Küche gezogen. »Schön, dass ihr da seid. Ich hab ein paar Freunde eingeladen. Wollt ihr ein paar Austern mitessen?« Ehe wir uns versehen, sitzen wir bei den anderen, trinken Bier, schlürfen Austern und genießen die Gastfreundschaft, die Jim und seine Freundin Anechy gleich auf den nächsten Abend ausdehnen wollen: »Dann kommt ihr rüber und wir kochen euch ein richtiges Südstaatenabendessen. Was haltet ihr davon?« Wir müssen nicht lang überlegen: »Sehr gern!« Am nächsten Morgen wollen wir uns aber erst einmal die Stadt anschauen. Sie ist klein, hat nur 4.000 Einwohner, dafür aber eine lange Geschichte. Sie wurde 1709 gegründet und zählt damit zu den älteren der USA. Kurz nach ihrer Gründung strandete der legendäre Freibeuter Blackbeard im Beaufort Inlet mit seinem Schiff QUEEN ANNE’S REVENGE auf einer Sandbank und verlor es kurz danach in der Bucht. Es wurde 1996 von Tauchern wiedergefunden. Auch das Schifffahrtsmuseum wollen wir uns unbedingt anschauen. Bisher haben wir auf dieser Reise so gut wie kein Geld für Sightseeing oder Museen ausgegeben. Heute aber wollen wir uns mal etwas gönnen. Und sind überrascht, denn es kostet keinen Eintritt. Die Ausstellungen sind interessant. Eine Sonderausstellung über die Geschichte der Außenbordmotoren gleich zu Beginn und dann eine Themenausstellung »Seenotrettung früher«. Spannend. Damals sind durch die mageren Navigationsmittel bei schlechtem Wetter viele Schiffe an den Outer Banks gestrandet. Manche wurden auch von Piraten mit Lichtern auf die Sandbänke gelotst und dann ausgeraubt. Eine Karte verdeutlicht, wie viele Schiffe rund um die Banks und Cape Hatteras verloren gegangen sind. Sie sind kaum zu zählen. Wenn damals die Meldung kam, dass ein Schiff gestrandet sei, zog man mit Pferdewagen und Rettungsboot los zum Strand, an dem das Schiff in der tosenden Brandung lag. Später wurden dann Raketen mit einer dünnen Leine hinüber zum Schiff geschossen, eine dicke Leine nachgeholt und dann eine feste Verbindung zwischen Schiff und Landteam hergestellt. An der Seilverbindung wurde eine Art Rettungskapsel hinüber zum Schiff gezogen, in die sich die schiffbrüchigen Seemänner zwängen und an Land retten konnten.
Plötzlich hören wir Sirenen. Alle Museumsbesucher werden in die hinterste Ecke der Halle gebracht, hinter eine große Stahltür. »Tornadowarnung«, sagt jemand. Die Türen werden geschlossen, und alle lauschen still auf das Prasseln des Regens und das Heulen des Windes. Ich versuche, mit dem Wetterradar auf meinem iPhone die Zugbahn zu finden. Doch das Internet bricht zusammen. Wir machen uns Sorgen um unser Schiff, sind aber gleichzeitig froh, dass wir am Steg und nicht vor Anker liegen. Eine halbe Stunde später ist der Spuk vorbei, und es gibt Entwarnung. Wir dürfen wieder aus der Ecke heraus, etwas später vor die Tür. Was wir dort sehen, ist kaum zu glauben. Die ganze Stadt ist abgesoffen. Bis zu den Knien stehen wir im überraschend warmen Wasser auf der Straße und stampfen zurück zur MAVERICK TOO. Ob wohl alle Luken dicht waren? Gott sei Dank ist alles trocken geblieben.
CAMDEN – EIN STÜCK HEIMAT
Von Johannes
Von Beaufort aus motoren wir durch einen schmalen Verbindungskanal hinauf in den Neuse River und werfen den Anker direkt vor dem Persimmon Tree Point. Am nächsten Tag kommt die Hitze zurück, und wir motoren stundenlang durch den »Canale Gerade«, wie ihn Bert und Marlene mal genannt haben, den Alligator River Pungo River Canal. Er ist 25 Seemeilen lang, schnurgerade und entsprechend langweilig. Wieder sitzen wir bei einer Affenhitze unter dem Behelfsbimini auf den Dieselkanistern und versuchen zu überleben. Aber was uns fasziniert: Das Wasser ist schwarz. Im Internet lesen wir, dass die Färbung von Tanninen verursacht wird, die durch Pflanzenwurzeln ins Wasser gelangen. Schon merkwürdig, hier das Bordklo zu benutzen, dessen Wasserspülung mit Seewasser von außen funktioniert. Denn nun sieht es so aus, als wäre das Klo nach dem Spülen schmutziger als vorher. Als sich am anderen Ende der Alligator River öffnet, sind wir ziemlich platt, motoren nur noch einmal quer über den Fluss, mogeln uns durch die Fischreusen und werfen nahe dem Schilf den Anker. Sicherheitshalber befestige ich eine alte Waschmittelflasche als Ankermarkierung am Ende, denn der Grund soll voller alter Baumstämme und sonstiger Hindernisse liegen, hinter denen sich die Anker gern verkeilen. Kaum ist der Haken im Grund, baue ich den kleinen MagmaGrill auf. Der war leider ein Fehlkauf. Denn der Hersteller wollte ihn für den Bordgebrauch möglichst platzsparend bauen. Das hat aber zur Folge, dass alle Bauteile sehr nah beieinandersitzen. Der Gasbrenner ist derselbe wie bei vielen Kochern. Einzig eine Wärmeverteilerplatte macht es möglich, darüber zu grillen. Doch auch der Rost ist viel zu nah an Brenner und Platte, und schon bei den ersten Grillversuchen entstanden große Stichflammen, wenn das Fett in den Grill tropfte und sich entzündete. Deshalb kann man darauf eigentlich nur grillen, wenn man zwischen Fleisch und Feuer ein Blatt Alufolie legt.
Ich werfe ein paar Burger auf die Folie, und schnell steigt der leckere Geruch von gegrilltem Rind auf. Immer mehr Fett wird flüssig und schwappt auf der Alufolie herum. Die hat jedoch an einer Seite einen kleinen Riss, und ehe ich mich versehe, steht der Grill lichterloh in Flammen. Ich drehe sofort das Gas ab, aber es brennt weiter. Die Flammen schlagen immer höher aus dem Grill heraus, einen guten Dreiviertelmeter. Gut, dass ich das Sonnensegel abgebaut habe. »Ähm … Cati, kannst du mal schnell die Löschdecke rausgeben?«, frage ich ruhig. »Hahaha«, lacht sie von unten, strahlt mich kurz an und verschwindet dann wieder im Niedergang. »Das ist kein Witz«, sage ich ernst. Sie lacht noch einmal, sieht mein Gesicht, verstummt und greift nach der Löschdecke. Ich wickele den ganzen Grill damit ein, aber das Feuer brennt noch gut zwei Minuten weiter, bis es erlischt. Die Burger sind ziemlich verkohlt, als ich den Deckel öffne. »Aber zum ersten Mal schmecken die wirklich wie über Feuer gegrillt«, kommentiert Cati. Später kaufen wir runde Aluteller und legen sie auf den Rost, damit das Fett nicht mehr ins Feuer tropfen kann. Irgendwie ist das aber witzlos. Es ist mehr braten als grillen. Auf der Karte sieht die restliche Strecke über den Albemarle Sound und den Pasquotank River hinauf gar nicht so schlimm aus. Aber die Strecke zieht sich, da wir einem Kanal über den Sund folgen müssen. Eigentlich wäre der Sund tief genug, und wir hatten geplant, von der in der Seekarte eingetragenen, kurvigen Fahrwasserlinie abzuweichen. Aber kaum verlassen wir die Route, sehen wir schleunigst zu, wieder zurück ins Fahrwasser zu kommen. Denn außerhalb wimmelt es überall nur so von Fisch- und Krabbenfallen, die am Boden verankert und an der Wasseroberfläche mit einer kleinen Boje markiert sind. Wir sind voller Vorfreude auf unsere Sommerheimat. Was wird uns erwarten? In Elizabeth City ist es erst mal ein kostenloses Dock, über das wir uns freuen. Hier oben im Norden soll es so was öfter geben. »Welcome to Elizabeth City«, begrüßt uns ein älterer Mann, der sich als Gus vorstellt. »Wir nennen uns hier nicht ohne Grund den Hafen der Gastfreundschaft«, erklärt er uns. »Und meine Aufgabe ist es, die Segler zu begrüßen.« Wir sind ziemlich verblüfft, als der Kavalier alter Schule Cati plötzlich ein Ständchen trällert und besingt, wie schön sie doch sei. Als ich am nächsten Morgen das Luk aufziehe, sitzt Gus schon wieder mit einem Klappstuhl auf der Ladefläche seines knallgelben Pick-ups und grüßt freundlich mit der Zeitung in der Hand. Da die heutige Strecke nur drei Seemeilen kurz ist, lassen wir uns Zeit. Ich sitze im Cockpit und beginne die Planung für die
nächsten Monate. Catis Mutter hat leider Krebs bekommen, wenn auch mit sehr guten Heilungschancen. Cati möchte deshalb zu ihr und wird schon nächste Woche von Baltimore aus nach Hause fliegen. Außerdem hat sie einen kleinen Bürojob für den Sommer, der der Reisekasse guttun wird. Ich bleibe hier, arbeite noch ein paar Geschichten für die Yacht ab, mache das Boot hurrikanfest und kaufe ein Auto, damit wir mobil sind. Wir sind gespannt auf Lamb’s Marina und werfen gegen 10 Uhr die Leinen los. Gus verabschiedet uns herzlich. »Ich halte euch den Platz frei.« Und tatsächlich werden wir ihn in den kommenden Monaten immer sehen, wenn wir am Hafen vorbeifahren. Ein netter, aber auch irgendwie kauziger Typ. Wir ieren eine Drehbrücke, und dann zweigt bald im grünen Sumpfdickicht an Steuerbord ein enges, privat betonntes Fahrwasser ab, vorbei an Seerosen und hinein in den Wald. Nach etwa 100 Metern öffnet sich eine Lichtung, auf der ein paar Masten zu sehen sind. Da ist er, unser Hafen. So früh am Morgen steht die Sonne noch tief. Alles ist ruhig. Wir motoren bis ans Ende des Hafenbeckens und machen an der Tankstelle fest. Lautlos, ohne Kommandos, um die Stille nicht zu stören. Aus dem kleinen Diner am Hafen schauen uns neugierig Leute zu. Die deutsche Flagge am Heck fällt auf. Also laufen wir zum Diner, um zu erfragen, wo wir liegen sollen. »Good morning«, sagen wir. »Wir suchen den Hafenmeister.« »Welcome to Lamb’s Marina. Bill ist gerade unterwegs, sollte aber in einer halben Stunde wieder da sein«, antwortet die junge Kellnerin freundlich. »Hier sind wir richtig«, denke ich mir. »Dann frühstücken wir erst mal«, sage ich. »Können wir zwei Kaffee und zwei Bacon-and-Egg-Bagels bekommen?« Schnell sitzen auch wir hinter der Glasscheibe, schauen auf den Hafen und lassen den ganzen Stress und Druck der letzten Wochen von uns abfallen. Der Hafen ist ein Idyll. Der Kaffee ist stark, schwarz und heiß, der Bagel lecker und spottbillig. Ein Platz zum Verweilen. Bill ist ein kleiner Mann in den frühen 70ern, die grauen Haare adrett zur Seite gekämmt. »Ihr müsst entschuldigen«, sagt er. »Meine englische Bulldogge ist krank, ich musste zum Tierarzt. Bei dem Hund ist sowieso so einiges nicht richtig. Wenn er bellt, klingt es, als würde man ihn über Schleifpapier ziehen. Raff, Raff.« Meine E-Mail hat er nicht bekommen. Deshalb haben wir auch keine Platzreservierung. »Wir sind hier nicht so richtig modern, ich weiß gar nicht, wer die Mails liest«, entschuldigt er sich. Aber einen Platz hat er trotzdem für uns. Ganz entspannt verholen wir MAVERICK TOO in eine Box, legen
rückwärts an. Während Bill unsere Leinen dichtholt, beißt sein Hund in die Leine und holt die Lose raus. Ein beeindruckendes Zusammenspiel. »Das macht ihr nicht zum ersten Mal, oder?« Leinen fest, der Strom ist angesteckt. Bill erklärt uns, wo die Duschen sind und dass wir ein Auto für ein paar Stunden kostenlos ausleihen können. »Das wär’s, was ihr wissen müsst. Na dann: Welcome home!« Und das ist es, was ich die ganze letzte halbe Stunde gespürt habe und mir nun so richtig bewusst wird: Wir sind zu Hause. Angekommen. Das war es, was uns die letzten Monate fehlte. Irgendwo richtig anzukommen. Es ist Ende Juli und selbst hier, so weit im Norden, unfassbar heiß. Gegen Mittag steigt die Temperatur fast auf 40 °C. Der Hafen ist ein Trog inmitten von hohen Bäumen, und die Luft steht regelrecht. »Los, wir leihen uns das Auto, fahren zum Baumarkt und kaufen eine Klimaanlage«, schlage ich Cati vor. Schon vor Monaten habe ich ihr erzählt, dass wir in den USA eine Klimaanlage kaufen werden. »So ein Quatsch. Das Geld können wir sparen. Du übertreibst mal wieder«, war ihre Antwort. Mittlerweile hat sie ihre Meinung jedoch geändert. Also leihen wir uns den zehn Jahre alten Chevy und laufen kurz darauf im nächsten Lowe’s durch die Gänge. »Da ist sie. Genau die brauchen wir«, finde ich schnell das richtige Gerät. Eine Window-Unit mit 6.000 BTU Kälteleistung. Ein kleiner Kasten, der für die amerikanischen Holzfenster entwickelt wurde. Fenster hochschieben, Klimaanlage von außen dranhängen und an den Seiten abdichten. Die Abwärme geht nach draußen, die Kälte nach innen. Cati ist verblüfft: »Was, nur 88 US-$?« Tatsächlich. Ein Schnäppchen. Wir schlagen zu. Eine Stunde später steht die Anlage bereits über unserem Salonluk an Deck und pustet herrliche Kälte nach innen. Die Temperatur fällt trotzdem nicht unter 26 °C, aber allemal besser als 40 °C. Vom 27. Juli bis zum 13. Oktober ist Lamb’s Marina unser Zuhause. Und wir werden schnell in die Gemeinschaft integriert, sowohl im Hafen als auch im Dorf. Der Hafen ist voller »Liveaboards«, also Leuten, die auf ihren Schiffen wohnen. Früher habe ich mich immer gewundert, wie viele leidenschaftliche Segler es in den USA geben muss, die die ganze Ostküste hinauf auf ihren Booten leben. Doch dahinter steckt nicht nur Leidenschaft, wie ich nun erfahre: Viele Leute, die eine kriminelle Vergangenheit und Vorstrafen haben, bekommen einfach keine richtige Wohnung und finden dann auf dem Wasser oder in einem Trailerpark eine Bleibe. Auch wenn ein paar schwarze Schafe unter unseren Nachbarn sein mögen, wir merken es nicht. Alle sind unglaublich freundlich und sehr interessiert, vor allem unser direkter Nachbar Jim.
Gleich am ersten Nachmittag kommt er zurück von einem kleinen Wochenendtrip. Seine kleine, 28 Fuß lange Cape Dory war mir schon bei der Ansteuerung aufgefallen, sie lag links vom Fahrwasser vor Anker. Der kleine, etwas korpulente Mann ist eifrig beschäftigt, seinen Langkieler rückwärts in die Box links von uns zu manövrieren. Wir stehen bereits parat, um die Leinen anzuneh men, und auch Bill kommt mit seiner Dogge dazu. SEA OTTER steht auf dem Heck des Bootes. Schnell sind die Leinen belegt, die Arbeit getan, und wir kommen ins Gespräch. »Danke fürs Helfen. Ich bin Jim«, stellt er sich vor. »Wir sind Cati und John«, stellen wir uns vor. »Deine neuen Nachbarn.« »Wow, seid ihr aus Deutschland hierher gesegelt?«, staunt er mit Blick auf unsere Flagge. »Ich habe meine Kindheit in Deutschland verbracht, weil mein Vater dort in der Army war.« Solche Geschichten haben wir schon öfter gehört. Oder von Leuten, deren Vorfahren aus Deutschland stammen. Es scheint, als hätte fast jeder eine Beziehung zu unserem Heimatland. Am ersten Sonntag kramen wir unsere besten Sachen aus dem Kleiderschrank und machen uns landfein. Denn gegenüber der Marina steht eine kleine Kirche. Cati und ich haben beide unsere Jugend in Kirchengemeinden verbracht, Jugendarbeit gemacht und in Bands gespielt, deshalb wollen wir dort einmal vorbeischauen. »Kirche« ist vielleicht ein zu großes Wort. Eingerahmt von einem Fast-Food-Restaurant und einem Kindergarten ist die Vineyard Church eher ein umgebauter Laden, der mit Stühlen gefüllt ist. Eine freie Gemeinde würde man sie in Deutschland wohl nennen. Gleich an der Tür werden wir begrüßt. »Hallo, schön dass ihr reinschaut. Wer seid ihr, und wo kommt ihr her?« Die Leute sind neugierig. Und werden noch neugieriger, als wir unsere Geschichte erzählen. Wir lernen den Pastor Karl kennen, dessen Familie natürlich auch Wurzeln in Deutschland hat. Sein Sohn Andrew studiert und arbeitet sogar seit ein paar Jahren an der Uni München. Wie klein die Welt doch ist. Und ehe wir uns versehen, haben wir ein paar neue Freunde, die uns in den kommenden Monaten ständig zum Grillen zu sich nach Hause einladen werden. Einige Tage später miete ich ein Auto und bringe Cati zum Flughafen nach Baltimore. Die kommenden fünf Wochen bin ich allein an Bord. Aber mir wird nicht langweilig. Ich muss mehrere Sachen für die Yacht schreiben. Vorher jedoch möchte ich noch ein Auto kaufen, und das ist gar nicht so einfach. Schon in der vergangenen Woche war ich mit Cati beim amerikanischen Department of Motor Vehicles, das für die Zulassung von Fahrzeugen und die Ausstellung von Führerscheinen zuständig ist. Das Zulassen von Fahrzeugen für
Ausländer ist in den USA von Staat zu Staat unterschiedlich geregelt. Während wir in Florida ganz einfach ein Auto hätten anmelden können, ist es in North Carolina nötig, einen amerikanischen Führerschein zu machen, also theoretische und praktische Prüfung. Das ist mir zu umständlich. Ein Freund bietet mir jedoch an, ein Auto auf sich zuzulassen und mich als Fahrer einzutragen. Das macht vieles einfacher, denn fahren darf ich mit meinem deutschen Führerschein sehr wohl. Auch die Sache mit der Versicherung läuft in den USA etwas anders: Während in Deutschland das Auto versichert wird, besitzt in den USA jeder Fahrer eine personenbezogene Versicherung, die unabhängig vom Auto ist. Aber wir bekommen alle Hindernisse umschifft, und so kann ich nach einer weiteren Woche einen zehn Jahre alten Trailblazer aus Atlanta abholen.
ROADTRIP NACH NEW YORK
Von Johannes
Cati ist bereits seit einiger Zeit in Deutschland. Und auch ich werde bald dorthin fliegen, denn die Yacht hat uns ein tolles Angebot gemacht: Wir dürfen noch einmal mit der QUEEN MARY 2 fahren, denn ich soll an Bord Vorträge über unsere Reise halten. Genau wie im letzten Jahr. Schon damals war die Überfahrt im Gegenzug für die Arbeit gratis – und sogar der Rückflug von New York aus inklusive. Diesmal soll es genau andersherum ablaufen: erst der Flug nach Deutschland, dann die Rückreise per Schiff. Das Angebot wollen wir nutzen, denn auch mir fehlt nach mittlerweile einem Jahr auf Reisen meine Familie sehr. Auf der Rückreise nach New York wollen wir im Laderaum der QUEEN MARY 2 zudem noch ein bisschen Fracht mitnehmen: einen nagelneuen Dieselmotor von Vetus! Als wir mit Maschinenschaden im kleinen Wörthersee lagen, wusste ich nicht, wie es weitergehen sollte. Die Mechaniker erklärten uns, dass wir einen neuen Motor bräuchten. Aber wovon bezahlen? Aus lauter Verzweiflung schrieb ich damals eine Mail an Vetus, und zwar eine einzige und NUR an Vetus, weil mir deren Motoren eh schon immer am besten gefallen haben. Darin hatte ich von unserer Reise erzählt und gefragt, ob es nicht möglich wäre, einen Rabatt auf einen neuen Motor zu bekommen. Wochenlang bekam ich keine Antwort. Dann kam per Post die neue Kopfdichtung, und der alte Volvo klöterte wieder. Also schrieb ich noch eine Mail an Vetus: »Ich hatte euch mal geschrieben, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Der Volvo läuft wieder, und wir brauchen doch keinen neuen.« Darauf kam eine kurze Antwort von einem der Pressesprecher: »Wir haben uns aber gerade eure Website-Statistiken und Facebook-Resonanzen angeschaut und beschlossen: Ihr bekommt einen neuen Motor!« Wow, was für ein Geschenk. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass man uns sogar eine ganze Maschine spendiert.
Doch Vetus kann den Motor nicht in die USA schicken, da die Maschine die amerikanischen Abgasnormen nicht erfüllt. Wir als Privatleute können den Motor jedoch ohne Probleme mitbringen oder privat verschicken. Also entstand die Idee, die Maschine an Bord der QUEEN MARY mitzunehmen. Doch vom Hafen in New York muss der Motor irgendwie zur MAVERICK TOO kommen, und das ist auch der Grund, warum ich mich für den Trailblazer entschieden habe, denn bei dem t der Motor gut in den Kofferraum. Mein Plan ist also, mit dem Auto nach New York zu fahren, es dort vier Wochen zu parken und dann mit der QUEEN MARY und dem neuen Motor zurückzukommen. Doch die Parkplätze in New York sind teuer, weit über 1.000 US-$ im Monat. Selbst in der Bronx finde ich nichts unter 800 US-$. »Ich kann ja mal Julia fragen«, schlägt Cati vor, »Mit der habe ich Abi gemacht und gelesen, dass sie inzwischen als Lehrerin an einer deutschen Schule in New York arbeitet.« Schnell kommt die Antwort. »Ja klar, Johannes kann das Auto sehr gern hier auf den Schulparkplatz stellen.« Hervorragend. Also los nach New York! 725 Kilometer und gut acht Stunden Fahrtzeit liegen vor mir. Und ich mache mir ein bisschen Sorgen, ob das klapprige Auto mit dem großen Sechszylinder die Strecke ohne Probleme schaffen wird. Sicherheitshalber entscheide ich mich, einen Tag früher zu fahren und ein Hotel in New Jersey zu buchen. Für eine Nacht kann es ruhig billig sein. Ich entscheide mich für das »Americana Motel«, das 44 US-$ die Nacht kostet und bei booking.com als Bewertung 3,7 von zehn möglichen Sternen erhalten hat. »Für eine Nacht wird’s schon reichen«, denke ich mir. Ich komme etwa 240 Kilometer weit, dann beginnt der Motor zu rumpeln. Das ganze Auto schaukelt im Stand. »Auweia, da stimmt was nicht«, denke ich mir. Glücklicherweise habe ich den Knarrenkasten und ein paar Schraubenschlüssel eingepackt und schaffe es bis zum nächsten Autoteileladen. Dort gehört es zum Service, den Fehlerspeicher kostenlos auszulesen. Besser noch, man lässt dort alles stehen und liegen, schnappt sich das Lesegerät und folgt mir auf den Parkplatz. Zwei Minuten später habe ich einen Ausdruck in der Hand: »Zylinder 4: unregelmäßige Zündungen«. Doch von wo zählt man bei einem Reihenmotor, von vorn oder hinten? Google liefert die Antwort: von vorn. Also muss ich an einen Zylinder, der unter der Windschutzscheibe sitzt. Um ihn zu erreichen, lege ich mich quer auf den Motor, ziehe die Zündspule ab und schraube die Zündkerze raus. Die Kerzen sind neu, aber die falschen, wie ich sehe. Da der
Elektrodenabstand aber nur minimal anders ist, sollte das trotzdem funktionieren. Dennoch versuche ich es erst mal mit einer neuen Kerze. Der Motor läuft wieder rund. Die Fahrt kann weitergehen. Doch schon nach 50 Kilometern beginnt der Motor wieder zu rumpeln. Bei schneller Fahrt fällt das kaum auf, nur im Stand. Eigentlich ist es nicht gut, so weiterzufahren, denn der unverbrannte Sprit aus dem vierten Zylinder fliegt in den Kat und wird dort nachverbrannt. Der Kat ist aber nicht dafür ausgelegt, dass dort Sprit landet, und kann zu heiß werden. Aber ich riskiere es, setze meine Fahrt fort und komme gegen 19 Uhr in Avenel in New Jersey an. »Die Gegend sieht doch nicht schlecht aus«, denke ich mir. Haufenweise Restaurants und Autohä, außerdem Hotel an Hotel. Doch der Blick aufs Navi zeigt: noch eineinhalb Kilometer bis zum Motel. Und plötzlich wird die Gegend zunehmend schlechter. Die Hä dunkel und verkommen, außerdem reiht sich ein Sexcenter an das andere. Und dann lese ich irgendwann rechts »Americana Motel«. Von außen ein Fort aus roten Klinkersteinen, innen kleine Bungalows und Parkplätze. »Ob ich beim Check-in sagen muss, dass ich das Zimmer für die ganze Nacht brauche?«, überlege ich, während ich den Chevy parke. Ich klopfe gegen die Panzerglasscheibe, hinter der sich der Portier verbirgt. Eine alte Pappe wird beiseitegezogen, und ich schaue in die skeptischen Augen eines Inders, der in seinem Wohnzimmer sitzt. »Ich würde gern einchecken«, sage ich und bekomme einen knittrigen Zettel, auf den ich meine Kreditkaten notieren soll. Ich muss die Karte drei Mal in den Schlitz stecken, bis die Tür öffnet. Die schlechte Bewertung des Hotels ist nicht übertrieben. Das Zimmer ist klein und schmutzig. Ein Doppelbett voller Brandlöcher, viele schwarze, kräuselige Haare auf dem Laken. Im Bad fehlen ein paar Fliesen hinter dem Klo, dafür wächst dort Schimmel. Ein Ort, an den Kakerlaken gehen, um zu sterben. Ich bin keine zehn Minuten im Zimmer, da beginnt meine Haut fürchterlich zu jucken. Ich muss hier raus. Meine Reisetaschen möchte ich nicht allein dort stehen lassen, also nehme ich sie wieder mit ins Auto und mache mich auf den Weg zu McDonalds. Auf dem Weg iere ich ein DaysInn-Hotel. Eine billige, aber brauchbare Kette. Ohne lang zu überlegen, biege ich ein und miete noch ein Zimmer für 87 US-$. Das Bett ist groß und sauber, und ich schlafe nach der langen Fahrt wie ein satter Säugling ein. Am nächsten Morgen bringe ich gegen 8 Uhr den Schlüssel ins »Americana
Motel« zurück und google danach auf dem Parkplatz nach Autoteileläden in der Gegend. Die entsprechenden Webseiten sind toll, denn man kann genau nachsehen, was auf Lager ist. Ich finde einen, der die ende Zündspule vorrätig hat, fahre mit dem sich immer noch schüttelnden Auto vor und montiere die neue Spule auf dem Parkplatz. Danach läuft der Motor rund. Bis zur deutschen Schule in White Plains ist es nur eine Stunde Fahrt, sodass ich dort kurz vor dem Mittag auf den Parkplatz rolle. Ich habe Julia noch nie gesehen, aber kurz mit ihr telefoniert. Sie erwartet mich bereits auf dem Parkplatz und ich erkenne sie sofort. Wir verstehen uns auf Anhieb super und sie nimmt mich mit in die Schule. Der Augenblick, als wir von dem typisch amerikanischen Schulparkplatz über die Schwelle in die Schule treten, kommt mir vor, als hätten wir eine Grenze iert. Denn mit einem Mal befinde ich mich tatsächlich wieder in Deutschland. Deutsche Schulbücher, an den Wänden hängen Bilder aus dem Kunstunterricht mit deutscher Beschriftung, die Kinder reden deutsch. Es ist total verrückt. Julia führt mich durch die Schule und stellt mich auch dem stellvertretenden Schulleiter Ed vor. Auch er ist Segler, hat ein kleines Kajütboot im East River liegen und möchte Cati und mich herzlich gern mal zum Essen einladen, um übers Segeln zu reden. Er lebt in Manhattan, direkt am Central Park. Später nimmt er mich netterweise sogar in seinem Auto mit nach Manhattan, und per Bahn erreiche ich den John F. Kennedy International Airport in Brooklyn. Keine zehn Stunden später lande ich in Berlin.
NACH HAUSE MIT DER QUEEN MARY 2
Von Cati
Während Johannes noch in Camden allein auf dem Boot ist und immer mehr in die Ortsgemeinschaft integriert wird, bin ich schon in Deutschland bei meiner Mutter. Diese hat die Chemotherapie sehr gut vertragen und ist auch ansonsten fit. Obwohl sie mir das bereits am Telefon gesagt hatte, wollte ich mir lieber selbst ein Bild machen. Sie untertreibt gern mal, damit wir uns keine Sorgen machen. Deshalb war ich skeptisch, was ihren Gesundheitszustand anbelangt. Nach drei Wochen kommt Johannes nach, und unsere gemeinsame Zeit in Deutschland geht viel zu schnell vorbei. Treffen mit Freunden, Routine-checks bei diversen Ärzten und, als besonderes Highlight, die Einschulung meines kleinen Bruders Alex lassen keine Langeweile aufkommen. Als ich meine Freundin Sarah in Hamburg besuche, platzt es aus mir heraus: »Ich glaube, Johannes macht mir bald einen Heiratsantrag!« Sarah war meine erste Freundin, der ich vor sechs Jahren Johannes vorgestellt hatte. »Wie kommst du da drauf?«, fragt sie. »Puh, also er verhält sich ziemlich auffällig. Er kann echt schlecht Geheimnisse für sich behalten, und irgendwie macht er immer so merkwürdige Andeutungen. Vor ein paar Tagen wollte er sich sogar unbedingt mit mir das Hochzeitsvideo seiner Eltern angucken.« »Kann natürlich auch sein, dass du überall Anzeichen siehst, da du gern einen Antrag bekommen würdest«, schmunzelt Sarah. Sie hat recht. Die vergangenen Monate und Erlebnisse haben verfestigt, was ich schon länger weiß: Ich möchte immer mit Johannes zusammenbleiben und die Frau an seiner Seite sein. »Kann sein«, gebe ich zu. »Aber ich möchte es wenigstens jemandem gesagt haben, sonst werde ich noch verrückt. Wenn es doch nicht stimmt, dann ist es auch okay. Aber irgendwie habe ich so ein Gefühl …« Mitten in die Geschäftigkeit bringt ein Lkw eine Palette nach Wolfsburg auf den
Hof von Johannes’ Eltern. Darauf ein riesiges, knallgelbes Paket: der neue Motor! Johannes freut sich und platzt fast vor Spannung. Mit einer Rollstuhlrampe und vier Leuten wuchten wir das Teil in den Kofferraum unseres Autos. Eine Sache von ein paar Sekunden und beherztem Hauruck. Leider können wir den Motor doch nicht im Frachtraum der QUEEN MARY 2 mitnehmen. Sicherheitsbestimmungen. Deshalb müssen wir ihn privat mit einer Spedition verschicken, was dann gar nicht so einfach ist. Als wir aber endlich alle notwendigen Papiere zusammenhaben und die Rechnung bekommen, staunen wir nicht schlecht: Der Transport per Frachter über den Atlantik kostet nur 50 €. Die Lkw-Fahrt von der Spedition in Braunschweig zum Hamburger Hafen ist hingegen mehr als doppelt so teuer. Das hätten wir nicht gedacht. Am letzten Abend essen wir noch einmal mit der Familie. Wir sind zwar alle traurig über den bevorstehenden Abschied, insgeheim freuen Johannes und ich uns aber auch auf unser Boot. Die MAVERICK TOO ist einfach unser Zuhause. Johannes ist insbesondere Feuer und Flamme, wenn er an den bevorstehenden Motortausch denkt. »Die Herz-OP«, sagt er strahlend. Ich bin weniger begeistert. Ehrlich gesagt stinkt mir die Perspektive, an Land zu müssen und eine große Baustelle zu eröffnen. Natürlich gehört das Basteln auch zu so einer Reise, aber ich kann nicht aus meiner Haut: Ich empfinde einfach keine Vorfreude auf solch einen großen Umbau. Nicht, nachdem wir zwei Jahre in der Halle waren, damit wir unterwegs nicht so viel machen müssen, und gerade erst ein Jahr Ruhe hatten. Sieht man von den kleineren Problemen unterwegs mal ab. Ich befürchte außerdem, dass ich keine große Hilfe sein kann. Die Vorstellung, im Herbst auf dem kalten Boot Schraubenschlüssel anzureichen und nach endem Werkzeug zu suchen, ist ziemlich unattraktiv. Auf die Rückreise zum Boot an sich freue ich mich allerdings sehr. Praktischerweise ist die Gepäckmenge in der Kabine unbeschränkt. Also nehmen wir einen gepolsterten Skisack mit, in dem sich eine neue Welle für den Motor befindet. Johannes hatte Bedenken, dass sich diese durch falsche Lagerung beim Transport verziehen könnte, wenn wir sie zusammen mit dem Motor aufgeben. Daher liegt sie jetzt quer durch unsere Kabine auf dem Boden. Und das völlig kostenlos. Johannes hält vormittags Vorträge, ansonsten ist Entspannung angesagt. Wir nehmen am Nachmittagstee mit Scones teil, schlendern über die Decks, fläzen gemütlich auf dem Bett herum, stibitzen dann und wann eine Crème brûlée vom Büfett und lassen uns beim Abendessen Pfeffer aus einer gigantisch großen
Mühle auf unser Menü mahlen. Wenn wir Lust haben, geht es abends noch in den »Commodores Club« auf einen Absacker, zum Tanzen in die Schiffsdiskothek mit Liveband oder zum Karaoke in die irische Bar. Nicht zum Selbstsingen natürlich. Nach dem letzten der drei formellen Abendessen, zu denen man sich besonders fein anziehen muss, liegen wir ziemlich schick und einigermaßen angeduselt auf unserem Bett. »Hast du noch mal Lust, runterzugehen und ein Bier zu trinken?«, frage ich Johannes. »Wir könnten auch einen Champagner trinken«, meint er. »Champagner? Was ist denn mit dir los?«, frage ich, denn schon von Sekt ist Johannes nicht der größte Fan. »Na ja, also eigentlich wollte ich dich ja draußen an Deck fragen«, beginnt er. »So ganz stilecht. Wir sind nämlich gerade mitten auf dem Atlantik. Aber ausgerechnet heute ist es so windig, und die Außendecks sind gesperrt …« Er kramt in seinem Rucksack, zieht ein weißes Schächtelchen heraus und öffnet es. Darin ist ein kleines Schmuckkästchen. »Jetzt ganz ruhig«, denke ich mir. »Nachher ist das nur ein Scherz, bei ihm muss man ja mit allem rechnen!« Johannes öffnet das Schmuckkästchen, und ein schmaler, silberner Ring mit einem großen Stein wird sichtbar. »Ist das ernst gemeint?«, frage ich ihn vorsichtig. Johannes nickt aufgeregt. »Ehrlich? Du verarschst mich nicht?« Kopfschütteln. Ich kann mich nicht erinnern, dass Johannes mich tatsächlich gefragt hätte, ob ich ihn heiraten will. Aber was soll es anderes heißen, denn es ist tatsächlich ein richtiger, echter Verlobungsring. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Rührung und Begeisterung. Deshalb lache und weine ich abwechselnd und hüpfe auf dem Bett herum. Auch wenn ich es geahnt habe, bin ich sehr überrascht. Meiner Meinung nach hätte es schon einige Möglichkeiten gegeben, und als eine nach der anderen verstrichen ist, habe ich nicht mehr damit gerechnet, dass das demnächst iert. »Champagner?«, fragt Johannes. »Champagner!«, rufe ich fröhlich. Als Verlobte gehen wir in New York von Bord, wo wir eine Woche bei Julia bleiben und eine spannende Zeit verbringen. Schließlich machen wir uns aber wieder auf den Weg zur MAVERICK TOO. Als wir dann das Niedergangsluk aufschieben und uns der vertraute Geruch unseres Zuhauses entgegenkommt, bin ich sofort wieder ganz auf unserer Reise angekommen.
