Wo Bist Du, Maja? 3h383

G.S.Friebel

Wo bist du, Maja?

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Inhaltsverzeichnis

Wo bist du, Maja?

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Wo bist du, Maja?

Roman von G.S. Friebel Der Umfang dieses Buchs entspricht 120 Taschenbuchseiten. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Dr. Schneider sieht Maja Richards im Zug und glaubt, seine verschwundene Frau vor sich zu haben. Statt sie jedoch anzusprechen, versetzt er sie in Hypnose und nimmt sie mit sich. Eine groß angelegte Suchaktion setzt ein, doch Maja Richards bleibt verschwunden.

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker © Roman by Author © dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius. Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle Rechte vorbehalten. www.AlfredBekker.de [email protected] Folge auf Twitter: https://twitter.com/BekkerAlfred Erfahre Neuigkeiten hier: https://alfred-bekker-autor.business.site/ Zum Blog des Verlags! Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!

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1

Maja war jung, schön und liebreizend. Ihr Mann liebte sie und trug sie auf Händen. Eine kleine Tochter vervollständigte ihr Glück. Sie liebte ihren Beruf und war glücklich. Das Leben hatte es gut mit ihr gemeint, so glaubten es Maja und auch ihr Mann Jürgen. Bis heute war es auch so. Aber dann erschienen dunkle Schatten in ihrem Leben. Eine grauenvolle Zeit begann für sie. Sie lernte die Angst und die Pein kennen. Und niemand war da, der ihr zur Hilfe eilte. Schon wollte sie vor Verzweiflung aufgeben. Aber noch wusste sie nichts von dem. Noch lebte sie in den Tag hinein, und das Lachen stand in ihren Augen und in ihrem Herzen. Maja Richards saß an ihrem Schreibtisch, und ihre Finger glitten flink über die Tasten ihrer Schreibmaschine. Noch zwei Seiten und sie hatte den Schluss des Romans endlich fertig. Sie war immer sehr froh, wenn sie wieder ein Werk beendet hatte. Maja schrieb Bücher, und sie wurden gern gelesen. Die Sonne schien durch das Fenster und spielte mit ihrem Haar. Es war blauschwarz und umrahmte mit weichen Wellen ihr liebliches Gesicht. Wenn sie den Kopf hob, dann sah man die großen, dunklen Augen. Maja war so schlank wie eine Gazelle und hatte einen leichten Schritt. Viele, die sie nicht kannten, glaubten sie schwermütig und stolz. Aber das war sie ganz und gar nicht. Viel lieber tollte sie mit ihrer kleinen zweijährigen Tochter Melanie durch die Wohnung, und das Lachen vereinte sich mit dem fröhlichen Krähen des Kindes. Jürgen selbst beteiligte sich oft an diesem lustigen Spiel. Maja und Jürgen waren seit drei Jahren verheiratet und liebten sich über alles. Ihr Mann leitete als Direktor eine große Fabrik, und sie konnte ihren geliebten Beruf weiterhin ausüben. Wieder rasselten die Tasten. Jetzt war sie doch wirklich ins Träumen geraten.

Nun noch einige Sätze, und dann war es endlich geschafft. Draußen ging die Tür. Das Kindermädchen kam mit Melanie aus dem Park zurück. Sie hörte das Lachen ihres Kindes durch die verschlossene Tür. Melanie wusste, wenn die Mutter arbeitete, dann durfte man sie nicht stören. So klein sie auch war, das wusste sie schon sehr genau, dass man dann nicht in das Zimmer stürmen durfte. Aber lange brauchte sie nicht zu warten, da kam schon Maja in den Garten und hob die Tochter hoch in die Luft, dass sie hell aufzujauchzen begann. „Mutti, willst du mit mir spielen?“ „Ja, mein Kleines, jetzt habe ich wieder Zeit für dich, komm!“ Bis zum Mittagessen widmete sie sich dem Kind, dann ging sie ins Haus und zog sich um. Dann war auch schon ihr Mann heimgekommen. Er ging sie gleich suchen. „Maja!“ Er breitete die Arme auf, und sie flog ihm entgegen. „Müde, Jürgen?“ „Es war schon ein sehr anstrengender Tag. Aber jetzt habe ich schon wieder alles vergessen!“ „Schmeichler“, lächelte sie ihn an. „O nein, ich spreche nur die Wahrheit, mein Liebes.“ Sie schnurrte wie ein Kätzchen in seinem Arm. „Und du, was hast du den ganzen Morgen getan?“ „Mein Buch ist fertig, Jürgen!“ „Fein, da freue ich mich für dich.“ Hand in Hand schlenderten sie in das Esszimmer. Es war sehr heiß, und die Fenster standen weit offen. Man sah den Rasen und im Hintergrund die großen, stillen Blautannen. Sie verbreiteten Kühle und Schatten.

„Wo ist denn unser kleiner Frosch? Ich höre ihn gar nicht!“, fragte Jürgen. „Das Mädchen hat sie schon schlafen gelegt. Wir haben im Garten herumgetollt.“ Jürgen lächelte seine Frau zärtlich an. „Glücklich?“ „Ich bin sehr glücklich“, gab Maja das Lächeln zurück. „Du verwöhnst mich über alle Massen!“ „Weil ich dich liebe.“ „Gehen wir heute ins Theater, oder hast du keine Zeit?“, fragte Maja schnell, da sie über sein Kompliment rot geworden war. „Nein, nein, ich habe es nicht vergessen. Wir gehen wie versprochen.“ Maja und Jürgen besaßen ein wunderschönes Haus am Stadtrand. Sie hatten es sich so eingerichtet, wie sie es sich gewünscht hatten. Jeder hatte sein Arbeitszimmer, und die übrigen Räume wurden mit einem harmonischen Familienleben ausgefüllt. Nach dem Essen zog sich ihr Mann noch für eine Weile in sein Zimmer zurück. Maja suchte die Haushälterin auf und besprach mit ihr die nächsten Tage. Maja stand vor dem großen Kristallspiegel in ihrem Zimmer und wendete sich langsam nach allen Seiten. Ja, sie war mit sich zufrieden. Das blutrote Kleid aus leichtem duftigen Chiffon stand ihr vorzüglich. Die schwarzen Haare waren zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt und ließ sie größer und zerbrechlicher wirken. Sie beugte sich vor und legte die weiße Perlenkette richtig um ihren schlanken Hals. Das Abendkleid reichte bis auf den Boden und war schulterfrei. Die Tür öffnete sich behutsam. „Ah, man ist also schon fertig?“ Maja drehte sich mit einem kleinen Lachen um. „Du siehst wundervoll aus, Jürgen!“