AUF DEM DISMAL SWAMP CANAL NACH NORFOLK
Von Johannes
Viel Zeit zum Eingewöhnen haben wir nicht. Denn schon während der Autofahrt zurück nach Süden kündigt sich Hurrikan Joaquin an, der möglicherweise auch uns treffen soll. Die Segel habe ich noch vor meinem Abflug abgenommen, aber es ist gut möglich, dass wir tagelang den Hafen nicht verlassen können. Deshalb machen wir uns am Folgetag nachmittags auf den Weg nach Elizabeth City, um ein paar Hamsterkäufe zu tätigen. Die Route von der Marina führt den Highway 158 entlang nach Süden. Kurz vor der Stadt ieren wir eine Klappbrücke, und mein Blick fällt auf der Nordseite auf den kostenlosen Steg einer Spedition, an dem häufig Boote auf der Durchreise festmachen. Und heute liegt dort ein strahlend weißer Katamaran. Mit deutscher Flagge! »Wollen wir umdrehen und fragen, ob die auch zum Supermarkt müssen?«, schlage ich vor und wende auch schon. Über den Parkplatz der Spedition erreichen wir den langen, hölzernen Steg und stehen vor dem Schiff mit Heimathafen Hamburg. Name: CHRISTOBEL. »Von Cristóbal Colón?«, denke ich noch, »Christoph Kolumbus?« Hoch ragt der Backbordrumpf vor uns empor. Niemand ist an Bord zu sehen, also klopfe ich. Einmal, dann noch einmal. Die Schiebetür geht auf, und eine Frau kommt heraus. Schlank und sportlich, hochgewachsen und mit streng blickenden blauen Augen. Ein Blick, der sagt: »Was wollt ihr denn jetzt noch?« »Moin«, rufe ich. »Wir haben euch hier liegen sehen und wollten mal fragen, ob ihr zum Supermarkt müsst?« Die Gesichtszüge glätten sich etwas, bleiben aber skeptisch. »Das ist ja nett. Wo kommt ihr denn her?« »Wir liegen um die Ecke in
Lamb’s Marina.« Kurz darauf kommt auch ein Mann ins Cockpit, stellt sich als Torsten vor. »Wir sind vorhin erst angekommen, hatten eine stressige Fahrt«, erklärt er. »Aber wie wär’s, wenn wir das morgen machen?« Klar. Am nächsten Morgen sind die beiden ausgeschlafen, und wir sammeln sie mit dem Chevy am Hafen ein. Wir kommen ins Plaudern. Vor sechs Jahren haben Torsten und Christine Deutschland verlassen, waren lange im Mittelmeer und sind nun schon zwei Jahre auf dieser Seite des Atlantiks. Sie waren gerade auf dem Rückweg von New York nach Florida, als der Hurrikan aufgezogen ist. »Unser Mast ist 63,5 Fuß hoch, die Brücken nur 65 Fuß. Meist t es. Aber durch den Hurrikan ist das Wasser nun so sehr gestiegen, dass wir mit dem Mast gegen die Brücke geknallt sind«, erzählt Christine. Deshalb waren die beiden am Vortag so fertig und genervt. Sie mussten gut 60 Seemeilen zurückfahren und wollen nun einen neuen Anlauf innerhalb der Outer Banks wagen, sobald das Wetter besser wird. Denn sie haben bereits einen Krantermin für das Schiff in Florida, außerdem zwei Flugtickets für einen Besuch in Deutschland. »Vielen Dank, dass ihr uns mitnehmt. Bei Walmart gibt’s immer gute Deals«, sagt Torsten. Eine ganze Wagenladung voller Trinkwasserkanister wandert in den Kofferraum unseres Autos. »Was haltet ihr davon, wenn wir gleich als Dankeschön zusammen grillen?« Liebend gern! Ihr Katamaran ist schon 14 Jahre alt, aber perfekt gepflegt. In Socken schliddere ich über das strahlend weiße Vordeck und bestaune das enorm stabile Rigg. Unter Deck sieht der Kat aus wie ein richtiges Langfahrtschiff. Bordcomputer, fest installiertes Iridium-System, Kurzwelle, Watermaker. Alles, was das Herz begehrt. Torsten baut den Grill im Cockpit auf. Ein Weber-Grill mit Gasbefeuerung. Während Christine innerhalb kürzester Zeit einen Salat schnippelt, zaubert Torsten uns ein paar perfekte Steaks. Und wir kommen ins Gespräch. Der Bootsname CHRISTOBEL setzt sich aus den Anfangsbuchstaben von Christine, Torsten und dem Schiffstyp Belize zusammen. Clever! »Aus Jork an der Elbe kommt ihr?«, staune ich, »Mensch, da habe ich meine erste kleine MAVERICK gekauft!« Und plötzlich erinnert sich Christine, dass sie sogar mal mein Buch gelesen hat. »Irre, dich nun hier mitten in North Carolina zu treffen«, sagt sie. Dann fährt sie fort: »Ich hatte mal ein Haus in Jork und habe Ferienwohnungen vermietet. Das Haus habe ich dann vor der Abfahrt an ein Paar verkauft, das gerade von einer Weltumsegelung mit einem Kat zurückgekommen war.« Ich stutze. Die Geschichte habe ich schon mal gehört, nur aus der anderen Perspektive. Denn vor einigen Jahren habe ich in Jork den
Weltumsegler Michael Herbst interviewt, der mir erzählte, dass er ein Haus von einem Paar gekauft hatte, das gerade mit dem Kat auf Langfahrt gehen wollte. Unglaublich. So klein ist die Welt. Wir verabreden uns für Dezember in Florida, bedanken uns für die Gastfreundschaft und machen uns wieder auf den Weg zurück zur MAVERICK TOO. Am nächsten Morgen verfolge ich auf Marinetraffic, dass die CHRISTOBEL unterwegs ist. Gut für sie! Die nächste Woche verbringen wir größtenteils in der Marina. vom Hurrkan bekommen wir glücklicherweise wenig mit, aber fast eine ganze Woche bin ich mit einer Geschichte für die Yacht beschäftigt. Kaum bin ich damit fertig, beginnen wir mit Jim ein schönes Projekt. Da unser Autopilot im Eimer ist, müssen wir bei Motorfahrt immer selbst hinter dem Rad stehen und steuern. Bei einer Kanalfahrt sowieso. Und das Gestehe geht ganz schön auf Rücken und Beine. Deshalb habe ich schon lange den Plan, eine Sitzbank an den Heckkorb zu bauen. Auf den Bahamas habe ich am Strand eine große Bohle gefunden, die sich dafür eignen könnte und die seit Monaten in der Backskiste lagert. Leider ist sie dann doch zu kurz, und wir müssen Holz kaufen. Und wer wäre besser als Bauleiter geeignet als unser Holzexperte Jim? Zwei Tage lang sägen, hobeln und schrauben wir, dann ist sie fertig: eine wunderbare Holzsitzbank, fortan die Zierde unseres Cockpits. Bequem, stabil und sogar mit zwei Becherhaltern, damit ich morgens nach dem Ankeraufgehen genüsslich meinen Kaffee trinken kann. Nach drei Monaten in Camden wird es langsam Zeit, dass wir weiterziehen. Mittlerweile ist es Mitte Oktober, und es wird langsam kalt. Dennoch nehmen wir Kurs Nord und wollen über den Dismal Swamp Canal in die Chesapeake Bay fahren, um dort den neuen Motor einzubauen. Vor vielen Jahren habe ich mal in einem Buch von den Hiscocks Bilder des Dismal Swamps gesehen. Und seitdem wollte ich irgendwann mal dort durchfahren. Ich bin gespannt auf die Landschaft und die vielfältige Tierwelt. Dort soll es zahlreiche Schildkröten und schwimmende Schlangen geben und natürlich Unmengen an Vögeln. Sogar eine Krokodilart soll dort vorkommen, und in unserem Navigationsprogramm wird mehrfach vor Bären gewarnt. Für die 50 Seemeilen dorthin habe ich zwei Tage kalkuliert, denn andere Segler haben uns geraten, nicht zu schnell zu fahren. »Es schwimmen eine Menge Äste und Holzstämme darin herum«, sagt uns ein Nachbar aus Lamb’s Marina. Und tatsächlich kollidieren wir mehrfach mit Ästen. Meist geraten sie in die Schraube, und es knallt gewaltig. »Gut, dass wir den Motor bald tauschen«, sage
ich. Immer wieder mal kreuzt eine schwimmende Schlange unseren Weg, quer über den Kanal. Ich habe schon in der Marina des Öfteren morgens Schlangen gesehen, die über Nacht in den großen Auspuffrohren der Motoryachten geschlafen haben. Morgens verschwinden sie dann, um abends zurückzukehren und sich wieder in den Auspuffrohren zusammenzurollen. Wir verbringen die Nacht an einem kostenlosen Steg auf der Hälfte des Kanals. Ein idyllischer Ort, eingerahmt von Bäumen und Seerosen. Cati sammelt an Land ein paar Tannenzapfen für unsere Weihnachtsdekoration. »Was für ein herrlicher Liegeplatz für die Nacht«, notiere ich am nächsten Morgen, als der Nebel noch tief über dem Gewässer liegt und sich mit dem Dampf unseres kochenden Kaffeewassers mischt. Gegen 8 Uhr lichtet sich der Nebel, und wir dampfen los. »Dreimal Kontakt mit Treibholz, zweimal Schraube, einmal Skeg«, ergänze ich. »Jedes Mal knallt es ordentlich, und ich reduziere die Fahrt auf 4,5 Knoten. Der Schleusenmeister in Deep Creek ist ein echtes Original und im ganzen Landkreis bekannt, da ihm die Segler karibische Conch-Muscheln mitbringen, auf denen er die schönsten Töne spielt. »Hast du gerade Zeit, mir zu helfen?«, fragt er. Und kurz darauf sitze ich im Schleusenwärterhaus, schließe Tore und öffne Ventile, während der Wärter auf der anderen Seite dasselbe tut. »Danke, damit hast du die Schleusenzeit um zehn Minuten verringert«, sagt er. Als Dank spielt er uns ein paar Töne auf seinen Muscheln. »Diese hier ist ein bisschen verstimmt. Wird Zeit, dass ich eine neue bekomme.« Die Fahrt durch Norfolk und vorbei am amerikanischen Flottenstützpunkt ist ein tolles Erlebnis. Nur ein paar Hundert Meter liegen zwischen uns und den großen Atom-Flugzeugträgern. Dazwischen aber immer ein schwer bewaffnetes Patrouillenboot der Navy, das darauf achtet, dass wir nicht zu nah kommen. Die Bucht öffnet sich, und vor uns liegt die Chesapeake Bay. Für die Nacht finden wir einen Ankerplatz zwischen einer Highwaybrücke und dem alten Fort Monroe, das eine maßgebliche Rolle im Sezessionskrieg gespielt hat. Unsere Kette rasselt drei Minuten lang ins Wasser vor dem Fort, dann geht der Motor aus. Feierabend. Am nächsten Morgen wollen wir den Anker an Bord holen, da macht die Winsch komische Geräusche. Gar nicht mehr so komisch finde ich es, als ich erkenne, dass da am Haken ein 4 Zentimeter dickes Kabel hängt, straff gespannt, knapp unter der Wasseroberfläche. Vorsichtig tauche ich meine Hand ins Wasser und befestige einen Stropp am Vorderteil des Ankers, sichere ihn auf der Klampe und
lasse Kette nach. Der Anker klappt um, das Kabel versinkt. Puh. Später lese ich, dass angeblich ein Hochspannungskabel quer durch die Bucht verläuft. Das hätte böse ausgehen können. Merkwürdig, dass hier trotzdem ein Ankerplatz verzeichnet ist. Die letzten 42 Seemeilen motoren wir mit etwas mehr Gas als üblich und 5 Knoten Fahrt nach Norden, bis wir im Nordosten der Halbinsel, auf der Deltaville liegt, nach Westen drehen und ins Fahrwasser einbiegen können. Deltaville kenne ich gut. Vor acht Jahren war ich mit Egmont Friedl hier, um seine Westsail 32 abzuholen. Vor der Überführung nach Europa haben wir das Schiff hier über eine Woche lang auf die Atlantiküberquerung vorbereitet. Der Ort gefiel mir damals gut. Vor 30 Jahren war Deltaville ein kleines Farmdorf mitten im Nirgendwo. Doch dann wuchsen die Marinas und Servicebetriebe, und heute ist der immer noch winzige Ort mit rund 1.100 Einwohnern das blühende Zentrum der Marineindustrie in Virginia. Egal, was am Boot gemacht werden muss, ob Lagerung oder Renovierung – in Deltaville ist es möglich. Und alles kostet nur etwa halb so viel wie in Florida. Werften gibt es in Deltaville zuhauf. Doch unsere Freunde Siggi und Hein hatten uns das Rivertime Boatyard empfohlen. Deren Besitzer Doug war früher Geschäftsführer einer der größten Werften in Deltaville. Ein toller Posten, aber eben nur als Angestellter. Als dann irgendwann ein Stück Land am Hafen frei wurde, hat sich Doug selbstständig gemacht und bietet nun konkurrenzlose Preise an. Doch jetzt am Abend sind dort alle drei Stegplätze belegt. Wir machen daher in einer anderen Marina fest, aber dort ist niemand mehr im Büro, der uns die Stromsäule für den Heizlüfter aufschließen und den Internetcode geben könnte. Warum sollten wir dann 35 US-$ zahlen? Also legen wir wieder ab und werfen mitten im Hafenbecken zwischen den Marinas den Anker. Dort ist bei Active Captain ein Ankerplatz eingezeichnet, und niemand beschwert sich. Der Handyempfang ist gleich null, und das Satellitentelefon braucht ein Softwareupdate. Also ist es unmöglich, bei der Customs and Border Protection anzurufen und unseren Liegeplatz durchzugeben. Wir verschieben das auf morgen und hoffen, bis dahin nicht kontrolliert zu werden.
DELTAVILLE, DAS DORF VOLLER BOOTE
Von Johannes
Am nächsten Morgen hebt uns Doug mit seinem Travellift an Land. Wir sind ziemlich erleichtert, als wir MAVERICK TOO von unten sehen. Kaum eine Pocke am Rumpf, gar kein Bewuchs. Wir hatten im klaren Bahamaswasser schon erkennen können, dass das Unterwasserschiff recht gut aussieht und unsere Laminierarbeiten aus der Osmosebehandlung offensichtlich halten. Allerdings haben wir das Boot danach drei Monate nicht bewegt. Aber das schwarze Wasser hat offenbar verhindert, dass am Rumpf etwas wächst. Morgen werden wir dann mit der Demontage des alten Motors beginnen. Der neue ist gerade an Bord der OSAKA EXPRESS mitten auf dem Atlantik unterwegs zu uns. Aber für heute ist unsere Tagesaufgabe geschafft. Feierabend. Denn gleich kommen Siggi und Hein zu Besuch. Mit den beiden stehe ich schon seit 2011 in Kontakt, nachdem ich im Internet über ihre Geschichte gestolpert bin: Siggi und Hein sind beide unabhängig voneinander Anfang der 1950er-Jahre von Deutschland nach Kanada ausgewandert. Hein fand einen Job als Holzfäller, während Siggi bei der Angabe ihrer Fähigkeiten aufgrund ihrer noch mangelnden Englischkenntnisse zur Krankenschwester wurde. Dabei hatte sie in Deutschland nur in der Krankenhausküche gearbeitet. Irgendwann verletzte sich Hein beim Baumfällen ins Bein, landete im Krankenhaus und die beiden trafen sich. Einige Jahre später hatten sie dann die Idee, um die Welt zu segeln. Das Boot dafür baute Hein selbst, im Wald hinter dem Wohnwagen, in dem sie lebten. Dafür ließ er sich Pläne aus England schicken, aus dem berühmten Konstruktionsbüro Laurent Giles aus Lymington. Die Columbia Class hatte es ihm angetan. Eine Weiterentwicklung des 19 Fuß langen Kleinkreuzers SOPRANINO, mit dem Konstrukteur Colin Moody als Beweis dafür gezeichnet hat, dass kleine Boote oft seetüchtiger sein können als große, da sie den Seen
weniger Widerstand bieten, dafür an der Oberfläche schwimmen wie ein Korken. SOPRANINO segelte bis nach New York, die erste Columbia Class namens TREKKA ihren Erbauer John Guzzwell sogar um die Welt. Im Mai 1962 verluden Siggi und Hein Zenker ihr fast fertiges Schiff auf einen Trailer und zogen nach Kalifornien. Dort ging THLALOCA – nach der aztekischen Göttin des Wassers – im Frühjahr 1963 zu Wasser, und das Abenteuer begann. Drei Jahre lang umsegelte das Paar die Welt auf der atroute und trug dabei als erste Yacht die neue kanadische Flagge mit dem Ahornblatt um die Welt. Doch geboren waren beide in Deutschland. Siggi besaß sogar noch den deutschen . Und das machte sie zugleich zu den allerersten deutschen Weltumseglern, noch vor dem Ehepaar Elga und Ernst-Jürgen Koch, das ein Jahr später gestartet war, immer im Kielwasser der Zenkers segelte und sich dessen wohl bewusst war. Dennoch kehrten die Kochs nach Hamburg zurück und ließen sich als erste deutsche Weltumsegler feiern und verkauften mehrere Hunderttausend Exemplare ihres Buches Hundeleben in Herrlichkeit. Als Hein und Siggi einige Jahre später mit der nur 6,50 Meter langen THLALOCA über den Nordatlantik nach Deutschland segelten, wollte die Segelpresse dort nichts von ihrer Weltumsegelung wissen. Kein Wunder, denn sonst hätten sie ja die Geschichte umschreiben und aus den Bestsellerautoren Koch die »zweiten deutschen Weltumsegler« machen müssen. Deshalb war es mir 2011 eine große Ehre, eine siebenseitige Geschichte über »Die vergessenen Weltumsegler« für die Yacht zu schreiben und diesen Fehler wiedergutzumachen. Ich glaube, Hein und Siggi haben sich über den Artikel sehr gefreut. Denn damals nahmen sie in Deutschland ziemlich betrübt wieder Kurs auf die USA. Über das Mittelmeer. Den Rhein hinauf ließ sich das Paar größtenteils von Frachtschiffen schleppen, da der kleine 3-PS-Seagull-Außenborder nicht gegen den starken Strom ankam. Die Rückreise machte THLALOCA als Frachtschiff, denn der Rumpf des kleinen Bootes war vollgepackt mit Ausrüstung für ihre neue THLALOCA DOS, die Hein 1973 auf Kiel legte. Ein wunderbarer, zwölf Meter langer, hölzerner Kutter aus der Feder von Maurice Griffith. Seitdem hat das Paar mit diesem Schiff 50.000 Seemeilen geloggt, viermal den Atlantik überquert und unzählige Trips in die Karibik im Kielwasser. Kaum steht MAVERICK TOO an Land, da kommt auch schon ein roter Mercedes mitten in einer großen Staubwolke auf den Platz gerollt. Hein fährt einen heißen Reifen. Das Schiff erkennen sie sofort, denn sein Name ist nicht zu
übersehen. Hein steigt aus und geht geradewegs an mir vorbei zum Schiff. »Hey, Hein, hier sind wir.« »Mensch, wo sind denn deine Haare geblieben? Ich hab dich gar nicht wiedererkannt!« Das Cockpit ist gut drei Meter über dem Boden, aber die beiden lassen es sich nicht nehmen, sich unser Zuhause einmal von innen anzuschauen. Ehe wir uns versehen, haben sie die Leiter erklommen und sind unter Deck, bestaunen unser Schiff. »Es hat viel Platz für 33 Fuß«, meint Hein. Und dann entdeckt er unsere Bordkuh Ricky und nimmt sie auf den Arm. »Was bist du denn für ein komischer Hund?« Ich könnte schwören, dass Ricky in diesem Augenblick geschaut hat, wie eine Kuh wenn’s donnert. Sein Blick … »Ein HUND?« Siggi lacht sich kaputt. »Aber Hein, das ist doch eine Kuh!« In den kommenden vier Wochen sind wir ständig bei Siggi und Hein zu Gast, fühlen uns dort pudelwohl und wie zu Hause. Jedes Mal, wenn ich nur kurz zum Werkzeugausleihen nach White Stone fahren will, bleiben wir zum Mittag, Kaffee und nicht selten auch Abendessen bei ihnen. Wir können uns nicht loseisen, denn das Paar ist zu faszinierend, ihre Geschichten zu fesselnd. Sie sind die letzten Segler einer Generation, die noch mit einfachsten Schiffen unterwegs war. Die Kurse, die sie mit ihren Booten einschlugen, waren zuvor noch nie von Yachten gesegelt worden. Und obwohl sie nun schon über 80 Jahre alt sind, haben sie ihre THLALOCA DOSimmer noch. Diese liegt in Kilmarnock an einem Steg, frisch überholt und bereit zur Abfahrt. Ob sie noch eine Reise unternehmen werden? »Och, so einen kleinen Törn würd ich ja gern noch mal machen«, erzählt uns Siggi eines Nachmittags beim Kaffee, »Nicht so weit, aber vielleicht noch mal bis Beaufort, noch einmal unterwegs sein.« Der Umbau unseres Motors zieht sich in die Länge. Denn wir müssen zehn Tage warten, bevor die neue Maschine nach dem Ausladen des Frachters endlich in New Jersey gefunden wird. Erst dann können wir den Motor abholen und uns an den Einbau machen. Der Morgen nach der Rückkehr aus New York fühlte sich für mich an wie Weihnachten. Auspacken, bestaunen, ein bisschen rumspielen. Ich liege den halben Vormittag mit einer Tasse Kaffee neben dem Motor im Kofferraum, lese das Handbuch, schlürfe Kaffee und staune. Was für ein Prachtmotor. Ein frisch gebackener Vater könnte nicht stolzer sein. Und natürlich stelle ich Vergleiche mit dem grünen Ungetüm an, mit dem ich in den vergangenen Monaten so vertraut geworden bin. Impellerwechsel? Jetzt ohne Verrenkungen. Getriebeöl? Ohne Werkzeug prüfbar. Lichtmaschine? 15 Ampere mehr Ladeleistung. Wahnsinn. Die Werft hebt den neuen Motor ins Schiff, und der erste Anblick ist eher
ernüchternd. Der Getriebeflansch, an den die Welle angebolzt werden soll, steht gut 20 Zentimeter über der Welle. Der alte Motor war hinten sehr schmal und saß zwischen den Fundamentbacken. Der neue ist eher breit und steht nun genau darüber. Also muss das ganze Fundament geändert werden … Immer wieder gibt es Rückschläge, denn alles an Bord ist metrisch, in den USA aber beinahe alles zollig. Der Unterschied ist klein: 25 Millimeter gegen 25,4 Millimeter (ein Zoll). Aber bei der Welle, die genau durch ein Lager gedrückt wird, sind 0,4 Millimeter schon eine ganze Menge. Zwar gibt es in den USA auch metrische Boote und Teile (Beneteau und Jeanneau), aber nur die Standardmaße. Das Standardwellenlager für eine 25-Millimeter-Welle hat beispielsweise einen Außendurchmesser von 40 Millimetern, unseres aber einen Durchmesser von 38,1 Millimetern. Da lässt sich nichts dengeln. Also bestellen wir ein endes Lager aus Italien über Bremen nach Deltaville. Da der Motor auch ein Stück weiter vorn stehen wird, muss die neue Welle, die wir aus Deutschland mitgebracht haben, etwas länger sein. Den alten Propeller nach sicherlich 20 Jahren abzubekommen, ist nicht einfach und geht nur mit vereinten Kräften von einem Werftmitarbeiter und mir. Und einer Menge Vertrauen. Ich halte den Meißel, er schlägt. Irgendwann fällt der Propeller zu Boden. Als Nächstes muss ich das Wellenlager tauschen. Zwei Tage lang säge ich von innen mit einer feinen Eisensäge kleine Keile in das Messingrohr und trenne es mit einem Stechbeitel raus. Das neue Lager liegt im Tiefkühlfach, um den Umfang des Metalls möglichst klein schrumpfen zu lassen. Für den Wiedereinbau habe ich genau 30 Sekunden. Raus aus dem Kühlfach, die Leiter runter, in das Wellenrohr reinstecken, Stück Holz dazwischen und dann fünf ordentliche Schläge mit dem großen Hammer. Beim fünften Schlag bewegt es sich schon nicht mehr, es ist schon zu warm geworden. Aber es reicht, das Lager ist weit genug drin. Puh. Ich stecke die Welle ein und markiere die nötige Länge. In einem Maschinenshop lasse ich das massive Edelstahlrohr end kürzen und stecke es durch den Rumpf. Cati erwärmt den neuen Propeller mit dem Gasbrenner, und wir spielen das gleiche Spiel wie mit dem Lager, nur dass das Lager zu wachsen begann, der Propeller nun aber zu schrumpfen. Ein paar Hammerschläge, und der Propeller sitzt bombig fest auf der Welle. Doch dann sehe ich, dass ich die Welle nicht weit genug habe kürzen lassen. Aber nun bekomme ich sie nicht
mehr heraus, ohne den Propeller zu demontieren. Also klebe ich den Maschinenraum am nächsten Morgen so steril wie für eine OP ab und beginne, den ganzen Vormittag lang auf dem Motor liegend die Welle von Hand zu kürzen. 25 Millimeter massiven Edelstahl mit der Eisensäge. Drei Stunden und drei Sägeblätter später ist das Rohr gekappt, und ich kann alles wieder zusammenbauen. Die Welle ist frei von Sägespänen. Das ist wichtig, denn ansonsten würde der Flansch der Bullflex nicht sauber klemmen. Alles ist bereit: Ich kann den Motor nun ausrichten, festschrauben und final montieren. Dafür nehme ich mir zwei Tage Zeit. Am Ende t das Fundament perfekt, und Motor und Welle sind ganz genau aufeinander ausgerichtet. Es wird auch Zeit, dass ich fertig werde, denn Cati hat von den Bauarbeiten langsam genug. Eines Abends sind wir wieder einmal bei Siggi und Hein eingeladen. Nach dem Essen sitzen wir noch lange beisammen, und die beiden berichten davon, wie es war, in den frühen 1960er-Jahren durch die Südsee zu segeln. Für mich alten Seefahrtsnostalgiker sind die beiden ein Wunder, denn sie können mir auf viele Fragen, die mich schon lange beschäftigen, eine Antwort geben. Wir kommen auf mein altes Betonschiff EYOLA zu sprechen. Das haben sie nie getroffen. »Aber habt ihr mal von VARUA gehört? Die hat damals viel Zeit in der Südsee verbracht.« »Hein, war das nicht das Schiff, das damals immer in Papeete an der Pier lag?« Schnell rufe ich ein Foto auf dem iPad auf. Tatsächlich: Sie ist es. Irgendwann kramt Siggi im Bücherregal und kommt mit einem alten, amerikanischen Kalender von 1943 zurück: »Das war unser Gästebuch während der Weltumsegelung. Wir hatten kein anderes Buch, das wir verwenden konnten.« Mir bleibt die Luft weg. Ein Gästebuch? Wer mag sich dort alles verewigt haben? Siggi legt das Buch vor mir auf den Tisch und ich betrachte es, als wäre es eine kostbare Erstausgabe. Vorsichtig schlage ich es auf, lese die ersten Seiten. »Nein, den habt ihr getroffen?«, erkenne ich Namen wieder. »Den auch? Irre.« Ich blättere und blättere. Mir bekannte Namen vieler Segelpioniere, über deren Geschichten ich mal gestolpert bin, weiß, was sie geleistet haben, aber darüber hinaus nichts mehr erfahren konnte, weil sie keine Bücher geschrieben hatten. »Den haben wir zum Essen eingeladen«, erzählen die beiden dann immer und ergänzen bei jedem Namen, den ich erwähne, »auch schon tot.« Ich blättere weiter. »Jean Gau mit seiner ATOM?« »Ja, ein verrückter Typ. Auch schon tot.« »Irving und Exy Johnson mit ihrer YANKEE?« »Ja, mit denen sind wir quer durch die europäischen Kanäle motort.« »Frank Casper mit seiner ELSIE! Den kanntet ihr auch?« Casper hatte dem hölzernen Spitzgatter
LIBERIA IV von Hannes Lindemann ein zweites Leben geschenkt, der vor allem durch seine Atlantiküberquerung im Faltboot berühmt geworden war. »Frank, aber klar. Der ist später vor Bermuda auf ein Riff gelaufen. Tot.« Ja, am Leben ist von all den Menschen wohl niemand mehr. Hein und Siggi sind die letzten aus dieser Zeit. Und es freut uns jedes Mal von Herzen, wenn wir sie treffen, dass sie noch so jung und fit wirken und es ihnen noch so gut geht. Gut vier Wochen dauert es, bis die Maschine installiert ist und wir wieder zurück ins Wasser können. Gut 24 Stunden nach dem Wassern hängt der Motor allerdings wieder im Niedergang. Denn das Schiff hat sich in den vier Wochen auf dem Kiel stehend derart verformt, dass nun im Wasser ein erneutes Ausrichten von Motor auf Welle nötig ist. Doch danach bin ich zufrieden. Wir können los. Vorher muss ich aber noch eine Geschichte über die Bahamas abschließen, auf die mein Arbeitgeber schon seit ein paar Wochen wartet. »Kommt doch nach Irvington«, schlägt Hein vor. »Dort könnt ihr neben THLALOCA DOS festmachen.« Und das machen wir auch. Die 10,6 Seemeilen stellen eine gute Probefahrt für die neue Maschine dar. Ein tolles Gefühl, wieder Dampf im Schiff zu haben. Wir motoren mit 2.000 bis 2.300 Umdrehungen spielend gegen 25 Knoten Wind an und machen bis zu 5 Knoten Fahrt über Grund. Mit dem alten Motor wären es eher 3,5 Knoten gewesen. Eine ganze Woche noch liegen wir am Steg in Irvington, dann wird es für uns schließlich Zeit, Abschied von Siggi und Hein zu nehmen. Wer weiß, wann und ob wir uns jemals wiedersehen werden? Ein tolles Andenken von den beiden liegt allerdings nun in der Backskiste der MAVERICK TOO: Ein Zweitanker. Und nicht irgendeiner: Ein originaler Klappanker von einem Flugboot aus dem Zweiten Weltkrieg. Für mich alten Sammler von Nautiquitäten hätte es kein schöneres Geschenk geben können. Und mit den Zweitanker sind wir nun gewappnet für einen zweiten Besuch in den Bahamas.
ICH WILL PALMEN
Von Cati
Wir haben unseren Freunden in Camden versprochen, dass wir auf dem Rückweg wieder in Lamb’s Marina anlegen. Außerdem mögen wir die Aussicht, dort wieder Landstrom zu haben, um den Heizlüfter betreiben zu können. Mittlerweile ist es nämlich vor allem eines: kalt! Darauf habe ich so langsam keine Lust mehr. Frieren kann ich auch in Deutschland. Ich sehne mich mehr und mehr nach Sonne und Badewetter. Da trifft es sich gut, dass Johannes’ jüngere Schwester Susi zu Besuch kommen möchte. Auch läuft unser Cruising Permit zum Ende des Jahres aus. Durch unseren Deutschlandaufenthalt dürften Johannes und ich noch länger in den Staaten sein, aber die Befahrenserlaubnis für MAVERICK TOO ist nur ein halbes Jahr gültig. Daher müssen wir am 31. Dezember das Land verlassen. »Wir könnten mit Susi auf die Bahamas segeln«, schlägt Johannes vor. »Wir sammeln sie an Weihnachten in Florida ein und segeln zu Silvester nach Bimini.« Ich bin direkt begeistert von der Idee. Wir träumen davon, als Nächstes in den Pazifik zu fahren. »Ob wir jetzt von den USA oder den Bahamas nach Panama aufbrechen, ist ja auch ganz egal«, finde ich. »Hauptsache warm. Oh, ich freue mich so, dass sie auch die schönen Inseln sehen kann!« Susi ist ebenfalls schnell von unserer Idee überzeugt. Damit haben wir endlich wieder einen Plan: Wir holen Susi am 25. Dezember in Miami ab! Nur sind es noch über 1.000 Seemeilen bis dahin. Als das Wetter t, geht es wieder nach Süden. Wieder zurück durch die Chesapeake Bay, zurück durch den Marinehafen Norfolk. Allerdings stellt uns die Kälte auf eine harte Probe. Zwiebellook, lange Unterhosen, Mützen. Wir nehmen uns vor, in Camden auf jeden Fall Handschuhe zu kaufen. Die hatten wir selbst in Europa nicht gebraucht, als es kalt war, und deshalb sind auch keine an Bord. Im Dismal Swamp Canal ist es dafür umso wärmer. Durch das dichte
Blätterdach kommt der schwache Wind nicht bei uns an, sodass wir sogar ohne Jacke draußen sein können. Dadurch ist die Wasseroberfläche absolut unbewegt, und die Bäume, Blätter und Farben spiegeln sich darin. Ich schieße schöne Fotos, auf denen teilweise nicht zu erkennen ist, was Wirklichkeit und was Spiegelung ist. Vor fünf Wochen war die Fahrt schon toll, aber jetzt ist sie einfach umwerfend. Ich sitze auf dem Vorschiff und gebe Handzeichen, sobald ein Baumstamm im Wasser zu sehen ist. Johannes steuert. Dazu Kaffee und Stullen, der Motor brummt wie eine übergroße Hummel, und die Sonne taucht alles in goldene Farben. Und nicht ein Boot kommt uns entgegen. Wieder einmal sind wir die Nachzügler. Viel zu schnell kommt die zweite Schleuse in Sichtweite, und das Hauptstück des Dismal Swamp Canal ist geschafft. Lamb’s Marina liegt etwa 6 Seemeilen von der Schleuse entfernt. Allerdings Luftlinie. Der Fluss schlängelt sich durch das Land, schlägt etliche Haken und beschreibt manchmal fast sogar einen Kreis. Dadurch ist die zu fahrende Strecke wohl eher dreimal so lang, und so überlegen wir kurz, bis zum Morgen zu warten. Doch die Sonne sinkt immer weiter, und bevor wir noch mehr Zeit verlieren, das Für und Wider abzuwägen, legt Johannes wieder den Gang ein, und wir sind flink nach Camden unterwegs. Mein Herz wummert vor Anspannung. »Hoffentlich schaffen wir es noch im Hellen«, denke ich. Kurz darauf setzt die Dämmerung ein, und uns geht auf, dass eine Übernachtung am Pier doch keine so schlechte Idee gewesen wäre. Wir werden zwangsläufig im Dunkeln ankommen. »Hoffentlich rammen wir nichts im Dunkeln! Oder geraten in seichtes Wasser«, lasse ich meinen Gedanken freien Lauf. Wir wissen jedoch, dass der Fluss irgendwann breiter wird und damit die Wahrscheinlichkeit einer Kollision drastisch abnimmt. »Umkehren können wir jetzt auch nicht mehr«, sagt Johannes. »Wenn wir ankommen, ist es genauso dunkel und der Fluss extrem eng!« Wir haben also keine andere Wahl, als die Geschwindigkeit noch etwas zu erhöhen und zu hoffen, dass alles gut geht. Mit dem letzten Tageslicht erreichen wir die Verbreiterung. Danach herrscht absolute Dunkelheit. Wir sind mitten im Wald. Kein Stern am Himmel, der Mond soll erst später aufgehen. Trotzdem immer noch mit reichlich Geschwindigkeit unterwegs, vertrauen wir blind dem Kartenmaterial und schießen durch das Schwarz. Und tatsächlich schaffen wir es, heil in Lamb’s Marina anzukommen. Unser Freund Jim ist überrascht, als wir im Dunkeln in die Marina getuckert kommen, schließlich hat er erst in zwei Tagen mit uns gerechnet. Plötzlich sind alle unsere Bekannten am Steg, nehmen die Leinen an und begrüßen uns mit »Welcome home«. Tatsächlich, irgendwie zu Hause. Sogar
»unser« Liegeplatz wartet auf uns, und so werden aus den ein, zwei Tagen, die wir bleiben wollten, am Ende sieben.
HILTON HEAD ISLAND
Von Johannes
Das Handy rappelt neben mir auf der Steuerbank. »Forrest Dyar« lese ich. Mann, den Namen habe ich schon acht Jahre nicht mehr auf meinem Handy gesehen. »Hallo, Forrest«, nehme ich den Anruf entgegen. »Wie geht es dir?« Mit der vertrauten Stimme am Ohr motore ich durch das Schilf South Carolinas und über den Port Royal Sound hinein in den Kanal zwischen Hilton Head Island und dem Festland. Und plötzlich überkommt mich ein überwältigendes Gefühl von Nach-Hause-Kommen. Wo wir sind, will Forrest wissen. »Wir haben gerade Hilton Head Island erreicht, brauchen noch etwa eine Stunde bis in die Marina.« »Super, dann erwarte ich euch da. Weißt du noch, wo meine Box ist? Da kannst du festmachen.« »Aber klar, ganz hinten, die vorletzte.« Schon eine halbe Stunde später sehe ich den markanten Leuchtturm am Horizont, der die Einfahrt zur Harbour Town Marina markiert. Eine gewaltig große Attrappe aus Holz, aber irgendwie schick. »Lass uns noch kurz tanken«, schlage ich vor. »Dann sind wir wieder voll und können übermorgen direkt los.« Also gehen wir in der Einfahrt an Backbord längsseits an die Tankpier. Der Hafenmeister kommt heraus und begrüßt uns. »Ihr müsst MAVERICK TOO sein, willkommen auf Hilton Head! Forrest hat euch schon angekündigt.« Noch während ich den Tank fülle, klopft mir jemand auf die Schultern. Es ist mein alter Freund Forrest. »Schön, dich zu sehen!«, sage ich. Und das meine ich wirklich. Exakt zehn Jahre ist es her, dass wir uns hier in diesem Hafen kennengelernt haben. Damals war ich mit MAVERICK gerade auf dem Weg die Ostküste der USA hinauf. Tage vorher hatte ich mit einer alten Schulfreundin gechattet, die gerade ein Jahr als Au-pair in den USA war. Sie schrieb mir, dass ihre Gastfamilie die kommende Woche Urlaub auf Hilton Head Island machen würde und sie dann auch dort wäre. Ich schlug meine Karten auf und tatsächlich, ich
würde zur selben Zeit in der Gegend sein. Ich verbrachte zwei wunderbare Tage mit Kristina und ihrer Gastfamilie, doch dann wurden mir die Liegekosten in dieser Nobelmarina zu teuer. Ich war gerade im Begriff, die Leinen wieder loszuwerfen, da ging auf dem Nachbarschiff die Tür auf, und Forrest schaute raus. Der Trawler war mir schon aufgefallen, da er zum einen nagelneu war und zum anderen eine ganz ungewöhnliche Farbe trug: Babyblau. Zugleich konnte ich aber nicht ins Innere schauen, da alle Fenster mit einem Sonnenschutz verhängt waren. »Hey, wo kommst du denn her?«, fragte er mich, mit Blick auf die deutsche Flagge. »Bist du aus Deutschland hierher gesegelt?« »Ja, genau. Das war ein langer Weg.« »Warte mal, meine Tochter spricht Deutsch.« Er klopfte kurz gegen den Rumpf, die Tür öffnete sich, und heraus kam Emily, 17 Jahre alt, die mich in perfektem, akzentfreiem Deutsch ansprach. »Das ist doch eine Deutsche!«, dachte ich. Die Tür öffnete sich erneut, und Amber kam heraus, 19 Jahre alt. Auch sie sprach perfektes Deutsch. Ein letztes Mal ging die Tür auf, und ich lernte das Nesthäkchen Bethany kennen, 13 Jahre alt. Auch sie sprach gutes Deutsch, war aber ein wenig zu schüchtern, um den Mund aufzumachen. Forrest bot mir an, seinen Liegeplatz zu nutzen. »Wir fahren jetzt nach Savannah, dort arbeite ich als Lotse. Und du kannst den Platz so lange belegen, wie du willst. Kostenlos!« Was für ein Angebot. Ich blieb noch einige Tage dort, bis Kristina zurück nach Philadelphia fuhr. Kaum war sie weg, klopfte es bei mir an Deck. Forrest und seine Frau Tonya waren zurück, diesmal mit dem Auto, um mir ein tolles Angebot zu machen: »Wir würden dich gern einladen, zu uns zu kommen und eine Woche mit uns zu verbringen.« Also brachte ich mein Schiff nach Charleston in die Marina, wo ich es verkaufen wollte, und wurde dort von der Familie abgeholt und mit nach Savannah genommen. Eine ganze Woche blieb ich da, wohnte mit auf ihrem Luxus-Trawler AY MON. Abends holten wir alte Seekarten heraus, und Forrest zeigte mir, wo er als Kind in den Bahamas mit seinem Vater herumgesegelt war. Als alter Segler hätte er gern wieder ein Segelschiff gehabt, aber das Motorschiff war mit den Mädchen zum Draufwohnen praktischer. 2008 hatte ich Forrest und Tonya zuletzt besucht, seitdem hatten wir keinen Kontakt mehr. Aber die beiden gehören zu der Sorte Freunde, zu denen man zeitweise zwar den Kontakt verlieren kann, aber trotzdem beim nächsten Treffen wieder dort anschließt, wo man aufgehört hat.
Ich finde Forrests Box auf Anhieb. Nichts scheint sich verändert zu haben. Er nimmt unsere Leinen an und freut sich sichtlich. »Echt schön, dass ihr vorbeischaut. Wie lang ist das her? Du bist ja richtig erwachsen geworden.« Die letzten zwei Tage hat es permanent geregnet, und unser Schiff gleicht einer Tropfsteinhöhle. Alles ist nass von der Kondensation. Auch die Polster im Vorschiff. »Habt ihr Lust, mal wieder in einem Bett zu schlafen? Dann könnte ich euch vielleicht ein Zimmer besorgen«, schlägt Forrest vor. »Wir würden euch zwar gern zu uns einladen, aber wir haben gerade ein neues Haus gekauft. Und das ist eine Baustelle.« »Ein Zimmer klingt gut«, sage ich. »Dann könnten wir das Schiff trockenlegen.« Ich stelle mich auf einen einfachen, leer stehenden Raum ein, vielleicht mit Klappbetten. Eine halbe Stunde später sammelt mich Forrest auf und nimmt mich mit in den Yachtclub. Dort liegt ein Schlüssel für uns bereit. »Wir sind ja Mitglieder, deshalb können wir hier auch Zimmer mieten und bekommen Rabatt«, erklärt er und führt mich hinauf in den dritten Stock. Ganz am Ende finden wir unser Zimmer. Doch es ist kein Zimmer, es ist eine Suite, mit mehreren Zimmern, zwei Bädern und einer Küche. »Das können wir doch nicht annehmen«, wende ich ein, aber Forrest lacht. »Ihr habt lang genug auf dem Boot geschlafen, genießt es hier ruhig mal.« Auf dem Rückweg laufen wir an der Dachterrasse vorbei, die einen wunderbaren Blick über den Sund bietet. »Wenn ihr heute Abend Lust auf ein Bier habt, lasst das einfach auf meinen Namen schreiben.« Cati fällt aus allen Wolken, als ich ihr die Suite zeige. Und die Sache mit dem Rabatt nehme ich Forrest auch nur bedingt ab. »Der zahlt dafür heute bestimmt 300 US-$ oder mehr«, sage ich. Kurz darauf stehen Forrest und Tonya vor der Tür und wollen mit uns essen gehen. Ein herrlicher Abend. Wir bringen uns auf den neusten Stand, was die letzten zehn Jahre iert ist. Ihre Töchter sind alle unterwegs. »Amber hat Politik studiert und ist in Washington, Emily lebt auf einer Farm auf dem Land. Beide sind verheiratet, Emily hat sogar schon ein Kind. Und Bethany macht gerade eine Ausbildung zur Krankenpflegerin in Charleston.« Zur Pizza einladen lassen sich die beiden von mir aber trotzdem nicht. »Dafür kommst du nicht oft genug«, lacht Forrest. Nach einer kleinen Rundfahrt durch Hilton Head Island, das Cati ja noch nicht kennt, liefern uns Forrest und Tonya gegen 21:30 Uhr im Hotel ab. Vorsorglich habe ich schon mal die gute Flasche Wein mitgebracht, die uns Hein und Siggi zum Abschied geschenkt haben. »Ist es nicht herrlich, überall auf der Welt Freunde zu haben?«, frage ich Cati. »Man sieht sich so viele Jahre nicht, aber
egal, wann man kommt, sie sind für einen da.«
MIT EINEM MAL ISSES WARM
Von Johannes
Uns fehlt die Übung für lange Strecken. Viel zu lange haben wir in den Häfen an der US-Ostküste herumgelegen, am Boot gebastelt und an Texten gefeilt. Dann die ersten paar Hundert Seemeilen nur in kleinen Etappen motort, denn ständig wehte Südwind oder gar kein Wind. Nun endlich ein Winddreher. Unser Wetterfenster für den Sprung nach Süden. Aber auch in Verbindung mit einer Kaltfront. »Egal«, sind Cati und ich uns einig. »Wir wollen Meilen machen. Zurück nach Florida. Unterwegs wird es dann schon wärmer.« Als wir dann jedoch am Samstagmorgen die Leinen loswerfen, ist von den vorhergesagten 4 Windstärken nichts zu sehen. Die See ein glatter Spiegel. Also muss wieder der Diesel ran, der inzwischen schon 120 Stunden auf der Uhr hat. Erst begleitet uns Forrest mit seinem Motorboot, dann Delfine. Wir motoren hinaus auf den Ozean, der ebenfalls immer glatter wird, kreuzen das Fahrwasser nach Savannah im rechten Winkel und sehen ein Lotsenboot mit 30 Knoten vorbeipreschen, einem Frachter entgegen. Vor zehn Jahren habe ich Forrest mal dabei begleitet, als er auf ebendiesem Boot zu einem Frachter hinausgebracht wurde. Das Großsegel steht schlaff, der Motor schnurrt und schiebt uns durch das tiefblaue Wasser. Wir sind zurück auf dem Atlantik. Nach über fünf Monaten wieder in tiefem Wasser. »Hach, was habe ich das vermisst«, freut sich Cati und läuft mit der Videokamera aufs Vorschiff, um die Delfine zu filmen. Zwölf Stunden später hat sich das Bild gewandelt. Der Wind hat auf 5 Beaufort aufgefrischt, und wir bolzen mit zweifach gerefftem Großsegel und halb weggerollter Genua hoch am Wind nach Süden. Die See ist konfus, etwa eineinhalb Meter hoch und kommt direkt von der Seite. Cati hängt an der Reling und ist seekrank, da sie in der Vorfreude auf den Atlantik vergessen hat,
rechtzeitig ihre Tabletten zu nehmen. Mit dem linken Arm umklammert sie eine der Genuawinschen. Mir ist auch mulmig, aber ich kann den Brechreiz unterdrücken, klettere über das untere Steckschott in die Kajüte und bringe Cati ein Stück Küchenrolle. »Danke«, würgt sie hervor und ergänzt: »Warum machen wir das hier eigentlich noch mal?« Denn manchmal, wenn man kalt, nass und seekrank auf dem Plichtboden kauert, ist es schwer, sich daran zu erinnern, was für ein tolles Leben wir führen. Wir können auf unserem eigenen Schiff die Welt in all ihrer Vielfalt und Pracht entdecken. Und dennoch fragen wir uns dann in solchen Momenten: »Warum lassen wir das alles über uns ergehen?« Schon in der Biskaya hatte ich mich dazu entschlossen, das Boot gegen einen Wohnwagen zu tauschen. Dann kann man wenigstens rechts ranfahren, wenn man die Schnauze voll hat. Dieses elendige Gehüpfe, das den Magen auf links kehrt, hält doch auf Dauer keiner aus. Die salzigen Duschen, die uns der Atlantik immer wieder vert. Das Reffen auf dem Vorschiff unseres flachen Bootes. Wenn die Welle trifft und man sich einfach nur festhält. »Jetzt nicht loslassen«, ist der alles beherrschende Gedanke. Nichts anderes zählt dann. Nicht die Sorgen zu Hause, nicht die Sorgen unterwegs. Nur das Festhalten. Immer wieder ist es ein eindrückliches Erlebnis. Eines, das prägt. Seit 12 Uhr mittags sitze ich im Cockpit, inzwischen ist es fast Mitternacht. Die Windsteueranlage hält wunderbar Kurs, muss nur ab und zu den Winddrehern anget werden. Cati liegt krank in der Koje. Sie tut mir leid. Aber da müssen wir jetzt durch. Und mir ist auch hundeelend. Grund sind die Wellen, die mit dem Wind andauernd ihre Richtung ändern und keinen richtigen Rhythmus haben. Der Golfstrom spielt vielleicht auch noch mit hinein. Ich habe daher eine halbe Seekrankheitstablette genommen, die mich aber sofort todmüde gemacht hat. Wir wollten eigentlich nonstop durch bis nach Cape Canaveral, das an einem markanten Knick an der Ostküste Floridas liegt. Dort gibt es eine breite Einfahrt, gut betonnt, die in den Cape Canaveral Barge Canal führt. Ein paar Seemeilen, dann wären wir wieder im Schutz des Intracoastal Waterways. Aber der Wind hat mittlerweile fast genau auf Süd gedreht, und der Kurs ist nicht mehr zu halten. Eine einsame Entscheidung. Kreuzen? Das würde die Ankunft nicht auf morgen früh, sondern auf morgen Abend verschieben. Umdrehen und 40 Seemeilen
zurück nach St. Augustine? Dann würden wir es nicht mehr rechtzeitig nach North Palm Beach schaffen, wo wir eigentlich sonnige Weihnachten unter Palmen verbringen wollten. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: das Ponce de Leon Inlet. Schmal und versandend wie alle Inlets der US-Ostküste, aber bei diesen Verhältnissen noch machbar. Wieder einmal muss ich an die gefährlichsten Ansteuerungen der Welt und vor allem Grundseen denken. Noch sind die Wellen überschaubar, aber trotzdem ist es haarig. Wind und Wellen von achtern, auflaufendes Wasser und eine schmale Einfahrt, deren Betonnung durch sich ändernde Sandbänke nicht den Karten entspricht. Schotten dicht, eingepickt und los. Das gereffte Segel und die mitlaufende Maschine helfen, das Schiff gut auf Kurs zu halten und alle Stolpertendenzen am Ruder auszugleichen. Wieder einmal bin ich glücklich, dass unser Steuerrad im Prinzip eine Pinne ist. Keine Seilübertragung, sondern ein Kegelradgetriebe, das direkt aufs Ruder greift. Eine halbe Umdrehung in jede Richtung, um hart Ruder zu legen. Was beim Steuern viel Kraft kostet, wird nun zum Segen. Wir surfen in die Einfahrt hinein. Überall blinkt und blitzt es. Doch welche Tonne ist welche? Wo ist meine Stoppuhr, um die Leuchtfeuerkennungen zu unterscheiden? Der Plotter ist keine Hilfe mehr, denn die Tonnen liegen ganz anders als verzeichnet. Wieder mal eine gute Erinnerung, dass man sich nicht zu sehr auf die Technik verlassen, sondern auch terrestrische Navigation beherrschen sollte. Von den amerikanischen Seglern, die wir getroffen haben, können das keine 20 Prozent. Im Zickzack kreuzen wir durch die Tonnen. Um ein Haar iere ich eine auf der falschen Seite, sehe überspülte Felsen vor unserem Bug und ändere schnell den Kurs. Das war knapp. Nach einigen Seemeilen biegen wir endlich nach Backbord ab und sind im ruhigen Wasser. Doch damit ist die Reise nicht zu Ende. Wir müssen noch einen Ankerplatz finden, also den Intracoastal Waterway im Dunkeln hochmotoren. Der zu drei Vierteln volle Mond hilft dabei. Gegen 3 Uhr morgens, nach 195 Seemeilen auf See, werfen wir in einer Bucht zweieinhalb Seemeilen hinter der Einfahrt den Haken. Graben ihn mit Maschinenkraft ein, setzen den Ankeralarm und fallen in die Koje. Seit drei Stunden hat Cati Geburtstag. Doch zum Gratulieren habe ich in dem Chaos keine Zeit gefunden. Am nächsten Morgen werden wir von der warmen Sonne geweckt. Kaum 200 Seemeilen weiter südlich, aber doch so viel wärmer. Schon um 10 Uhr morgens
sind es im Cockpit 28 °C. »Ich habe noch nie an meinem Geburtstag eine kurze Hose angehabt«, freut sich Cati und strahlt. Sie ist glücklich. Das Elend der letzten zwei Tage ist wieder einmal vergessen. Fröhlich steht sie am Rad und lässt sich die Sonne auf die wieder ganz weiße Haut scheinen. »Wir haben es geschafft«, sagt sie. »Wir sind zurück in der Sonne.« Wir haben noch ein paar Scheiben Brot fürs Frühstück, und ein paar Eier sind auch heil geblieben. Also genießen wir ein leckeres Frühstück mit frischem Saft im Cockpit. Und mit einem Mal wissen wir es wieder: »Deshalb machen wir das.«
BESUCH AUS DER HEIMAT
Von Johannes
Was sind wir doch für armselige Pfeifen. Gestern Abend liegen wir direkt vor dem NASA Space Center vor Anker, essen zu Catis Geburtstag Nudelauflauf mit echten Nürnberger Würstchen und schauen auf dem Laptop Hilfe, es weihnachtet sehr mit Chevy Chase, um ein bisschen in Weihnachtsstimmung zu kommen. Da fängt es draußen zu donnern an. Ich springe an Deck und schaue zum Space Center, sehe aber nur den einsamen Turm im Abenddunst. Doch was ist das? Ein Stück weiter oben entdecke ich einen Feuerschweif! Da haben wir doch glatt einen Raketenstart vert. Als ich das letzte Mal mit einem Boot hier in der Gegend gewesen bin, hatte ich vorher extra im Internet nachgeschaut, wann der nächste Raketenstart stattfände. Leider war die letzte Rakete zwei Wochen vor meiner Ankunft gestartet und der nächste Start erst in zwei Wochen geplant. Für gewöhnlich sind die Muringfelder bei Titusville dann schon lange vorher ausgebucht. Denn alle Segler wollen einen Start live erleben. Und wir liegen direkt in der ersten Reihe und veren ihn. Verärgert klettere ich zurück in die Kabine, grummele eine Weile und dann geht der Film weiter. Gut 20 Minuten später donnert es erneut. Es dauert eine Minute, bis ich aus der Koje geklettert und wieder an Deck bin. Da steht sie wieder, die Rakete. Glimmt noch etwas nach. Ich kann es nicht glauben! Später lese ich im Internet, dass wir einen historischen Augenblick vert haben: Das war die erste Rakete, die gestartet und wieder zum Startplatz zurückgekehrt ist. Der Tag ist diesig und grau. »Es ist halt Winter«, denke ich. Dafür aber 27 °C warm. Die nächsten beiden Tage motoren wir gut 112 Seemeilen, immer wieder ausgebremst durch die Klappbrücken, die wir erst anfunken und öffnen müssen. Doch wir schaffen, was wir uns gewünscht haben: Am Abend des 23.
Dezembers werfen wir den Anker an unserem Lieblingsankerplatz im Little Lake Worth. Für die Amerikaner ist Weihnachten ja erst am 25. Dezember. Also haben wir am nächsten Tag die Ruhe weg. Schlafen genüsslich ein bisschen länger bis 9 Uhr, trinken bis 10:30 Uhr Kaffee und machen uns dann auf den Weg an Land, um für unser Weihnachtsessen einzukaufen. Es soll Steak vom Grill geben. Denn wann habe ich je an Weihnachten den Grill anwerfen können? Den Nachmittag verbringen wir abwechselnd in der Hängematte auf dem Vorschiff, genießen die Sonne und vor allem die Entspannung nach der doch stressigen Reise aus der winterlichen Kälte hinunter in die Wärme Floridas. Um 16 Uhr ist es in Deutschland bereits 22 Uhr, und wir rufen meine Familie über Skype an. Über das iPad können wir geradewegs in das Wolfsburger Wohnzimmer schauen, sehen den toll geschmückten Tannenbaum und die festliche Stimmung. »Schade, dass ihr nicht dabei seid«, wiederholt meine Mutter immer wieder. Ich schieße einen Screenshot, den ich mir die kommenden Monate immer wieder anschauen werde. Mein Vater hält das iPad und ist nicht zu sehen. Mein Bruder ebenfalls nicht, denn er verbringt Weihnachten bei den Eltern seiner Freundin. Zu sehen sind also meine Mutter, die mütterlich grinsend in die Kamera schaut, und meine Oma, die winkt. Mein Onkel Uwe schaut zufrieden, prostet mir mit einer Flasche Bier zu. Susi sieht müde aus. Vermutlich wegen des neuen Jobs, den sie bei Volkswagen bekommen hat und der ihr einiges abverlangt. Heimweh verspüre ich nicht wirklich. Aber meine Familie fehlt mir. Deshalb freue ich mich sehr, dass uns meine Schwester schon in zwei Tagen besuchen wird. Damit wir Susi vom Flughafen abholen und uns vorher für die Bahamas verproviantieren können, nehmen wir uns für einen Tag einen Leihwagen. Um ein Haar kommen wir noch zu spät, da wir uns bei Ikea zu viel Zeit lassen. Doch ihr Koffer lässt auf sich warten, sodass wir doch noch rechtzeitig da sind. Die Fahrt im Dingi von unserer Anlandestelle unter der Highwaybrücke bis zum Schiff ist für sie sicher ein Abenteuer. Durch die stockfinstere Nacht und dazu völlig übermüdet. Es braucht nicht lang, bis sie in ihrer Koje im Salon liegt und tief und fest schlummert. Zwei Tage später sind wir wieder unterwegs, Richtung Süden. Da der Golfstrom vor der Küste Südfloridas ziemlich genau aus Süd nach Norden setzt, wäre der Winkel entsprechend schlecht, wenn wir von Palm Beach direkt auf Bimini zusegeln würden. Daher wollen wir zunächst ins südlicher gelegene Fort Lauderdale, das auch das »Venedig Amerikas« genannt wird, da es von Flüssen
und Kanälen durchzogen ist. Einer davon, der New River, führt vom Hafen aus über künstliche sowie natürliche Wasserverbindungen weit hinein ins Binnenland, bis zu den Everglades. Und auf diesem haben wir für heute Abend eine Verabredung zum Essen. Der New River ist ein ziemlich enger, stark gewundener Kanal, was die Navigation schwierig macht. Es geht vorbei an privaten Villen und Hochhän. Zudem herrscht meist starker Verkehr durch Yachten und Ausflugsdampfer. Eine schöne Herausforderung nach der geruhsamen Kanalfahrt von West Palm Beach hierher. Kurz bevor wir an die erste Brücke gelangen, sichte ich an Backbord an der Kaimauer die CHRISTOBEL. Christine und Torsten liegen schon seit ein paar Wochen hier und haben auf uns gewartet. Wir freuen uns riesig, die beiden wiederzusehen. Torsten hat uns einen Liegeplatz reserviert und läuft mit uns zum Hafenmeister. Auf dem Weg staune ich über die unzähligen Katamarane, die alle hintereinander an der Kaimauer liegen. »Ich hab mich mal ein bisschen mit den Skippern unterhalten«, erzählt Torsten. »Die meisten fahren Charter in den Bahamas. Und der eine sagte, dass er bis zu 30.000 US-$ im Monat einnimmt. Hammer!« »Wow, das ist ja Wahnsinn«, stimme ich zu. »Aber das ist ja auch ein fantastisches und touristisch noch völlig unerschlossenes Revier. Wir bekommen auch immer wieder Mails von Bloglesern, die fragen, ob wir sie mal mitnehmen würden. Aber dafür ist das Schiff zu klein …« Dann stehen wir vor dem Hafenmeisterbüro. Wir zahlen 36,30 US-$ für die Nacht, was für Florida unglaublich günstig ist. »Wir hatten Glück, dass wir einen Platz für euch bekommen haben«, sagt Torsten. »Die sind sonst immer voll. Auch weil der Liegeplatz so schön zentral in der Stadt liegt.« Ob wir nicht noch eine weitere Nacht bleiben möchten, fragt der Hafenmeister. Wir würden gern, wollen aber nicht riskieren, mit abgelaufenem Cruising Permit erwischt zu werden. Also werden wir morgen, an Silvester, auslaufen. Zum Abendessen sind Cati, Susi und ich auf die CHRISTOBEL eingeladen. Wieder einmal grillen wir wunderbare Steaks. »Ein schöner Abschied, bevor es morgen wieder ins Land der Fertigmahlzeiten geht«, sage ich. Denn auf den Bahamas wird fast nichts selber produziert, alles importiert. Laut unserem deutschen Reiseführer zählen zu den typischen Dingen, von denen sich die Bahamaer gewöhnlich ernähren, Makkaroni mit Käsesoße und RamenTütensuppen. Kein Wunder, dass die meisten Leute dort schlecht ernährt und aufgedunsen aussehen.
Torsten erzählt, dass vor einigen Tagen ein Broker an Bord war und Fotos gemacht hat. »Wir wollen mal sehen, ob wir das Schiff nicht verkauft bekommen. Nach sechs Jahren an Bord haben wir mal Lust auf etwas anderes.« Das Gespräch des Abends dreht sich um Zukunftspläne. »Wir müssen kommenden September wieder zurück in Deutschland sein, damit ich meine Stelle nicht verliere.« Der Job als Yacht-Redakteur ist eine Arbeit, die ich wirklich geliebt habe und die mir mittlerweile auch gelegentlich ein wenig fehlt. Aber andererseits fühlt es sich für uns beide immer noch so an, als wären wir gerade erst losgefahren. Schon auf Grenada hat uns Herbert deshalb immer wieder gesagt: »Ihr könnt nicht nur zwei Jahre unterwegs sein, wo ihr doch schon zwei Jahre lang jede freie Minute an dem Schiff gebaut habt.« Ich erzähle Torsten und Christine von Herberts Ansicht. Und sie können das gut verstehen. »Doch unser Problem ist immer das Geld. Wir sind seit Beginn nicht mit der Kasse hingekommen. Und im Pazifik würde der Lebensunterhalt bestimmt nicht billiger werden. Dazu die ständigen, teuren Blutchecks …« Eine Lösung für das Problem habe ich nicht. »Ich habe schon ein paarmal darüber nachgedacht, dass es vielleicht doch nicht schlecht gewesen wäre, ein größeres Boot zu haben«, verrate ich. »Die laufenden Kosten wären zwar höher, aber wir hätten dann auch eine Gästekabine, sodass wir ab und zu mal Mitsegler mitnehmen könnten, zum Beispiel in den Bahamas. Wenn jeder für die zehn Tage an Bord 1.500 € bezahlt, haben wir nach zehn Tagen Arbeit 3.000 € mehr auf dem Konto. Das würde uns zwei Monate weiterbringen.« Ich werde nachdenklich. »Vielleicht sollten wir tatsächlich unser Schiff verkaufen und uns eine alte, abgehalfterte Chartermähre zulegen. Die sehen zwar nicht so sexy aus, haben aber ein bis zwei Gästekabinen.« Christine hat eine Idee: »Dann nehmt doch unser Schiff.« »Wie bitte?« »Na, wir wollen es doch eh verkaufen. Dann könntet stattdessen auch ihr damit Charter fahren, dann haben wir alle was davon.« Mir fehlen die Worte. Ich bin Feuer und Flamme. Aber so richtig glauben kann ich das nicht. Schließlich stehen unter dem Cockpittisch mittlerweile vier leere Rotweinflaschen. Auch Cati lacht, und ich sehe ihr an, dass sie das Angebot für zu schön, um wahr zu sein, hält. Also bleiben wir beide entspannt. Wir sind uns wirklich nicht sicher, ob die beiden das ernst meinen. Der nächste Morgen beginnt viel zu früh, aber wir wollen und müssen los. Kurz nach dem Frühstück beginne ich mit meinem Routinecheck des Bootes, den ich immer vor längeren Fahrten mache. Dann schaue ich nach dem Motor. Es ist
wenig Wind vorhergesagt, deshalb gehe ich davon aus, dass wir die ganze Strecke motoren müssen. Diesel ist genug im Tank, Motoröl, Getriebeöl und die Keilriemenspannung sehen gut aus. Dann fällt mein Blick auf den Wasserfilter. Seit gut vier Wochen tanzt darin ein kleines Blatt herum, das wir irgendwo auf dem Intracoastal Waterway aufgesammelt haben müssen. Und nun will ich es endlich heraushaben. Also versuche ich, den durchsichtigen Plastikfilter abzuschrauben. »Puh, der sitzt fest«, keuche ich. Der ende Schlüssel für den Deckel ist bei unserer chaotischen Abfahrt aus Versehen wieder in der Schmiede gelandet. Also greife ich mir mein Lieblingswerkzeug, die verstellbare Zange, und setze an. »Das ist eigentlich doof, was du da machst«, geht mir noch durch den Kopf, dann knackt es auch schon. »So eine Scheiße!« Der Deckel hat einen Riss, scheint aber noch dicht zu sein. Trotzdem will ich es nicht riskieren, dass sich der Riss in den Bahamas vergrößert und der Motor trocken läuft. »Ich werde noch mal schnell zum Bootsausrüster laufen müssen«, sage ich. Ohne Auto und in der Mittagshitze ist das kein Zuckerschlecken, denn der Laden ist drei Kilometer entfernt. Eine halbe Stunde später betrete ich vor Schweiß triefend den Laden. Einen Vetus-Wasserfilter haben sie nicht, nur ein amerikanisches Modell. Das will ich nicht, denn es müsste ganz anders montiert werden. Also laufe ich eine Viertelstunde weiter zum Boat Owners Warehouse. Ebenfalls Fehlanzeige. Dann kommt mir eine Idee. Ich google und finde heraus, dass es einen Vetus-Händler gibt, auf halbem Weg zurück zum Boot. Er soll den ganzen Tag bis 18 Uhr geöffnet haben. Dort angekommen, lese ich eine Notiz an der Tür: »Am 31. Dezember schließen wir gegen Mittag.« Die Tür ist bereits verschlossen. Also noch einmal zurück zu Westmarine, wieder eine Viertelstunde durch die Sonne und dann mit dem anderen Wasserfiltermodell zurück zum Boot. »Besser, einen Plan B zu haben.« Überflüssig zu berichten, dass der gerissene Filterdeckel die ganze weitere Reise dicht hält und heute noch seinen Dienst tut … Gegen 14 Uhr kommen wir endlich los, motoren den New River hinunter und ieren gegen 15:30 Uhr die Ansteuerungstonne, motoren hinaus in den Golfstrom. Kurs 145°. Die Wellen kommen von der Seite und lassen MAVERICK TOO tüchtig rollen. Zur Sicherheit schlucken Cati und Susi jede eine Seekrankheitstablette. Susi haut die Tablette vollkommen um. Daher legt sie sich in die Steuerbordkoje und schläft wie ein Baby. Cati legt sich ebenfalls ab. Also steuere ich das Schiff allein über den Golfstrom, weiche Frachtern und Kreuzfahrtschiffen aus. Immer wieder schaue ich in die Kajüte und sehe den
Mädels beim Schlafen zu. Ich bin überglücklich, dass Susi auf dieser Etappe dabei ist. Ich freue mich sehr auf die Tage mit ihr, denn wir haben uns die letzten zehn Jahre viel zu selten gesehen. Meine Berechnungen stimmen auf die Minute. Nach genau 13 Stunden, morgens um 4:30 Uhr, werfen wir bei Flaute und ruhiger See den Anker vor North Bimini. Endlich in die Koje. Ich bin vollkommen fertig.
STARKWINDTÖRN AUF DEN BAHAMAS
Von Cati
Gegen 10 Uhr und nach dem ersten Kaffee tuckern wir in die Bimini Sands Marina auf South Bimini. Ein großes, rechteckiges Hafenbecken mit verhältnismäßig wenig Stegen, umringt von vielen kleinen Häuschen. Die Marina ist auch ein Resort, aber zum Jahreswechsel scheint sie ziemlich leer zu sein. Gegenüber der Box, die wir auswählen, liegt eine kleines, 28 Fuß langes Segelboot. DEEP JOY heißt es. Das ist einer dieser Namen, bei denen wir uns immer fragen, ob sie im Seenotfall ernst genommen würden: »Mayday, mayday, mayday, DEEP JOY, DEEP JOY, DEEP JOY!« Das Boot, eine Tanzer 28, gehört Tanner, einem 22-jährigen Kanadier, der auch auf dem Wasser lebt, und den wir über das Internet kennengelernt haben. Vor ein paar Tagen hat er uns eine Nachricht geschrieben, dass er jetzt von Miami nach Bimini starten will. Wegen des Wetters hat er dann ebenfalls noch ein paar Tage gewartet und ist letztlich auch erst gestern losgefahren. Auch seine Überfahrt scheint anstrengend gewesen zu sein, denn von ihm ist noch nichts zu sehen, und wir vermuten, dass er noch in der Koje liegt. Während Susi und ich die letzten Spuren der rauen Überfahrt beseitigen, klariert uns Johannes am Flughafen ein. Sehr unkompliziert. Als er nach etwa einer halben Stunde wiederkommt, gibt es draußen Frühstück. Susi ist selig. »Der erste Tag auf den Bahamas und direkt gutes Wetter«, strahlt sie. Die hässliche Überfahrt scheint, zum Glück, vergessen. In der Zwischenzeit regt sich etwas bei DEEP JOY. Tanner steckt seinen Kopf aus dem Niedergang, sieht uns und winkt wild. »Komm rüber!«, ruft Johannes ihm zu. »Wir haben Omelett und Kaffee!« Offenbar ein gutes Lockmittel, denn schon bald sitzt Tanner bei uns im Cockpit. Er ist braun gebrannt und seine ohnehin schon blonden Haare sind von der Sonne noch weiter ausgebleicht.
Tanner und Johannes verstehen sich sehr gut. Sie tauschen sich über die Golfstromquerung, das beste Kartenmaterial für die Bahamas und Revierbesonderheiten aus und erzählen sich Geschichten über einen gemeinsamen Bekannten, einen Australier. Als der Kaffee alle ist, macht Tanner sich auf den Weg. Er will gucken, ob er etwas für seine Pantry finden kann. »Was haltet ihr davon«, richtet sich Johannes an Susi und mich, »wenn wir eine Nacht hier in der Marina verbringen? Ich musste sowieso dafür bezahlen, dass wir hier anlanden durften. Dann können wir auch noch über Nacht hier liegen bleiben und uns entspannen.« »Also, ich find das gut«, sagt Susi. »Ich habe da vorn nämlich einen Pool gesehen. Ist die Benutzung inklusive?« Nachdem die Sonne abends untergegangen ist, verziehen wir uns in den Salon. Offenbar machen wir aber das Niedergangsluk nicht schnell genug zu, denn kurz darauf werden wir heftigst gestochen. Beim ersten Blick ist gar nicht zu sehen, was uns da gerade piesackt. Beim näheren Hinsehen erkennen wir aber winzig kleine Insektenkörper mit Flügelchen. »Oh nee«, seufzt Johannes. »Hier ist alles voller No-See-Ums!« »Nosi-was?«, fragt Susi. »No-See-Ums, das heißt so was wie ›Man sieht sie nicht‹«, erklärt Johannes. Diese kleinen, mückenartigen Viecher sind wirklich furchtbar. Es fühlt sich an, als würden sie nicht stechen, sondern beißen. Meistens bilden sich richtig dicke, rote Beulen, die bis zu zwei Wochen bleiben und leider auch immerzu jucken. Das wirklich Fiese an ihnen ist aber, dass normale Mückennetze viel zu grobmaschig für sie sind. Gegen No-See-Ums hilft nur eines: alle Luken zu. Normalerweise haben wir kein Problem mit diesen Plagegeistern. Solange etwas Wind geht und auf dem Wasser gibt es sie nämlich nicht. Hier in der windstillen Marina sind wir ihnen aber völlig ausgeliefert. »Ich werde wahnsinnig«, sagt Susi und kratzt sich am Bein. Wir gehen auf die Jagd und erwischen ein paar Biester. Als Susi vom Klo an Land zurückkommt, ist sie ganz aufgeregt: »Leute, ihr glaubt es nicht, hier draußen sind gar keine No-See-Ums mehr. Die sind wohl alle bei uns im Boot!« Tatsächlich! Es ist immer noch windstill, aber keine No-See-Ums zu spüren. Dafür ist aber ein Auto von der Marina dabei, irgendetwas zu versprühen. Mückengift. Der ganze Hafen wird damit eingesprüht. Umwelttechnisch bestimmt mehr als bedenklich, aber immerhin können wir das Boot wieder durchlüften. Trotzdem haben die Viecher volle Arbeit geleistet: Johannes zählt am nächsten Morgen 150 Stiche, bei Susi sind es sogar 200. Ich mit meinen 60 habe es da noch verhältnismäßig gut
erwischt. Gun Cay, das unbewohnte Inselchen, das wir am nächsten Tag besuchen, hat drei Attraktionen. Zum einen steht an der Südspitze ein alter Leuchtturm, der 1836 erbaut wurde und heute immer noch in Betrieb ist. Zweitens gibt es dort einen unheimlich tollen, weißen Sandstrand, den Honeymoon Beach. Und dann gibt es noch eine Familie Amerikanischer Stechrochen, die sich um die Insel herum aufhält und von Touristen füttern lässt. Wir haben uns mittlerweile schon ziemlich an die Anwesenheit von Rochen gewöhnt, denn es gibt sie in der gesamten Karibik, und hier auf den Bahamas, wo sie noch wenig von Menschen gestört werden, sind sie umso häufiger. Für Susi ist das allerdings ziemlich ungewohnt. »Cati, hinter dir«, schreit sie, als ein erstes neugieriges Tier von hinten etwa bis auf einen Meter an mich herankommt, während wir einfach nur faul im seichten Wasser herumliegen, ein eiskaltes Bier und Cola in der Hand. Reflexartig springe ich auf und laufe aus dem Wasser. Johannes ist ebenfalls aufgescheucht und läuft uns hinterher. »Was ist los?«, fragt er. »Da war gerade ein ganz großer Rochen ganz nah hinter Cati«, erklärt Susi. »Ich warne mal lieber die anderen Leute«, fügt sie hinzu und will sich schon auf den Weg machen. »Susi, bleib hier!«, ruft Johannes. »Das ist hier ganz normal, dass es Rochen gibt«, erkläre ich ihr. »Wahrscheinlich sind die anderen sogar extra wegen der Rochen gekommen, um ein paar Fotos mit ihnen zu machen«, sagt Johannes. »Echt?«, fragt Susi erstaunt. »Aber die sind doch gefährlich?!«, will sie wissen. Wie ihr Name schon sagt, können diese Rochen durchaus stechen. Sie haben am Ende ihres langen Schwanzes, mit dem sie bei Gefahr zuschlagen, ein bis zwei Giftstacheln. Ihr Gift ist sehr schmerzhaft, für Menschen aber nicht tödlich, kann jedoch zu allergischen Reaktionen führen. Problematischer ist meist die Wunde, die mit dem Schwanz förmlich gerissen wird, da sich auch noch Widerhaken am Schwanz befinden. Dass ein Mensch von einem Amerikanischen Stechrochen getötet wird, ist eher unwahrscheinlich, denn die meisten Zwischenfälle ieren, wenn ein Badender unabsichtlich auf ein eingegrabenes Tier tritt. Verletzungen gibt es dann nur am Bein oder Fuß. Aus diesem Grund schlurfen wir immer durch den Sand, damit ein eingegrabener Rochen schnell das Weite suchen kann, wenn wir kommen. »Also, ich bleib lieber auf Abstand«, sagt Susi. Wir gucken den anderen deshalb nur vom Strand aus zu, wie sie Fotos mit den Rochen machen.
Abends tuckern wir zum einzig geschützten Ankerplatz bei dieser Windrichtung. Es herrscht immer noch leichter Südwind, als wir den Anker auf vier Meter Tiefe auswerfen, mit der Maschine im Rückwärtsgang einziehen und 35 Meter Kette stecken. Neben uns ankert ein einziges anders Schiff, der deutsche Katamaran CAYLUNA, wie wir auf dem AIS lesen können. Ankerlicht an, den Topf auf den Herd, Abendprogramm einläuten. »Was macht ihr denn normalerweise abends?«, fragt Susi. »Na ja«, druckst Johannes herum. »Es wird ja immer schnell dunkel. Wir machen das Gleiche wie zu Hause: Filme gucken.« »Klingt gut«, meint Susi. »Im Moment gucken wir aber eigentlich immer nur Stromberg«, füge ich hinzu. »Kurze Folgen, da hängst du dann nicht ewig vor dem Bildschirm.« »Hab ich noch nie geguckt. Ist das gut?«, fragt Susi. Nach der kompletten ersten Staffel ziehen wir uns in unsere Kojen zurück. Gegen Mitternacht piept der Ankeralarm. Ich bekomme das kaum mit, denn bis ich wach bin, ist Johannes schon in den Salon gestürzt, hat nach dem Rechten gesehen und das Piepen ausgestellt. »Der Wind hat ein bisschen zugenommen und das Schiff um etwa 20° gedreht«, flüstert er mir zu. »Wir haben den Radius beim Ankeralarm ein bisschen eng eingestellt und sind durch die viele Kette herausgeschwoit.« »Hast du den Radius jetzt verändert?«, frage ich schlatrunken. »Klar«, antwortet Johannes. »Sollte jetzt ruhig bleiben.« Eine halbe Stunde später piept es jedoch wieder. »War wohl immer noch zu klein eingestellt«, wispert Johannes, um Susi nicht zu wecken. »Draußen ist alles okay, ich hab rausgeguckt.« Als ich das nächste Mal wach werde, rollt es ganz schön. »Hat der Wind doch schon früher aufgedreht als angesagt«, denke ich mir, als ich auf einmal Susi aus dem Salon höre: »Johannes? Ist alles okay?« Hektisch springt Johannes aus der Koje und an den Kartentisch. »Der Anker slippt! Cati, mach den Motor an!«, ruft er auf einmal, schaltet unsere Decksscheinwerfer an, die das ganze Deck und Cockpit in gleißendes Licht tauchen, reißt das Niedergangsluk auf und springt nach draußen. »Das kann doch nicht sein!«, rufe ich ihm hinterher, als ich so schnell wie möglich nach hinten zum Motor stolpere. »Schließlich ist doch der Alarm gar nicht losgegangen.« Susi weiß gar nicht so recht, was iert, und zieht nur die Beine in ihre Koje, damit ich in der Eile nicht darüberstolpere. Ich reiße die Seeventile auf und springe ins Cockpit. Motor in Leerlauf, etwas Gas, Motor an. »Wo bleibt der Motor? Wir haben nicht viel Zeit!«, ruft Johannes vom Vorschiff. Die CAYLUNA, die gestern noch so weit weg war, kommt immer näher. Unsere helle Arbeitsbeleuchtung macht uns fast blind für die Umgebung. Nur ein
kleines Mastlicht ist von der CAYLUNA zu sehen. Aber wie weit mag das entfernt sein? Die Insel neben uns ist jetzt auf der anderen Seite als vor dem Schlafengehen. Der Wind muss also um 180° gedreht haben. »Motor läuft!«, brülle ich gegen den Wind zurück. »Dann hau den Gang rein und gib Gas!« Ohne Rücksicht auf die kalte Maschine reiße ich den Gashebel nach vorn und bringe den Motor auf Umdrehungen. Ziemlich schnell reagiert das Schiff und nimmt Fahrt nach Luv auf. Johannes holt unsere labberige Kette ins Boot, und die CAYLUNA wird glücklicherweise immer kleiner. Es ist Neumond, und wir können uns kaum orientieren, so dunkel ist es. Aber unseren alten Ankerplatz haben wir noch auf dem AIS markiert. An der gleichen Stelle werfen wir den Anker erneut aus, ziehen ihn in die neue Richtung ein und stecken Kette. Viel Kette. »Ich hab alles gesteckt, was geht«, keucht Johannes, als er wieder ins Cockpit kommt. »Hauptsache, wir können in Ruhe schlafen!« Immerhin 60 Meter. Das Adrenalin lässt nach. Wir schalten das Deckslicht ab, setzen den Ankerpunkt neu und verziehen uns dann aus dem frischen Wind hinunter in die Kabine. Mein Herz beruhigt sich langsam. Ich bin irgendwo zwischen Erschöpfung, Erleichterung und Tränen. »Das war … interessant«, sagt Susi, die immer noch zu begreifen versucht, was da gerade abgelaufen ist. »Der Wind hat schon gedreht«, erklärt Johannes. »Dabei war das eigentlich erst für morgen Vormittag angesagt. Wir müssen über unseren Anker getrieben sein und ihn herausgebrochen haben.« »Das ist ja echt noch nie iert«, sage ich baff. Nach kurzem Nachdenken fügt er hinzu: »Eigentlich können wir zufrieden sein. Es hat keine drei Minuten gedauert, bis wir alle aus der Koje waren, die Seeventile offen hatten, der Motor lief, die Kette eingeholt war und wir Fahrt nach Luv gemacht haben.« Eine Frage habe ich dann aber doch. »Hat der Ankeralarm überhaupt gepiept? Ich habe nichts mitbekommen, aber ich habe ja auch immer einen sehr festen Schlaf.« »Den muss ich beim letzten Verstellen des Radius nicht wieder angestellt haben«, sagt Johannes sichtlich geknickt. »Wir waren schon 140 Meter von unserem ursprünglichen Ankerpunkt entfernt.« »Oh«, fasst Susi treffend zusammen, wie wir uns alle fühlen. Während Susi und ich uns wieder hinlegen, beobachtet Johannes, ob der Anker nun sicher hält und der Wind nicht noch weiter zunimmt. Eine Stunde nach mir kommt er in die Koje gekrochen. »Alles in Ordnung«, murmelt er, bevor er in den Schlaf fällt.