In der Tat, auch ihr Mann im Smoking konnte sich sehen lassen. Ihre Augen wurden dunkel vor Sehnsucht. Immer, wenn sie ihn ansah, fühlte sie, wie sehr sie ihn liebte. Ihre Liebe war wie ein Traum. Sie hatten sich bei Freunden auf einem Ball kennengelernt, sich gleich verliebt und kurz darauf geheiratet. „Neben dir bin ich nur noch ein blasser Stern“, lächelte Jürgen und beugte sich über seine Frau. „ auf mein Haar auf“, murmelte sie leise, erwiderte aber doch den Kuss. Er lachte. „Ist man also fertig?“ „Ja!“ Jürgen ging zum Stuhl, hob die wertvolle Stola hoch und legte sie um die Schultern seiner Frau. Das Mädchen meldete das Taxi. Wenn sie ins Theater gingen, blieb der eigene Wagen immer zu Hause. Nach der Veranstaltung wollten sie noch mit Freunden essen gehen. „en Sie mir auf mein Kind auf!“ „Ja“, sagte das Mädchen und blieb so lange in der Einfahrt stehen, bis der Wagen verschwunden war. „Eines Tages werde ich dir einen Sohn schenken“, sagte Maja und hielt die Hand ihres Mannes. „Das hat noch Zeit, meine Liebe! Wir haben ja soviel Zeit, das ganze Leben liegt noch vor uns!“ „Ja, aber wünscht sich nicht jeder Mann einen Sohn?“ „Natürlich!“ „Und warst du sehr traurig, als es nur ein Mädchen war?“ „Welche Gedanken du doch hast Maja, jetzt auf der Fahrt zum Theater!“

„Bitte, gib mir eine Antwort darauf!“ „Nun, wenn du es wissen willst, ich habe um euch beide sehr gebangt und war froh, als alles endlich vorbei war. Es war mir ganz egal, was es wurde, und jetzt bin ich sehr glücklich, dass ich euch beide habe!“ Maja lächelte ihn dankbar an. Aber er sah dieses Lächeln nicht, da es dunkel war im Wagen. Bald hatten sie das Theater erreicht. Es war eine laue Sommernacht. Jürgen half ihr beim Aussteigen. Viele festlich gekleidete Menschen strömten in das große Haus. „Ah, Maja, du wirst wieder alle Herzen brechen!“, sagte eine Stimme hinter ihnen. Sie drehte sich rasch um. „Ah, Peter, du bist auch hier?“ Peter war Jürgens bester Freund und noch Junggeselle. Einst hatte er gehofft, Maja für sich zu gewinnen. „Was macht die Kunst?“ „Ich habe heute mein Buch beendet!“ Peter Barden verbeugte sich leicht vor ihr. „Ich werde es mir gleich kaufen und lesen.“ Maja lachte und reichte ihm ihre Hände. Er beugte sich zu einem Handkuss darüber. „Wollen wir ewig hier stehen? Wenn ich mich nicht irre, wird heute der Rosenkavalier gegeben, und wir sind eigens dazu hergekommen. Vielleicht reden wir nachher weiter“, meinte Jürgen zu seiner Frau. Sie wandte sich um, und ihr Kleid raschelte leicht dabei. „Du hast natürlich recht. Aber wie ist es, kann Peter nicht mit uns kommen?“ „Gern, wenn er es wünscht!“ Seine Augen leuchteten auf. „Du bist doch nicht etwa immer noch eifersüchtig?“, fragte Maja leise auflachend. Dabei zeigten sich zwei Grübchen in ihrem Gesicht, die sie kindlich

erscheinen ließen. Jürgen nahm ihren Arm und führte sie zur Treppe. Peter ging hinter ihnen und lachte vor sich hin. „Ich wusste gar nicht, dass ich so gefährlich bin!“ „Na, na“, Maja krümmte den Finger. Jürgen schob sie weiter, sein Gesicht hatte einen eigenartigen Ausdruck. Peter Barden war der Sohn und Erbe eines großen Konzerns. Peter hatte Maja mit aller Leidenschaft geliebt und hatte es lange nicht überwinden können, dass sie jetzt seine Frau war. Aber warum, zum Teufel, hatte Maja ihn, Jürgen, gewählt und nicht Peter? Sicher, er konnte ihr auch vieles bieten. Als Direktor verdiente er sehr gut, aber Peter! Dagegen war er doch ein Nichts! Maja hatte ihm seinerzeit gesagt, sie liebe Peter nicht so sehr wie sie ihn, Jürgen, liebe. Aber Peter sah doch hervorragend aus und hatte keinen Hehl daraus gemacht, ihr zu zeigen, wie sehr er sie liebte und begehrte und ihr die Welt zu Füßen legen wollte. Nun waren sie vor der Logentür angekommen. Ein Theaterdiener öffnete ihnen die Tür, und sie schlugen den Samtvorhang zurück. Hier standen fünf Stühle mit breiten, bequemen Lehnen. Maja ließ sich an der Brüstung nieder und sah für einen Augenblick nach unten in das weite Rund. Sie legte die kleine Silbertasche vor sich und lächelte. Gleich zu Anfang ihrer Ehe hatte Jürgen diese Loge gemietet. Maja war eine leidenschaftliche Theaterbesucherin. Aber oft konnte Jürgen sie nicht begleiten. Und so ging sie eben allein. Hier oben saß sie dann, vor allen neugierigen Blicken geschützt. Seltsam, so sicher er auch der Liebe Majas war, hatte er immer noch ein heimliches Angstgefühl in sich, dass er sie eines Tages verlöre. Und wenn das geschehen würde, sein Herz schlug schnell und wild. Er würde bestimmt über diesem Kummer sterben, das wusste er. Maja war sein Lebensinhalt. Wenn sie einmal nicht mehr war, dann würde er alle Freude am Leben verlieren. Der Gong ertönte, und dann verstummte jeder Laut. Mit angehaltenem Atem lauschte Maja den wundervollen Musikklängen. Sie gab sich ganz hin und vergaß ihre Umgebung. Erst in der Pause wachte sie wieder auf und war zu einem Scherz aufgelegt.

Nach Schluss, es ging schon weiter über zwölf Uhr, brachen sie auf. Peter fragte, ob er sie noch begleiten dürfe. „Hast du niemanden?“, fragte Jürgen. „Wie du siehst nein! Wer einmal Maja geliebt hat, findet nicht so schnell einen Ersatz!“, sagte er etwas gequält! Es sollte scherzhaft klingen. Maja schob ihren Arm in den der beiden Männer. „Kommt, lasst uns fröhlich sein, ja?“ Der Bann war gebrochen. Sie besuchten ein ausgezeichnetes Künstlerlokal. Dort konnte man um diese Zeit ausgezeichnet speisen. Dort ging erst um Mitternacht der Trubel so richtig los. Auf dem Tisch standen Kerzen und flackerten leicht im Zug. Maja saß sinnend davor und betrachtete das Spiel der Flammen. Der weiche Schein legte sich über das Mädchen und ließ sie noch unwirklicher erscheinen. Jürgen und Peter sahen sie wie gebannt an. Wie eine Elfe, wie ein kleiner Geist erschien sie ihnen. Nun hob sie den Kopf mit den großen rätselhaften Augen, und ein Lächeln stand darin. „Man träumt?“ Beide schraken auf. „Verzeih“, sagte Jürgen und drückte für einen kurzen Augenblick ihre Hand. „Ich möchte tanzen, ich fühle mich heute so glücklich, weißt du. Oben auf der Dachterrasse ist doch immer Tanz. Lass uns dort hingehen!“ Man brach auf und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Höhe. Laue Nachtwinde schlugen ihnen entgegen. Hier war das Dach zu einem Garten umgewandelt. In kleinen Lauben saßen die Paare. Im Hintergrund spielte eine ausgezeichnete Kapelle, und in der Mitte befand sich eine große Tanzfläche. Viele Theaterbesucher hatten sich hier eingefunden. Peter bestellte Wein, und bald funkelte er in den Gläsern. Die Windlichter auf dem Tisch zuckten hin und her und versuchten mit dem Glanz der Sterne zu wetteifern, was aber nicht gelang. Wieder spielten die Musiker auf.

„Darf ich?“ Peter verbeugte sich leicht vor Maja. Jürgen nickte, und Maja stand auf. Sie war leicht wie eine Feder. Peter legte seinen Arm um die zarte Gestalt und entführte sie. Sie waren ein wundervolles Paar. Peter hatte blonde Haare und blaue Augen. Ein schöner Kontrast zu ihrem dunklen Haar. Maja lehnte sich zurück, und die Sterne tanzten in ihren Augen. Der Duft ihres Parfüms umwallte ihre Figur. Peter schloss für einen Augenblick die Augen. „Warum musstest du Jürgen heiraten, Maja? Hast du nicht gewusst, wie sehr ich dich liebe?“ Ihr Herz zuckte ein wenig auf, als sie die gequälte Stimme hörte. In ihren Augen stand Trauer, als sie ihn endlich ansah. Sein Blick senkte sich in den ihren. Für einen Augenblick zog er sie behutsam an sich, aber er ließ sie gleich wieder los. Der Walzer wollte kein Ende nehmen. „Doch“, sagte sie zart. „Und?“ „Ich liebe Jürgen, Peter, das weißt du!“ „Was ist denn an mir, dass du mich nicht lieben kannst?“, fragte er etwas bitter. „Nichts, Peter. Aber wenn das Herz spricht, muss man ihm dann nicht folgen?“ „Hättest du Jürgen nicht gekannt, was dann, Maja?“ „Dann?“ Sie sah in den nachtdunklen Himmel, sah die schönen Paare und sich und Jürgen einsam in der Nische sitzen. Und dann schaute sie wieder Peter an. Sein Gesicht war gespannt und so sehnsüchtig. „Dann hätte ich dich wahrscheinlich nur geliebt! Aber ich habe Jürgen getroffen.“ „Ja“, sagte er rau, „und ich war es noch, der euch beide bekannt gemacht hat.“ „Peter, wir haben immer ein ehrliches Spiel gespielt. Ich habe dir nie Hoffnungen gemacht. Du hast es gleich zu Anfang gewusst, bitte, du kannst mir keine Vorwürfe machen!“

„Nein, Maja, verzeih. Du hast recht, und ich bewundere dich. Ich habe mich schon damit abgefunden, dass Jürgen sich das Glück geholt hat. Aber weißt du, manchmal schmerzt es doch.“ „Eines Tages wirst du ein Mädchen finden und mich vergessen!“ „Dich werde ich nie vergessen!“ Dann war der Walzer zu Ende, und sie gingen an den Tisch zurück. Den nächsten Tanz tanzte sie mit ihrem Mann. Jürgen konnte wundervoll tanzen. „Ich war schrecklich eifersüchtig, als ich euch beide da so sah!“ Sie lachte. „Lieber Jürgen, jetzt fang nicht auch du noch an.“ Er sah sie stumm an, als er aber ihre Augen sah, da wusste er, dass sie nur ihn liebte, und dieses Gefühl berauschte ihn und überwältigte ihn über alle Massen. Langsam beugte sich sein schöner Kopf herab. „Nicht“, murmelte Maja mit glänzenden Augen. „Wir sind doch schon ein ganz altes Ehepaar!“ „Pah“, sagte Jürgen und küsste sie voller Leidenschaft vor allen Leuten. Kurz darauf brachen sie endlich auf. Morgen war wieder eine Konferenz angesetzt, und zu der musste Jürgen ausgeruht sein. Peter brachte sie nach Hause und wartete im Wagen solange, bis sie im Haus verschwunden waren. Maja stand noch einen Augenblick in der hellerleuchteten Tür und winkte ihm zu. Das war das letzte, was er von dem wundervollen Mädchen sah. Und für lange Zeit sollte sie wie vom Erdboden verschwunden bleiben. Maja ging noch einmal nach ihrem Kind schauen. Jürgen wartete schon auf sie. Voller Leidenschaft zog er seine schöne, junge Frau in die Arme. Hob sie hoch und trug sie in ihr Zimmer.

2

Der Regen trommelte unaufhaltsam an die Fensterscheiben. Das Wetter hatte auf einmal umgeschlagen. Gestern noch der herrlichste Sonnenschein, und heute war alles Grau in Grau. Maja wollte es zuerst gar nicht so recht glauben, als sie am Morgen die Augen aufschlug. Sie glaubte zuerst, immer noch zu träumen, aber dann sah sie doch, dass es Wirklichkeit war. Jürgens Bett war schon leer, wie sie mit leisem Erschrecken feststellte. Himmel, hatte sie denn so tief geschlafen, dass sie nichts gemerkt hatte? Gestern war es auch ziemlich spät geworden, und dann noch der Wein, er hatte sie selig schlafend gemacht. Das Abendkleid hing noch über dem Stuhl. Mit einem Sprung war sie aus den Federn. Die Uhr sagte ihr, dass sie es noch schaffen könnte. Schnell unter die Dusche, dann zog sie sich das weiche, weiße Hauskleid an und bürstete sich über die schwarzen Locken. So verließ sie das gemeinsame Schlafzimmer. Im Kinderzimmer hörte sie Melanie aufjauchzen. Jetzt hatte sie aber keine Zeit. Im Esszimmer traf sie ihren Mann beim Frühstück. Vorwurfsvoll blieb sie in der Tür stehen und sah ihn an. „Du hättest mich wecken sollen!“ ,,Ah“, Jürgen stand auf und ging ihr entgegen. „Aber du schliefest doch so schön, und du versäumst doch nichts!“ „Doch, ich will mit dir frühstücken. Ich würde mich als ganz schlechte Frau fühlen, wenn ich noch in den Federn läge, während mein Mann sich abplagen muss!“ Er küsste sie. „Na, wenigstens einigermaßen ausgeschlafen, mein Herz?“ „Und du?“, gab sie zurück.