Der Wind hält am nächsten Tag an. Gegen ziemlich eklige See motoren wir nach North Bimini und werfen zwei Anker in einem ziemlich engen Ankerfeld direkt vor dem Ort. Weil der Wind noch weiter aufdrehen soll und wegen des Schreckens der letzten Nacht entscheiden wir, am nächsten Morgen in die Bluewater Marina zu verholen. Ich bin davon nicht so begeistert, das kostet wieder viel Geld. Aber das Boot riskieren will ich auch nicht.
KRANK IM PARADIES
Von Johannes
Nachdem wir Susi nach Grand Bahama gebracht haben, von wo ihr Rückflug geht, sind wir wieder allein an Bord und haben keine sonderlich großen Pläne. Sechs bis acht Wochen lang wollen wir den Rest der Bahamas erkunden. Den Teil, den wir im letzten Sommer ausgelassen haben. Da hatten wir uns vor allem die Exumas angesehen und waren dann über die Hauptstadt Nassau auf New Providence und die Berry Islands weiter in die USA gesegelt. Die einzige Insel, die wir von den Berry Islands besucht hatten, war Cockroach Cay. Dabei soll es noch so viele weitere tolle Inselchen geben. Lydia und Christian von der SALANA hatten so von Bonds Cay geschwärmt. Und auf Hoffmann’s Cay soll es sogar ein Blue Hole geben, ein unheimliches tiefes Loch. Auf Bird Cay ganz im Süden soll wiederum ein altes, verfallenes Herrenhaus sein, das ich schon seit Jahren erkunden möchte. Wir haben viele Pläne und laufen als Erstes die Insel Great Harbour Cay an, die mit 350 Bewohnern größte und nördlichste Insel der Kette. Uns steht mal wieder ein langer Ritt bevor. Doch ein Feiertag bremst uns aus, das Marinabüro auf Grand Bahama öffnet erst um 10 Uhr. Wir verabschieden uns von unseren netten Stegnachbarn und drehen noch eine Ehrenrunde im Hafen. Denn ich habe ganz hinten in der Ecke eine Contest 33 entdeckt. Was für ein Zufall, wurden von diesem Typ doch nur 188 Boote gebaut! Draußen weht kaum Wind. Wir setzen trotzdem Groß und Genua. Bald darauf frischt es auf, und die Windsteueranlage steuert uns auf Halbwindkurs und mit 6,5 Knoten nach Südosten. Cati schläft, und ich lese Peter Hahnes Niemals aufgeben. Gegen 22 Uhr erreichen wir die Insel, bergen Segel und motoren bei Neumond in Landnähe, wo wir auf drei Meter Tiefe ankern. Ab in die Koje. Geplant ist, dass wir die Insel zwei, drei Tage erkunden. Doch es werden fünf Wochen werden, bis wir weiterkommen. Als wir am nächsten Morgen wach werden, geht es Cati gar nicht gut. Ihr Kopf ist heiß, sie röchelt und hustet. Ich verordne ihr Bettruhe und verziehe mich
selbst an den Schreibtisch. Das kommt mir eigentlich ganz gelegen, denn ich habe noch ein paar Tage zu arbeiten. So liegen wir tagelang vor der Küste, ohne die Insel ein einziges Mal zu betreten. »Der Wetterbericht sieht schlecht aus«, wecke ich Cati am vierten Morgen. »Sieht aus, als würde ein Wintersturm über uns hinwegziehen. Westwind, Legerwall. Wir müssen hier irgendwie weg.« Sie fühlt sich jedoch noch ganz und gar nicht in der Lage, das Schiff zu verlegen. »Auf der Ostseite könnten wir ankern«, schlage ich vor. »Aber das sind gut 20 Meilen einmal um die Inseln herum.« Cati verzieht das Gesicht. Ihr graut vor der langen Fahrt. »Oder wir versuchen, einen Platz in der Marina zu bekommen«, schlage ich vor. Gut 60 US-$ die Nacht. Aber besser, als ungeschützt zu liegen und das Schiff zu gefährden. Per Funk fragen wir einen Liegeplatz an und werden den halben Tag lang vertröstet. Gegen Nachmittag bekommen wir dann die Freigabe. Wir buchen für drei Tage, denn nicht nur der Sturm am morgigen Freitag soll es in sich haben, sondern der am Sonntag auch. Zwischen den Stürmen herrscht am Samstag einen Tag lang wunderbares Wetter. Cati geht es wieder besser, also leihen wir uns zwei der kostenlosen Marina-Fahrräder, um die Insel zu erkunden. Ich hatte gehört, dass es im Norden der Insel ein altes, verfallenes Hotel geben soll, das ich mir gern anschauen möchte. Wir müssen ganz ordentlich in die Pedale treten, um dorthin zu kommen. Das Hotel selbst ist leider eine kleine Enttäuschung, denn es ist derart zugewuchert, dass es ohne Machete kaum möglich ist, ins Innere zu gelangen. Aber der Strand nebenan entpuppt sich als einer der schönsten, die wir je gesehen haben. Kilometerlang und mit gleißend weißem, weichem Sand. Vereinzelt finden sich kleine Ferienbungalows, zumeist schon im Wintermodus, Fenster und Türen verrammelt. Später motoren wir zurück an unseren Ankerplatz draußen vor der Küste. Ach, wie herrlich ist es nach ein paar Marina-Tagen doch wieder, am Anker zu schaukeln. Am nächsten Morgen fühle nun ich mich nicht gut. Irgendwie schlapp, schnupfig, Halsschmerzen. Offenbar habe nun ich es geschafft, mir eine Grippe einzufangen. Ich kontrolliere den Sitz des Ankers. Wir liegen in einer hufeisenförmigen, nach Westen offenen Bucht, einige Hundert Meter vor der Küste. Der Wetterbericht sagt tagelangen Ostwind voraus. Wir liegen also sicher. Ich bin beruhigt.
Innerhalb eines Tages bin ich richtig krank und liege mit Schüttelfrost in der Vorschiffskoje. Sechs lange Tage vegetiere ich vor mich hin. Dann geht es langsam wieder aufwärts, und wir wollen endlich weiter. Weitere Inseln anschauen. Doch nun stimmt plötzlich wieder irgendwas mit Cati nicht. »Meine Haut fühlt sich seit Tagen so merkwürdig an«, sagt sie. »Als würde sie sich spannen.« Ich denke mir erst mal nichts dabei. Bis ich die kleinen Blasen sehe, die zunehmend schmerzen. »Was kann das sein?«, fragt sie, und ich habe eine düstere Ahnung. »Ich glaube, das ist eine Gürtelrose!« Ich hatte selbst mal eine. Aber das ist gut 20 Jahre her und war damals mit dem richtigen Medikament schnell eingedämmt. Sicherheitshalber mache ich Fotos und schicke sie meinem Hausarzt, der uns ja schon auf dem Atlantik mit seinen Ferndiagnosen gut geholfen hat. »Das sieht wirklich nach Gürtelrose aus«, bestätigt er. Wie konnte das ieren? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur: Cati braucht jetzt ärztliche Hilfe. Doch das ist hier gar nicht so einfach. Gibt es auf dieser Insel überhaupt einen Arzt? Laut unserer Revierunterlagen ist nur eine Krankenschwester vor Ort. Oder sollen wir Segel setzen und versuchen, in die Zivilisation zu kommen? Eleuthera ist 76 Seemeilen entfernt, Nassau ähnlich weit. Dazu sieht das Wetter gar nicht gut aus. Entweder am Freitag gegenan segeln oder am Sonntag bei 5 bis 6 Beaufort von der Seite. Dazwischen zieht ein Sturm durch. Also entscheiden wir uns, zu bleiben, und verholen am Freitag mit dem auffrischenden Wind vom Ankerplatz in die Marina, um in der kleinen Klinik vorbeizuschauen. Diese liegt am anderen Ende der Lagune, und wir strampeln eine ganze Weile auf den Leihfahrrädern, bis wir dort sind. Ein Aushilfsarzt ist glücklicherweise gerade da. Nach fünf Minuten Wartezeit kommt Cati schon dran und wird von einem netten Asiaten behandelt. Und es bestätigt sich, was wir schon geahnt haben. »Ich habe Shingles«, verkündet sie, als sie nach weiteren zehn Minuten zurückkommt. In der Hand hat sie eine braune Tüte mit Medikamenten, witzigerweise aus »good old «. Behandlungskosten: 10 US-$. Endlich mal etwas, das günstig ist. Die Medikamente kosten dann 43 US$. Und Cati hat ein neues Wort gelernt. »Shingles«, lacht sie sich den ganzen Weg zurück zum Boot kaputt und beginnt zu reimen: »Shingle Bells, Shingle Bells, shingle all the way«, »Shingelingeling, hier kommt der Eiermann« oder »Shing, Shing, Shingis Khan«. Der wiedergewonnene Humor hängt wohl vor allem mit der Erleichterung zusammen. Sie hat eine Diagnose und Medikamente.
Was soll jetzt noch schiefgehen? Während wir sicher im Hafen liegen, rütteln draußen 8 bis 9 Windstärken im Rigg und werfen uns am Steg ordentlich auf die Seite. Die Creme, die Cati bekommen hat, sollen wir zweimal täglich mit einem Wattestäbchen auf die Blasen auftragen. Doch ich bin ein wenig skeptisch, denn auf der Tube steht, dass das Mittel eigentlich nur bei Lippenherpes verwendet werden soll. Und tatsächlich, die Blasen werden immer mehr und immer größer. Catis ganze rechte Körperhälfte, von der Wirbelsäule bis zur Brust, ist voller prall gefüllter Blasen. Die Schmerzen sind nur mit hoch dosierten Paracetamol-Tabletten zu ertragen, und obwohl draußen 25 °C herrschen, läuft innen der Heizlüfter, weil Cati sonst eine Gänsehaut bekommt. Und die schmerzt. Als wir eines Abends einen Film auf dem Laptop schauen, erschrickt Cati über eine überraschende Wendung im Filmgeschehen und jammert minutenlang vor Schmerzen, die das plötzliche Zusammenzucken verursacht hat. Es muss etwas ieren. Das ist mir klar. Nur was? Ich kann schlecht mit Cati 60 Seemeilen gegen den starken Wind nach Nassau durchbolzen, wenn ihr schon bei der leichtesten Berührung die Tränen kommen. Als es Cati nach einer Woche eines Abends vor Schmerzen überhaupt nicht mehr aushält, gehen wir zu unseren kanadischen Nachbarn Christelle und Gary rüber, um um Hilfe zu bitten. »Ihr habt Glück«, sagt Christelle. »Frenchie ist gerade aus dem Urlaub zurück.« Frenchie ist die Krankenschwester, die hier für gewöhnlich Dienst auf der Insel tut, und der Asiat, den wir für einen Arzt hielten, war nur ihre Vertretung. Als Frenchie 20 Minuten später aus dem Auto steigt und uns begrüßt, wissen wir auch, woher ihr Spitzname kommt, denn sie ist ganz klar Französin, spricht aber gutes Englisch. »Shingles hat sie?«, fragt sie ganz ungläubig. »Das hatten wir hier ja noch nie. Und es gibt hier auch keine enden Medikamente. Wir sind ja schließlich nur eine kleine Inselklinik, da können wir nicht für alle Fälle gewappnet sein.« Das hatte ich mir schon gedacht. »Das hat er euch gegeben?«, fragt Frenchie nach, als wir ihr die Tube mit der Creme zeigen. »Für das Zeug im Vorrat habe ich jahrelang gekämpft. Denn es gibt hier einen Anwohner, der ab und zu Lippenherpes hat. Aber gegen Shingles hilft das nicht.« Schnell ist eine große Spritze aufgezogen, und Cati muss die Hose runterlassen. »Das sollte dir gegen die Schmerzen helfen«, erklärt Frenchie. »Aber du musst nach Nassau fliegen und dich dort behandeln lassen.« Cati kommen die Tränen. »Sie ist wirklich nicht transportfähig«, wende ich ein. »Sie kann ja noch nicht mal in einem
Flugzeug sitzen und sich anlehnen.« »Aber es gibt keine andere Möglichkeit«, erwidert Frenchie. »So ist das nun mal hier auf der Insel.« »Und wenn ich fliege und die Medikamente hole?« »Dann müsstest du in Nassau erst mal einen Arzt finden, der dir ein Rezept ausstellt.« »Kannst du das nicht machen?« Frenchie überlegt eine Weile. Eine lange Weile. Wahrscheinlich darf sie keine Rezepte ausstellen. »Ich komme in einer halben Stunde wieder«, sagt sie. Und das tut sie auch. Mit zusätzlichen Schmerztabletten und einem Rezept. Was für eine Erleichterung. Am nächsten Morgen werde ich zum Flughafen mitgenommen und bekomme tatsächlich einen Flug im nächsten Dschungelbomber. Dieser dauert nur 20 Minuten, ist aber ein fantastisches Erlebnis. Wann kann man schon mal diese sandige Inselwelt mit ihrem türkisfarbenen Wasser von oben sehen? In Nassau angekommen, steht mir ein langer Fußmarsch bevor, da ich mir das Taxi sparen will. Ich habe ja sechs Stunden Zeit, bis der Rückflug geht. Immer an der Schnellstraße entlang in Richtung Westen. Dort finde ich nach etwa einer Stunde ein kleines Einkaufszentrum mit Apotheke und muss sogar noch etwas warten, bis sie öffnet. Nebenan befindet sich zufälligerweise ein Supermarkt mit Bäckerei und Café. Also genehmige mir einen Kaffee und ein Croissant. Das erste französische Croissant, seit wir Camaret-sur-Mer vor etwas über einem Jahr verlassen haben. Was für ein Gedicht! Zurück in der Apotheke habe ich Glück. Frenchie hatte mich gewarnt, dass die Tabletten um die 250 US-$ kosten würden, doch tatsächlich sind es nur 70 US-$. Innerhalb von zehn Minuten bin ich dort fertig und habe dann noch Zeit übrig, bis der Rückflug geht. Die neuen Pillen sind zwar viel zu gering dosiert, aber wirken trotzdem Wunder und schlagen sofort an. Schon am zweiten Tag bilden sich die Blasen langsam zurück. Wir bleiben jedoch noch weitere eineinhalb Wochen in der Marina, bis Cati sich wieder ganz erholt hat.
DURCH DIE KEYS
Von Johannes
Von Miami aus, wo wir wegen eines Fotoshootings für die amerikanische Modemarke Vineyard Vines waren, brauchen wir nicht weit zu segeln, um unser nächstes Ziel zu erreichen. Eine Gegend, die ich schon seit langer Zeit erkunden wollte: die Florida Keys. Denn diese Inselkette aus über 200 flachen Inselchen von Key Largo bis Key West hat einen ganz besonderen Charme, war sie doch vor gut 100 Jahren noch fast unbesiedelt und Heimat von Schatzsuchern, Schmugglern und Strandräubern. Schon zu Zeiten der großen, mit Gold beladenen spanischen Schatzflotten von Mittelamerika zurück in die Alte Welt geschah es häufig, dass schwere Galeonen im Sturm auf den flachen Riffbänken der Keys strandeten. Später waren es dann Strandräuber, die die Schiffe durch Irrlichter auf die Klippen lockten, um sie auszurauben, außerdem viele Abwracker, die aus dem Schaden der Gestrandeten große Profite zogen. Die Keys waren damals die schwer zu überwachende Heimat vieler Ganoven. Key West ist heute als südlichste Stadt der USA ein beliebtes Ziel von FloridaUrlaubern. Die einstige Wahlheimat von Ernest Hemingway ist erst 1820 gegründet worden und war bis 1935 nur sehr beschwerlich per Bahn zu erreichen. Heute führt eine 164 Kilometer lange Schnellstraße über 42 Brücken von Key Largo nach Key West. Hinter Key West schließen sich noch zwei weitere Inselgruppen an, die kaum einer kennt, aber schon lange auf meiner Liste stehen: die Marquesas, die 35 Seemeilen westlich von Key West liegen, und vor allem die Dry Tortugas, 70 Seemeilen westlich. Vor vielen Jahren habe ich mal ein Foto einer Segelyacht gesehen, die im flachen Wasser neben einem gewaltigen Fort ankert, das mitten im Atlantik steht. Ich habe gelesen, dass die flachen Inseln im Jahr 1513 von Juan Ponce de León entdeckt wurden. Gut 300 Jahre später, ab 1846, begannen die Amerikaner, auf den Dry Tortugas das Fort Jefferson zu bauen, um den Golf von Mexiko zu überwachen. Seitdem möchte ich dort hin. Doch die Reise die Inselkette entlang verspricht noch mehr Highlights. Unser erstes Ziel ist Key Largo, vielen aus dem Humphrey-BogartFilm Die Gangster von Key Largo bekannt.
Auf Key Largo lebt Bernie, der eigentlich Bernd heißt und den wir im letzten Sommer in Nassau kennengelernt haben, als uns Freunde in die unsagbar teure Marina Lyford Cay eingeladen hatten. Ein exklusiver Club im Westen Nassaus, der es Nichtmitgliedern erlaubt, maximal fünf Nächte pro Jahr im Hafen als Gast zu sein. Deshalb liegen auch meist nur die Schiffe der Clubmitglieder am Steg, alles Megayachten oberhalb der 70 Fuß. Die Liegegebühr ist hoch, 7,50 US-$. Nicht etwa pro Meter, sondern pro Fuß! Aber wir waren eingeladen und nutzten die Gelegenheit, unsere Wäsche zu waschen. Irgendwann klopfte es an Deck. »Ich habe die deutsche Flagge gesehen und wollte mal Hallo sagen«, begrüßte uns ein großer, drahtiger Mann mit blauen Augen und wettergegerbter brauner Haut. »Ich bin Bernd«, stellte er sich vor, »oder Bernie.« Bernie hatte viel zu tun. Er war Skipper an Bord einer Megayacht, einer 80 Fuß langen Marlowe. Brandneu. Die Eigner waren gerade von Bord gegangen, und er wollte morgen ebenfalls zurück nach Florida fliegen und das Schiff ein paar Wochen hier zurücklassen. Zwischen Schiff und Waschmaschine fand er immer wieder ein paar Minuten, bei uns für ein bisschen Small Talk zu stoppen und uns ein paar Tipps für die weitere Reise zu geben. »Ihr navigiert mit dem iPad? Das mache ich auch meist, besser als vieles, was an Technik auf den Schiffen montiert ist. Aber wechselt lieber zu Garmin. Navionics ist okay, aber Garmin ist besser für die Bahamas und die USA«, riet er uns. Das liegt vor allem an einer Integration, die nur Garmin bietet: Active Captain. Ich war dort schon angemeldet, hatte es aber nie genutzt. Dabei ist Active Captain klasse: Es ist ein kostenloses, von vielen Seglern genutztes Portal, das von den n aktualisiert und geändert werden kann. Auf einer Google-Maps-Karte lassen sich Piktogramme einpflegen, die mit Infos versehen werden. Yachthäfen, Ankerplätze, Warnhinweise, Bewertungen usw. Man scrollt durch die Seite und liest die Infos. Aber bisher ging das nur online. Daher war ich total begeistert, als Bernie mir sein iPad zeigte: »Du kannst die ganzen Infos in die Garminkarte laden und dann offline nutzen.« Was für ein cooles System. Die nächsten Jahre werden wir nur noch Gar-min nutzen und uns ständig Infos und Tipps über die Piktogramme holen. Sie ersetzen unzählige Revierführer. Als wir dann am nächsten Tag im Begriff waren, abzulegen, klopfte Bernie noch einmal. »Ihr wollt doch weiter. Deshalb dachte ich, ich gebe euch noch ein paar Sachen mit«, sagte er und überreichte uns einen großen Plastikbeutel in der Größe eines Müllsacks. »Das Schiff liegt ja jetzt eine Weile allein hier, und es wäre schade, wenn all die Sachen aus dem Kühlschrank schlecht werden.« Wir freuten uns riesig und bedankten uns. Aber erst als Bernie weg war und wir den
Sack unter Deck auspackten, sahen wir, was für wunderbare Dinge dabei waren. Eier, Käse, tiefgefrorene Hähnchenbrüste, Snacks, Wurst, sogar Spargel! All die Sachen, die wir uns schon monatelang nicht mehr geleistet hatten, da sie in der Karibik und auf den Bahamas zu teuer sind. Die nächsten Abende gab es ein Festessen nach dem anderen. Über die folgenden Monate sind wir mit Bernie in Kontakt geblieben, haben so manchen Tipp für die Ostküste bekommen und wollen ihn nun natürlich zu Hause auf Key Largo besuchen. Er lotst uns zu einem Ankerplatz im Osten der Insel. Das fühlt sich erst mal gar nicht gut an, so ungeschützt vor dem Atlantik. Aber Bernie ist ja hier zu Hause und meint, dass wir bei der Wetterlage die nächsten Tage hier gut ankern können. Bernie kommt eigentlich aus Bonn und hat Anfang der 1990er-Jahre als Student Florida besucht. Von diesem Urlaub ist er nie so richtig zurückgekommen, sondern bald darauf in die USA ausgewandert. Seit mehr als 25 Jahren ist er nun schon im Land, hat anfangs als Kapitän auf Tauchbooten die Keys und Bahamas befahren, jetzt auf Megayachten, die er nicht nur skippert, sondern bei denen er sich auch um Pflege und Wartung kümmert. Ein toller, aber umfangreicher Job, den es in Deutschland mangels Megayachten so gar nicht gäbe. Mit seinem neuen Stand-up-Paddle-Board kommt Bernie zu uns herüber und heißt uns willkommen. »Ihr könnt euer Dingi bei meinem Freund Mick festmachen, wenn ihr an Land wollt. Der wohnt hier gleich nebenan«, erklärt er und nimmt uns gleich mit. »Kommt, ich zeig euch die Insel.« Mit seinem schwarzen Mercedes fährt er mit uns zum »Caribbean Club«, ein paar Kilometer den Highway hinunter gen Key West. Das Motto des Clubs lautet »Wo der berühmte Film gedreht wurde«. Das bezieht sich natürlich auf Die Gangster von Key Largo, und der Schuppen ist auch voller Andenken und Erinnerungen an den Streifen. »Aber gedreht wurde der Film natürlich komplett im Studio in Hollywood«, weiß Bernie. Trotzdem ist der Sundowner im Club ein großartiges Erlebnis, denn die Sonne geht genau im Westen, hinter Palmen, im Wasser unter. Ein wunderbarer Anblick. Selten haben wir einen so schönen Sonnenuntergang gesehen. »Den nächsten Drink sollten wir aber woanders nehmen«, schlägt Bernie vor, und wir fahren weiter. Zurück nach Norden. Nach ein paar Kilometern biegt Bernie nach rechts ab und stoppt am Straßenrand vor einem unscheinbaren Schuppen, um den herum lauter Sperrmüll aufgehäuft ist. Ein unscheinbarer
Laden, aber auf dem Schild über der Tür steht »Shipwreck Bar & Grill«. Und plötzlich erkennen wir, dass da kein Sperrmüll herumliegt. Vielmehr besteht die ganze Bar aus Wrackteilen, die auf den Florida Keys angespült und aufgelesen wurden. Wahnsinn! Was für ein spannender Laden. Am nächsten Tag muss Bernie arbeiten, deshalb erkunden wir Key Largo allein. Zunächst mit dem Dingi, denn Bernie hat uns erzählt, dass ein Freund von ihm ein ganz besonderes Boot besitzt und damit Rundfahrten mit Touristen macht. Von unserem Ankerplatz erreichen wir schnell einen langen Kanal, der L-förmig quer durch eine Wohngegend führt. Von diesem wiederum zweigen sechs weitere Kanäle ab. Alles in allem bildet das Kanalsystem ein Quadrat mit einer Grundfläche von etwa einem Quadratkilometer, in dem etwa 120 Hä stehen, allesamt mit Privatstegen und Booten davor. Ganz am Ende des langen Kanals liegt ein kleiner Yachthafen mit einer Bar – und in der letzten Ecke das Schiff von Bernies Freund, das ich unbedingt sehen möchte: die AFRICAN QUEEN. Kein Nachbau, keine Attrappe, sondern exakt das Schiff, mit dem Humphrey Bogart im gleichnamigen Film von 1951 auf afrikanischen Flüssen unterwegs war. Ein Großteil des Films wurde tatsächlich auch in Uganda und im Kongo gedreht. Das gut zwölf Meter lange Schiff war 1912 in England aus Stahl genietet worden und war tatsächlich bis zum Beginn der Filmarbeiten als Flussfrachter in Afrika unterwegs. Auf jahrzehntelangen, verschlungenen Wegen war das Schiff dann irgendwann in die Hände von Bernies Freund gelangt, restauriert worden und fährt heute wie damals unter Dampf. Sogar die Außenhaut ist in rostigem Originalzustand gehalten. Auf dem Rückweg ieren wir ein Motorboot, das in seinem Namen den Zusatz »XS« trägt. »Oh, das müssen wir uns merken«, sage ich zu Cati, denn wir haben überlegt, welche Zusätze man eventuellen Schiffen nach MAVERICK TOO noch geben könnte, um Zahlen zu umgehen. Wilfried Erdmann hat es mit seiner KATHENA immer sehr geschickt gemacht. Faa, Iti, Nui, Ina, Gunilla, X … »Wir ergänzen den Namen einfach mit Größenzeichen«, sage ich. »Wird das nächste Schiff kleiner, dann S oder XS, wird es größer, dann L oder XL.« Die Tage und Abende fliegen nur so dahin. Am nächsten Tag wollen wir uns bei Bernie für die vielen Einladungen bedanken und laden ihn auf einen Burger ins »Pilot House Restaurant« ein, in der Marina, in der er ohnehin gerade an einem Boot arbeitet. Eine tolle Kulisse: Die Tische stehen auf einer überdachten Außenterrasse über dem Wasser. In den Holzboden sind etwa einen Quadratmeter große Glasplatten eingelassen, durch die man ins Wasser gucken
kann. Dort, wo wir sitzen, ist es etwa sechs Meter tief. Trotzdem ist im blauen und weißen Scheinwerferlicht jedes Detail, jeder Fisch zu erkennen. Wir genießen den Abend und das Essen und plaudern. Unsere Bedienung ist ein quirliges Mädchen, das ein bisschen tollpatschig zu sein scheint, dafür aber unheimlich nett. Als sie mit der Rechnung kommt, zücke ich meine Kreditkarte. An den ledernen Mappen, in denen die Rechnung liegt, gibt es in den USA häufig kleine Fächer für Kreditkarten. Dort lässt sich die Karte so einstecken, dass ein Teil noch herausschaut und die Bedienung von Weitem sieht, dass kein Bargeld in der Mappe liegt, sie also die Karte noch einlesen und dann mit Stift und Ausdruck für eine Unterschrift wiederkommen muss. Als sie meine Karte sieht, greift sie eilig nach der Mappe, die ihr aber gleich wieder aus der Hand rutscht und unter dem Tisch verschwindet. »Ups«, lacht sie und hebt die Mappe auf. »Aber war da nicht eben noch eine Kreditkarte drin?«, sagt ihr fragender Blick. Vier Augenpaare wandern gleichzeitig hinunter zu der Glasplatte. Dort im Scheinwerferlicht sinkt meine Kreditkarte langsam und mit sanften Kreisbewegungen dem Grund des Hafenbeckens entgegen. Wir sitzen stumm auf unseren Stühlen und blicken dem Stück Plastik hinterher. »Hey, Amanda, komm mal gucken«, ruft sie ihre Kollegin, die sich gleich dazugesellt, ebenfalls nach unten schaut und in Lachen ausbricht. »Ach du Scheiße!« »Was machen wir denn jetzt?« »Wir müssen Bob fragen«, ist ihr Kommentar. Bob ist gleich zur Stelle und stimmt in das Gelächter ein. »Was machen wir denn jetzt?«, stupst mich auch Cati von der Seite an. »Ich glaube, gar nichts«, erwidere ich. »Das ist doch bestimmt nicht zum ersten Mal iert. Irgendwen werden die da schon runterschicken.« Mittlerweile stehen gut zehn Leute an der Glasscheibe und schauen auf meine Kreditkarte. Es werden ständig mehr. Bob hat eine Lösung: »Morgen kommt ein junger Kollege, den schicken wir da runter. Dann könnt ihr die Karte nachmittags abholen. Eure Getränke gehen dafür aufs Haus. Habt ihr zufällig für den Rest Bargeld dabei?« Diese Idee gefällt mir gar nicht. Zum einen löst sich der Papierstreifen auf der Rückseite mit Unterschrift und Sicherheitsnummer im Wasser auf. Und außerdem weiß mittlerweile der halbe Laden, dass meine Karte da unten liegt. Wenn das Restaurant dann morgen um 11 Uhr wieder aufmacht, kann sich bis dahin jeder mit einer Taucherbrille bedient haben. Mittlerweile stehen gut 15 Leute bei uns, auch viele Kinder haben ihren Spaß daran: »Hey, dem ist seine Kreditkarte da reingefallen!« Doch das Interesse ebbt nach ein paar Minuten ab. Auch die Bedienung hat mittlerweile das Interesse verloren und ist zu den Tischen zurückgekehrt. Nur die Kinder sind noch da. Da
taucht plötzlich wie in einem James-Bond-Film aus dem Dunkel der Nacht ein Schatten ins Bild. Schwarze Taucherbrille, schwarze Flossen, schwarze Badehose. Nur zwei oder drei Sekunden lang ist der mysteriöse Taucher im Scheinwerferlicht, taucht mit schnellen Schlägen hinunter auf sechs Meter Tiefe, greift nach der Karte, macht einen Salto und ist auch schon wieder im tiefschwarzen Wasser verschwunden. »Wow!!!«, staunen die Kinder. »WER war das?« Ich ahne es. Etwa fünf Minuten später schleicht sich Bernie von der Seite heran und schaut mit uns in die Tiefe. Seine Haare sind noch etwas feucht. Unauffällig steckt er mir meine Kreditkarte zu. »Hast du das gesehen?«, fragt ihn ein kleiner Junge mit weit aufgerissenen Augen. »Was war denn?«, fragt Bernie. »Da war ein Taucher, aus dem Nichts! Der hat die Karte gegriffen und ist in der Nacht verschwunden. Ein cooler Typ!« Mit seinen Händen zeichnet er den Salto nach. Bernie lächelt verschmitzt und lässt sich nichts anmerken.
EIN WIEDERSEHEN MIT DER VERGANGENHEIT
Von Johannes
Es gibt bestimmte Dinge, mit denen ein Mensch innige Beziehungen eingeht. Ein Paar Schuhe, richtig schön eingelatscht, oder eine Geldbörse, deren Leder sich wunderbar an die Form des Hinterns anget hat. Das erste eigene Auto. Oder eben ein Schiff. Vor allem, wenn man eine besondere gemeinsame Reise erlebt hat. Seitdem ich meine »kleine« MAVERICK im Juli 2006 in Charleston in den USA verkauft habe, fehlt sie mir. Immer wieder habe ich in den folgenden Jahren Kontakt mit den neuen Eignern gesucht. Ihr erster Käufer hieß Glenn Carter. Dem wurde das kleine, etwas eigenwillige (unheimlich luvgierige) Schiff aber schnell zu klein, sodass er es an Robert Winter verkaufte. Diesen habe ich 2008 in St. Marys in Georgia kennengelernt. Bob war damals ein rüstiger, winziger älterer Herr mit schneeweißem Haar und vollem Bart, der mir sofort eine Tasse Kaffee anbot, als ich ihn auf der MAVERICK besuchte. Da saß ich dann also wieder in meinem alten Salon, in dem sich einiges geändert hatte. Der Petroleumkocher war durch eine Mikrowelle und eine Kaffeemaschine ersetzt worden. Außerdem gab es eine Kühlbox und einen Fäkalientank. Bob hatte viele Fragen, denn er hatte das Schiff ohne viele Erklärungen gekauft. »Ich fummele mir hier alles zurecht, weiß aber nicht so ganz, wohin was gehört«, erklärte er. Irgendwann schaute ich auf die Edelstahltasse in meiner Hand. »Haha, das war mal meine«, lachte ich und stutzte. Wahrscheinlich hatte er den Edelstahlbecher auch an Bord gefunden und gedacht, der wäre zum Trinken da. Aber das war der Becher mit dem abgerissenen Griff. »Den habe ich damals zum Ausschöpfen des Dingis benutzt«, lachte ich.
Bob war Rentner, früher Fotograf bei der Navy. »Mein großer Traum ist es, mal auf die Bahamas zu segeln«, sagte er und freute sich. »Das Schiff ist dort ja schon gewesen.« Noch einen Sommer lang wollte er daran basteln und dann den Sprung über den Golfstrom wagen. Ich wünschte ihm alles Gute und überreichte ihm Film und Buch über meine Reise mit MAVERICK. Er freute sich gewaltig, war stolz auf sein Schiff und versprach, die Bilder all seinen Freunden zu zeigen. Die Verabschiedung war herzlich, und ich konnte glücklich fahren. »Es ist schön, MAVERICK in so guten Händen zu wissen«, sagte ich ihm. Ich war schon auf dem Weg von Bord, da kam mir in den Sinn: »Bob, wenn du das Schiff irgendwann mal verkaufen willst, melde dich vorher bei mir.« »Das mache ich sicher«, versprach er mir. »Aber so schnell wird das noch nicht sein.« Im Herbst 2012 erreichte mich dann eine Mail: »Johannes, ich muss MAVERICK leider verkaufen.« Das Timing war für mich allerdings schlecht, denn wir hatten gerade mit dem großen Refit von MAVERICK TOO begonnen, und das Geld war knapp. Drei Monate später meldete sich dann Bobs Kumpel Charlie bei mir. »Bob hat immer von dir erzählt und stolz die Bilder von deiner Reise gezeigt«, begann er. »Deshalb wollte ich dir Bescheid geben. Bob ist gestorben. Das Schiff steht nun in der Werft an Land«, erklärte Charlie. »Bobs Familie hat alle wertvollen Dinge ausgeräumt und die Bank ihre Hand auf das Schiff gelegt, da noch ein paar Hypotheken auf dem Haus lasten.« Ein bitteres Ende. Die Werft schrieb mir dann, dass die Bank sehr viel Geld dafür haben wolle. Doppelt so viel, wie es wert war. Utopisch. Zwei Jahre lang wusste ich nicht, was weiter mit MAVERICK iert ist. Bis sich im Sommer 2014 Yvonne bei mir meldete. »Hallo, wir haben deine Mailadresse im Internet gefunden. Ein paar Leute haben uns erzählt, dass du mit unserem Schiff über den Atlantik gesegelt bist.« Ich freute mich unheimlich. Noch dazu, dass ein junges Paar das Schiff gekauft hatte. »Wir sind mit einem Paddelboot den Mississippi hinuntergefahren, haben dann ein 22-Fuß-Boot gekauft, sind die Ostküste entlang und in St. Marys gelandet. Dort lag MAVERICK verlassen in der Ecke. Also haben wir sie gekauft.« Um die 1.000 US-$ soll sie gekostet haben, erfuhr ich später. Aber erst mal wollte ich wissen, mit wem ich redete. Ich kopierte die Mailadresse und suchte bei Facebook, hatte sofort einen Treffer. Allerdings nannte sich die Person dort Critter, was meist abwertend »Kreaturen« bezeichnet, im deutschen Sinn von »Viecher«.