„Oh, ich fühle mich ausgezeichnet!“ Sie schenkte ihm den Kaffee ein und bestrich die Brötchen. Jürgen überflog die Post, die das Mädchen gerade gebracht hatte. „Deine Mutter hat geschrieben, Maja!“ Maja nahm den Brief mit den etwas zittrigen Schriftzügen entgegen. Seit dem Tode des Vaters lebte die Mutter allein in einer anderen Stadt. Den Bitten ihrer Tochter und denen des Schwiegersohnes hatte sie noch nicht nachgegeben. Maja sähe ihre alte Mutter viel lieber bei sich. Aber die Mutter hatte den vernünftigen Standpunkt, dass junge Leute besser für sich lebten. Maja las den Brief. „Was schreibt sie denn? Will sie endlich kommen?“ „Jetzt wird sie wohl müssen“, sagte Maja kummervoll. „Sie schreibt nämlich, dass sie sich kränklich fühle, und wenn ich im Augenblick nichts anderes zu tun hätte, so möchte ich doch mal bei ihr reinschauen.“ „Und du wirst fahren?“ „Natürlich,, Jürgen, ich werde sie gleich mitbringen.“ „Schön, mir soll es lieb sein. Hoffen wir, dass es nichts Ernstes ist.“ Maja trank ihren Kaffee aus und faltete den Brief zusammen. „Du nimmst deinen Wagen?“ „Nein, ich fahre mit dem Zug, Jürgen. Du weißt doch, dass Mutter lange Autostrecken nicht gut verträgt. Und außerdem fahre ich selbst ganz gern mit dem Zug.“ „Soll ich dich also zum Bahnhof bringen?“ „Geh du nur erst in die Fabrik. Ich werde Mutter ein Telegramm schicken und ihr mitteilen, dass ich morgen früh dort sein werde. Ich werde den Nachtzug nehmen.“

„Gut, dann werde ich jetzt also gehen. Grüße mir Melanie von mir!“ Maja brachte ihren Mann bis zur Tür und winkte ihm nach. Ein leichter Reisekoffer mit dem Nötigsten war fertig gepackt und stand schon in der Diele. Maja und Melanie spielten im Wohnzimmer mit bunten Bauklötzchen, als Jürgen das Zimmer betrat. Er hockte sich auch auf den Boden und hob seine Tochter in die Höhe. Ein paarmal ließ er sie herumwirbeln, bis sie hell auf jauchzte. Maja sah ihnen zu und lachte. Das Kind strampelte und wollte mehr. Unermüdlich wollte es wie ein Ball in die Luft geworfen werden. Endlich kam das Mädchen und meldete, dass angerichtet sei. Maja und Jürgen speisten zusammen zu Abend. „Wirst du wieder schnell nach Hause kommen? Es wird sehr einsam ohne dich sein!“ „Armer Jürgen, hole dir doch Peter zur Gesellschaft. Aber ich will versuchen, alles schnell zu erledigen. Wenn Mutter nicht sehr krank ist, werde ich mich nicht lange aufhalten und sie gleich mitbringen.“ „Ob dir das gelingen wird?“ „Ich werde mein Möglichstes versuchen, Jürgen.“ Dann aber war die Zeit angebrochen, wo sie endlich zum Bahnhof fahren musste. Maja trug ein rotes Sommerkostüm mit einer weißen Bluse. Sie sah allerliebst aus. Das schwarze Haar hatte sie zu einem schweren Knoten zusammengebunden. Das tat sie öfter, wenn sie reiste, so war es ihr nicht hinderlich. Aber auch diese Frisur stand ihr vorzüglich. Jürgen hatte gleich den Wagen vor dem Haus stehen lassen. Noch immer regnete es, und große Pfützen standen auf der Straße. Die Laternen spiegelten sich darin wider. Maja schlüpfte in den Wagen. Jürgen warf den Koffer hinter sich und fuhr gleich los. Kaum konnten die Scheibenwischer das viele Wasser bewältigen.

„Auch der Himmel ist traurig, weil du fortfährst“, murmelte Jürgen. „Aber, du tust, als würde ich eine Ewigkeit fortbleiben, und außerdem sind wir doch schon so lange verheiratet!“ „Du meinst, da würde es mir nichts ausmachen? Irrtum, meine Beste, vielleicht ist es so bei dir, aber ich werde dich schrecklich vermissen!“ Majas Hand schob sich in die seine. Er drückte sie leicht und ließ sie dann wieder los, da er schalten musste. „Ich werde erst wieder glücklich sein, wenn ich bei dir und Melanie bin! Zufrieden?“ „Ja!“ Der Bahnhof kam in Sicht. Jürgen ließ seine Frau aussteigen und brachte dann den Wagen zum Parkplatz. „Hast du eine Fahrkarte, mein Herz?“ „Ja, komm, wir müssen uns jetzt beeilen. Ich habe nicht mehr viel Zeit.“ Hastig liefen sie die Treppen zum Bahnsteig hinauf. Jetzt, um diese Zeit, waren nicht viele Reisende unterwegs. Fast leer war der Bahnsteig, nur das Bahnpersonal stand herum und wartete auf die Ankunft des Zuges. Jürgen hielt die Hände seiner Frau umkrampft und sah sie unverwandt an. Maja hatte ihr schönes Gesicht emporgehoben. Er sah ihre Augen und den stolzen Mund. In der Ferne hörten sie das Brausen des Zuges. Dann endlich war er in die Halle eingefahren und hielt schnaufend an. Maja küsste ihn zärtlich und voller Leidenschaft. „Vergiss mich nicht.“ „Dass du scherzen kannst. Weißt du auch, dass das unsere erste Trennung ist?“ „Ich muss jetzt gehen, der Zug hat nicht lange Aufenthalt!“ „Ja, das musst du wohl. Ruf mich gleich an, wenn du bei Mutter bist, ja?“

„Ja, ich werde es tun!“ „Komm, ich helfe dir den Koffer tragen!“ „Lass nur, das kann ich wohl selbst!“ „Maja!“ Es war wie ein leiser Aufschrei. „Maja!“ Sie wandte sich noch einmal um und sah ihren Mann erstaunt an. „Was ist, Jürgen?“ „Ach, Maja, schelte mich einen dummen Jungen, aber weißt du, ich kann nichts dafür, ich habe ein so unsinniges Gefühl, wirklich. Ach, Maja, bleib hier, fahr nicht fort!“ „Lieber Jürgen“, sagte Maja etwas ratlos. „Nein, du hast recht, du musst fahren, ich bin ja auch schon still!“ Noch ein letzter Kuss, und dann stieg sie wirklich in den Zug. Sie stand so lange am Fenster, bis sie aus dem Bahnhof gefahren waren. Jürgen lief noch ein kleines Stückchen mit, und dann hob er winkend die Hand. Immer kleiner wurde die Gestalt seiner Frau. Noch sah er ihren Kopf, doch dann war der Zug in die Nacht hineingebraust und hinterließ nur eine große, dunstige Wolke. Das war das letzte, was Jürgen sah, und sein Herz wurde immer schwerer. Noch wusste er nicht, dass er Maja für lange Zeit verlieren sollte. Sie verschwand spurlos aus seinem Leben, und die Ängste übermannten ihn und ließen ihn verzweifeln. Nur das Kind hielt ihn daran zurück, nicht zusammenzubrechen. Maja hingegen wandte sich endlich um, als sie ihren Mann nicht mehr sah. Außer ihr war noch ein einzelner Herr im Abteil. Er sah sie an.

3

Doktor Robert Schneider war auf dem Wege nach Hause. In München hatte er einen Kongress besucht und fühlte sich demnach auch müde und zerschlagen. Das Rattern des Zuges machte es auch nicht besser. Aber jetzt würde es nicht mehr lange dauern, und er konnte endlich aussteigen. Gleich zu Hause wollte er sich zu Bett legen und sich gehörig ausruhen. Zu Hause! Seltsam, wenn er daran dachte, an sein Haus, den Garten, seinen Beruf, dann krampfte sich sein Herz zusammen. Hatte er überhaupt noch ein Zuhause, eine Zuflucht? Damals, ja, als Lisa seine Frau, noch dort weilte, da war es noch ein Heim gewesen voller Liebe und Leidenschaft. Doch dann war sie eines Tages verschwunden. Seine Wangenknochen traten hart hervor, als er daran dachte. Sie hatte ihn einfach verlassen, ein Brief, den sie hinterlassen hatte, kündete es ihm an. Lisa! Ach, wer konnte diesen Schmerz ermessen, wer? Voller Leidenschaft war er für sie gewesen. Warum war sie gegangen, warum? Nie würde er es erfahren. Seine Augen brannten, und er sah in die Dunkelheit hinaus. Doch dort sah er auch nichts. Ruhelos wanderten seine Hände auf dem Schoss hin und her. Er musste versuchen, sie zu vergessen, sonst würde er nicht mehr leben können. Doktor Schneider war ein hervorragender Arzt und reich außerdem. Wieder fuhr der Zug in einen Bahnhof ein. Er hatte aufgehört, nach den Namen zu sehen. Ihm war das so gleichgültig. Er war froh, dass er allein war. So konnte er seinen Gedanken nachhängen. Morgen würde er wieder seine Praxis auf machen. Sicher würde man schon auf ihn warten. Trotz seines großen Wissens lebte er auf dem Lande. Doktor Schneider war ein seltsamer Mensch. Ein Einzelgänger! Manchmal war er sehr seltsam. Seine Patienten fürchteten ihn sehr. Doch seine Erfolge sprachen sich herum. Er sprach wenig und konnte schrecklich zornig werden, wenn man seinen Ratschlägen keine Folge leistete. Vor seinen stechenden Augen fürchteten

sich die Kinder. Natürlich wusste Doktor Schneider darum. Er lächelte zynisch darüber. Mochten sie ihn ruhig fürchten. Er war Forscher voller Leidenschaft. Auch diesmal waren die Kollegen auf dem Kongress sehr erstaunt gewesen. Doch zu seinem Leidwesen spürte er, dass sie ihn trotzdem ablehnten. Seine Theorien fanden sie absurd, lächerlich. Er ballte die Hände zu Fäusten. Und dann hörte er die Frau sprechen und auch den Mann. Aber ihre Worte drangen nicht in sein Ohr, er war mit sich beschäftigt und nur ärgerlich, dass sie gerade sein Abteil ausgesucht hatte. Er schaute aus dem Fenster und sah undeutlich die Konturen der Bahnhofsschuppen. Aber dann konnte er doch nicht umhin, einmal aufzuschauen. Und er erstarrte. Wie geblendet starrte er Maja an. „Lisa!“, murmelte er mit zusammengepressten Zähnen. „Lisa!“ Maja hörte ihn nicht, da sie sich noch mit Jürgen unterhielt. Robert konnte nicht den Blick von der Gestalt abwenden. Natürlich bemerkte er nach dem ersten Erschrecken, dass es nicht seine Frau war. Aber sie sah ihr so ähnlich, so schrecklich ähnlich. Vielleicht war diese Frau ein wenig kleiner und zierlicher. Und auch die Gesichtszüge waren nicht genau dieselben. Aber auf den ersten Blick hatte sie wirklich wie Lisa ausgesehen. Auch das Haar und der dunkle Knoten. Heiß und wild strömte das Blut zu seinem Herzen. Er schloss gequält für einen Augenblick die Augen. Wie war das nur möglich! Mein Gott, hörte man denn nie auf, ihn zu quälen. Der Zug brauste in die Nacht, und Maja saß am Fenster und hatte ein Buch vor sich liegen. Robert starrte sie aus seinen dunklen, stechenden Augen an. Wenn sie nun seine Frau wäre, was dann? Würde er darüber nicht den Schmerz vergessen, den die andere ihm zugefügt hatte. Sie musste eine wundervolle Frau sein. Aber sie war nicht seine Frau! Der Ehering funkelte an ihrer Hand. Glücklich der Mann, der diese Frau, besaß! Und je länger er sie ansah, um so mehr stieg das Begehren in ihm hoch. Man müsste sie gewinnen, dachte er bei sich. Das schmale Gesicht, oh, er würde sie schon lieben, lieben! Maja fühlte sich beobachtet und hob den Kopf. Er sah die großen, strahlenden Augen, und das Blut wich aus seinem Gesicht. Ja, sie war sogar noch schöner.

Maja fühlte, wie die Angst in ihr hoch kroch. Seltsam, dachte sie, jetzt hat mich doch Jürgen tatsächlich mit seiner Angst angesteckt, mich, die ich sonst nie Furcht kannte. Etwas kläglich lächelte sie den fremden Mann an. Warum sah er sie so unverwandt an? „Verzeihen Sie, können Sie mir sagen, ob der Schlafwagenschaffner schon durchgekommen ist?“ „Nein, es ist ja auch noch nicht sehr spät!“ „Sie haben recht“, sagte Maja. „Aber ich möchte mich doch bald hinlegen. So eine lange Bahnfahrt kann sehr ermüdend sein!“ „Wem sagen Sie das“, sagte er einschmeichelnd. „Ich sitze schon den ganzen Tag im Zug. Ich bin in München zugestiegen.“ „Da werden Sie wohl froh sein, wenn Sie endlich zu Hause sind!“ „Ja, jetzt noch drei Stationen, dann habe ich es endlich geschafft! Und Sie, wohin geht Ihre Reise, wenn ich fragen darf?“ „Ich fahre nach Hamburg zu meiner Mutter!“ Jetzt, da sie mit ihm sprach, fühlte sie nicht mehr das beklemmende Gefühl in sich. Nur seine Augen, er hatte seltsame Augen! Ein unsinniger Gedanke hatte von ihm Besitz ergriffen. Diese Frau, es war ihm, als wäre sie zu seiner Rettung gekommen. Nein, sie durfte nicht nach Hamburg reisen. Sie musste sein werden. Musste, musste, musste! Es war wie ein Gift in ihm, er konnte sich selbst nicht mehr dagegen wehren. Nur dieser eine Gedanke stand groß vor seinen Augen. Aber wie sollte er das beginnen? Wie? Freiwillig würde sie doch nie mit ihm gehen. Bestimmt war das ihr Mann gewesen, der sie zum Zuge gebracht hatte. Pah, er würde sie alle bezwingen! Seine Augen ließen sie nicht mehr los. Maja fühlte sich davon eingefangen. Seltsam, ihre Glieder waren auf einmal so schwer, und sie hatte das Gefühl, als schwebe sie im Raum.