»Ach du Scheiße!«, entfuhr es mir laut. »Die sehen ja aus wie Hippies!« Ich scrollte durch die Facebook-Bilder. »Oder Gothics.« Aber das mussten sie sein. Auf den letzten Bildern sah ich MAVERICK und Aufnahmen von der Taufe. Auf den Bildern markiert war ein Typ, der sich Ramblin Rabble nannte. »Das muss ihr Kerl sein«, dachte ich. Sein ganzer Körper war tätowiert und gepierct, und in seinen langen Haaren waren Knochen eingeflochten. Ihr Geld verdienten sie meinen Recherchen zufolge mit Feuerspucken und Betteln. Aber sie schienen wirklich nett zu sein. »Wir haben das Schiff umgetauft«, erklärte mir Critter in der nächsten Mail. »Jemand hatte uns erzählt, dass Bob Winter so unheimlich gern in die Bahamas gesegelt wäre. Also haben wir sie WINTERS DREAM genannt.« Wow, das war ja wirklich liebevoll. Die beiden wurden mir immer sympathischer. Die folgenden zwei Jahre blieb ich mit beiden bei Facebook verbunden und bekam mit, dass Yvonne sich aus dem Staub machte und Ramblin Rabble eine neue Freundin fand, die sich The Little Rascal (das kleine Schlitzohr) nannte. Und die beiden wohnen an Bord der WINTERS DREAM auf der Insel Marathon. Das ist gleich neben Key Largo! Ich bin daher unheimlich aufgeregt, als wir nach Marathon Key kommen. Und habe auch ein wenig Angst, dass mein Bild der kleinen MAVERICK zerstört wird, denn ich erwarte, dass vor mir ein heruntergekommenes Schiff voller Muschelbewuchs an einer vor Algen grünen Ankerleine in der Bucht liegt. So wie die Boote der vielen Liveaboards, die uns durch ganz Florida hinunter begegnet sind. Wir steuern Boot Key Harbor von Westen an, lassen die phänomenale Seven Mile Bridge links liegen und motoren den schmalen Kanal hinauf. Unser erster Eindruck von Marathon Key ist nicht schlecht. Rechts Mangroven, links die Stadt. Uns fällt eine Kneipe auf, die so richtig ins Bild der Keys t: eine große Holzhütte, deren obere Etage als offene Tiki-Bar gebaut ist und von einer großen Bar dominiert wird. »Burdines Waterfront Grill«, davon hat uns Bernie vorgeschwärmt und die Burger empfohlen. Wir ieren eine offen stehende Brücke, die so rostig aussieht, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob sie überhaupt noch in der Lage wäre, zu schließen. Vor uns öffnet sich ein großes Ankerfeld, in dem etwa 100 Schiffe liegen. »Das sind die Leute, die keine Muring bekommen haben oder sich keine leisten können«, sage ich zu Cati. »Schau dir das Muringfeld an. Dort liegen gut 230
Boote!« Und tatsächlich, so weit das Auge reicht: Schiffe an Bojen. Fein säuberlich ausgerichtet. »Ich hab gelesen, das hier soll eine der größten Boater Communitys sein.« Wir wollen uns allerdings das Geld sparen und den Anker werfen. Die Nacht an der Boje kostet 22 US-$, die Woche 85 US-$. Dafür kann man an Land die Duschen und das Dingidock benutzen. Aber wollen wir so lange bleiben? Und überhaupt, wir sehen keine freie Boje. Kurz vor dem Ende des Ankerfelds entdecke ich dafür wieder mal vertraute Linien. Ich werde ganz ruhig, aber mein Herz schlägt mir bis in den Hals. »Da ist sie. Da ist MAVERICK«, sage ich leise. Wir nehmen direkten Kurs und drehen eine Runde um mein altes Schiff, das dort in der Tat ein wenig verlottert am Haken hängt. Was mir auffällt: Sie sieht unheimlich klein aus. Wir werfen den Anker direkt neben ihr, und ich setze mich mit einer Cola auf die Steuerbank und schaue hinüber. Und zum ersten Mal sehe ich mich und meine damalige Reise so, wie mich andere Segler vor zehn Jahren gesehen haben müssen. »Was? Mit DEM Boot bist du über den Atlantik gesegelt? Irre.« Wir haben in den vergangenen Monaten oft überlegt, wie es wohl wäre, wenn der 19-jährige Johannes mit MAVERICK irgendwo unterwegs auf den 30jährigen Johannes mit MAVERICK TOO träfe. Der junge Johannes wäre vermutlich vollkommen begeistert von der Contest 33: perfekte Größe und super ausgestattet. All die Technik, die vielen Segel, ein Backofen und ein Kühlschrank. Und was würde der alte Johannes denken? Genau das: »Wow, ist die klein!« Es scheint keiner zu Hause zu sein. Doch dann kommt ein Paddelboot, das könnten sie sein. Sie schauen herüber, winken. Ich hatte uns per Facebook angekündigt, daher wenden sie und kommen auf uns zu. »Hey, da seid ihr ja!«, ruft Rabble und freut sich. »Yeah, we made it!«, antworte ich. Die beiden kommen längsseits und an Bord. Sie sind völlig begeistert von unserem Schiff. »Wow, alles so gepflegt!« Ich verkneife mir den Spruch: »Ja, so könnte MAVERICK mit ein bisschen Pflege auch aussehen.« Wir bieten ein Bier an. »Wow, ihr habt einen Kühlschrank?« Genau die Reaktionen, die ich vom jungen Johannes erwartet hätte. Dabei ist Rabble älter als ich. Dann entdecken die beiden das Bild von MAVERICK an unserem Schott, vor Anker in den Tobago Keys. »Hey, das ist ja unser Schiff!« Wir plaudern eine gute Stunde lang und verstehen uns überraschend gut. Ich hatte ein bisschen Sorge, ob wir mit den beiden Gesprächsthemen hätten. Unter normalen Umständen wären wir bestimmt nie ins Gespräch gekommen. Dabei sind die beiden wirklich
unheimlich nett und höflich. Wie der optische Eindruck doch täuschen kann. Welche Pläne sie haben, fragen wir. »Das wissen wir noch nicht so recht. Pläne zu machen ist, wie Träume mit dem Stock bei Ebbe in den Sand zu kratzen. Dann kommt die Flut, und alles sieht wieder ganz anders aus«, sagt Rabble. Ich staune, wie tiefgründig und philosophisch er ist. Irgendwann wollen sie auf die Bahamas. Aber wann? »Das wird sich ergeben.« Wie die beiden Geld verdienen, möchten wir wissen. »Wir haben immer Feuershows am Mallory Square in Key West gemacht. Dort treffen sich immer allerlei Straßenkünstler. Außerdem basteln wir Schmuck aus Treibgut und verkaufen ihn.« Ab und zu bloggt Rabble auch sein Logbuch. Was er schreibt, klingt immer wie aus einem Piratenroman. »Ein paar Leute haben mir geraten, ich sollte eine Crowdfunding-Seite erstellen und versuchen, damit etwas Geld zu verdienen.« Die Idee gefiel ihm aber nicht. »Warum sollen mir die Leute mein Leben bezahlen?«, fragte er sich. Und entwickelte eine andere Idee: »Wir haben solch eine Seite aufgemacht und darin gesagt: Jedes Mal, wenn uns jemand 5 US-$ gibt, dann sammeln wir einen großen Sack voll Plastikmüll aus den Mangroven.« Das scheint zu funktionieren, denn ich habe die Bilder davon bei Facebook gesehen. »Geld, Geld … wenn das nicht wäre, dann könnte man überall hinsegeln. Aber wir kommen immer hin«, sagt Rabble. Jetzt ist meine Chance, einen guten Spruch anzubringen. Ich zitiere Sterling Hayden, den alten Schauspieler und großen Segler: »Um wirklich herausfordernd zu sein, muss eine Reise, so wie auch das Leben selbst, auf einem soliden Fundament finanzieller Probleme stehen.« Ein wunderbarer Spruch, der auch mir immer wieder Mut gemacht hat. Er stammt aus Haydens Buch Wanderer. Die ganze age zur Bedeutung von Geld auf Reisen hat etwa 20 Zeilen und ist sehr lesenswert. Auch Rabble kommt ins Schwärmen: »Ich weiß, wer das geschrieben hat. Das Buch suche ich schon seit Langem in den Bibliotheken, habe es bisher aber nie gefunden.« So nett die beiden auch sind, sind wir doch müde, müssen noch ein paar Sachen an Bord aufräumen und wollen noch kurz zum Einkaufen an Land. Ich versuche, sie mit einer neuen Verabredung von Bord zu bekommen. »Ich komme morgen mal rüber und schaue mir euren Motor an«, leite ich ein und erkläre, was wir noch zu tun haben. Ich hatte bei Facebook gelesen, dass er nicht mehr anspringt. »Was braucht ihr denn vom Supermarkt?«, fragt Rabble. »Och, das Übliche, Kekse und Käse«, scherzt Cati. Eine Stunde später wollen wir gerade das Dingi zu Wasser bringen und
aufbrechen, da kommen die beiden noch mal längsseits. »Hier, dann spart ihr euch heute den Weg und könnt an Bord ausspannen«, lachen sie und reichen uns eine Tüte. Ehe wir fragen können, was wir ihnen schulden, sind sie wieder weg. Wir schauen hinein – richtig leckere, teure Kekse und Gouda. Wir selber kaufen ja immer nur die Billigsorten. Dass dann gerade diese beiden uns solch teure Sachen kaufen, berührt uns tief. Am nächsten Morgen fahre ich rüber zur MAVERICK. Der aufgeblasene Gummiwulst unseres Dingis reicht fast bis ans Deck der kleinen Fellowship 27. »Wow, ich wusste gar nicht mehr, dass sie derart wenig Freibord hat«, staune ich und greife zum Aufentern in die Wanten. Schwabbelig und lose. Und viel schlimmer: Sie fühlen sich so dünn wie unser Relingsdraht an. Eigentlich sogar eher noch dünner. Für mich ist das Wiedersehen mit meinem alten Boot wie ein kleiner Schock. Erst mal die Optik, denn sie ist wirklich ganz schön heruntergekommen. Aber auch die Ausmaße. Sie ist viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Auf dem Achterdeck ist eine Neun-Kilo-Gasflasche für den Kocher. Unter Deck fehlt die Deckenverkleidung. Früher war dort beiges Kunstleder. »Bob hat leider sehr viel Pfeife geraucht, deshalb war der Himmel schwarz, und wir haben das Kunstleder herausgerissen«, erklärt Rabble. Die zahlreichen Rußspuren könnten aber auch von der Petroleumlampe stammen. Die war damals auf Elektro umgerüstet, Bob muss sie aber wieder zurückgebaut haben. Rabble und Darla hatten neues Kunstleder gekauft, das Muster aber blöderweise spiegelverkehrt aufgezeichnet, sodass sie alles nur noch wegwerfen konnten. Um den blanken GFK-Himmel zu kaschieren, hat Darla begonnen, ihn mit alten Seekarten zu bekleben. Ich klettere durchs Schiff, schaue in manche Ecken und entdecke Dinge, die ich gefühlt in einem anderen Leben gebaut habe. Die Elektrik habe ich mit 19 Jahren verlegt. Dafür funktioniert alles immer noch ganz okay, erfahre ich. Die Sitzpolster hat meine Mutter genäht, und es ist witzig, zu sehen, dass sie immer noch benutzt werden. Vieles ist wie damals, aber heruntergekommener. Anderes ist ganz anders. Über der Koje im Salon hängt ein Netz voller Früchte und mit meinem Buch, das ich den beiden am Vortag geschenkt habe, daneben ein Waschbärfell. Alles ist ziemlich schmuddelig, und in der Hundekoje liegen zwei Gewehre, größeres Kaliber. Ich mache mich an den Motor, der ebenfalls viel rostiger ist als damals. »Irgendwie lief der noch nie so richtig gut. Und jetzt sprang er zuletzt nur noch
sehr schlecht an«, erklärt Rabble. »Dabei hatten wir mehrere Mechaniker an Bord.« Ich schaue mir das grün-(rost-)rote Gebilde vom Cockpitluk aus an, verschaffe mir einen Überblick. »Und wenn er lief, hatte er nie so richtig viel Kraft«, ergänzt Rabble. Das ist merkwürdig, denn bei mir war er immer sehr stark. 23 PS für ein Acht-Meter-Boot. Damit konnte ich eigentlich bei jedem Wetter gegenan. Dann kommt mir eine Idee. Ich klettere in die Kajüte, klappe ein Kojenbrett hoch. Dort, etwas versteckt, gelange ich an den Ventildeckel des zweiten Zylinders und den Dekompressionshebel, der oben steht. »Kein Wunder«, sage ich. »Der Dekohebel ist oben. Der Motor ist die letzten zwei Jahre nur auf einem Zylinder gelaufen.« Ich frage mich, was für Mechaniker da am Werk waren. Ich klappe den Hebel runter, und der Motor springt an, läuft okay. Aber es kommt fast kein Kühlwasser. Ich checke die Schläuche und sehe, dass kein Filter installiert ist. Das Kühlwasser fließt zunächst durch das Getriebe und dann durch den Motor. Beim Prüfen der Kühlwasserleitung am Getriebe finde ich allerlei Muschelreste, der ganze Kanal ist verstopft. »Das ist nicht gut. Der Motor hat nie viel Kühlwasser bekommen.« Die Kopfdichtung scheint heil zu sein, aber die Muscheln müssen raus. Mit einem Draht geht es ganz gut, die Reste aus dem Getriebe zu schubsen. Aber es ist ein zeitaufwendiger Job. Ich übergebe an Rabble, der aber schnell die Geduld verliert. »Das mache ich die Tage mal«, sagt er. Später wollen Cati und ich was vom Ort sehen und machen uns auf den Weg. Vorher bringen wir aber noch ein paar Sachen zur MAVERICK I, wie Rabble sie mittlerweile in meiner Gegenwart nur noch nennt. Einen neuen Impeller, den wir noch von unserem baugleichen Volvo an Bord haben, und das von Rabble so gesuchte Buch Wanderer von Sterling Hayden. Ich hatte es teilweise gelesen, mich aber wegen der schwulstigen Sprache immer wieder festgebissen. Rabble freut sich sehr über das Geschenk. Von Rabble haben wir den Tipp bekommen, in die hinterste Ecke der Bucht zu fahren und dort an einer Kneipe festzumachen: »Die kassieren nur 5 US-$ fürs Anlanden, das Dingidock der Stadt kostet 20 US-$.« Dafür kann man am Citydock auch Müll loswerden und duschen. Es ist der Hammer: etwa 100 Meter lang und mit rund 70 Dingis belegt. Trotzdem ist der Preis von 20 US-$ echter Wucher, denn das sind nur 2 US-$ weniger als der für eine Muring. Man möchte wohl, dass die Gäste an einer Muring liegen, statt zu ankern. Wenn denn welche frei wären. Die Warteliste ist jedenfalls ellenlang.
Das Dingi lassen wir an der Bar und laufen hinunter zum Highway, der hier auf Marathon Key genau wie auf allen anderen Inseln der Keys nach Key West führt und die Hauptstraße bildet. Die Insel hat wenig Charme. Ein Highway, daneben einige Hä und Läden. Das wars. Wir kaufen ein paar Vorräte und machen uns auf den Rückweg. Am nächsten Tag legen wir vor Anker einen Hafentag ein, um kleinere Reparaturen am Boot zu erledigen. Der Tag beginnt mit dem Cruisers-Netz über UKW-Funk. Überall, wo viele Yachties an einem Ort liegen, gibt es solche Netze, und für uns ist es immer amüsant, zuzuhören. Die Funkrunden werden von täglich wechselnden Personen moderiert, und nach den neusten Updates zum Wetter und dem Leben hier darf sich dann jeder melden, der Veranstaltungstipps oder etwas zu verkaufen hat. Interessant für uns ist die Info, dass im örtlichen Supermarkt offenbar jemand mit einem Kreditkartenlesegerät Daten klaut. Die kontaktlose Bezahlmöglichkeit per Karte hat nicht nur Vorteile. »Es ist mir aufgefallen, dass sich ein Mann beim Einkaufen immer ganz nah zu mir gestellt hat«, berichtet jemand. »Zwei Tage später hatte ich dann merkwürdige Abbuchungen auf der Karte.« Andere Segler berichten, dass ihnen das auch iert sei. Während wir unter Deck sitzen, hängt draußen das Vorhängeschloss vorm Schott. Es soll aussehen, als wären wir nicht zu Hause. Denn draußen in der Bucht patrouilliert das Pumpout Boat. Dass das Dingi am Heck baumelt, macht nichts, denn hier haben fast alle Boote der Liveaboards mehrere Dingis am Heck. In den USA gibt es eine Fäkalientankpflicht für alle Boote. In Deutschland sind wir noch nicht unter diese Pflicht gefallen, da MAVERICK TOO zu alt und zu klein ist (vor 1980 gebaut und unter 11,50 Meter lang). Als wir dann in die USA eingereist sind, haben wir kurz überlegt, solch einen Tank nachzurüsten. Aber das wäre in unserem Boot mit der klassischen Bauform sehr schwierig gewesen, und es hätte wohl nur ein kleiner Alibitank hineinget. Mit Pumpe und allem hätte das 1.000 US-$ gekostet. Also hatten wir uns entschieden, ein Porta Potti zu kaufen und gleichzeitig das Seeventil mit einem Vorhängeschloss zu versehen. Das wird in den USA von der Küstenwache, die ab und zu kontrolliert, so akzeptiert. Nur in einer Gegend nicht: den Florida Keys. Dort ist man rigoroser und hat auch Porta Pottis verboten, da deren Inhalt häufig bei Nacht im Hafenbecken landet und in den Massen das Ökosystem belastet. Einzige Ausnahme sind Komposttoiletten, sodass mittlerweile gut ein Drittel der Yachten hier eine Komposttoilette an Bord hat. Deren Prinzip ist simpel, und die
Form ähnelt einem Porta Potti. Allerdings gibt es zwei Tanks, einen für Urin und einen für die festen Fäkalien. Während der Urin über Bord gekippt werden kann, werden die restlichen Fäkalien durch eine Klappe in eine luftdichte Kiste befördert, in der sie kompostieren. Durch ein Gebläse wird Sauerstoff hinzugefügt, damit der Kompostierprozess schneller abläuft. Eine kleine Kurbel an der Seite ist dafür gedacht, die Masse ab und zu durchzuquirlen. »Was für eine eklige Sache«, sind Cati und ich uns einig. Trotzdem schlage ich den Kollegen von der Yacht vor, eine Geschichte darüber zu machen, weil der Trend hier in den USA so groß ist. Nach einigen Tagen kommt die Antwort zurück: »Wir haben darüber gesprochen und waren uns einig: Dafür ist Deutschland noch nicht bereit.« Am Nachmittag wollen wir an Land, und ich wähle mit dem Dingi eine nördlichere Route um das Muringfeld herum. »Hey, guck mal!«, rufe ich über den Lärm des Außenborders hinweg. »Ist das nicht eine Contest 33?« »Nee, das ist irgendwas anderes«, antwortet Cati. Aber ich bin mir sicher und wende. Und tatsächlich, hier vor Marathon Key in den Florida Keys liegt eine der 188 je gebauten Contest 33. Vor Anker nahe den Mangroven. Eigentlich zu nah, denn es sieht aus, als würde sie auf Schiet sitzen. Offenbar haben die Eigner keine Ahnung vom Ankern. »Da ist jemand zu Hause«, freue ich mich. Wir sehen ein Pärchen, das gerade mit großen, leeren Pappkartons vom Cockpit in ein schmales Ruderboot umsteigt. »Die sind aber noch jung«, wundert sich Cati. Ungewöhnlich. »Ist das eine Contest 33?«, ruft sie dem Paar zu. Ungläubige Blicke. »Ja, ist es«, antwortet die junge Frau zögerlich. »Warum?« »Weil wir das gleiche Boot haben und nicht weit von euch ankern!« Die beiden wirken, als hätten wir sie mitten in einer wichtigen Aufgabe unterbrochen, und sind wenig gesprächig. Später erst erfahren wir, dass sie gerade eine Reihe schlechter Nachrichten über ihr Boot erhalten haben. Wir stellen uns vor: »Ich bin Cati, und das ist Johannes.« »Else und Johan. Wir kommen aus Holland.« Das Paar ist Ende 20, Anfang 30 und hat eine ganz ungewöhnliche Geschichte. Johan ist als Bauingenieur vor fast zwei Jahren nach Nassau gezogen, um dort für die Royal Bahamas Defence Force einen neuen Hafen zu bauen. Seine Freundin Else ist mitgekommen und hat dort einen Job bei der Weltgesundheitsorganisation gefunden. Dort, inmitten der Inselwelt, ist bei beiden beim sehnsüchtigen Blick aufs Meer der Traum entstanden, ein Schiff zu kaufen und nach Ablauf ihrer Arbeitsverträge auf den Bahamas die Segel zu
setzen. Else ist in ihrer Jugend mal gesegelt, Johan schon mit dem Land Rover quer durch Afrika gefahren. Das Abenteuer liegt beiden also im Blut. In Marathon Key hat das Paar einen Segelkurs gemacht und hier in der hintersten Ecke dieses vergessene, verwitterte Schiff entdeckt. »Als wir an Bord gekommen sind und zwei blaue holländische Kacheln mit Windmühlen gesehen haben, wussten wir: Das ist unser Schiff«, lacht Else. Für einen Augenblick leuchten ihre Augen wieder, als sie sich an den Augenblick erinnert. Wahrscheinlich war es Liebe auf den ersten Blick. Seitdem waren sie öfter hier, haben am Schiff gearbeitet und während ihrer Abwesenheit die Einheimischen am Schiff werkeln lassen, um es für die Überführung nach Nassau klarzumachen. Dort wollten sie es neben der Arbeit renovieren. Nun hatten sie gerade zweieinhalb Wochen Zeit für Restarbeiten und wollten dann rüber, doch es traten immer neue Probleme auf, und nun läuft die Zeit davon. Und immer wieder gab es Rückschläge. Der geschweißte Bugbeschlag hat einen tiefen Riss. Daran hängt das Vorstag, das den Mast hält. Daher ist ein Rigger vorbeigekommen und hat einen Kostenvoranschlag gemacht: »Wir müssen die ganze Nase neu bauen. Da sind schnell 1.000 US-$ beisammen.« Else und Johan sind mit den Nerven fertig. »Das scheint auf einem Boot die kleinste Währungseinheit zu sein.« Aus dem vermeintlichen Schnäppchen ist längst ein Dollargrab geworden. Sie haben für sie 4.000 US-$ bezahlt. »Man denkt erst mal: ›Kein schlechter Deal‹, aber dann haben wir erfahren, dass das Schiff kurz vorher für 1.500 US-$ verkauft worden ist«, erzählt Johan. »Der Eigner war gestorben.« Das Schiff ist optisch in einem bejammernswerten Zustand. Das Gelcoat an Deck ist unter dem jahrelangen Einfluss der Floridasonne ausgekreidet, der Antirutschbelag bis aufs Laminat heruntergetrampelt. Trotzdem macht die alte Lady einen guten Eindruck. Das Deck ist noch stabiler als auf unserer Contest, kein Knarren oder Knarzen. Die durchs Deck gesteckten U-Bolzen, die früher die Wanten hielten und bei den alten Contests gern mal ermüden und brechen, wurden bereits durch seitlich aufgebolzte Rüsteisen, Typ Piratenschiff, ersetzt. Offenbar hat sich jemand bis vor wenigen Jahren noch viel Mühe mit dem Schiff gemacht. Doch der Blick unter Deck zeigt, dass diese Zeiten der Pflege lange zurückliegen: Schimmel, Gammel und Rott. »Wir haben das Schiff tagelang geputzt und von Kakerlaken befreit«, erklärt Else. Man mag es kaum glauben. Doch wir sind uns sicher, dass sie viel Mühe investiert haben. Leider ohne optische Resultate. Das Schiff ist von innen ein dunkles Loch mit schwarzer Decke. »Überall hingen alte Öllampen, die müssen die Decke verrußt haben«,
versuchen sie, eine Erklärung zu liefern. Sie scheinen sich selbst nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen. Der Bootsstolz muss erst noch durch harte Arbeit verdient werden. Dabei stecken mittlerweile über 12.000 US-$ darin. Vieles in Ausrüstung, die im Vorschiff lagert und auf den Bahamas montiert werden soll. Zur Ablenkung nehmen wir die beiden mit an Bord der MAVERICK TOO, wollen ihnen Mut machen und zeigen, was daraus werden kann. Doch der Kontrast ist zu krass, und der gewünschte Effekt verkehrt sich ins Gegenteil: Frust und Verzweiflung. Unser Schiff ist von innen und außen wunderbar in Schuss, während bei ihrem draußen der Lack in Fetzen hängt, innen ein Teil der Einbauten fehlt und der Rest verrußt und verschimmelt ist. Johan sitzt wie ein Häufchen Elend im Salon und schaut sich um. »Wollt ihr was trinken?«, fragt Cati. »Ja, gerne. Was mit Alkohol«, antwortet er. Unter seiner Patina ist ihr Schiff aber wirklich gar nicht schlecht. Der Motor, ein 27 PS starker Yanmar, ist vielleicht zehn Jahre alt und 400 Stunden gelaufen. Am Heck ist sogar eine Aries-Windsteueranlage montiert, dänisches Modell, also auch recht neu. Das Rigg ist gut verstagt, die Leinen von den beiden bereits erneuert. »Ich denke, dass man das Boot auf die Bahamas bekommen könnte, wenn man einfach rübermotort«, versuche ich, ihnen Mut zu machen. »Der Motor macht einen guten Eindruck, und schließlich es sind ja nur 280 Seemeilen.« Für uns ein üblicher Kurztrip. Zwei Tage auf See. Für die beiden Unerfahrenen eine Weltreise voller Abenteuer und zwei Nachtfahrten. Also ziehen wir unsere Arbeitsklamotten an und drängen uns als Mechaniker auf, verkabeln Bilgenpumpen und die alten Solare, prüfen das Rigg und den Motor. Am nächsten Tag sieht die Welt dann schon anders aus. Wir finden eine Lösung für den gebrochenen Beschlag und jagen einen starken U-Bolzen aus Edelstahl durchs Vorschiff, kontern mit einer Platte und hängen das Vorstag daran. »Das sollte halten. Ist auch nicht schwächer als bei anderen Booten«, sage ich. Parallel spanne ich zur Sicherheit eine Dyneemaleine von MAVERICK TOO und erkläre: »Ich fühle mich mit einem zweiten Stag immer besser.« Die Genua kann dann zwar nicht benutzt werden, aber zumindest kommt das Schiff mit sicher abgestütztem Rigg nach Nassau. »Dort lassen wir die Edelstahlnase dann schweißen«, meint Johan. Schließlich ziehen wir noch ein gebraucht gekauftes Großsegel auf. »Das müsst ihr vor eurer Reise unbedingt ersetzen«, rate ich den beiden. »Das hält nicht mehr lange.« Aber zum Motorsegeln für die 280 Seemeilen nach Nassau ist alles klar. Unterwegs gibt es ja auch immer wieder Gelegenheit, irgendwo anzulegen und zu verschnaufen.
Als Dank für unsere Hilfe laden uns die beiden am Abend in den »Barracuda Grill« ein. Die Stimmung könnte ausgelassen sein, denn das Schiff ist ja jetzt seeklar. Doch die beiden sind bedrückt, haben etwas auf dem Herzen. Irgendwann beim zweiten Bier steigen Else Tränen in die Augen. »Ihr habt doch schon so viele Meilen hinter euch, und für uns ist es das erste Mal, dass wir so eine lange Strecke vor uns haben.« Sie sagt es nicht, aber wir sehen, dass sie Angst hat. »Wollt ihr nicht mitfahren?« »Puh …«, das kommt uns ganz ungelegen. Wir sind ja langsam auch mal wieder ein wenig unter Zeitdruck, wollen noch die Keys hinunter und dann im Mai wahrscheinlich Richtung Azoren. »Wir bezahlen euch auch, außerdem die Flüge und die Liegekosten für MAVERICK TOO. Und alle anderen Ausgaben.« Cati und ich schauen uns an, und ich sehe es in ihren Augen: Wir denken dasselbe. »Okay«, sage ich, »aber unter einer Bedingung: Wir wollen keine Bezahlung. Das können wir echt nicht annehmen. Dafür machen wir das Ganze aber nonstop.«
DER SCHWIMMENDE ALBTRAUM
Von Johannes
Es ist stockfinster. Der Mond lässt sich noch nicht blicken, und ich bin auf meinen Tastsinn angewiesen. Gut, dass ich das Boot kenne. Fast 10.000 Seemeilen sind wir mit unserer Contest 33 mittlerweile gesegelt, da finde ich mich auch im Dunkeln zurecht. Das Schiff fühlt sich zumindest genauso an wie unsere MAVERICK TOO. Die Form, die Steuereigenschaften, ja sogar das Spiel im Ruder ist so wie damals, als wir unser Schiff in Holland übernommen haben. Aber doch ist es nicht MAVERICK TOO mit der Baunummer 64, sondern TRILOGY mit der Baunummer 25. In was haben wir uns da hineingeritten? Aber wir konnten Johan und Else einfach nicht mit dem Schiff in diesem Zustand und ohne Erfahrung allein fahren lassen. Wenn was schiefläuft, haben wir im Zweifel die schnellere Lösung parat. Und überhaupt: Uns selber haben auch schon so oft andere Segler geholfen. Obwohl wir überhaupt keine Lust haben, mit dem abgehalfterten, zusammengeschusterten Boot über den Golfstrom zu fahren. Denn genau deshalb haben wir an unserem ja so lange gearbeitet, damit wir so etwas gerade nicht erleben. Und nun sind wir hier, mitten im Golfstrom zwischen Florida und den Bahamas. 80 Seemeilen liegen bereits hinter uns. Es ist Nacht, und gerade ist das alte Großsegel mittig durchgerissen. Die Maschine läuft tapfer und stetig. Ich habe viel Vertrauen in den kleinen Yanmar. »Zu viel vielleicht, denn mit dem gerissenen Großsegel gibt es keinen Plan B, wenn der Motor ausfällt«, sage ich zu Cati und stolpere über meine Formulierung. »Wenn« statt »falls«. Irgendwie scheine ich schon damit zu rechnen. Die Positionslampen funktionieren nicht, darauf hatten wir uns eingestellt und vom örtlichen Ausrüster angepriesene »mobile Notfallpositionslampen«
mitgenommen. Die hatte ich schon öfter mal im Laden gesehen und mich gefragt, ob man so was nicht dabeihaben sollte. »Einfach anschalten und an die Reling klipsen«, steht auf der Verpackung. Doch die Lampen spenden einfach nicht genug Licht. Das weiße Hecklicht zweckentfremden wir schließlich, um unter Deck den Weg aufs Klo zu finden. Und selbst dafür ist es nicht hell genug. Johan und ich haben Wache, sitzen im Cockpit und versuchen, die konfuse See des Golfstroms auszusteuern. Die halbe Nacht schon. Eigentlich hätte ich längst Freiwache, aber in der Kajüte habe ich es nicht mehr als zehn Minuten ausgehalten. Else und Cati schlafen tief und fest, mit Baustellenohrstöpseln, die wir zum Glück noch vom Baumarkt mitgenommen haben. Nimmt man die Stöpsel aus den Ohren, fühlt man sich wie in einem alten U-Boot aus dem Zweiten Weltkrieg. Der laute, nagelnde Klang eines Dieselmotors, der ohne Verkleidung mitten im Raum steht. Ein Aroma aus hineingewehten Dieselabgasen, Schimmel und Moder, dazu die Feuchtigkeit von den leckenden Fenstern und überkommendem Wasser. Alles tropft und trieft. Warum haben wir noch gleich zugesagt? »Ist Fahrtensegeln immer so?«, will Johann von mir wissen. Ich lache. »Überführungen fast immer, wenn es schnell gehen muss und man notfalls auch ausläuft, wenn der Wind gegenan steht. Dann muss der Motor herhalten. Aber es gibt auch immer wieder schöne Etappen, während denen der Wind aus der richtigen Richtung kommt. Ein geduldiger Skipper hat immer guten Wind«, sage ich, obwohl ich selber in den letzten Jahren fast nie auf endes Wetter gewartet habe. Die Ungeduld treibt immer mehr, als dass mich das vorhandene Unbehagen zurückhält. TRILOGY besitzt seit ein paar Wochen eine Komposttoilette, und so kann ich diese Art von Klo einmal einem Praxisversuch unterziehen. Ich sehe zwar nicht viel mit dem Heckpositionslicht in der Hand im kleinen WC-Raum, doch meine Füße bleiben trocken. Denke ich … Als ich Else jedoch irgendwann kommentarlos aus dem Klo kommen, die Bodenbretter anheben und mit Lappen und Eimer hantieren sehe, bestätigt sich meine Vermutung, dass der Urintank mit seinen zwei Liter Fassungsvermögen für eine vierköpfige Crew auf Langfahrt eher spärlich bemessen ist. Kurz vor dem Morgengrauen kommt Cati an Deck und löst mich ab, damit ich noch eine halbe Stunde Schlaf finde. »Ich dachte gerade, ich erwache mitten in einen Albtraum hinein«, erzählt sie mir flüsternd, als sie ins Cockpit klettert und
gleich einen Spritzer Gischt in den Nacken bekommt. Eine Sprayhood gibt es nicht. »Ich bin schlaftrunken hochgeschreckt und dachte, unser Schiff wäre plötzlich in einem schrecklichen Zustand. All die Jahre der Arbeit für die Katz. Bis ich realisiert habe, wo ich bin und was wir hier machen.« Ich lege mich in meinem Ölzeug auf die Luftmatratze, die auf der Steuerbordkoje das Polster ersetzt, verkeile mich und falle in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung. Als ich eine Stunde später wach werde, geht die Sonne auf. Was für eine Nacht da hinter uns liegt. Im Zickzack sind wir um Frachter und Kreuzfahrtschiffe herummotort. Anfunken wollten wir sie nicht, denn unsere einzige weiße Lampe im Rigg würde uns ohnehin schwer erkennbar machen. Was für ein Unterschied zu unserer MAVERICK TOO mit ihren starken Positionslampen, Radar und dem AIS-Transponder. Aber irgendwie genieße ich die Fahrt auch ein wenig. Alles ist so einfach, so simpel. Manchmal ist es gar nicht schlecht, zwischendurch auf ein einfaches Schiff umzusteigen. Auf Törns wie diesem wird einem erst wieder so richtig bewusst, wie viel einfacher die Technik die Fahrtensegelei gemacht hat. Speziell das AIS. Während wir hier stundenlang schwer auszumachende Lichter am Horizont verfolgen und zu erkennen versuchen, in welche Richtung die Schiffe fahren, wissen wir auf MAVERICK TOO mit einem Blick auf den Schirm die Fahrtrichtung und können uns entspannt zurücklehnen. Irgendwann die letzten Tage hatte ich erwähnt, dass für mich das Wichtigste am Tag der Kaffee am Morgen ist. Also versucht Else morgens, eine Kanne Kaffee zu machen. Der große Kocher samt Backofen ist aber noch nicht angeschlossen, stattdessen soll ein Campingkocher das Wasser erhitzen. Unvergesslich das Bild, wie Else die hohen Wellen des Golfstroms ausbalancierend versucht, eine Kanne Wasser über den im Waschbecken stehenden Gasbrenner zu halten. Irgendwann brechen wir dieses Manöver aus Sicherheitsgründen ab. Zu diesem Zeitpunkt liegt eh schon Cat Cay vor uns, die zur Inselgruppe Bimini gehört. Bisher haben wir uns nie hierher getraut, da die Insel eher ein Anlaufpunkt der Millionäre statt des gemeinen Fahrtenseglers ist. Um sicherzustellen, dass das so bleibt, sind die Liegepreise hoch. 5 US-$ pro Fuß. Und auch dann ist man außerhalb der Marina unerwünscht. Wer nur zum Einklarieren einläuft, muss eine Pauschale von 100 US-$ zahlen. Dazu ist auch noch Ostern, und wir dürfen noch nicht einmal das Schiff verlassen. Dabei hatten wir uns vorgenommen, nach der rauen Überfahrt erst mal einen Burger zu essen, koste er, was er wolle. Also klarieren wir ein, tanken und legen wieder ab. Unsere Route führt über die flache Bahamasbank. Hier ist das
Wasser im Schnitt vier Meter tief, 64 Seemeilen lang. Es ist gegen 14 Uhr, als wir mit Marschfahrt und 4,5 Knoten gen Osten dampfen. »Spätestens morgen früh sollten wir drüben sein«, überschlagen wir. Das sagt zunächst auch der Plotter voraus, doch haben wir bei dieser Rechnung mehrere Dinge nicht einkalkuliert: Erstens eine Schiffsschraube, die falsch dimensioniert ist; zweitens die zu weichen Motorfundamente, die dazu führen, dass sich die gesamte Maschine ab 1.500 Umdrehungen beängstigend schüttelt; drittens das Festrumpfdingi im Schlepp, das Johan und Else von den Liveaboard-Seglern in Marathon empfohlen wurde, das nicht für Yachten geeignet ist, die sich bewegen; viertes den einsetzenden Ostwind und fünftens die daraus resultierende kurze Welle von vorn. Das Resultat: Wir stampfen uns fest. Unsere Durchschnittsgeschwindigkeit über die Bahamasbank beträgt 1,8 Knoten. Der Plotter sagt immer noch eine Ankunft im Morgengrauen voraus, allerdings für den Folgetag. Tatsächlich stampfen wir einen Tag und zwei Nächte bei unsagbar unangenehmen Bedingungen gen Osten, bis das Wasser nach age des Northwest Channel Lights plötzlich rapide auf 800 Meter Tiefe fällt und wir die langen Wellen gemächlich hoch- und runterfahren können. Wir nehmen Fahrt auf und machen plötzlich 3,5 Knoten. Rauschefahrt, gefühlt zumindest. Kurz nach Mitternacht sind schon die ersten Lichter von Nassau am Horizont zu sehen, und irgendwann gegen 2 Uhr bekommt Johan Handyempfang. Um 3 Uhr beginnt dann die Maschine zu stottern. Else und ich haben Wache. Die See hat sich beruhigt, und die Insel zeichnet sich bereits deutlich am Horizont ab. Der gerade abnehmende Mond erhellt das Wasser, und ich kann deutlich Elses weit aufgerissene Augen erkennen, die mich voller Panik anschauen, als die Drehzahl sinkt. »Was ist los, warum stottert der Motor?«, fragt sie mit einem Zittern in der Stimme. Als wir Tage später die Nacht Revue ieren lassen, erzählt sie, dass sie meine Reaktion noch mehr geschockt hat als der eigentliche Motorausfall. »Keine Angst«, muss ich gesagt haben. »Das ist völlig normal, wenn eine Maschine stirbt …« Ich nehme die Drehzahl zurück, und der Motor geht aus. Plötzlich ist es vollkommen still um uns herum. Sofort stürmen Cati und Johan nach oben. »Was ist iert?«, fragt er. »Gib mir mal einen Zollstock und eine Winschkurbel«, fordere ich ihn auf. Ich öffne den Tankdeckel, stecke den Zollstock in die Öffnung und zwei Sekunden später bestätigt sich meine Vermutung: »Wir haben keinen Sprit mehr.«
Einen Kanister gibt es noch. Wir füllen um, entlüften die Leitungen. »Gut, dass ich meinen Knarrenkasten mitgenommen habe«, denke ich mir. Doch der Motor springt nicht an. Ich öffne das Cockpitluk, steige hinunter in den Maschinenraum und entdecke einen gewaltig großen Dieselfilter, der eigentlich für Fischkutter gedacht ist. »Was zum Henker ist DAS denn?«, frage ich. »Auch ein Tipp von den Liveaboards in Marathon«, erklärt Johan. »Die Filtereinsätze von den Yachtfiltern kosten nur zwei Dollar weniger als die für die Fischkutter. Die haben aber dreimal so viel Fläche und müssen nur ein Drittel so oft getauscht werden.« Ich schüttele den Kopf. »Der ist leer gelaufen, und nun brauchen wir einen guten Liter, um ihn wieder zu befüllen.« Doch der Sprit aus dem Kanister ist bereits im Tank. Ich ziehe den Spritschlauch vom Filter, doch es kommt nichts. »Wir müssen den ganzen Dreck aus dem Tank in den Schlauch gesaugt haben«, ist meine Diagnose. Was in die eine Richtung reingeht, geht in die andere Richtung raus. Also puste ich in die Dieselleitung. Nichts. Ein zweites, drittes, viertes Mal, da löst sich der Widerstand, und ich höre aus dem Edelstahltank ein leises Blubbern. »Die Leitung ist frei!«, jubeln wir. Nun gelingt es, etwas Diesel abzulassen und in den Filter zu gießen. Doch der Diesel ist voller Rostpartikel. »Gib mir doch mal den Kaffeefilter«, sage ich. Gut, dass ich diese Sucht habe und in Sorge um meinen morgendlichen Kaffee den Filter mitgenommen habe. Es gelingt. Der Filter ist versaut, aber der Sprit sauber. Ich entlüfte das System und starte. »Pött, pött, pött«, da ist er wieder. Langsam und angespannt motoren wir auf die Insel zu. Hoffentlich fällt der Motor nicht noch einmal aus. Vor allem nicht in der Hafeneinfahrt. »Da liegen große Felsen«, sagt Johan, der den Hafen ja geplant hat. Zur Sicherheit ruft Johan seinen Kontakt bei der Royal Bahamas Defence Force an, die kurz darauf ein Speedboat schickt, das uns in den Hafen hinein begleitet. Dort zweigt ein Kanal in das Kanalsystem von Coral Harbor ab. Dort, in der hintersten Ecke, ist das Ziel unserer Reise. Ein privates Dock, an dem TRILOGY die nächsten Monate liegen und renoviert werden soll. Erst als wir dort später im Garten sitzen und ein kaltes Bier trinken, wird uns bewusst, wie angespannt wir gewesen sind. »Na, jetzt weißt du, was Fahrtensegeln ist, oder?«, frage ich Johann. Und versuche mich an einem Lehrsatz: »Fahrensegeln bedeutet … sich immer wieder in Probleme zu bringen, um dann zu versuchen, wieder aus diesen herauszukommen.«
WENDEPUNKTE
Von Cati
Mittlerweile sind seit unserer Abreise aus Deutschland anderthalb Jahre vergangen. Rein zeitlich gesehen ist unsere Reise daher bald vorbei. Denn im September muss Johannes wieder im Büro sitzen, damit seine Wiedereinstellungsgarantie nicht verfällt. Höchste Zeit also, sich mit der Atlantiküberquerung Richtung Europa zu beschäftigen. Das fällt uns aber sehr schwer, denn wir merken immer mehr, dass die Entscheidung für unser nächstes Segelziel gleichzeitig eine Entscheidung für unseren Lebensweg ist. Die Frage, wie unsere Reise konkret aussehen soll, beschäftigt uns seit dem Lösen der Leinen. Gegenüber anderen und auch im Blog sind wir mit konkreten Reisezielen immer sehr vorsichtig gewesen. Gewissermaßen auch aus Selbstschutz. Während Johannes immer unglaublich gut mit neuen Situationen umgehen kann, liebe ich es, einen konkreten Plan zu haben. Aber gerade beim Segeln kommt eigentlich immer etwas dazwischen, was neue Routen und neue Ziele bedeutet. Ein Umstand, der nicht selten Enttäuschung bei mir hervorgerufen hat. »Ihr habt euch viel länger auf die Reise vorbereitet, als ihr nun tatsächlich unterwegs seid. Das ist irgendwie falsch«, hat uns Herbert von der MAYA ja schon gesagt, als wir in der Karibik ankommen und zum ersten Mal unsere Überlegungen mit ihm diskutiert haben. Ein Satz, der uns nicht aus dem Kopf geht und der uns auch ins Herz getroffen hat. Denn seit Johannes von seiner Einhandatlantikreise zurückgekommen ist, träumt er von mehr. Als wir uns kennengelernt haben, steckte Johannes mitten in den Vorbereitungen zu einer Nonstoptour. Um seiner Abenteuerlust wenigstens ein bisschen Rechnung tragen zu können, wollten wir zusammen über die Nordwestage in den Pazifik segeln. Diese Idee zerschlug sich jedoch ziemlich schnell, als wir zum ersten Mal kältere Nächte erlebten und in einer Tropfsteinhöhle aufwachten. Zwischenzeitlich haben wir dann so getan, als würden wir um die Welt segeln. Das haben wir uns auch ein bisschen eingeredet und ganz selbstverständlich vom
Pazifik gesprochen. Dabei war von vornherein klar, dass das innerhalb von zwei Jahren ganz schön sportlich wäre. Und natürlich hängen wir diesem Ziel jetzt, wie immer, hinterher. Diese Erkenntnis, dass unsere Reise bald vorbei sein könnte, trifft mich trotzdem wie ein Schlag. Ich habe die ganze Zeit so gelebt und gedacht, dass es immer vorwärtsgeht, und dabei die Halbzeit vert. Gedanklich war ich noch ewig unterwegs, und auf einmal liegen nur noch wenige Monate vor mir. Ein Luxusproblem vielleicht. Denn wer hat schon so viel Zeit zum Segeln? Ich empfinde absolute Dankbarkeit über jede gesegelte Seemeile. Dass ich uns dennoch schon in der Südsee gesehen habe oder vielleicht in Kanada, liegt vielmehr an einer veränderten Sicht auf unser Leben. Wir haben uns immer wieder ausgemalt, wie es sein würde, langfristig auf einem Boot zu wohnen, und in gewisser Weise ist dieser Wunsch immer mehr zu unserer Realität geworden. Der Gedanke an mein altes Leben löst bei mir mehr und mehr Unbehagen aus. Blauäugig und naiv könnte man das nennen. Denn der Wunsch ist das eine, das andere sind die harten Fakten: Zum Beispiel können wir uns eine Weiterreise finanziell überhaupt nicht leisten. Meine Blutuntersuchungen alle zwei Monate übersteigen unser Budget, da sie von der Auslandskrankenversicherung nicht übernommen werden. Außerdem wird die Versorgung mit dem Medikament aus Deutschland logistisch nahezu unmöglich, je weiter wir segeln. Auch müssen wir das Haus an der Oste unterhalten. Es zu verkaufen, ergibt wirtschaftlich jedoch keinen Sinn. Zum bloßen Wunsch, das Leben segelnd zu verbringen, kommt auch der Gedanke, dass wir wegen Job, Gesundheit und Familie sicher nicht so schnell noch einmal die Gelegenheit zu einer solchen Reise bekommen. Wenn wir es jetzt nicht versuchen, können wir es dann zu einem anderen Zeitpunkt besser schaffen? Auch wenn Johannes mich nie dafür verantwortlich macht, habe ich unendliche Schuldgefühle, dass meine gesundheitliche Situation einen großen Anteil daran hat, dass er sich seine Herzenswünsche nicht mit mir zusammen erfüllen kann. Mich selber davon zu überzeugen, dass ich schließlich für die MS nichts kann, schaffe ich nicht. Am sichersten wäre es also, zurück nach Europa zu segeln und dabei Orte zu besuchen, die wir auf dem Hinweg nicht gesehen haben. Aber das will uns jetzt irgendwie nicht so richtig gefallen. Wir diskutieren, ob wir nicht alles auf eine Karte setzen und allen Argumenten zum Trotz eine Weltumsegelung versuchen. Aber dazu sind wir dann doch zu vernünftig.