Robert beugte sich vor und nahm ihre Hände. Unverwandt starrte er sie an. Er hypnotisierte sie. Schon öfter hatte er es versucht und kannte seine Wirkung. Bisher hatte er es nur aus Spaß gemacht. Aber jetzt stand ein starker Wille dahinter. „Nicht wahr, du bist Lisa!“, sagte er eindringlich. Maja rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Sie hatte die Augen geschlossen, noch wehrte sie sich instinktiv gegen die Gefahr. „Nein“, murmelte sie leise. „Nein!“ Immer schwächer wurde ihre Stimme. Er musste schnell handeln, das wusste er. Gleich würde der Schaffner kommen. Nebenbei hatte er bemerkt, dass das Personal auf der letzten Station ausgetauscht worden war. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, aber er durfte auch keinen Fehler machen. „Lisa, du bist meine Lisa, hörst du?“ Maja schüttelte langsam den Kopf. Sie war willensstärker als er dachte. Noch einmal, dachte er. „Du bist aber meine Frau, nicht?“ „Ja“, kam es tonlos von ihren Lippen. „Öffne deine Augen, Maja!“ Sie tat es sofort. „Wer bin ich?“ „Mein Mann!“ Also doch, dachte er erleichtert. Endlich! Er lehnte sich zurück. Maja und Lisa, beide Namen hatten eine Ähnlichkeit. So musste er bei Maja bleiben, es half alles nichts. „Maja, ich bin Robert, dein Mann!“

„Robert!“ „Gleich steigen wir aus und sind dann zu Hause, nicht wahr?“ „Ja!“ Natürlich wusste er, dass die Wirkung nicht lange blieb. Aber er kannte ein Mittel, lange hatte er daran geforscht. Wenn sie dieses Mittel einnahm, hatte sie alles vergessen, was einmal war. Sein Lächeln war satanisch. Mochten die Kollegen ihn auch ruhig auslachen. Maja würde sein Experiment sein. Ein schönes und wundervolles zugleich. Der Schaffner kam und ließ sich die Fahrkarten zeigen. Maja tat alles, wie ihr geheißen wurde. „Wünschen Sie Betten für die Nacht?“ „Nein, wir steigen gleich aus“, sagte Maja mit langsamer, schleppender Stimme. Robert hätte am liebsten aufgejauchzt. Als sie wieder allein waren, huschte er neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. „Du bist wundervoll, Maja, meine Liebste!“ Sie hob den Kopf und lächelte ihn an. „Ja?“ „Wir werden sehr glücklich sein!“ Kaum konnte er noch an sich halten. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, geküsst und geliebt. Aber er wusste, wie dünn dieser Schein war. Er musste schleunigst mit ihr nach Hause und dann das Mittel, und dann! Eine wundervolle Zeit würde anbrechen für sie zwei. Der Zug hielt mit einem Ruck. Es war ein kleiner Bahnhof. Um diese Zeit befand sich nur ein Beamter auf dem Bahnsteig, der den Postsack in den letzten Waggon brachte. Robert hatte sich mit einem Blick vergewissert. „Komm, Maja, wir müssen aussteigen, hier sind wir zu Hause!“

„Ja“, sagte sie leise und ging schleppend hinter ihm her. Den Koffer ließ er zurück. Mochten sie sich später den Kopf darüber zerbrechen, dachte er bei sich. Noch einmal drehte er sich um und sah die Frau eindringlich an. Er zog sie näher an sich heran, stellte den Kragen ihrer Kostümjacke hoch und half ihr dann beim Aussteigen. Noch immer schüttete es vom Himmel, und Robert fasste Maja bei der Hand und eilte in das Bahnhofsgebäude. Es war nur schwach beleuchtet und die Sperren unbesetzt. Um diese Zeit war dies der letzte Zug, der hier hielt. Dunkel lag der Platz vor ihnen. Die Lampen versuchten ihr Möglichstes, aber sie schienen nur trübe und spiegelten sich in den großen Wasserlachen. Etwas abseits auf einem Trümmergrundstück hatte Doktor Schneider vor drei Tagen seinen Wagen abgestellt. Man kannte ihn ja gut genug, um zu wissen, dass er bald wiederkommen würde. Maja stand dicht hinter ihm. Er hielt immer noch ihre Hand und schloss mit der anderen die Wagentür auf. Behutsam schob der Mann sie hinein und schloss gleich danach wieder zu. Dann lief er um den Wagen herum und setzte sich hinter das Steuer. Maja saß reglos auf ihrem Platz und schien zu schlafen. „Gleich sind wir daheim“, sagte der Mann eindringlich. Die Trance schien nachzulassen, er musste sich beeilen. Die Dorfstraße war menschenleer. Hastig fuhr er durch die Nacht. Maja wurde unruhig. „Wo sind wir?“, fragte sie benommen und versuchte, die Müdigkeit abzustreifen. Robert raste durch die Straße und hatte bald das offene Land erreicht. Weit außerhalb des Dorfes hatte er sich das Haus gekauft. Früher musste es mal ein herrschaftlicher Besitz gewesen sein. Es war uralt und mit dicken Quadersteinen erbaut. Kein Schrei drang durch die Mauern. Jetzt in der Dunkelheit konnte man die Düsternis nicht erkennen. Es war kein schönes Haus. Grau, dunkel und klotzig stand es in der Landschaft. Die Bauern, die daran vorbei mussten, schauten scheu hin und gingen eilig weiter. Der frühere Besitzer war wahnsinnig gewesen und hatte wie ein Geist darin gehaust. Sie konnten es sich nicht erklären, warum der Doktor dort leben konnte.

Das Grundstück war von einer großen, hohen Mauer umgeben. Kein Unbefugter konnte in den Garten sehen. Eine kleine Pforte war an der hinteren Front eingelassen, dort befand sich ein langer Seitenflügel des Hauses. Und hier hielt der Arzt seine Praxis ab. Das große, schmiedeeiserne Tor wurde vom Licht der Scheinwerfer angestrahlt. Robert stieg aus und öffnete schnell, fuhr den Wagen hinein und verschloss das Tor dann wieder hinter sich. Jetzt erst fuhr er die breite Auffahrt hinauf. Ein Glücksgefühl durchströmte seine Glieder. Er liebte sein Haus, und nur hier fühlte er sich vor der Welt geborgen und sicher. Die Lampe über der breiten Haustür wurde wie von Geisterhand angeknipst. Die Tür ging einen Spalt breit auf, und eine verhutzelte Alte stand dort und starrte in die Finsternis. „Komm, Maja“, sagte Robert und ließ sie aussteigen. „Ja, Robert“, sagte Maja monoton. „Sind wir jetzt zu Hause?“ „Ja!“ Er nahm seine schwere Aktentasche und ging mit ihr die Stufen zum Hause hinauf. Bette, seine Haushälterin, uralt und mit schlechten Augen, ergraut schon im Dienste bei seinen Eltern, starrte die Frau aus ihrer randlosen Brille an. „Lisa“, murmelte sie und nestelte an ihrer Schürze herum. „Ja, Bette, meine Frau ist wieder heimgekehrt“, sagte Robert und lachte laut. „So, so“, murmelte Bette. „Wurde auch Zeit.“ „Hast du das Essen fertig?“ „Wird schon, wird schon“, murmelte sie und schlurfte in das Haus zurück. „Komm, Maja.“

Maja betrat das Haus, und die Haustür fiel mit einem Knall zu und sollte für lange Zeit verschlossen bleiben. Von diesem Augenblick an war Maja wie vom Erdboden verschwunden. Sie standen in einer großen, düsteren Halle. Alles war so schrecklich düster und kalt. Maja zog fröstelnd die Schultern hoch und lehnte sich an Robert. „Mir ist kalt“, murmelte sie heiser. „Komm“, sagte er und führte sie ins Wohnzimmer. Der Raum war groß und mit schweren Möbeln ausgestattet. Ein Kaminfeuer brannte. Schwere Vorhänge hingen vor den Fenstern. Robert setzte Maja in einen Lehnstuhl beim Feuer und verließ dann für kurze Zeit das Zimmer. Bald darauf kam er wieder und hielt ein dampfendes Glas in der Hand. „Hier, trink das, Liebling, dann wird dir besser!“ „Ich bin sehr hungrig!“ Und mit schnellen Zügen trank Maja das Glas leer. Robert stand hinter ihr und sah ihr dabei mit glänzenden Augen zu. Nun hatte sie endlich den Trunk und würde bald alles vergessen. Aber er musste ihr jeden Abend den Trunk geben, sonst würde er nicht wirken, und sie würde wieder erwachen und alles erkennen. Nun sah er, wie Maja sich aufatmend zurücklehnte und in die Flammen sah. „Bist du jetzt glücklich?“ Er kniete sich vor ihr nieder und fasste behutsam nach ihren Händen. „Ja, Robert“, lachte sie leise. Er hörte sie zum ersten Male lachen, und sein Herz geriet in Verzückung. „Meine Liebste, es wird wundervoll mit uns sein“, murmelte er und küsste ihre Hände, legte den Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Maja strich ihm langsam über die dunklen Locken. Seine stechenden Augen sahen sie unverwandt an.

Ein Schlurfen ertönte hinter ihnen. „Das Essen ist serviert!“ „Komm, meine Königin!“ Der Arzt führte die junge Frau in das Esszimmer, das genauso aussah wie das Wohnzimmer. Düster, kalt und unheimlich, aber Maja sah es nicht. Bette war alles: Köchin, Dienstmagd und Haushälterin. Robert und auch Bette selbst wollten es so. Sie wachte eifersüchtig darüber, dass keine andere Person das Haus betrat. Nur die gnädige Frau durfte das Haus betreten. Die Lieferanten mussten an der Hintertür die Ware abstellen. Und Patienten durften nur in den Warteraum. Bette war alt und irre, der Arzt war nur irre, von seiner Leidenschaft verzerrt, erkannte er nicht mehr, was gut und böse war. Lisa, seine Frau, war sein erstes Experiment gewesen. Sie hatte ihren Mann geliebt und war voller Leidenschaft für ihn gewesen. Aber dann, als sie in dieses düstere Haus zog, hatte sie sich gefürchtet, und das Eingesperrtsein brachte sie bald an den Rand des Wahnsinns. Ihr Mann wurde ihr immer unheimlicher, sein Lachen und seine Augen. Sie hatte schreckliche Angst vor ihm, und so war sie eines Tages geflohen, weit, weit fort, da die Angst immer noch in ihr steckte. Sie lebte nun unter einem anderen Namen in einer anderen Stadt und lernte allmählich alles wieder vergessen, was sie in dem düsteren, kalten Haus erlebt hatte. Ob ihr Mann wirklich irre war, dass wusste sie nicht. Zuerst wollte sie es melden, aber was sollte sie sagen? Seine Patienten waren zufrieden mit ihm. Und jeder konnte doch leben, wie er wollte. So hatte sie geschwiegen und war nur froh, ihm entronnen zu sein. Das Essen war üppig und für viele Personen gedacht. Die Alte dachte immer noch an den Vater des Arztes. Er hatte ein großes Haus geführt, und sie hatte immer viel kochen müssen. Maja aß nur wenig. Sie bediente ihren Mann bei Tisch, da dieser sie darum bat. Dann war das Mahl beendet, und sie begaben sich wieder in das Wohnzimmer. Robert konnte nicht mehr an sich halten. Was hielt ihn jetzt noch davon zurück, endlich die Frau zu besitzen? Sie war sein, sein!

„Komm, gehen wir schlafen“, murmelte er leise. „Ja“, sagte Maja. Das Schlafzimmer war groß und pompös eingerichtet. Ein riesiges Himmelbett mit schwerem Baldachin stand in der Mitte. Felle lagen auf dem Boden. Eine Seite war von einem riesigen Kamin ausgefüllt. Auch darin brannte ein Feuer. Die Feuer brannten immer in diesem Haus. Die Gemäuer waren so kalt, dass sie auch im Sommer keine Wärme von draußen hereinließen. Schwere Samtvorhänge hingen vor dem Fenster. Über dem Stuhl neben dem Bett lag ein wertvoller Hausmantel. Lisa hatte ihn zurückgelassen. Und Robert hatte alles so gelassen, wie sie es verlassen hatte. Maja stand auf der Schwelle und lächelte. Kerzen standen in Leuchtern und erhellten schwach das Zimmer. Robert breitete die Arme aus und zog die Frau an sich. Seine Lippen gruben sich in die ihren. Heiß und verlangend küsste er sie. Er atmete schneller und verlangender. Seine Hände griffen hart um die Schultern Majas. „Ich liebe dich, Maja, ich liebe dich!“ „Ja, Robert“, flüsterte sie mit geschlossenen Augen. „Komm!“ Sie war wie ein Kind. Einen Willen hatte sie nicht. Sie tat nun alles, was ihr befohlen wurde. Robert merkte es und lächelte brutal. Nein, sie würde ihm nicht entfliehen, niemals. Ihr Wille war gebrochen. „Zieh dich aus, ich will dich sehen, rasch!“ „Ja!“ Und Maja tat, wie ihr befohlen wurde. Aber es ging nicht so schnell, wie der Mann wollte. Sie stand vor dem Kamin, und die Flammen spielten mit ihrem Haar. Er stand im Hausrock vor ihr. Rasch ging er auf sie zu. Mit einem Handgriff löste er den schweren Knoten, und das Haar fiel locker über ihre Schulter. Für einen Moment grub er sein Gesicht hinein. Da griffen seine Hände

nach der Kleidung und zerrten sie vom Körper der jungen Frau. Nicht lange dauerte es, da stand sie nackt vor ihm. Alabastern war ihr Körper, und sie war noch schöner, als es Lisa gewesen war. Er ging einen Schritt zurück und sah sie an. Sein Blut raste durch die Adern. Das Flammenspiel auf ihrem Körper machte ihn noch verlangender. Dann stürzte er vor und riss sie in seine Arme, hob sie hoch und trug sie ins Bett.