Als Kompromiss erscheint es uns sinnvoll, wenigstens noch in den Pazifik zu schnuppern. Viele unserer Traumziele sind auch ohne eine Weltumsegelung zu erreichen – Hawaii, Alaska … Mit dem amerikanischen Postsystem haben wir außerdem eine Chance, meine Medikamente zu bekommen. Was deutlich dafür spricht: Wir segeln nicht »nur« im Atlantik. »Atlantikexperte« zu sein ist gut und schön, aber noch viel schöner wäre es, über den Tellerrand schnuppern zu können. Ich schlage vor, dass wir, wenn Johannes seine Stelle in Hamburg eh sausen lassen sollte, einfach so weit segeln könnten, wie weit wir kommen, und MAVERICK TOO am Ende verkaufen. So könnten wir uns später nicht ärgern, nicht alles versucht zu haben. Diese Option gefällt Johannes aber nicht so recht, denn hin und wieder wurmt es ihn noch jetzt, dass er MAVERICK damals in Amerika lassen musste. Irgendwie fühlt sich das für ihn wie Verrat an, das Schiff nicht wieder nach Hause zu bringen. Kann ich verstehen. »Du könntest auch allein weitersegeln«, sage ich dann. Schließlich liegen unsere Geldprobleme vor allem an meinen Medikamenten, und seine Segelträume sind auch schon viel älter als unsere Beziehung. »Ich könnte ja hin und wieder zusteigen, falls es finanziell machbar ist«, sage ich und hoffe insgeheim, dass Johannes ablehnt. Immer wieder getrennt zu sein, fände ich nämlich ziemlich doof. »Das ist das Blödeste, was ich seit Langem gehört hab«, antwortet er. »Darüber diskutiere ich erst gar nicht mit dir. Merkste selber, oder? Vielleicht sollten wir aber doch mal die Sache mit der CHRISTOBEL ernsthaft in Erwägung ziehen.« »Du willst wirklich ein Charterbusiness in den Bahamas aufziehen?«, frage ich etwas entsetzt. »In der Theorie ist das ja echt verlockend, aber das heißt ja, dass ich kochen muss«, wende ich ein. »Au weia, stell dir das mal vor: Ich versalze denen jeden Tag das Essen und der Urlaub ist gelaufen!« »Ach, du wieder«, sagt Johannes und gerät ins Schwärmen. Wie er die erforderlichen Lizenzen machen könnte, dass der Markt für deutschsprachige Kunden auf den Bahamas eh recht spärlich besetzt sei. Und vor allem: Segeln als Beruf, Geld damit verdienen. Wir könnten noch unterwegs bleiben. »Einmal wieder in Deutschland eingelebt, kommen wir nicht so schnell wieder weg«, sagt er. »Aber du weißt schon, dass ich dieses Jahr 30 werde und immer noch keine Ausbildung habe?«, wende ich ein. »Das macht den Kohl auch nicht mehr fett. Außerdem würdest du dann ja arbeiten, und das nicht zu knapp!«, erwidert Johannes. Ich merke, wie Tränen in mir aufsteigen. Das wird mir irgendwie doch alles zu konkret. »Und unsere Lebenspläne?«, frage ich. »So ein Charterding macht man ja nicht nur ein Jahr. Babygeschrei käme dabei bestimmt nicht gut. Abgesehen davon, dass wir doch vorher noch heiraten wollten.« »Du denkst viel zu kompliziert«, beschwert sich Johannes. »Das machen wir einfach in der
Sommerpause. Alles andere wird sich schon finden!« Als wir unsere Gedanken im Blog veröffentlichen, sind die Meinungen der Leser gemischt. Aber erstaunlich viele finden die Charteridee gut. Und dann machen uns Torsten und Christine ein Angebot, das alles auf den Kopf stellt. Sie schlagen vor, dass wir das Boot nicht von ihnen mieten, sondern ohne Anzahlung kaufen und über die Jahre abzahlen. Falls es nicht läuft, können wir ihnen das Boot zurückgeben oder an einen Dritten verkaufen. Im Idealfall hätten wir das Boot in nicht zu ferner Zukunft abbezahlt und könnten damit sogar in den Pazifik fahren. Allgemein stößt diese Idee anfänglich nicht nur bei mir auf wenig Zustimmung. »Das kann nicht richtig sein«, schreibt mir mein Vater, als ich ihm von diesem unglaublichen Angebot erzähle. »Ihr kennt euch doch erst seit ein paar Monaten. Warum sollten die solch ein hohes Risiko eingehen? Ehe sie sich umgucken, seid ihr mit dem Katamaran über alle Berge.« Johannes’ Vater hingegen kann nicht glauben, dass Johannes darüber nachdenkt, seine Stelle aufzugeben. Und seine Mutter gibt immer mehr die Hoffnung auf, dass wir langsam mal in ein »normales« Leben zurückkehren. »Es ist doch erst mal nur eine Idee«, meint Johannes. Und bei diesem Satz ahnen alle schon das Schlimmste, denn Johannes setzt seine Ideen oft einfach um. Eine Eigenart, die ich gleichermaßen fürchte wie unglaublich liebe. Es arbeitet in mir, denn Johannes’ Begeisterung ist ansteckend. »Jetzt mal theoretisch«, teste ich irgendwann an, »angenommen, wir machen das mit dem Charterbusiness. Müssten wir da nicht erst mal heiraten, damit wir auch mit unserer generellen Lebensplanung weiterkommen? Ich weiß, das eine hat nur bedingt mit dem anderen zu tun, aber …« »Deal!«, sagt Johannes.
MITTEN DURCHS INDIANERLAND
Von Johannes
Es gibt witzige Wörter. Cati findet, vor allem beim Segeln. Ganz oben auf ihrer Liste steht das Wort »Klüse«, daneben »Brummelhaken« und »Lümmelbeschlag«. Und bei mir ist es so mit »Okeechobee«. Das klingt lustig, sehr indianisch. Und seit ich das Wort das erste Mal gelesen habe, wollte ich dorthin. Okeechobee ist ein See bzw. Wasserweg, der praktischerweise quer durch Florida führt, von Cape Coral hinüber nach Stuart an der Atlantikküste Floridas. Mitten durchs Nirgendwo. Und noch viel besser: mitten durch altes Indianerland. Daher führt uns der nächste Schlag von den Dry Tortugas die Westküste Floridas hinauf zu einem kostenlosen Ankerplatz mitten in der Stadt, dem Bimini Basin, wieder ein Sammelpunkt von Liveaboards. Und besser könnte man in Cape Coral wohl kaum leben, denn Supermärkte und sonstige Geschäfte sind alle fußläufig zu erreichen. Es gibt sogar ein tolles, nagelneues Dingidock. Am nächsten Morgen klettere ich als Erster aus der Koje und setze Kaffeewasser auf. Während Cati noch schläft, checke ich meine Mails und das Wetter, rufe meine üblichen Bootsbörsen auf und studiere dort hobbymäßig das neue Angebot. Nach etwa 15 Minuten realisiere ich, dass der Kaffeekessel noch immer nicht geflötet hat, und stelle fest, dass die Flamme aus ist. Neue Zündversuche misslingen. Bitter wird mir bewusst, dass unser Gas alle ist. Nun ist guter Rat teuer, denn wo werden wir unsere Flaschen nachfüllen lassen können? Das letzte Mal haben wir das in Camden gemacht. Dort war es dem Befüller egal, dass unsere Flaschen keine amerikanische Zulassung haben und nur mittels Adapter an seine Anlage ten. So schnell finden wir hier jedoch sicherlich niemanden, der sich nicht um die Gesetze schert. Aber so weit kann
ich ohne Koffein noch gar nicht denken. Erst mal muss ich schnell eine Lösung finden, um mir jetzt, hier und gleich einen Kaffee kochen zu können. Ah ja, das könnte gehen. Ich greife mir den Kaffeekessel und klettere ins Cockpit, wo unser Gasgrill hängt. Schnell ist von diesem die Wärmeverteilerplatte entfernt und der Kessel auf dem Rost gesichert. Es geht zwar viel Hitze verloren, da ein leichter Wind von vorn weht, doch es funktioniert. Langsam, langsam wird das Wasser heiß! Dann wird Cati wach und fragt: »Was ist denn das für ein Gepolter da draußen?« Ich werde pampig: »Während du da vorne poofst, musste ich mal wieder die Welt retten.« Der tiefschwarze Kaffee, der kurz darauf in meine Tasse fließt, besänftigt. Der Tag ist gerettet. Wir motoren los. Diesel haben wir auch fast keinen mehr. Aber in Fort Myers gibt es eine Tankstelle, bei der wir volltanken und vier Gaskartuschen für den Grill kaufen können, der heute Abend zwecks Windschutz vom Cockpit in den Salon umziehen wird. Dort vor dem Backofen habe ich als Schutz vor Verbrennungen ein Edelstahlrohr montiert, an dem sich sicher nun auch der Grill befestigen lässt. Die Fahrt durch den Kanal nach Osten zum Lake Okeechobee ist toll und abwechslungsreich. Nach fast 40 Seemeilen machen wir gegen 16:30 Uhr an einem in den Karten verzeichneten »Free Dock« fest. Den Hinweis mit den »tollen Versorgungsmöglichkeiten« finden wir aber nicht bestätigt. Vielmehr muss ich eine halbe Stunde laufen, um einen kleinen mexikanischen Supermarkt ohne großes Angebot zu finden. Als wir jedoch am nächsten Morgen losfahren, stellen wir fest, dass wir am falschen Free Dock gelegen haben. Denn auf der anderen Kanalseite gibt es ein richtiges Ladenschlaraffenland. Wir schaffen an dem Tag 45 Seemeilen, ieren zwei Brücken, deren Wärter auf dem Fahrrad neben uns her zur nächsten Brücke fährt und diese von Hand aufkurbelt. »Wenn hier am Ufer keine Alligatoren lägen, könnte man denken, wir wären in Holland«, finden wir beide. Und dann liegt er endlich vor uns, der Lake Okeechobee. Was für eine Enttäuschung! Wir hatten uns vorgestellt, aus dem Kanal auf einen wunderbaren, großen Süßwassersee hinauszufahren, aber in Wirklichkeit ist er kaum schiffbar: viel zu flach und voller Seerosen. Deshalb führt der Kanal auch einmal außen um den See herum. Unser Anker fällt in einem sumpfigen Nebenarm bei Belle Glade. Kaum geht die Sonne unter, müssen wir uns fluchtartig unter Deck verkriechen, da draußen die Mücken die
Vorherrschaft übernehmen. Am nächsten Tag liegen nur etwa 30 Seemeilen bis zum Tagesziel vor uns. Gegen 10 Uhr fahren wir los und biegen gegen 13 Uhr vom See in den Kanal ab, der uns an die Ostküste bringen soll. Und dann ist da diese eine Brücke, die ich irgendwie nicht auf dem Zettel hatte. Noch in Key West hatte ich mir eine Liste mit allen Brücken auf dem Verbindungskanal durch Florida angesehen, die in feste und flexible Brücken unterteilt war. Dabei interessierten mich nur die festen Brücken, die allesamt mit einer Höhe von 55 Fuß angegeben waren. Die flexiblen Brücken haben oft im geschlossenen Zustand nur sieben Fuß Höhe, bereiten aber keine Probleme, wenn sie offen sind. Bis auf diese Brücke hier: eine Eisenbahnbrücke, die gehoben wird. Schaut man sich die Details an, dann stellt man fest, dass die Brücke im geöffneten Zustand nur 49 Fuß hoch ist … und wir haben eigentlich eine Höhe von 48,5 Fuß. Das wird knapp. Der Wasserstand des Okeechobee variiert jedoch ab und zu, wenn viel Regen gefallen ist. Und unsere Höhe habe ich nur grob aus Mast- und Deckshöhe kalkuliert. Ob die Werte stimmen? Wir werden es herausfinden. Falls unser Mast zu hoch ist, bleiben zwei Wege an die Ostküste. Entweder zurück nach Key West und auf demselben Weg zurück, den wir gekommen sind, oder eine bestimmte Telefonnummer anrufen. Denn es gibt hier einen Mann, der auf Bestellung und für 300 US-$ vorbeikommt, einige Bigpacks am Mast befestigt, mit Wasser füllt und das Boot dabei derart gesteuert zur Seite krängt, dass selbst zwei Meter zu hohe Yachten durch die Brücken kommen. Doch dieses Geld wollen wir uns gern sparen. Also erklimme ich den Mast mit einer GoPro in der Hand und gebe Cati von oben Anweisungen, durch die Brücken zu fahren. Das Video wird bei YouTube ein voller Erfolg. »Cati, fahr weiter, es … t … es t …!«, hört man mich rufen, während ich dabei sehr skeptisch in die Kamera schaue. Denn so ganz überzeugt bin ich selbst nicht. Doch tatsächlich, wir kommen gerade so durch. Eine halbe Stunde später liegen wir in der Indiantown Marina.
DIE WEICHEN WERDEN GESTELLT
Von Johannes
Nach sechs Tagen in Indiantown fahren wir zum Little Lake Worth. Hier kennen wir uns aus, fühlen wir uns wie zu Hause und können uns daher keinen besseren Ort für die Vorbereitungen vorstellen. Wir wollen uns neu verproviantieren und dann zum großen Schlag ausholen: 3.000 Seemeilen ohne einen Stopp zu den Azoren. Gleich hinter dem Supermarkt und dem Bootsausrüster befindet sich eine Mietwagenstation, die ein wunderbares Wochenendangebot hat: Von Freitag-bis Montagmittag kostet ein Wagen nur 30 US-$! Das ist unschlagbar günstig, auch wenn wir noch zusätzlich 60 US-$ Versicherung bezahlen müssen. Also steigen wir am nächsten Morgen gleich in unseren Leihwagen und machen uns mit den leeren Gasflaschen auf den Weg zum nächsten Gasbefüller. Gleich der erste Propangasfachverkäufer lehnt es ab, unsere hier nicht zugelassenen Flaschen zu befüllen. Beim zweiten haben wir mehr Glück, denn dort treffen wir auf den Lehrling. »Klar, kein Problem«, sagt dieser und dreht den Adapter auf die britische Flasche. Doch es zischt und qualmt. »Die Dichtung ist kaputt, die kann ich leider nicht befüllen«, ist sein Urteil. Und tatsächlich ist der O-Ring gerissen. Ist wohl doch sinnvoll, die Flaschen zu tauschen und nicht wieder neu füllen zu lassen, denn dann werden sie auch regelmäßig gewartet. »Wie sieht es denn mit der anderen aus?« Die Alugasflasche lässt sich ohne Probleme befüllen. Stolz übergibt er sie mir, und ich bin zuversichtlich, dass die 6,5 Kilo Gas bis zu den Azoren reichen werden. Schließlich haben wir die Flaschen bisher auch nur alle zwei Monate gewechselt. Ich werde zum Bezahlen ins Büro geschickt, nehme die Flasche mit und stelle sie auf den Fußboden neben den Tresen. Die Tür öffnet sich erneut, und der Chef tritt ein. Sofort fällt sein Blick auf die Flasche am Boden. »Tut mir leid, die
dürfen wir hier nicht befüllen«, sagt er. Ängstliche Blicke des Lehrlings. »Das habe ich aber gerade gemacht«, gesteht er kleinlaut. Der Chef schüttelt den Kopf, greift sich die Aluflasche und nimmt sie mit. »Auweia, das war es dann wohl mit unserem Gas«, denke ich, werde aber überrascht. Er reißt die Tür zum Aufenthaltsraum auf, in dem seine Angestellten sitzen, und ruft: »Hey, Jungs! Schaut mal, was die Europäer für geile Flaschen bauen. Vollkommen aus Alu geschweißt. Seht euch die dicken Nähte an!« Ich darf bezahlen, bekomme die Flasche wieder und muss den Laden zügig verlassen. Bevor wir zurück zum Boot fahren, wollen wir noch einmal kurz nach Indiantown, denn ein Blogleser hat uns ein »Carepaket« dorthin geschickt, voller Süßigkeiten mit und einer Hamburger Tageszeitung. Während ich auf dem Parkplatz im Auto warte und meine Mails checke, läuft Cati kurz ins Hafenmeisterbüro, um das Paket abzuholen. Mit einem Mal höre ich es zischen und weiß sofort, was iert ist. Daher springe ich raus, öffne den Kofferraum und blicke auf unsere Alugasflasche, die wie ein Drachen Rauch speit. In Wirklichkeit ist der Rauch aber Propangas und damit hochentzündlich! Vor allem heute, wo die Sonne vom blauen Himmel sticht und das Thermometer 40 °C zeigt. Der Kofferraum des dunkelblauen Autos muss sich derart aufgeheizt haben, dass sich das Gas ausgedehnt und das Überdruckventil ausgelöst hat. Ganz vorsichtig, aber auch sehr beherzt greife ich nach der speienden Flasche, hebe sie aus dem Kofferraum, stelle sie in den Schatten des Autos und renne um mein Leben. Es dauert noch etwa 30 Sekunden, bis die Gasflasche ihren Überdruck verloren hat. Ich bleibe auf Abstand. Etwa weitere zehn Minuten später trage ich sie vorsichtig in den Schatten einer großen Motoryacht, wo es etwas kühler ist. Ich öffne das Ventil von Hand und lasse noch etwa zehn Sekunden lang Gas ab, um ganz sicher zu sein. Eine Dreiviertelstunde später hat sich das Aluminium so weit heruntergekühlt, dass wir uns trauen, die Flasche zu bewegen. Angeschnallt auf dem Rücksitz und mit der Klimaanlage auf niedrigster Stufe gelingt die Rückfahrt zum Boot ohne weitere Zwischenfälle. Das wird uns eine Lehre sein, unsere Gasflaschen trotz Verbot befüllen zu lassen. Am nächsten Tag verproviantieren wir uns bei Walmart und vor allem Aldi und bestellen einen Weltempfänger für Wetterkarten und eine neue Prepaid-SIMKarte mit 70 Minuten Guthaben für unser Satellitentelefon zu einer Versandstation in Palm Beach. Die meisten Arbeiten am Boot habe ich schon in Indiantown erledigt. Ich ergänze jetzt lediglich noch eine neue Dyneematalje für
die Checkstays, die das Kutterstag nach achtern abstützt. Denn für die Fahrt über den Nordatlantik rechnen wir damit, dass wir die Sturmfock das erste Mal auf dieser Reise setzen werden. Ansonsten laufen die Vorbereitungen sehr routiniert. Man merkt, dass wir schon öfter längere Strecke zusammen gesegelt sind. Zusammen planen wir die Route. Jimmy Cornell empfiehlt in Segelrouten der Welt, zunächst auf Höhe der Bermudas zu segeln und dann auf dem 40. Grad nördlicher Breite auf gerader Linie die Azoren anzuliegen. Genau das haben Egmont und ich 2009 versucht, als wir seine Westsail 32 zu den Azoren gesegelt haben. Doch wir haben damals nach Verlassen von New York immer wieder mächtig eins auf die Nase bekommen. Die Tiefdruckgebiete, die in dieser Jahreszeit immer wieder von der Ostküste der USA über den Atlantik nach Osten ziehen, lagen immer südlich von uns, und wir haben auf der Nordseite immer Gegenwinde in Sturmstärke abbekommen. Zweimal mussten wir sogar beidrehen, bis wir uns auf 36° Nord haben durchsacken lassen. Fortan lagen die Tiefs nördlich von uns, und wir haben auf der Südseite gute Rückenwinde abbekommen, vor denen wir notfalls bei Starkwind gut ablaufen konnten. Die Strecke zu den Azoren ist entsprechend länger, aber die Überfahrt dafür entspannter. So wollen Cati und ich es diesmal auch machen und uns auf 36° Nord halten. Eine letzte Nacht wollen und müssen wir noch in eine Marina verholen, um Wasser zu tanken und Müll loszuwerden. Da t es hervorragend, dass Torsten und Christine mit ihrer CHRISTOBEL gerade aus den Bahamas zurückgekommen sind und in Riviera Beach liegen, also dort, wo wir auf den Atlantik hinauswollen. Auch Julio und Nili sind da, zwei liebe Freunde, die ebenfalls mit einem Katamaran unterwegs sind. Und da sechs Leute bereits eine Party sind, grillen wir alle zusammen zum Abschied noch mal an Bord der CHRISTOBEL. Am nächsten Morgen bringen wir dann gleich noch ein paar Dinge von dort zu uns herüber. Denn inzwischen sind wir uns einig geworden: Wenn wir MAVERICK TOO zurück nach Deutschland gebracht haben, fliegen wir wieder auf die westliche Seite des Atlantiks und übernehmen dort den Katamaran, den wir MAVERICK XL taufen wollen. Eine große Entscheidung, denn sie bedeutet so viel. Zum einen, dass ich vorerst nicht als Redakteur zur Yacht zurückkehren werde und damit die Wiedereinstellungsgarantie flöten geht. Sollte das mit der Charterei nicht klappen, bin ich auf den guten Willen und die Möglichkeiten des Verlags angewiesen, ob es dann eventuell doch wieder Platz für mich gibt. Oder ich
muss mir dann eine ganz andere Stelle suchen. Außerdem bedeutet das, dass wir unsere Familien und Freunde weitere zwei, drei Jahre nur bei Heimatbesuchen sehen werden. Das gefällt uns beiden nicht. Andererseits reizt uns die Perspektive, anderen Menschen unsere liebsten Inseln zu zeigen, sie mitzunehmen in unsere Welt. Ein Wechselbad der Gefühle, heiß und kalt läuft es uns regelmäßig den Rücken hinunter. Ich habe schlaflose Nächte, aber die Weichen sind gestellt. Mit dem neuen Ziel bekommt unser Leben wieder Struktur. Und zunächst mal müssen wir ja auch erst MAVERICK TOO nach Hause bringen. Also werfen wir am 06. Mai um 15:30 Uhr die Leinen los, drehen ein paar Pirouetten vor CHRISTOBEL, auf der Torsten, Christine, Julio und Nili winken, und dann geht es hinaus auf den Ozean. Das GPS zeigt Horta in Luftlinie 2.700 Seemeilen Entfernung. Wir sind gespannt, was uns erwarten wird.
VIER WOCHEN AUF SEE
Von Johannes
Für mich ist es die fünfte Überquerung des Golfstroms. Dieser ist ruppig, aber der Atlantik begrüßt uns halbwegs freundlich. Am nächsten Tag schreibe ich meinem Vater eine erste Mail über das Satellitentelefon:
»Wir melden uns von See. Hatten im Golfstrom mit ordentlich Wellen zu tun. Wind gegen Strom. Sind die Nacht durch nach Norden gekreuzt und heute Vormittag endlich im Norden der Bahamas angekommen, nicht länger im Einfluss des Golfstroms. Segeln schon genau auf Kurs zu den Azoren. Seit wir um die Ecke gebogen sind, sind die Wellen ruhiger. Cati sitzt in der Sonne und liest. Das Boot läuft immer zwischen 3,5 und 4,5 Knoten, und die Windsteueranlage steuert gut. Cati hat vor der Abfahrt noch 25 Frikadellen gebraten, die mir anfangs auch sehr geschmeckt haben. Aber langsam kann ich die Dinger nicht mehr sehen und werde davon seekrank. Haben seit der Abfahrt schon 90 Meilen gemacht. Noch 2.580 bis zu den Azoren. Vielleicht schaffen wir das in drei Wochen.«
Am zweiten Tag bleibt es schwach windig, doch die Wellen nehmen extrem zu. Schwache Winde und hohe Wellen waren noch nie eine gute Kombination, und wir werden extrem durchgeschüttelt. Doch am Abend nimmt der Wind wieder auf Windstärke 3 zu, wir können ein Reff rausnehmen und laufen 5,5 Knoten. Unser Kurs führt uns nördlich von Grand Bahama nach Osten. Am dritten Tag umfliegen uns viele Vögel. Einige versuchen, auf unserem Schiff zu landen, das langsam durch wieder schwach bewegte See segelt. Leider hat
auch der Wind wieder nachgelassen, und zum ersten Mal werfen wir am Abend den Motor an, damit die Etmale nicht noch kleiner werden. Die ersten beiden waren mit 90 und 81 Seemeilen schon nicht sehr toll. Am vierten Tag motorsegeln wir fünf Stunden lang durch glatte, bleierne See. Wir haben 160 Liter Diesel an Bord, was etwa einer Reichweite von 500 Seemeilen entspricht. Nicht genug, um längere Strecken zu motoren. Außerdem wird die Motorerei ohne einen elektrischen Autopiloten auch schnell mühselig, da wir immer von Hand steuern müssen. Und wir wollen zumindest für 300 Seemeilen Diesel zurückbehalten, für den Fall, dass die Azoren wieder einmal von einem Hoch eingeschlossen sind und Windstille herrscht. Aber dieses Hochdruckgebiet, das stationär über den Bahamas steht, sollten wir schaffen und morgen wieder Wind bekommen. »Da kommt ein Schiff von achtern auf«, ruft Cati. Sie sitzt an Deck und liest ein Buch, während ich in der Koje liege und für den Sportseeschifferschein lerne. »Ungewöhnlich, hier ist eigentlich keine Frachterroute«, murmele ich. Cati klettert an den Kartentisch und schaut aufs AIS. »Class B. Das ist ein Sportboot. Macht 5,8 Knoten Fahrt. Aber man kann keine Länge ablesen.« »Entweder was Großes, Schnelles oder er motort«, meine ich. Vier Stunden später ist das Schiff klar als kleine Segelyacht zu erkennen, etwa unsere Größe, zehn Meter. CASTELHANA steht nun auf dem AIS, klingt spanisch. Oder portugiesisch? Auf jeden Fall scheint sie zu motoren, denn die Segel schlagen unkontrolliert an Deck herum. Eine weitere Stunde später ist das Schiff nur noch 100 Meter hinter uns. »Das ist ein Kanadier«, ruft Cati mit dem Fernglas in der Hand. »Wow, der kommt aber dicht.« Zehn Minuten später ist die kleine Yacht direkt neben uns, der ältere Mann an Deck winkt mit dem Funkgerät. Ich gebe Cati unsere Handfunke raus. »Hey, wo wollt ihr denn hin? Segelt ihr zurück nach Deutschland?«, hören wir aus dem Lautsprecher. »Ja, aber erst mal zu den Azoren«, antwortet Cati und hört sich selbst als Echo, denn der Segler hat seine Cockpitlautsprecher offenbar so laut eingestellt, dass ihre Stimme über das Wasser zu uns herüberschallt. »Da will ich auch hin«, antwortet er, »denn da bin ich geboren. Aber erst mal ein Stopp auf den Bermudas, denn die Flotte der ARC-Rallye wird demnächst auf den Azoren sein. Und das Chaos möchte ich vermeiden.« »Unglaublich, da trifft man hier auf dem Atlantik einen Segler, der rüberkommt, um zu plaudern«, staune ich. Der Mann, ein Einhandsegler, ist vor vielen
Jahrzehnten nach Kanada ausgewandert, deshalb die kanadische Flagge. »Aber dorthin will ich nicht mehr zurück, zu kalt«, lacht er. Nach einem kleinen Plausch wünschen wir uns gegenseitig gute Reise. »Wir werden uns ja sicher noch die ganze Nacht sehen«, sagt er. Und Cati ergänzt: »Schön zu wissen, dass wir nicht die Einzigen hier draußen und offenbar so in etwa auf dem richtigen Kurs sind.« Der Wind kehrt am Morgen des fünften Tages zurück. Um 1 Uhr in der Nacht binde ich das erste Reff ein, um 2 Uhr bereits das zweite. Um 9 Uhr reffe ich dann wieder komplett aus. Der Wind kommt und geht den ganzen Tag. Nachmittags bauen wir die neue Solardusche auf und waschen uns. Herrlich. Anschließend motoren wir wieder ein bisschen und lassen uns von der Sonne bräunen. Trotz allem schaffen wir ein 111er-Etmal. Die paar Stunden Motorerei jeden Tag retten uns immer, bescheren uns 30 Seemeilen extra. In der Nacht vom fünften auf den sechsten Tag laufen wir dann mit 5,5 Knoten genau auf das Ziel zu und sind glücklich. Am Morgen flaut es wieder ab und wir driften mehr, als das wir segeln. Der siebte Tag ist mit 53 Seemeilen in 24 Stunden der Tiefpunkt der Überfahrt. Wir liegen den ganzen Tag in der Flaute und dümpeln in der spiegelglatten See. Ich überlege kurz, das Dingi aufzublasen und Außenaufnahmen zu machen, aber dafür ist es viel zu heiß. Laut Wetterbericht soll es morgen leichte Winde geben, Samstag zunehmend, Sonntag stark. Das Bordleben ist schon wieder Routine. Cati hat das Kochen übernommen und zaubert uns jeden Abend etwas Leckeres. Die frischen Sachen gehen dabei überraschenderweise viel schneller zur Neige als auf dem Weg nach Grenada. Wir streiten uns um das Kindle und einigen uns darauf, dass jeder nur dann lesen darf, wenn er Wache hat. Der Ozean ist immer voller Müll und Fett. Ständig treiben größere Gegenstände an uns vorbei. Ein Spritkanister samt aufgeschraubtem Schlauch, Plastikgefäße, eine komplette Tür samt Rahmen … Nachts steht über uns ein unfassbarer Sternenhimmel. Was alles zu sehen ist. Milliarden an Sternen, ganz klar die Milchstraße, Satelliten, Sternschnuppen. Immer, wenn wir in der Flaute im Cockpit sitzen und den Sternenhimmel über uns haben, flüstern wir automatisch. Warum eigentlich? Haben wir Sorge, jemanden zu stören? Nein, aus Ehrfurcht vor der Schöpfung und dieser unsagbaren Stille hier draußen, mitten auf dem Ozean. Wir fühlen uns davon geradezu überwältigt.
Am achten Tag vermerke ich ein 57er-Etmal. Cati hatte letzte Nacht zweimal Wache und fällt morgens todmüde in die Koje. Ich koche Kaffee und stelle mich hinters Rad, denn ich sehe am Horizont ein Windfeld. Kaum erreichen wir das gekräuselte Wasser, nehmen wir wieder Fahrt auf und segeln den ganzen Tag mit 4 bis 5 Knoten fast genau aufs Ziel zu. Dann haben wir die halbe Strecke zu den Bermudas endlich hinter uns. Herrlich! Für Sonntag sagt der Wetterbericht 30 Knoten an. So viel muss es dann bitte doch nicht sein! Mein Chef schickt uns eine Mail, dass die deutsche Einhandseglerin Isabelle Joschke gerade ein Stück nördlich von uns wegen Materialbruch aus der Transatlantikregatta ausgeschieden ist. Da muss es schon ordentlich wehen. Das Wetter bleibt unbeständig. Nachts weckt mich Cati 6-mal, weil Squalls durchziehen. Raus, reffen, abwarten, ausreffen, zurück in die Koje. Ich werde unentspannt, da uns ein ordentlicher Nordwind schnell nach Osten preschen lässt. Und ich habe etwas Sorge, dass etwas brechen könnte, und mache mir Gedanken, wie das Wetter auf der langen Strecke zu den Azoren werden mag. Sollten wir vielleicht besser bei den Bermudas anlegen? Ausruhen, Wetter beobachten, dann weiter? Aber einmal dort, ist es bestimmt schwer, wieder loszukommen. Bei der Geschwindigkeit sind es noch 14 Tage bis Horta, und wir müssen noch 2.000 Seemeilen hinter uns bringen. Die Etmale werden immer größer. Am zehnten Tag loggen wir 133 Seemeilen und rauschen den ganzen Tag mit 5,5 Knoten voran. Am elften Tag segeln wir immer noch stetig mit Butterfly auf die Bermudas zu und befinden uns abends gut 80 Seemeilen nördlich der Inselgruppe. In der Nacht ieren uns dann gut 20 Yachten mit Kurs von den Bermudas zu den Azoren. »Das muss die ARCFlotte sein«, sage ich zu Cati. Am nächsten Tag ist schließlich der Wurm drin, denn Wind und Strömung stehen gegen uns. Wir können entweder nach Nordnordost oder nach Südsüdost segeln, aber nicht östlicher. Es ist zum Verzweifeln. So gutes Wetter und guter Wind, wir kreuzen und kreuzen, kommen aber einfach nicht voran. Wir loggen ein 102er-Etmal, machen aber in 24 Stunden nur 30 Seemeilen aufs Ziel gut. Sollen wir doch noch mal bei den Bermudas ran? Sie scheinen uns nicht vorbeizulassen. Aber nein, wir bleiben eisern. Am 16. Tag auf See schreibe ich wieder eine Mail an meinen Vater:
»Hallo Papa, wir sind wieder auf genauem Kurs zu den Azoren. Gestern ist hier ein Tiefdruckgebiet durchgezogen, ganz nach Schulbuch: Erst hat der Wind aufgefrischt (Windstärke 7, in Böen 8), also haben wir das dritte Reff eingebunden und die Genua halb weggerollt. Sind dann den ganzen Tag über eine unheimlich konfuse See gehüpft. Das Schiff klang, als wollte es auseinanderbrechen. Mitten im Chaos dann plötzlich Flaute! Wir sind jämmerlich in den vier Meter hohen Wellen gerollt. Es hat viel Kraft gekostet, das Schiff mit der wenigen verbleibenden Fahrt so zu manövrieren, dass die Bewegungen erträglicher waren. Unter Deck flogen alle möglichen Schapps auf, deren Inhalt sich durch die Kabine verteilte. ›Boah. Bei dem Gerolle schütteln wir uns noch die Spanten aus dem Rumpf. Oder die Maschine reißt vom Fundament!‹, habe ich gerufen, verzweifelt am Rad kurbelnd. Dann wieder Starkwind und zum Schluss, wie üblich, der starke Regenguss. Das kündigt immer die Kaltfront und damit das Ende des Tiefs an. Hat etwa zwei Stunden gedauert. Wir haben in der Zeit unter Deck gesessen und auf dem Radar die dicken Regenwolken verfolgt, die genauso schnell zogen wie wir und uns deshalb nicht losließen. Irgendwann waren wir dann raus, und die Sonne schien durch die grauen Wolken. Und ein Regenbogen, als Zeichen, dass wir nicht allein sind. Heute sind wieder tolle Segelbedingungen, es hat gut abgeflaut. Aber trotzdem noch 5,3 Knoten. Erst mal Kräfte gesammelt. Morgen soll noch mal ein kleines Tief durchziehen, aber weniger Wind und in ein paar Stunden durch. Dann ab Montag normales Wetter. Hier ist es aber deutlich kälter geworden, tagsüber nur noch 21 °C Ansonsten alles in Butter auf’m Kutter. MAVERICK hat das raue Wetter gut weggesteckt. Cati war nicht einmal seekrank, seit wir Florida verlassen haben, und kocht hier trotz rauem Seegang gute Sachen. Können also nicht klagen. Und wieder ein 121er-Etmal gemacht. 1.530 Seemeilen im Kielwasser und noch 1.290 Seemeilen vor uns.«
Als ich meine Mails abrufe, erreicht mich jedoch eine beunruhigende Nachricht aus Indiantown: »Gegen 0600 UTC dreht der Wind auf Südost und nimmt auf 15 bis 20 Knoten zu. Gegen 1200 UTC dreht er weiter auf Südsüdost und ihr habt 25 bis 50 Knoten zu erwarten.« Ich lese den letzten Satz noch einmal. Doch, richtig gelesen. »50 Knoten. Das ist Windstärke 10«, übersetze ich. Au Backe. Die 50 Knoten machen uns wirklich Sorge. Also bereiten wir das Schiff vor und machen es sturmfest. Stunden, bevor das Tief über uns hinwegziehen soll, sind wir bereit für den Kampf mit den Elementen. Alles ist fest verzurrt, das dritte Reff im Großsegel. Eine Liste am Kartentisch enthält Informationen über alle angekündigten Winddreher und zunahmen zu den jeweiligen Uhrzeiten. Der Höhepunkt ist morgens um 10 Uhr Ortszeit zu erwarten. Kurz vorher beginnt der Wind zu drehen und dann iert … nichts! Man könnte fast Flaute dazu sagen. Wir dümpeln stundenlang mit minimaler Besegelung durch leichte Winde, trauen uns aber auch nicht, auszureffen. Stunden später rufe ich noch mal die Mails ab. Am Abend vorher hatte ich nämlich nachgefragt, ob sich unsere Freunde in ihrer Mail vielleicht vertippt hätten. »Oh!«, lese ich dann. »Ja, ich meinte 25 bis 30 Knoten Wind, nicht 50.« Erleichterung. »So, wie es jetzt aussieht, sind die Winde aber etwas weiter nördlich von euch, ihr müsstet 5 bis 10 Knoten haben.« Genau richtig. Also ist es sicher: Der Sturm ist vertagt. Wir können ausreffen. Es geht gut voran. Am 18. Tag loggen wir 134 Seemeilen. Am 19. Tag flaut es jedoch wieder ab, und in den nächsten Tagen soll der Wind sehr flau sein. Aber wir kommen zumindest noch mit 3,5 Knoten voran, was auch immerhin 80 Seemeilen am Tag sind. Nun haben wir noch 1.000 Seemeilen vor uns. Ab Samstag soll es dann wieder auffrischen. Irgendwann zieht eine große Delfinschule an uns vorbei. Wir halten die GoPro über Bord und bekommen tolle Aufnahmen von den Delfinen unter Wasser. Außerdem nutzen wir das gute Wetter für kleinere Reparaturen. Eine Lattentasche am Großsegel will getapt werden, um sie vor Scheuerstellen am Oberwant zu schützen. Außerdem baue ich den Anker ab. Bisher war das noch nie nötig. Doch in den letzten Tagen haben wir uns einige Male gehörig erschreckt, als das Schiff in ein Wellental geknallt ist und der Anker vorn am Bugbeschlag geklötert hat. Die Bretter auf der Plattform habe ich schon in Palm Beach abgebaut, um der See weniger Angriffsfläche zu bieten. Am 20. Tag muss nach einem 42er-Etmal sogar wieder mal der Diesel herhalten. Wir motoren zwei Stunden und machen dann Feierabend.
Doch es wird noch schlimmer: Am nächsten Morgen finden wir uns ganze zwei Seemeilen westlich (!) der Vorabendposition wieder. Wir hatten in den letzten 16 Stunden eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 0,7 Knoten und haben uns somit rückwärts bewegt. Ich möchte daher den Diesel starten, sehe aber im Osten dicke Regenwolken am Horizont. Daher warten wir erst einmal ab. Später begegnen wir einem MSC-Frachter, dessen AIS offenbar kaputt ist. Erst bei 4,5 Seemeilen Abstand erscheint er plötzlich auf dem Display. Man sollte sich eben doch nicht zu sehr auf die Technik verlassen. Trotz Motorfahrt erreichen wir nur ein 26erEtmal. Am 24. Tag bekommen wir erneut eine Sturmwarnung. In drei Tagen soll uns schweres Wetter erreichen. Wir motoren nach Süden, damit wir möglichst nicht so viel davon abbekommen, denn oben im Kern sollen es 10 Windstärken werden, weiter südlich »nur« 7 bis 8. Wir bereiten uns vor, indem wir versuchen, etwas Erholung zu finden. Doch die Bedrohung durch einen großen Sturm lässt uns wenig zur Ruhe kommen. Mir sitzt ein Kloß im Hals. Und auch Cati ist anzumerken, dass sie Angst hat. Am 25. Tag beginnt der Sturm meines Lebens, wie ich ihn im Logbuch nenne. In der letzten Nacht habe ich zehn Stunden frierend im Cockpit gesessen und immer wieder ins Rad gegriffen, wenn die Windsteueranlage im Surf von den Wellen versagt hat. Zum Teil musste ich, durchgefroren und mit den Kräften am Ende, sogar selbst steuern. Heute früh haben wir dann das Großsegel während einer Böe mit 44 Knoten geborgen. Das wurde auch allerhöchste Zeit, denn im Topp sind mittlerweile zwei Rutscher gebrochen. Wir laufen nun mit einem Drittel der Genua vor den Wellen ab. Wir haben keine Lust, die Sturmfock zu setzen, da sich die Genua besser reffen lässt, wenn es noch mehr werden sollte. Das Etmal ist mit 146 Seemeilen heute sehr gut. Am nächsten Tag nimmt der Wind noch mal zu. Gewaltige Wellenberge, die sicherlich fünf bis sechs Meter hoch sind, rollen von achtern an und durch. Wir laufen einen zu weit südlichen Kurs, 110°, wagen aber nicht, anzuluven, da wir dann quer zu den Wellen kommen würden. Es besteht Kentergefahr, dabei müssten wir endlich Nord gutmachen. Wir sind immer noch auf 34°, Horta liegt aber auf 38° und nur noch 470 Seemeilen entfernt. Abends traue ich mich endlich, 10° anzuluven. Der Wind dreht bald darauf ein wenig mit. Erst am dritten Tag beruhigt sich die See wieder einigermaßen, und der Wind flaut auf 3 bis 5 Beaufort ab. Cati backt Pfannkuchen, ein Zeichen, dass es ihr
wieder besser geht. Endlich gibt es auch wieder Kaffee, denn wir haben uns in den letzten Tagen nicht getraut, Kaffeewasser aufzusetzen. Den Tag über sitze ich im Cockpit und genieße die wärmende Sonne. Irgendwann entdecke ich im Kielwasser ein dreieckiges Segel. »Hey, Cati, schau mal raus, da ist noch ein Segler. Wir sind nicht die Einzigen hier draußen!«, rufe ich. Die anfängliche Freude verschwindet jedoch mit Untergang der Sonne, denn das Schiff segelt ohne Positionslampen durch die stockdunkle Nacht. Es steht kein Mond am Himmel. »Der soll seine Posis anmachen«, schimpfe ich. »Ist bestimmt wieder ein Franzose! Womöglich geht der auch noch nachts pennen und hält keine Wache.« Tatsächlich haben wir viele Segler getroffen, die auf See der festen Überzeugung sind, dass es nicht nötig sei, Wache zu gehen. »Die Wahrscheinlichkeit ist derart klein …«, beginnen solche Gespräche meistens. Womöglich denkt unser Segler genauso. »Unverantwortlich«, schimpfe ich. Denn weil ich nicht weiß, ob er ausreichend Wache geht, muss ich nun allein aufen, dass wir uns nicht treffen. Dabei sehe ich ihn ja noch nicht mal. Auf dem Radarschirm ist ein winziges Echo in eineinhalb Seemeilen Entfernung zu sehen. »Das könnte er sein«, schätze ich und stutze. Denn er kommt auch noch näher. Auf unser Blitzlicht und die Deckslampen reagiert er nicht, sondern kommt weiter bis auf eine halbe Seemeile heran, schaltet aber zumindest endlich seine Lampen an. »Oder ist es wieder der Kanadier, der plaudern will?«, fragt Cati. Wir befinden uns auf Kollisionskurs, können aber auch nicht einfach abdrehen, da wir dann die Segel ausbaumen müssten. Ich meckere ihn über UKW an, seinen Abstand zu halten. Irgendwann scheint er wach zu werden und ändert seinen Kurs ganz langsam weg von uns. Die letzten Tage sind angebrochen. Nach einer schaukeligen Nacht liegen mittags nur noch 251 Seemeilen vor uns. Für die Nacht ist erneut der Durchzug einer Front mit 30 Knoten vorhergesagt. Die Nacht unter der halb weggerollten Genua verläuft zunächst ruhig. Gegen 23 Uhr liege ich jedoch mit dem Kindle in der Koje und höre plötzlich ein Klack, sonst nichts. Mittags hatte ich noch gedacht, dass die Leinen der Windsteueranlage mal gewechselt werden müssten, das aber wieder vertagt. Als ich nun merke, dass sich der Kurs langsam ändert, ist mir klar: Die Leine ist gerissen. Ich springe den Niedergang hinauf und bekomme zur Begrüßung eine Welle in den Nacken. Doch dann sehe ich die Überraschung: Die Leine ist heil, der gestanzte Schäkel am Block jedoch gebrochen! Während Cati dann das Schiff steuert, tausche ich sicherheitshalber auch gleich die Leinen. Was tagsüber aus Bequemlichkeit verschoben wurde, ist nachts auch nicht angenehm. Der Ersatzblock ist irgendwo sicher verstaut, also improvisiere ich etwas aus Schnappschäkeln und einem Bolzen. Eine halbe
Stunde später sind wir wieder auf Kurs, als wäre nichts gewesen. Am 30. Tag auf See liegt Horta genau vor unserem Bug. Die Wellen sind immer noch gewaltig, schätzungsweise zwischen sechs und sieben Metern »MAVERICK TOO, MAVERICK … TOOOOOOOOOOOOOOOOO … aaaaaaaaaahhhhh«, hören wir da plötzlich eine Frauenstimme aus dem UKWGerät. »Das klingt, als wäre gerade jemand beim Funken vom Kartentisch geflogen«, lache ich und schaue auf das AIS. Tatsache. Eine kleine Zehn-MeterYacht, kanadische Flagge. Die müssen uns gerufen haben. Draußen sehe ich sie etwa eine Seemeile vor uns. Kurz das ganze Boot, dann nur noch die Mastspitze. »Irre, diese Wellen«, staune ich. Acht Meter Wellen sind angesagt. Das glaube ich gern. Wir wollen ankommen und reffen aus. Mit 5,5 Knoten rauschen wir auf die Südostspitze Faials zu, wo sich hinter dem markanten Felsklotz Monte da Guia der geschützte Hafen von Horta befindet. Doch die Rundung des Felsens wird noch einmal gefährlich, da die Wassertiefe auf den letzten zwei Seemeilen von etwa 1.000 Metern auf nur 30 Meter ansteigt. Daher bilden sich hier enorm kurze, aber hohe Brandungswellen, auf denen wir um die Ecke surfen und einige Male zu kentern drohen. »Cati, schmeiß die Maschine an!«, brülle ich wild am Steuerrad kurbelnd durch das Rauschen der Brandungsseen. »Wir brauchen jetzt Speeeeeeeeed!« Der Motor springt sofort an, und es gelingt uns, durch die aufgewühlte See in den Schutz und die Abdeckung der Insel zu kommen. Mit einem Mal beruhigt sich das Wasser, und wir haben das Gefühl, auf einem Binnensee zu sein. Die Kanadier haben es ebenfalls geschafft und lassen sich Zeit, die Segel zu bergen. »Cati, wir müssen die Segel jetzt ganz schnell runterkriegen und zusammenschnüren. Einmal kurz in den Wind dippen, Lappen runter, wieder auf Kurs Hafen. Nicht lang rumeiern«, kommandiere ich. »Was soll denn der Scheiß jetzt wieder, immer musst du hetzen«, protestiert sie. Aber ich setze mich durch. Denn ich habe heute früh mit dem ersten Empfang bereits eine Nachricht von Jörg und Tine von der MIDNIGHT SUN bekommen, die schon im Hafen von Horta liegen. Danach soll der Hafen rappelvoll sein. »Ich habe es schon so oft erlebt, dass man stunden- oder tagelang irgendwo hinfährt, und dann schnappt einem jemand nur drei Minuten vorher den allerletzten Platz weg«, erkläre ich. Seitdem gebe ich in den letzten zehn Minuten immer noch mal alles! Und die Kanadier haben in etwa unsere Bootsgröße.
Wir lassen die Kanadier stehen und ballern mit voller Fahrt und eine wilde Bugwelle vor uns her schiebend in den Hafen hinein. Wir müssen zunächst vor dem Hafenamt als dritte Yacht ins Päckchen gehen, unseren Papierkram erledigen und dürfen uns dann einen Liegeplatz im Hafen suchen. Alle Stege sind voll, und die meisten Yachten liegen an der Kaimauer zu dritt im Päckchen. Jörg empfängt uns am Hafenmeisterbüro und erzählt dem Hafenmeister, dass er weiß, dass an einem Steg noch ein allerallerletzter Liegeplatz frei sei. Der gehöre eigentlich einem Fischer, aber da dessen Boot längere Zeit in der Werft läge, wäre er ungenutzt. Ob wir den benutzen dürften? »Aber klar, so lange, bis der aus der Werft kommt, in vier oder fünf Wochen.« Also verholen wir MAVERICK TOO auf den allerletzten Platz des Hafens, der auch noch ein Logenplatz an der Promenade ist. 3.001 Seemeilen haben wir seit Palm Beach geloggt.
DIE AZOREN
Von Johannes
Als wir im Morgengrauen Ponta Delgada auf Saõ Miguel anlaufen, ruft Cati mich plötzlich an Deck. »Guck mal, da stehen zwei und halten eine deutsche Flagge hoch!« Ich nehme das Fernglas in die Hand und erkenne einen freundlich lachenden Mann mit grauen Haaren. Neben ihm steht eine schick gekleidete Frau etwa gleichen Alters. Auf der Kaimauer vor ihnen sitzt ein Dackel und schaut neugierig zu uns herüber. »Mensch, das sind Volker und Ellen! Wahnsinn, dass die uns hier erwarten!« Ich bin völlig aus dem Häuschen. Die beiden hatten uns bei Marinetraffic verfolgt und waren nun am frühen Morgen extra an den Hafen gekommen, um uns zu begrüßen! Kennengelernt habe ich Volker, als ich gerade frisch als Praktikant bei der Yacht angefangen hatte. Ich hatte die Porträts gelesen, die in der Yacht und einigen großen Zeitungen über ihn erschienen waren. Auf einem Porträt sitzt er an seinem großen Eichenschreibtisch, ein uraltes, kostbares und mit Handzeichnungen bebildertes Buch auf dem Schreibtisch. Dazu wohlgekleidet und als der »Herr über die Bücher« dargestellt. Wahrscheinlich hat es dieses Bild verursacht, dass ich eine solche Ehrfurcht vor dem Mann hatte. Denn Bücher haben Macht – und die Bücher an seinen Wänden vereinen Tausende von Geschichten der Seefahrt. Eines Tages recherchierte ich an einem Artikel, kam nicht weiter – und mein Chef riet mir, »ruf doch mal Volker Christmann an.« Es ging natürlich um irgendein Buch, und ich erinnere mich auch, dass Volker sofort Rat wusste. Wir kamen ins Plaudern und ich erwähnte, dass ich auch mit ganzen Herzen alte Bücher liebe und sammele. »Das ist schön«, sagte er, »es gibt ja in Deutschland nicht mehr so viele Sammler von Segelliteratur.« Das wiederum war mir dann doch etwas peinlich, denn so weit war ich ja nicht, mich einen Sammler nennen zu können. Zwei Billy-Regale von Ikea hatte ich in meinen Jugend- und Studentenjahren immerhin zusammengetragen. Die Bücher darin allerdings in der Tat sorgfältig ausgewählt und in der ganzen Welt aus Antiquariaten
zusammenorganisiert. Und besser noch: Ein Großteil signierte Erstausgaben. Aber mit Volkers Sammlung wäre sie wahrlich nicht zu vergleichen. Ein Jahr später lud Volker mich in seinen Segelclub Rheingau nach Walluf ein, um meinen Vortrag »Allein über den Atlantik« zu halten. Der Vortrag lief hervorragend, das Vereinsheim war gut besucht. Die Witze und Scherze saßen, und es gingen ein paar Bücher über den Tresen. Im Anschluss fuhren wir hinüber in Volker und Ellens Haus – und ich konnte gar nicht fassen, was mich dort erwartete. Ein Haus nicht nur voller Bücher, sondern auch voller Nautiquitäten. Gegenstände und Möbelstücke aus alten Schiffen an Wänden und Decken. Dazwischen Bücher, Bücher, Bücher. »Es ist ja leider nicht mehr viel da«, entschuldigte sich Volker, der gerade den Großteil seiner Sammlung an den Flensburger Unternehmer Oliver Berking verkauft hatte, um die Sammlung der Öffentlichkeit zugängig zu machen. Doch das Haus ist immer noch voller Bücher. Wir setzten uns ins Arbeitszimmer und öffneten eine Flasche Weißwein, plauderten über Segelbücher und wie er zu seiner Sammelleidenschaft gekommen ist. Mit Mitte 20 eröffnete der Wiesbadener ein Sportgeschäft und erwies sich aus außerordentlich guter Geschäftsmann. Parallel begann er mit dem Sammeln von Segelbücher, mit denen sich damals noch gute Geschäfte machen ließen. Irgendwann sammelte und handelte er nur noch mit Segelbüchern und baute so eine der größten Sammlungen maritimer Bücher weltweit auf. Immer wieder griff Volker in ein Regal, zog ein Buch heraus und legte es stolz und zugleich ein wenig andächtig vor mir auf den Tisch. »Das hier war schwer zu bekommen, wurde nur ein paarmal gedruckt«, ist immer wieder ein Satz, der eine der Geschichten begleitet. Nach zwei Flaschen Wein fiel ich am späten Abend totmüde in mein Gästebett und träumte von Büchern. Am nächsten Morgen musste ich mich an meinen Rückweg machen. Vorher ging Volker jedoch noch mal mit mir an den Regalen vorbei, um mir ein paar besondere Exemplare zu zeigen, die ihm gut gefallen haben. Zwei davon schenkte er mir. Auf dem Weg zum Auto steckte mir seine Frau Ellen noch eine Plastiktüte zu. Ich konnte es kaum glauben: Sie hatte mir zwei Brote für die Rückfahrt geschmiert. Selten bin ich so herzlich beherbergt worden. Deshalb freue ich mich nun sehr auf das Wiedersehen auf Horta. Volker und Ellen haben im vergangenen Jahr Urlaub hier gemacht, die Inselgruppe lieben gelernt und hier gleich spontan ein Haus gekauft. »Die Hä sind hier wirklich billig«, erklärt er uns auf dem Weg dorthin im Auto, »und vor allem: Ein
Handwerksmeister kostet pro Stunde 5 €!«. Ich will es kaum glauben, aber Volker bestätigt nochmal: »Früher haben wir bei unserem Ferienhaus in Griechenland alles selbst gemacht, aber für die Preise hier rühren wir keinen Schraubendreher an.«
Es ist bereits früher Nachmittag, als der kleine Polo über die Schnellstraße nach Osten jagt. Nach etwa 15 Minuten biegt Volker an einer Abfahrt ab und nimmt Kurs nach Norden über hoppelige Landstraßen. Irgendwann hält das Auto abrupt an der linken Straßenseite und Volker verkündet: »So, da sind wir.« Ein unscheinbares Haus von außen. Aber groß. Als wir die Schwelle überschreiten, finden wir uns in einer wunderbaren Villa wieder. »Das Haus ist noch relativ jung«, sagt Volker, »aber im Stil der Gegend hier erbaut worden.« Der Eingangsbereich allein ist riesig, fast gleicht er einer kleinen Halle, aus der eine Treppe nach oben führt. »Aus Vulkangestein«, strahlt Volker, »die muss mal richtig teuer gewesen sein.« So wie alles hier. Auf halbem Wege nach oben befindet sich an der Biegung der Treppe ein kleiner Springbrunnen mit Statue. Wir bekommen eine Führung. Das Erdgeschoss ist unglaublich weitläufig. »Irgendwann hatten die wohl keine Ahnung mehr, was sie mit dem Platz machen sollen«, erklärt Volker auf dem Weg in den hinteren Teil des Hauses und öffnet beiläufig eine Tür: »Deshalb haben die hier sogar eine Kapelle eingebaut!« Im hinteren Teil des Hauses befindet sich die Küche mit einer Tür hinaus auf die Veranda. »Das hier ist die große Küche, dort essen wir immer zu Abend«, sagt Volker. »Wie viele Küchen habt ihr denn?«, will ich wissen. »Insgesamt drei. Diese hier, die Frühstücksküche und die Außenküche mit einem richtigen Feuerofen.« Im Obergeschoss befinden sich zusätzlich vier Schlafzimmer und eine Veranda mit 200°-Meerblick. Unglaublich. Ich starre und staune. »Hä sind hier wirklich billig«, betont Volker noch einmal. Also verbringe ich den ganzen Abend an Bord im Internet und blättere durch Hausannoncen. Tatsächlich, für 30.000 € bekommt man schon ein kleines, bewohnbares Häuschen. Zudem ist es sehr einfach, dort einen Wohnsitz anzumelden, denn die Azoren werden nach Anwohnerzahl von der EU bezuschusst. Klar, dass die Inselverwaltung sehr hinterher ist, die Zahl zu erhöhen.
Am nächsten Abend laden uns Volker und Ellen zum Abendessen ein. Und nicht nur uns, sondern auch den Stützpunktleiter des Trans-Ocean-Stützpunktes in Saõ
Miguel, Victor Pangzhin. Victor stammt aus Georgien und hat mit seiner Frau Galina elf Jahre lang auf einem Katamaran die Welt besegelt. Seit 2011 leben sie auf Säo Miguel und kümmern sich hier nebenbei um die durchreisenden deutschen Segler. Beide sprechen erstaunlich gutes Deutsch. Volker kocht. Schwein mit Möhrchen-Gemüse, denn er liebt MöhrchenGemüse. Wir plaudern mit den Russen über die Segelei. Als wir erzählen, dass wir seit zwei Jahren unterwegs sind, stutzen sie. »Nach zwei Jahren hatten wir uns gerade eingewöhnt.« Das gibt uns zu denken. Und macht Mut, dass wir mit dem neuen Leben auf dem Kat die richtige Entscheidung getroffen haben. Bald nach dem Essen verlassen uns Victor und Galina. Nicht jedoch, ohne uns vorher anzubieten, am nächsten Tag eine kleine Rundfahrt über die Insel mit uns zu machen. Das nehme wir natürlich sehr gern an. Zum Abschluss des grandiosen Essens trinken Volker, Ellen und wir noch einen Wein zusammen. »Ach übrigens«, leitet Volker über zu einem weiteren Highlight des Abends, »habt ihr mal darauf geachtet, von was für Tellern ihr gegessen habt?«, und lacht. Dabei nimmt er einen neuen, noch sauberen Teller aus dem Regal und dreht ihn um: »HMS Titanic« steht dort auf dem Rücken. »Das ist zwar kein Originalteller von dem Schiff, aber eine genaue Nachfertigung von dem Hersteller, der das Originalgeschirr gemacht hat«, verrät er. »Stand hier schon in dem Regal, als wir das Haus gekauft haben.«
Am nächsten Morgen sammelt uns Victor direkt am Hafen auf. Das Gefährt für die Tour ist perfekt gewählt: Ein Mitsubishi L300 Bus mit Allradantrieb. Damit fahren wir bis hoch in die Berge und zum Vulkangipfel. Immer vorbei an Schildern, die dazu ermahnen, sich nicht lange an einem Ort aufzuhalten, »Ohnmachtsgefahr«, wegen des Schwefelgeruchs. Die Einheimischen wissen die heiße Quellen zu nutzen und haben sich an verschiedenen Stellen große Badewannen in den Fels geschlagen. Das Wasser tritt dort mit 100 °C Temperatur aus der Erde und kocht dabei. Wir sind völlig geplättet von dem Wissen, das Victor von Geschichte und Botanik der Insel hat. Wir sehen Surferstrände und alte Siedlungen, ein altes Wasserwerk und Wasserfälle in feuchter Dschungelumgebung, heiße Quellen und Heilbäder, Kirchen und azoreanisches Flair. Am Ende der Rundfahrt sind wir völlig begeistert von so vielen Eindrücken und von der tollen Insel. Es ist wirklich schwer zu sagen, ob uns Madeira besser gefällt oder Saõ Miguel. Aber sicher ist:
Die portugiesischen Inseln gefallen uns von allen am besten.
Nachmittags sammelt uns Volker auf und fährt mit uns zum nächsten Supermarkt, damit wir Vorräte bunkern können. Der Supermarkt liegt direkt neben dem Makler, über den Volker und Ellen ihr Haus gekauft haben und wir kommen ins Gespräch über Immobilien. Dabei erwähne ich ein Haus, das mir vormittags auf der Fahrt mit Victor aufgefallen ist. Es ist eher eine Ruine und liegt im Norden der Insel. An der Hauswand habe ich »1912« erkennen können. Am Zaun stand ein »Zu Verkaufen«-Schild. Die Neugier ist geweckt, auch bei Volker und Ellen. Das Haus müssen wir wiederfinden. Also rekonstruieren wir die Route, die Victor mit uns gefahren ist, und finden tatsächlich mein Haus wieder. »Wow, ist das nicht herrlich«, strahle ich. Cati ist weniger begeistert. Aber sie scheint auch nicht das fertige Produkt zu sehen, das wir besitzen könnten, wenn wir erst mal zehn Jahre Arbeit und all unser Geld darin versenken würden. Ich hingegen kann schon sehen, wie ich an dem großen Fenster im Norden an meinem Eichenschreibtisch sitze und an einem tollen Roman feile.
Das Tor ist nur mit Draht verbunden und kein Hindernis für Ellen. Ehe ich mich versehe, bin ich auf dem Grundstück und laufe um das Haus. Meerblick, ganz viel Meerblick von der Veranda. Und es gehört viel Land dazu, viel zu viel Land. Das Haus besteht aus einem Wohnteil und Hauswirtschaftsteil, beide sind mit einem gläsernen Durchgang verbunden. Wie ein Wintergarten. Das Glas ist natürlich alles kaputt. Aber es lässt sich erkennen, wie es einmal ausgesehen haben mag. Die Türen stehen offen, und die Räume sind erstaunlich groß für das Baujahr. »Keine Heizung, keine Wasserleitungen«, fällt Cati auf, aber ich sehe die positive Seite, »dann müssten wir die nicht erst rausreißen, wenn wir alles neu machen.« Über eine unglaublich enge Treppe erreiche ich das Obergeschoss, das nur Kriechhöhe hat. Alles ist dunkel und mit Spinnenweben verhangen. Dort oben finde ich ein paar Betten und einen Kleiderschrank. Hier war bestimmt seit 30 Jahren niemand mehr. Es schaudert mich, richtig gruselig.
Unsere weitere Rundfahrt führt uns hinauf auf den Vulkan. Von dort aus hat man
eine tolle Aussicht in den Krater, der mit einem zweifarbigem See gefüllt ist. Doch wir sehen nichts, stehen mitten in den Wolken. Schade. Doch »Pech« kann man es nicht nennen, denn der Krater hängt gut 300 Tage des Jahres in den Wolken. Das hat man auch realisiert, nachdem man das einstige Nobelhotel direkt daneben gebaut hat. Heute ist es eine Ruine, denn wer will schon mitten in den Wolken wohnen?
Unsere Tage auf den Azoren gehen dem Ende entgegen. Wie schade. Wir würden sehr gern noch viel länger bleiben. Aber wir müssen weiter Richtung Heimat. Der Beginn unseres neuen Jobs als Charterskipper ist festgesetzt und die Zeit ist ohnehin schon knapp, denn ich muss vorher noch einen Segelschein machen, ohne durchzufallen. Mit schwerem Herzen setzen wir wieder die Segel. Wir haben die viel zu kurze Zeit mit Volker und Ellen sehr genossen. Aber das ist leider das Schicksal der Fahrtensegler: Freunde finden – und dann weiterziehen zu müssen. Wer weiß, vielleicht geht es uns irgendwann so wie Victor und Galina, dass wir nach elf Jahren Segelei irgendwo eine neue Heimat finden? Saõ Miguel wäre auf jeden Fall eine Insel, auf der uns das ieren könnte …
ENGLAND UND SEIN EMPFANG
Von Johannes
Ich sitze am Kartentisch und starre wie versteinert auf das AIS. »Was ist denn los«, fragt Cati. »Siehst du die TITANIC auf Gegenkurs?« »Viel schlimmer«, antworte ich. »Gerade ist eine französische Fregatte aus Brest ausgelaufen. Sie ist noch 20 Seemeilen entfernt, soll uns aber in zehn Meter Entfernung ieren. Die wollen uns abfangen.« Elf Tage sind wir seit unserer Abfahrt aus Säo Miguel auf See, haben bereits 1.100 Seemeilen geloggt und gerade die Biskaya überquert. Nun wollten wir gerade knapp an der französischen Küste vorbei hinüber nach Falmouth segeln, dort anlegen und eine große Portion Fish and Chips bestellen. Doch so einfach soll das nicht werden. Gestern bereits hat uns mitten auf der Biskaya ein Flugzeug ganz knapp überflogen. »Die kontrollieren wohl den Schiffsverkehr nach Europa«, meinte ich da noch. »Es gibt hier ja einige Schmuggler …« Und jetzt die Fregatte, die meine Vermutung bestätigt. »Ich ändere den Kurs mal um 30° nach backbord, nach England«, sage ich, und tatsächlich, keine zehn Minuten später sehe ich auf dem AIS, wie die Fregatte eine Wende fährt und mit dem Bug wieder auf Brest zeigt. »Wahrscheinlich geben die an die Briten weiter, dass wir kommen«, denke ich mir noch. Am Morgen des zwölften Tags queren wir den Ärmelkanal und sichten den russischen Rahsegler MIR auf Gegenkurs. Gegen 11:30 Uhr refft Cati aus, ganz allein! Während die Segelmanöver den Großteil der Reise meine Angelegenheit waren, entwickelt sie nun zum Ende hin immer mehr Ehrgeiz, das Schiff allein zu führen. Als wir uns dann endlich Falmouth näher, steht die Sonne bereits tief am Himmel. Wir segeln mit dem letzten Windhauch an der Küste entlang, wollen noch keinen Motor anwerfen. Doch mir fällt auf, dass wir einen Schatten haben: Ein britisches Schiff umzirkelt uns in weitem Abstand. Auf seinem
Rumpf steht in großen Lettern »Border Patrol«. Vor zwei Jahren haben wir in Ramsgate miterlebt, wie eine britische Segelyacht von solch einem Patrouillenboot aufgebracht worden ist. Unter ständiger Überwachung wurde die Yacht in den Yachthafen begleitet, dann kamen drei Uniformierte an Bord und verbrachten den ganzen Tag damit, jedes kleinste Brettchen abzuschrauben und in den Zwischenraum dahinter zu schauen. Alle Anbauteile und die gesamte Ausrüstung lagerten derweil auf dem Steg. Das Aufräumen war natürlich Sache der Segelcrew. Verständlich, dass es uns nun ein wenig davor graut, für so eine »Routineuntersuchung« ausgewählt zu werden. »Tu so, als wären wir ganz normale Segler«, instruiere ich Cati. »Bloß nicht auffällig wirken.« Ich lächle auffällig viel und künstlich, denn ich habe das Gefühl, dass wir gerade durch Ferngläser beobachtet werden. Nach einer guten Stunde, die das Schiff neben uns her fährt, dreht es plötzlich nach Westen ab. »Puh, die scheinen das Interesse verloren zu haben«, freuen wir uns. Doch als wir das nächste Mal hinüberschauen, prescht bereits ein Schlauchboot auf uns zu. »Och nö, die haben sich nur weggedreht, damit wir nicht merken, wie sie das Boot zu Wasser bringen«, sage ich. Insgesamt vier Soldaten in schusssicheren Westen sitzen in dem stark motorisierten Schlauchboot. Sie sind allerdings unbewaffnet. »Hallo, wir müssen Ihre Papiere überprüfen. Wir kommen an Bord.« Na toll! Wir rollen die Genua ein und halten das Schiff stabil auf Kurs, damit zwei von ihnen übersteigen können. Mit ernsten Mienen klettern sie ins Cockpit. Die Stimmung ist gedrückt. Doch das macht Cati nichts. »Willkommen an Bord«, sagt sie und hält den beiden Männern eine Keksdose unter die Nase. »Möchten Sie einen Keks?« Das Eis ist gebrochen, die beiden lachen. Der Jüngere nimmt sogar einen. Man erklärt uns das Prozedere: »Wir versuchen, alle Schiffe zu überprüfen, die aus der Karibik oder von den Azoren kommen, denn es werden viele Drogen geschmuggelt.« Für die zwei Soldaten in ihrer schweren Rüstung und uns ist das Cockpit ziemlich klein, deshalb weicht Cati in die Kajüte aus. Wir müssen Pässe und Schiffspapiere vorlegen und unseren zurückliegenden Törnplan offenlegen. Dann will der eine unser Schiff sehen. Cati führt ihn unter Deck, wo er viele Schapps öffnet, an Mehltüten riecht, alles anschaut. Auf dem Fußboden unter dem Salontisch steht eine enorm große wasserdichte Tasche, die uns Torsten und Christine mitgegeben haben. Ihr Hab und Gut vom Katamaran. Auch in der Hundekoje stehen zwei Taschen von ihnen. »Was ist denn in diesen Taschen?«,
will der Beamte wissen. »Oh, das weiß ich gar nicht so genau«, antwortet Cati ehrlich. Und ergänzt dann naiverweise: »Ich habe da nie reingeschaut. Freunde haben sie uns mitgegeben, wir sollen die Taschen für sie nach Deutschland bringen.« Der Mann schüttelt den Kopf: »Das können Sie doch nicht machen! Wie lange kennen Sie die denn schon?« »Noch nicht so lange, wir haben uns nur ein paar Mal gesehen.« Seine Gedanken sind ihm anzusehen: »Wie kann man nur so leichtgläubig sein, einfach Taschen mitzunehmen, ohne hineinzuschauen?« Er beginnt, die Taschen zu öffnen. »Das sind ja nur Bücher und Bettzeug.« Das hätte ich ihm auch sagen können, denn ich hatte hineingeschaut, als ich wissen wollte, wie ich die Taschen verstauen kann. »Wir geben das jetzt alles so an unseren Vorgesetzten weiter, und der entscheidet dann, ob wir Sie noch mal komplett durchsuchen müssen«, verabschiedet er sich. »Sie müssen entschuldigen, Sie sehen wirklich wie nette Leute aus. Aber wir können nie sicher sein, denn so geben sich auch viele Leute, die etwas zu verstecken haben.« »Ja, bei ihm hier bin ich mir auch immer nicht sicher, ob er nicht ein paar Drogen an Bord geschafft hat, ohne mir was zu sagen«, scherzt Cati. Ich verziehe gequält das Gesicht, aber wir haben Glück und werden verschont, dürfen unsere Reise fortsetzen. Wir wollen in Falmouth zu einem Hafen, der zwei Seemeilen flussaufwärts liegt. Mittlerweile ist es dunkel, und wir hangeln uns in langsamer Fahrt durch unbeleuchtete Muringfelder den Fluss hinauf. Kurz nach Mitternacht erreichen wir die Marina, in der die meisten Kopfstege frei sind. Daher suchen wir uns einen aus und gehen längsseits. »Endlich angekommen«, fallen wir uns in die Arme. Wir haben es geschafft. Nach all dem Stress jetzt nur noch den Landstromstecker einstecken, den Heizlüfter rauskramen und in die Koje fallen. Als ich das Kabel einstecke, sehe ich an Land im Hafenmeisterbüro Licht. »Hey, da scheint noch wer zu sein. Komm, wir checken noch schnell ein.« Im Hafenbüro treffen wir einen Marinaangestellten beim Privatgespräch am Telefon an. Kurz legt er den Hörer beiseite: »Was wollen Sie denn?« »Wir sind gerade von den Azoren angekommen und wollten kurz einchecken.« »Tut mir leid, wir sind voll.« »Voll? Aber wir sind doch eben an Dutzenden leeren Stegplätzen vorbeigelaufen.« »Die kommen heute Nacht noch alle wieder.« »Es ist gleich 1 Uhr morgens.« »Trotzdem.« »Dann sollen wir jetzt wieder fahren?« »Ich fürchte schon«, sagt er abschließend und nimmt den Hörer wieder auf. Ich kann es nicht fassen.
»Scheiß England. Die blöden Inselaffen. Das hier soll eine Seglernation sein?«, schimpfe ich auf dem Rückweg zum Boot vor mich hin. »Der hatte nur keinen Bock, uns einzuchecken. Hätten wir nur nicht gefragt.« Die Fahrt zurück den Fluss hinunter geht mit der Strömung schneller. Außerdem weiß ich nun, wo die Muring-felder liegen. Der erste Hafen, den wir finden, ist tatsächlich voll, die Boote liegen schon zu dritt im Päckchen. Die Pendennis Marina sieht ebenfalls voll aus, aber dort am Wellenbrecher könnten wir festmachen. Bisschen schaukelig, aber wird schon gehen. Wir legen an, finden eine Steckdose, heizen auf und fallen um 2 Uhr morgens endlich in die Koje. Nun hat uns England also wieder. Wir wollen etwa zehn Tage bleiben, denn mein Onkel Uwe kommt zu Besuch. Er ist nicht nur mein Onkel, sondern auch mein ältester Freund. Mit ihm bin ich groß geworden, durch ihn bin ich zum Segeln gekommen. Deshalb freue ich mich besonders, dass er vorbeikommt. Um ihm die Anreise zu erleichtern, soll er einfach nach London kommen, wo wir ihn mit einem Mietwagen aufsammeln wollen. Daher liegen nun viereinhalb Stunden Fahrt vor uns, allerdings durch Cornwall, die schönste Ecke Englands. Vorbei an Stonehenge und quer durch die britische Landschaft. Wir holen Uwe in London ab und verbringen zusammen eine Woche in Cornwall. Erst erkunden wir die Gegend mit dem Mietwagen, dann segeln wir hinüber nach Fowey, einem der schönsten kleinen Dörfer in der Gegend. Dort machen wir an einer Muring fest. Ein merkwürdiges System, denn es gibt sowohl eine Muring für vorn als auch eine für hinten, damit sich die Boote nicht drehen. Vom Wassertaxi werden wir abgeholt und an Land gebracht. Dort schauen wir uns den netten Ort an, essen Fish and Chips und machen einen kleinen Englandurlaub. Den haben wir uns nach den letzten zwei sehr sportlichen Monaten auch verdient. In Plymouth verlässt Uwe uns einige Tage später wieder, und wir bereiten uns auf den letzten langen Schlag vor. Dort lernen wir Johanna und Stephan kennen, die mit ihrer Sunbeam 32 gerade auf dem Weg in die Karibik sind. Zusammen sitzen wir einen Abend an Bord ihrer kleinen Yacht und plaudern. Die beiden haben noch Bier aus Deutschland an Bord, wir von den Azoren. Es ist witzig, die beiden zu erleben. So voller Vorfreude und Spannung, wie wir vor zwei Jahren … Wir füllen die Tanks, kaufen ein paar Dinge für die nächste Etappe ein, bestellen am letzten Abend noch eine Pizza in den Hafen und legen am nächsten Tag
gegen Mittag für den Nonstopschlag nach Cuxhaven ab.
600 SEEMEILEN NONSTOP NORDSEE
Von Johannes
Der Ärmelkanal begrüßt uns mit seinem vertrauten Anblick: grau in grau. Doch der beständige Westwind schiebt uns gut unter Butterfly-Besegelung nach Osten. Gegen Mittag des zweiten Tages stehen wir bereits südlich von Poole, am dritten Tag ieren wir um 7 Uhr morgens den Nullmeridian bei Greenwich. Der große Ozean liegt weit hinter uns, die Nordsee vor uns. Die Gezeiten bestimmen unser Vorankommen. Mal steht das Wasser sechs Stunden lang gegen uns und wir kriechen mit nur drei Knoten die Küste entlang, dann kentert die Tide, und unsere Geschwindigkeit verdreifacht sich fast. Die Etmale sind okay, 88 und 113 Seemeilen. Gegen 18 Uhr abends ieren wir Dover, streng nach den Verkehrsregeln. Der Verkehr hält sich jedoch in Grenzen. Wir gehen unsere Wachen nach dem üblichen Takt, wechseln alle drei Stunden. Tagsüber haben wir genug Zeit, zu schlafen und zu dösen. Das Wetter lädt ohnehin dazu ein, denn es fühlt sich draußen richtig herbstlich an. Von Dover aus nehmen wir Kurs auf die holländische Küste. Im Morgengrauen des vierten Tages fällt der Wind für ein paar Stunden aus, und wir treiben in der Flaute durch eine Nebelbank. Drei Stunden später kommt er zurück. Zeitgleich umkreist uns ein Hubschrauber. Wir sind nun auf Höhe Rotterdam. Dann hören wir unseren Schiffsnamen im Funkgerät, das auf See die meiste Zeit mitläuft. Wir antworten und werden wieder einmal ausgefragt, woher wir gerade kommen und wohin wir wollen. »Och nee, hoffentlich wollen die nicht auch noch an Bord kommen«, meint Cati. Aber wir werden in Ruhe gelassen. Es erstaunt uns aber sehr, wie genau die Kontrollen hier sind. Der Brite auf dem Patrouillenboot scheint recht gehabt zu haben: Alle zurückkehrenden Boote werden überprüft, während wir bei der Ausreise völlig unbeachtet geblieben sind.
Am fünften Tag ieren wir das Verkehrstrennungsgebiet im Westen der holländischen Inseln. Der Himmel ist bedeckt, der Wind weht von achtern mit 3 bis 4 Beaufort. Ich sitze unter der Sprayhood und schaue der Windsteueranlage bei der Arbeit zu. Was für ein tolles Stück Mechanik. Sie hat uns rund um den Atlantik gesteuert und dabei nur ab und zu mal eine neue Leine gebraucht. Doch halt, was ist das? Wackelt die ganze Anlage etwa beim Gegensteuern manchmal hin und her? Erst wische ich den Gedanken beiseite. Doch, da war es wieder. Und tatsächlich ist die Anlage lose, wie ich beim Kontrollieren feststelle. »Cati, bring mal bitte das Werkzeug und komm ins Cockpit, du musst mich mal eben an den Füßen festhalten.« Kopfüber gelingt es mir, alle losen Schrauben nachzuziehen. Aber darf das ieren? Ich krame das Benutzerhandbuch heraus und schaue nach. Das hätte ich eigentlich schon vor der Reise machen sollen. Und tatsächlich, da steht es: »Nach 15.000 Seemeilen sollten die Schraubverbindungen der Anlage nachgezogen werden.« Ich schaue ins Logbuch: 15.124 Seemeilen. »Wow, die Angaben sind wirklich genau.« Im Zickzack ieren wir Windparks und morgens um 5 Uhr die holländischdeutsche Grenze. Wir erleben einen allerletzten herrlichen Segeltag. Die Sonne scheint, die See ist glatt. Doch der Wind ist ein bisschen zu flau, als dass wir es noch im Tageslicht nach Cuxhaven schaffen würden. In der Elbmündung schwimmt ein Lotsenboot, ein moderner Katamaran. Irgendjemand dort an Bord scheint unseren Blog zu lesen, denn ein paar Stunden später entdecken wir ein Foto von uns auf unserer Facebook-Seite, von Bord des Lotsenboots aufgenommen. Die Elbmündung zieht sich, wie immer. Irgendwann wird der Wind so wenig, dass wir die Segel wegnehmen und motoren. Große, viel zu große Frachter kommen uns entgegen, über 400 Meter lang. Dann ein Kreuzfahrer, MEIN SCHIFF 3. »Das ist kein Schiff, das ist eine Lichtershow«, kommentiere ich, denn es gelingt mir in dem bunten Geblitze lange nicht, die Positionslampen ausfindig zu machen. Da lobe ich mir die QüEEN MARY, denn dort herrscht nachts um die Positionslampen herum in allen Fenstern Verdunkelungspflicht, damit diese vor einer schwarzen Fläche allein stehen und zu erkennen sind. Es ist fast Mitternacht, als wir von der Elbe rechts abbiegen, gegen den starken Strom des ablaufenden Wassers vorhalten und in den Sportboothafen des Seglervereins einbiegen. Es ist ein lauer Sommerabend, Ende Juli. Der Hafen ist
ziemlich voll. In manchen Cockpits stehen noch Öllampen, sitzen Segler zusammen und trinken genüsslich ein Glas Wein. An einem solchen Cockpit fahren wir auf der Suche nach einem Liegeplatz dicht vorbei. »Moin!«, ruft uns von dort jemand herüber. »Da seid ihr ja wieder.« Ja. Da sind wir wieder.
ZURÜCK IN DER HEIMAT
Von Cati
Wir haben alle unsere Gastlandflaggen gesetzt. Die Tradition will das so, und wir sind auch ein bisschen stolz auf das, was wir geschafft haben: 14 neue Länder haben wir besucht und 15.291,3 Seemeilen seit unserer Abfahrt vor fast zwei Jahren geloggt. Der Anblick der vielen deutschen Nationalflaggen an den Hecks der Yachten hier im Hafen ist etwas ungewohnt für uns und die allgegenwärtige deutsche Sprache auch. Wir planen, um 10 Uhr morgens in Cuxhaven loszufahren, damit wir pünktlich nachmittags um 3 Uhr in Oberndorf ankommen. Die Tide diesmal eingerechnet. Sie ist auflaufend, und wir werden definitiv genug Wasser zu Hause am Steg haben. »Bist du bereit?«, fragt mich Johannes beim Leinenlösen. Die letzte Etappe unserer Reise hat begonnen. »Ich weiß es nicht«, antworte ich ehrlicherweise. Tatsächlich kann ich nicht richtig einordnen, was ich empfinde. Da ist einerseits natürlich das gute Gefühl, etwas für unser Leben Bedeutsames zu Ende zu bringen. Wohlige Vorfreude auf die vor uns liegenden Wochen im Kreis der Familie. Aber andererseits auch Unsicherheit, was den neuen Lebensabschnitt betrifft, der unweigerlich beginnt, sobald unsere Reise mit der »kleinen MAVERICK«, wie wir sie schon heimlich nennen, abgeschlossen ist. Und da ist vor allen Dingen Demut, dass wir es so weit geschafft haben. »Ich frage mich«, sage ich, als wir langsam aus dem Hafen motoren, »ob außer unseren Familien noch jemand anderes da sein wird, um uns zu empfangen.« Johannes hat unsere Ankunft zwar auf unserem Blog angekündigt, aber Oberndorf ist ja nicht gerade der Nabel der Welt. Recht ungünstig zu erreichen und wir kommen mitten in den Sommerferien an. Allerdings hatten wir bei der Abfahrt auch nicht mit dem Auftauchen uns unbekannter Menschen gerechnet. Auf der Elbe haben wir nicht nur den Strom mit uns, sondern auch den Wind. Schon als wir ein kleines Fitzelchen Genua ausrollen, haben wir 6 Knoten drauf.
»Das ist jetzt irgendwie zu schnell«, meint Johannes mit dem Blick auf die Logge. »Wir kommen viel zu früh an.« Die entgegenkommenden Yachten haben es deutlich unangenehmer. Hoch am Wind stampft sich ein großes, blaues Segelboot an unserer Steuerbordseite fest. Einmal können wir sogar die Kielverbindung sehen. »Andererseits …«, meint Johannes. »Lieber zu schnell als zu langsam!« Nur wenige Seemeilen vorm Abbiegen in die Oste werden wir per Funk gerufen: »MAVERICK, MAVERICK, MAVERICK, hier ist JOHANNE! Ist es bei euch auch so ruppig?« Ein aufgeregtes Kribbeln schießt in meinen Bauch. Unsere Nachbarn Marion und Bernd biegen mit ihrer JOHANNE gerade von der Oste auf die Elbe ab. »Kommt ihr uns etwa entgegen?«, funke ich zurück. »Was denkst du?«, antwortet Bernd. »Und wir sind nicht allein …« Marion und Bernd haben eine riesige Flagge am Masttopp gesetzt, die das Oberndorfer Wappen zeigt. Zur Begrüßung hupen sie dreimal lang. »Hier, antworte mal«, strahlt Johannes und drückt mir eine alte Messingtröte in die Hand. Dreimal tröte ich erstaunlich laut zurück, bis mir die Puste ausgeht. »Da kommt noch einer«, zeigt Johannes nach vorn. »Meinst du, dass der wirklich zu uns will?«, frage ich skeptisch. »Nicht, dass er nur gemütlich segeln will und blöd von mir angetrötet wird!« »Nein, das ist Harald!«, erkennt Johannes und freut sich. Ein weiteres näher kommendes Motorboot ist mir gänzlich unbekannt. Doch da hupt es schon, reiht sich hinter der JOHANNE ein und folgt unserem Kielwasser. Mit jeder Seemeile, die wir auf der Oste zurücklegen, wächst unser kleines Geschwader. »Ich will mal hören, wie die Lage in Oberndorf ist«, sagt Johannes und zückt das Handy. Sein Vater geht ran. »Wir sind hier mittlerweile fünf Boote und deutlich zu schnell. Wie es aussieht, kommen wir schon um 14 Uhr an«. Johannes’ Familie, die bereits in Oberndorf Stellung bezogen hat, würde das sicherlich nichts ausmachen, aber wir haben mittlerweile die leise Ahnung, dass eventuell doch ein paar Leute zu unserer Ankunft kommen. Da wäre es schon doof, wenn wir eine Stunde zu früh ankämen. »Papa sagt, da ist keiner«, berichtet Johannes, nachdem er aufgelegt hat. »Aber so, wie er es sagt, will er uns veräppeln.« Noch jemand wäre nicht so begeistert, wenn wir schon eine Stunde früher ankämen: Mein Vater und mein Bruder Alex stecken im Stau auf der Autobahn. »Ich glaube, wir schaffen es nicht mal pünktlich bis 15 Uhr!«, berichtet mir Papa frustriert am Telefon. 6 Knoten laufen wir mittlerweile, und die Strömung nimmt
noch weiter zu. Da hilft nur eines: »Ich mache jetzt den Motor an und lege den Rückwärtsgang ein«, beschließt Johannes. Tatsächlich, prompt wird MAVERICK TOO langsamer. Unser Geschwader wundert sich allerdings, als es an uns vorbeischießt und auf einmal unsere Vorhut bildet. »Macht euch keine Sorgen«, gibt Johannes per Funk durch. »Wir sind einfach nur viel zu schnell in Oberndorf!« Pünktlich um 15 Uhr kommt die Klappbrücke von Oberndorf in Sicht, und der Dorfsteg schiebt sich in unser Blickfeld. Mein Herz schlägt vor Aufregung bis in den Hals. Da sind ziemlich viele Menschen. Ich kann bekannte Gesichter sehen: Sammy, Manfred und Gabi mit einem Bettlaken, auf dem sie unsere Route aufgemalt haben, Susi mit Kamera im Anschlag, Nachbarn. Aber auch tatsächlich Leute, die ich noch nie gesehen habe und die uns freudig zuwinken. Und gerade als wir auf Höhe des Stegs sind, kommen mein Papa und Alex über die kleine Brücke gelaufen. Heimlich wische ich mir eine Freudenträne aus dem Augenwinkel. Unter Segeln fahren wir am Steg vorbei. »Es soll ja so aussehen«, hatte mir Johannes in Cuxhaven schon erklärt, »als seien wir um den Atlantik gesegelt und nicht motort!« Die kurze Strecke unter Motor zurück zum Steg will Johannes eine Seenotfackel anzünden, damit es spektakulär wird. Und das wird es tatsächlich, denn Johannes scheint mir irgendwas vom Vorschiff zuzuraunen. Ich kann ihn im Cockpit bei dem Motorengeräusch jedoch beim besten Willen nicht verstehen und zucke daher nur mit den Schultern. »Hör dich nicht«, rufe ich in Richtung Vorschiff, wo die Fackel in Johannes’ Hand Feuer speit. »Hol einen Eimer Wasser«, antwortet der daraufhin etwas lauter. »Die Fackel geht nicht aus, und ich kann sie ja schlecht vor allen Leuten über Bord werfen!« Langsam tuckern wir an den Steg heran. Manfred nimmt die Leinen an, und Johannes stellt den Motor ab. Plötzlich herrscht eine merkwürdige Stille, denn offensichtlich traut sich niemand, uns als Erster zu begrüßen. »Ja, moin«, sagt da Johannes zu allen. »Da sind wir also wieder!« Zwei Tage später haben wir dann gleich den ersten wichtigen Termin zurück an Land: Aus Cati Trapp wird heimlich um 14 Uhr im Standesamt Cadenberge Cati Erdmann.
ANGEKOMMEN? NOCH LANGE NICHT!
Von Johannes
Als wir zwei Jahre zuvor in Oberndorf die Segel gesetzt haben, war die Rückkehr für uns eigentlich folgendermaßen geplant: Wir legen an einem Samstagmorgen an unserem Steg an, schleppen unsere Sachen über den Deich in die Wohnung, und am Montagmorgen löse ich ein neues Monatsticket für die Regionalbahn, die mich nach Hamburg ins Büro bei der Yacht bringt. Dort nehme ich meinen alten Job auf, während Cati sich nach einem Ausbildungsplatz umsieht. Am liebsten irgendwo in einem Verlagshaus. Denn mit dem Praktikum im Delius Klasing Verlag hat sie ihren Traumjob gefunden. Doch nun scheint nichts mehr so zu sein oder zu werden, wie es einmal geplant war. Der Steg ist kaputt und liegt an Land. In der unteren Wohnung sind neue Mieter, eine Flüchtlingsfamilie. Zwei Tage zuvor hat der Schuppen gebrannt, und noch immer sind die Reifenspuren der vier Feuerwehrzüge auf dem Rasen zu sehen. Das Dach hat ein mannsgroßes Loch. Der Garten ist verwildert, und unser Haus wirkt fremd. Wir fühlen uns überhaupt nicht zu Hause. Statt dort wieder einzuziehen, verbringen wir deshalb noch ein paar Nächte auf dem Schiff und ziehen dann ins Gästezimmer meiner Eltern in Wolfsburg. Um ins Charterbusiness starten zu können, müssen wir eine Menge Dinge vorbereiten. Allem voran muss ich endlich einen Segelschein machen, um kommerziell mit Gästen segeln zu dürfen. Der Sportbootführerschein See reicht natürlich nicht. Die Zeit drängt, denn Ende Oktober wollen wir bereits den Katamaran übernehmen und Mitte November mit meiner Familie eine Proberunde bei den Bahamas drehen. Einmal zu den schwimmenden Schweinen und zurück. Das soll unsere Standardroute werden. Bis wir mit zahlenden Gästen
durch die Exumas segeln können, gilt es so einiges zu optimieren. Denn sobald wir Nassau verlassen gibt es zehn Tage keine Möglichkeit, Vorräte nachzukaufen. Das schließt das übliche Kojencharterprinzip, bei dem alle Gäste zusammen einkaufen und jeder mal kocht, aus. Denn wir können von unseren Gästen keine komplette Vorabplanung für zehnmal drei Mahlzeiten erwarten. Also wollen wir ein Rundumpaket anbieten: Die Gäste kommen an Bord, das Schiff ist schon verproviantiert, und Cati sorgt zehn Tage lang für eine abwechslungsreiche Verpflegung. Davor graut ihr noch sehr. Daher soll sie sich jetzt einen Speiseplan überlegen, den wir im November mit der Familie testen wollen. Ich indes versuche verzweifelt, einen SSS-Schnellkurs zu finden. Doch der umfangreiche Unterrichtsstoff lässt sich nicht mit einem Crashkurs kombinieren. Alle normalen Kurse laufen über den Winter, mit einer Prüfung im Frühjahr. Dafür fehlt mir die Zeit. Also kaufe ich Lehrbuch, Übungskarte und Übungshefte und beginne, mir den Stoff im Selbststudium anzueignen. Die nächsten Monate werden hart, aber ich bestehe tatsächlich alle Prüfungen und habe Mitte Oktober meinen Schein in der Tasche. Zwei Tage danach fliegen wir auch schon zu unserem Katamaran. Diesen übernehmen wir wie geplant und segeln ihn dann nach Fort Lauderdale, um ihn für den Charterbetrieb umzubauen -alle nötigen Sicherheitsmittel, ein Elektroklo für die Gäste usw. Dabei geht unser letztes Geld drauf. Doch es gelingt, und so sind wir pünktlich Mitte November bei den Bahamas und fahren eine wunderbare Proberunde mit meiner Familie, optimieren die Verpflegung und die Route und sind dann bereit, die ersten zahlenden Gäste an Bord zu nehmen. Der Job des Charterskippers ist für manche Segler der Inbegriff von Glücklichkeit: ständig unter Segeln, ständig im türkisfarbenen Wasser, immer neue Gäste. Geldverdienen mit dem, wovon andere Leute träumen, dort, wo andere Urlaub machen. Doch schnell lernen wir auch die Kehrseite kennen: schlechtes Wetter, starker Gegenwind und ein zu eng gesteckter Zeitplan. Auslaufen, auch wenn das Wetter nicht optimal ist und wir früher mit MAVERICK TOO definitiv im Hafen geblieben wären. Stattdessen raus und segeln, denn der Kunde hat gebucht und will nach Staniel Cay, die schwimmenden Schweine sehen. Dazu ständig Schäden am Boot und technische Ausfälle. Das Schiff ist gerade in
einem Alter, in dem zahlreiche Erneuerungen fällig werden. Wir überholen die Maschinen, tauschen viel Elektronik, kaufen sogar einen neuen Satz Segel, sodass sich das Ganze vorerst wenig rechnet. Dazu gibt es ständig Engpässe bei der Verpflegung in den Supermärkten auf der Insel. Zwischen den Zehn-TagesTouren gleicht mein Job eher dem eines Fahrers, denn ich verbringe jeweils einen ganzen Tag auf Nassau damit, alle nötigen Nahrungsmittel und Ersatzteile für die nächste Tour zu besorgen. Dazu haben wir unseren Terminplan viel zu eng gelegt, haben meist nur 20 bis 24 Stunden Zeit zwischen zwei Touren. Sehr knapp für eine komplette Grundreinigung, Reparaturen, Einkäufe und den Transport der Gäste vom und zum Flughafen. Mal einen Monat oder auch nur eine Woche auszusetzen und zu verschnaufen ist kaum möglich, denn wir müssen die Segelsaison nutzen. Charter ist ein Saisongeschäft, und auch wenn MAVERICK XL keine Einnahmen einfährt, müssen wir unsere monatliche Rate für sie ja trotzdem zahlen. Im Normalfall haben wir im Monat drei Tage gästefrei, die wir mit der Schiffspflege und Vorbereitungen verbringen. Sind Gäste an Bord, haben wir eine halbe Stunde Privatsphäre am Morgen, mit dem Kaffee im Bett, dann eine halbe Stunde am Abend, bis wir todmüde in die Koje fallen. Ein knochenharter Job, bei dem die Romantik des »Geldverdienens unter Segeln« schnell abhandengekommen ist. Wir sehnen uns zurück an Bord der MAVERICK TOO. Zurück zu eigenen Reisen, unbeschwert und mit großen Zielen. Doch wir können nicht zurück, denn MAVERICK TOO ist mittlerweile verkauft. Es gibt nur das Vorwärts. Weiter Charter fahren, bis sich die Touren rechnen, wir MAVERICK XL so weit abgezahlt haben, dass wir sie verkaufen und uns wieder ein kleineres Schiff zulegen können, mit dem wir zu zweit unterwegs sein können. Oder zu dritt oder zu viert. Denn langsam stünden auch mal Kinder an. Aber wir wollen uns nicht beklagen! Denn zwischen zwei Reisen liegt immer die Zeit des Geldverdienens. Das haben wir mittlerweile gelernt. Beides gleichzeitig geht nicht. Irgendwann werden wir wieder nur für uns unterwegs sein. Die Welt ist noch weit. Wir haben viel zu wenig gesehen, um schon nach Deutschland zurückzukehren, in ein »normales« Leben. Catis Gesundheit bleibt bisher stabil. Und auch das Leben als Gastgeberin bekommt ihr gut. Viel Stress, natürlich, aber positiver Stress, wie sie sagt. Auch ihre medizinische Versorgung wird jedes Jahr etwas besser. Vielleicht sind die täglichen zwei Tabletten irgendwann nur noch alle zwei Wochen nötig, dann alle zwei Monate, und unsere Reichweite erhöht sich. Bis dahin leben und arbeiten wir auf Booten. Hier auf den Bahamas oder wohin der Wind uns auch immer in den nächsten Jahren wehen wird.
DANKSAGUNG
Gedenke der Quelle, wenn du trinkst. Aus China
Unser Dank geht daher an:
Vetus: Für die unglaubliche Hilfe, als wir in den USA den Motorschaden erlitten haben. Vielen Dank für den tollen neuen Motor.
Faber und Münker: Für einen grandiosen Segelsatz. Die Segel sind wirklich die besten, die wir je hatten, und sehen auch nach 15.000 Seemeilen immer noch wie neu aus.
Minox: Für tolle Ferngläser.
Båtsystem und Leon Schulz: Für die tolle LED-Technik an Bord, die uns eine Menge Strom gespart hat. Außerdem für die geniale Gennakerplattform und den Radarmast.
Gotthardt in Hamburg, speziell Finn und Sören: Für alle Hilfe und Tipps bei der Bordelektrik und beim Ersetzen des Riggs.
Seldén: Für die tolle Unterstützung bei der Umrechnung der Mastdaten.
Armacell, York und Rita Koschwitz: Für die hilfreiche Isolierung, eure Hilfe bei der Installation und eure Gebete.
Monitor: Für die Hilfe beim Kauf einer neuen Windsteueranlage und den schnellen, unkomplizierten Versand aus Kalifornien.
Seadoc: Für die Zusammenstellung der Bordapotheke und den tollen Medizinkurs.
Smartsatcom: Für die Hilfe beim Kauf eines Iridium-Satellitentelefons und der Prepaidkarten.
Wetterwelt: Für die Unterstützung bei der Wetterplanung.
AWN: Für ein fantastisches RIB samt Außenborder. Das Set hat einen echten Härtetest in tropischem Klima hinter sich, das Schlauchboot ist aber immer noch top in Schuss, und der Oceancraft-Motor springt nach wie vor auf den ersten Zug an.
Slam-Shop: Für tolles Ölzeug samt Thermowäsche und ständigen T-ShirtNachschub.
Victron-Energy: Für den leistungsstarken Inverter samt Ladegerät, der es
uns ermöglicht hat, alle Kameras und Laptops zu laden.
Freebag: Für die bequemen Sitzsäcke.
Delius Klasing Verlag: Für all die guten Jahre der Zusammenarbeit und speziell unserer Lektorin Birgit Radebold für ihre Geduld beim Kürzen des viel zu langen Manuskripts.
Last but not least: Der Yacht und ihrem Chefredakteur Jochen Rieker, der es durch persönliches Engagement und sein starkes Vertrauen in uns erst ermöglicht hat, dass Johannes von unterwegs ständig arbeiten und Geld verdienen konnte.
Außerdem an: Martin Skadow von der Bootswerft Neuhaus: Für den hervorragenden Ort für den Bootsrefit und die guten Tipps.
Andreas Hülsenberg: Für alle Hilfe und Tipps beim Bootsrefit.
Unseren Eltern: Für alle Unterstützung im Vorfeld der Reise und für euer Vertrauen, uns gehen zu lassen.
Uwe Mielke: Für dich, den besten Freund und Mitsegler.
Marlene und Bert Frisch: Unsere Shorecrew und Nachbarn. Danke für alles!
Siggi und Hein Zenker: Für die Zeit mit euch in Virginia und für das Vorleben eines Lebens unter Segeln.
Dr. Cornelia Müller-Habich: Für die permanente Überwachung von Catis Gesundheitszustand aus dem fernen Hamburg und für die logistische Unterstützung.
Dr. Martin Buhr: Für medizinische Beratung, auch per Satellitentelefon in der Mitte des Atlantiks.
Arne Schröder und Kris Karathomas: Für die schöne ZDF-Dokumentation und die DVD über unsere Reise.
Torsten und Christine: Für den Kat, die Starthilfe in unser neues Leben.
Und ganz besonders: Oliver: Denn ohne dich wäre die Reise nicht möglich gewesen. Solche Menschen wie dich gibt es nicht oft.
Auch auf DVD lieferbar: Cati & Johannes Erdmann Zu zweit auf See Auf Schlingerkurs ins Segelabenteuer ISBN 978-3-667-11027-5
1.Auflage 2018 © Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld
Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar: ISBN 978-3-667-11275-0 (Print) ISBN 978-3-667-11440-2 (Epub)
Lektorat: Birgit Radebold/Sigrun Künkele Fotos: Cati + Johannes Erdmann Karte: inch3, Bielefeld Schutzumschlaggestaltung: Felix Kempf,
[email protected] Satz: Axel Gerber Lithografie: Mohn Media, Gütersloh Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice,
München
Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus, nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.
www.delius-klasing.de
1 Mit der hastig bei Ebay ersteigerten, rustikalen Hurley 22 sammelt Cati auf der Ostsee erste Segelerfahrungen. Nach dem ersten Schwerwettertörn nach Dänemark ist klar: Das Bordleben gefällt ihr – und schlimmer kann es eh nicht mehr kommen …
2 Doch vor der gemeinsamen Langfahrt liegen zunächst zwei lange Jahre der Schufterei. An der Elbmündung wird die 42 Jahre alte MAVERICK TOO komplett restauriert.
3 Auf der ersten Etappe nach Holland begrüßt uns die Nordsee mit hohen Wellen. MAVERICK TOO macht sich super.
4 Doch Cati fndet die raue See gar nicht lustig. Bis Spanien ist die Seekrankheit ihr größter Feind.
5 Die Überquerung der Biskaya Ende Oktober hat es in sich. Die Kurve des Barografen zeugt von den vielen Wellentälern, in die MAVERICK TOO geworfen wurde.
6 Nach den jahrelangen Vorbereitungen ist Cati zwar Bootsbau-Profi, hat aber vom Segeln selbst keine Ahnung. Auf dem Weg nach Süden spielen wir Fahrschule und üben Gennakersegeln.
7 Ein Nordwind treibt MAVERICK TOO die portugiesische Küste hinunter nach Lissabon. Das erste Mal warmes Wetter und Wind von achtern statt von vorn.
8 Auf dem Weg nach Viana do Castelo verhilft der Gennaker zu Rauschefahrt.
9 Anfang Januar 2015 liegt MAVERICK TOO in Funchal auf Madeira und wird für die Atlantiküberquerung vorbereitet. Für Johannes die dritte, für Cati die erste.
10 Genau wie auf den Azoren ist es auf Madeira Brauch der durchreisenden Segler, ein Gemälde auf der Kaimauer zu hinterlassen.
11 Auf dem Weg in die Karibik ieren wir eine portugiesische Galeere. Diese Quallenart ist nicht nur wunderschön anzusehen und ein guter Segler, sondern auch furchtbar giftig.
12 In einer Flaute auf dem Atlantik liegen wir ruhiger als in manchem Hafen.
13 Nach einer Woche kehrt der Wind zurück. Der at schiebt uns in Rauschefahrt nach Westen.
14 Zum Ende der Atlantiküberquerung sorgen immer wieder Squalls für Abwechslung in der Nacht.
15 Auf Grenada in der Karibik treffen wir unsere Freunde von der MAYA und der ROSINANTE.
16 Cati freut sich nach den vier Wochen auf See über die frischen Angebote auf den karibischen Straßenmärkten.
17 Jeden Morgen einmal ums Boot schwimmen, wie hier auf Union Island – darauf freute sich Cati seit Jahren.
18 Ein Cocktail in »Basils Bar« auf Mustique. Traumziel vieler Segler.
19 Auf Martinique stößt Johannes’ Sandkastenfreund Sammy zur Crew. Während Johannes an Bord einen Artikel schreibt, um die Bordkasse aufzustocken, gehen Cati und Sammy an Land auf Erkundungstour.
20 Sammys Bruder Christian steuert MAVERICK TOO auf den British Virgin Islands.
21 »The Baths« auf Virgin Gorda beeindrucken.
22 Cati genießt die James-Bond-Atmosphäre im legendären Yachtclub auf Staniel Cay.
23 Der erste Kaffee kurz nach Aufgang der Sonne ist für Johannes der schönste Teil jeder Nachtfahrt.
24 Gleich neben Staniel Cay leben die berühmten schwimmenden Schweine schon seit etwa 40 Jahren frei am Strand.
25 Jede Insel der Bahamas ist atemberaubend und anders. Shroud Cay ist durchzogen von Fjorden, die mit dem Dingi erkundet werden wollen.
26 Kaum ein Ankerplatz der Reise ist idyllischer als Allen’s Cay in den Exumas.
27 Sind wir mit dem Schiff wirklich hierher gesegelt? Von solch einem Bild war damals, in der Werfthalle, kaum zu träumen …
28 Abschied von den Bahamas auf Cockroach Cay. Doch uns ist klar: Wir kommen wieder.
29 Auf dem Weg über den Golfstrom in die USA machen Wind und Motor zugleich schlapp. Drei Tage kontrolliertes Treiben für 100 Meilen.
30 Cati hat auf den Bahamas einen winzigen Seestern gefunden.
31 Der Motor ist hin, die Kasse leer. Ernüchterung. Ist die Reise zuende?
32 Dreieinhalb Monate ist »Lamb’s Marina« in Elizabeth City NC die Heimat von MAVERICK TOO.
33 Durch den Dismal Swamp Canal geht es hinauf nach Norfolk und in die Chesapeake Bay.
34 Im Norden der USA gibt es häufg leere Stege, die zum kostenlosen Übernachten einladen.
35 Zeit zur Besinnung während der großen Aufgabe: Johannes baut einen brandneuen Motor ein.
36 Mit dem neuen Motor auf dem Weg in den Süden. Wieder ist es Spätherbst, wieder lausig kalt.
37 Die Bäume am Dismal Swamp haben ihr buntes Herbstkleid angelegt.
38 Mit Siggi und Hein Zenker machen wir in Deltaville eine unvergessliche Bekanntschaft. Die beiden sind in den 1960er-Jahren mit ihrer sechs Meter langen THLALOCA um die Welt gesegelt. Als allererste Deutsche. Seit den 70er-Jahren leben sie in den USA.
39 Bordkuh »Ricky« strickt sich einen Winterpulli.
40 Einen Großteil des Weges nach Süden fährt MAVERICK TOO im Intracoastal Waterway. Entspanntes Reisen. Jede Nacht fndet sich ein idyllischer Ankerplatz in den Sümpfen rund um den Kanal.
41 MAVERICK TOO ankert neben dem Wrack der SAPONA in den Bahamas.
42 Wiedersehen mit der Vergangenheit: MAVERICK 1 neben MAVERICK TOO in den Florida Keys.
43 Johannes’ altes Boot ist mittlerweile im Besitz von liebenswerten Hippies, die große Pläne damit haben.
44 Eine Schule Delfne begleitet MAVERICK TOO auf dem Rückweg nach Europa.
45 Cati genießt es auf See zu sein. Die Nordroute zu den Azoren gefällt ihr besser als die Südroute in die Karibik.
46 Nach vier Tagen im schweren Sturm steuert Johannes das Schiff in den Hafen von Horta.
47 Die kleine MAVERICK hat noch einen Platz neben den Fischerbooten von Horta bekommen. Im Hintergrund der Pico.
48 Cati bekommt Besuch von ihrem Bruder Hannes und erkundet mit ihm die ungewöhnliche Vegetation auf den Azoren.
49 Die Azoren gefallen und beeindrucken uns sehr – vor allem Sao Miguel mit seinen vielen Hortensien.
50 Die Inseln sind vulkanischen Ursprungs und in den Bergen Sao Miguels strömt das Wasser kochend aus den Felsen.
51 Nach 1.000 Meilen erreicht MAVERICK TOO Falmouth. Cornwall begrüßt uns mit Sonnenschein.
52 England fühlt sich wie schon fast zuhause an. Die pittoreske Kleinstadt Fowey an der britischen Südküste gefällt uns besonders gut.
53 Für die letzten Meilen nach Oberndorf setzen wir alle Flaggen der besuchten Länder.
54 Die Nordsee ist voller Plastikmüll. Wir sammeln Heliumballons ohne Ende.
55 Die letzte Klappbrücke liegt vor uns. Nach 15.003 Seemeilen schließt sich der Kreis.
56 Vor dem Dorfanleger in Oberndorf zündet Johannes eine Seenotfackel. Angekommen. Alles gut gegangen. Wir sind glücklich.
57 Zwei Tage nach dem Anlegen wird aus Cati Trapp: Cati Erdmann.