4

Frau Schmidt, Majas Mutter, saß im tiefen Lehnsessel und nippte leicht an der Teetasse. Der Frühstückstisch war schon gedeckt, doch sie wollte auf ihre Tochter warten. Gestern hatte sie ja angerufen, dass sie heute in der Frühe in Hamburg sein würde. Die leichte Verstimmung, die sich seit ein paar Tagen bemerkbar gemacht hatte, war wieder im Schwinden. Ihre Freude war sehr groß, endlich mal wieder Maja zu sehen. Sie war ihr einziges Kind, und seit dem Tode ihrem Mannes war es doch recht einsam um sie geworden. Doch sie fühlte sich schon glücklich, nur zu wissen, wie gut es Maja getroffen hatte. Die Tür wurde behutsam geöffnet, und das Mädchen trat ein. „Ist meine Tochter schon angekommen?“ „Nein, Frau Schmidt! Ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie nicht mit dem Frühstück beginnen wollen.“ „Nein, nein, ich warte auf Maja, jetzt muss sie ja bald kommen.“ „Ich fürchte, sie ist nicht angekommen, Frau Schmidt, der Fahrer ist schon zurück. Er sagte mir, er habe Frau Richards nicht aus dem Zug steigen sehen.“ „Was!“, rief die Mutter impulsiv. „Maja ist nicht gekommen? Merkwürdig. Sie hat doch gestern, kurz bevor sie abfuhr, von zu Hause aus noch mit mir gesprochen. Seltsam!“ „Vielleicht hat sie den Zug vert und kommt erst später an“, meinte das Mädchen freundlich. „Sie können recht haben, sicher, so muss es gewesen sein. Na, dann wird sie eben zum Mittagessen hier sein. Schön, dann will ich jetzt den Kaffee haben!“ Noch machte sich die Mutter keine Sorgen. Warum sollte sie auch? Eine

Verspätung konnte jedem ieren. Und sie war alt, sie war ja das Warten schon so gewöhnt!

5

Gegen Morgen hatte endlich der Regen aufgehört, an die Fensterscheiben zu prasseln. Es war eine merkwürdige Stille danach eingetreten. Die Wolken teilten sich, und die Sonne versuchte endlich wieder Siegerin zu bleiben. Und je höher sie stieg, um so besser gelang es ihr auch. Maja erwachte von einem seltsamen Geräusch. Sie schlug die Augen auf. Vor dem Kamin, darin immer noch das Feuer brannte, kniete ein Mann. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und wähnte sie wohl noch schlafend. Maja beugte sich lautlos vor und schaute verwundert zu. Nun sah sie es ganz deutlich. Der Mann verbrannte ihre Kleidung. Ihr schönes Kostüm übergab er gerade den Flammen. Was sollte das bedeuten? Sie legte sich in die Kissen zurück. Wenn doch der Druck endlich aufhören würde! Sie fühlte einen schweren Stein auf ihrem Kopf ruhen und fasste mit den Händen danach, aber es war nichts. Jetzt bewegte sich der Mann und stand auf. „Robert!“ Er schnellte herum und sah sie vor sich liegen. „Ah, du bist also schon erwacht. Gut geschlafen?“ Robert trug einen Schlafanzug und kam auf nackten Sohlen um das große Bett herum. Er setzte sich an ihre Seite und sah sie unverwandt an. Das schwarze Haar hatte sich gelöst und lag ausgebreitet auf dem Kopfkissen. Ihre großen Augen sahen ihn an, und sie versuchte ein kleines Lächeln. „Es regnet nicht mehr“, sagte sie sanft. „Nein, draußen scheint jetzt die Sonne. Wie geht es dir?“ „Gut!“ Er beugte sich vor und küsste sie. Er küsste ihren Mund, ihr Gesicht, ihren Hals,

und das Spitzennachthemd verschob sich leicht. Er küsste auch ihre Brüste. Sie fühlte leichte Schauer ihren Rücken herunterlaufen. Aber, seltsam, so sehr es ihr auch behagte, verwöhnt zu werden, ganz tief drinnen in ihrem Herzen war ein seltsames Gefühl. Es war so dumpf und hohl, so weit und fern. Sie schlüpfte aus dem Bett. Robert reichte ihr den weiten, kostbaren Samtmorgenmantel hin. „Warum hast du meine Kleider verbrannt?“ Für einen Moment starrte er sie verblüfft an. „Ach“, sagte er leichthin, „sie waren nicht mehr gut, und der Regen hatte sie ganz aufgeweicht!“ „Was soll ich denn anziehen?“ Ihre Augen sahen ihn ratlos an. „Du trägst doch den Hausmantel, gefällt er dir denn nicht?“ „Doch!“ „Siehst du, meine Geliebte, wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann trage ihn immer. Du siehst wie eine Königin darin aus.“ Es wurde an die Tür geklopft. „Das Frühstück ist fertig, Herr Doktor!“ „Ja, wir kommen sofort!“ „Wie du es wünschst“, sagte Maja und ging ins Badezimmer. Schlafwandlerisch tat sie alles, was ihr befohlen wurde. Das Frühstück war genauso üppig wie das Abendessen. Als Robert die letzte Tasse Kaffee getrunken hatte, stand er auf. „Ich muss dich jetzt für eine Weile verlassen und gehe zu meinen Patienten. Ich bin bald wieder da, meine Geliebte!“ Er küsste sie noch einmal und ging dann fort. Als Maja sich umwandte, stand die Alte im Türrahmen. „Darf ich helfen?“ „Nein, der Herr würde schön zornig werden. Lassen Sie das, früher haben Sie ja

auch nichts getan.“ Maja raffte den weiten Hausmantel zusammen und setzte sich vor das Feuer.

6

Jürgen saß in seinem Büro in der Fabrik und schaute zur Uhr. Jetzt war es schon gleich zwölf Uhr. Er nahm den Bleistift wieder auf und versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Aber immer wieder wanderte sein Blick zur Uhr. Die Tür wurde geöffnet, und seine Sekretärin kam herein und brachte ihm die Post. „Hat meine Frau schon angerufen?“ „Nein, Herr Richards, bis jetzt noch nicht!“ „Sollte das Gespräch kommen, stellen Sie es gleich durch, egal, wer sich in meinem Zimmer aufhalten sollte!“ „Sehr wohl, Herr Richards.“ Dann war er wieder allein. Merkwürdig, sie hatte ihm doch versprochen, gleich anzurufen, wenn sie bei der Mutter war. Und sie musste sich doch schon seit acht Uhr in Hamburg aufhalten. Wenn doch bloß die schreckliche Unruhe nicht wäre. Nein, heute konnte er sich einfach nicht auf die Arbeit einstellen. Seine Gedanken weilten bei Maja. Als wieder eine Stunde vergangen war, stand er auf und ging in das Vorzimmer. „Noch immer kein Anruf aus Hamburg?“ „Nein, noch nicht!“ Er blieb ratlos stehen. Ob sie es vergessen hatte? Aber sie war doch sonst immer so gewissenhaft. „Bitte, verbinden Sie mich doch mit Hamburg.“ Er gab der Sekretärin die Nummer seiner Schwiegermutter.

Es dauerte nicht lange, da schrillte sein Telefon, und er hob schnell den Hörer ab. „Guten Tag, Mama“, rief er. Er hörte ihre Stimme aus weiter Ferne. „Ich möchte bitte Maja sprechen, Mutter. Ist sie in der Nähe? Sie hat mir doch versprochen, mich gleich anzurufen, wenn sie da ist!“ „Mein lieber Junge, ich wollte gerade dich anrufen, Maja ist bis jetzt noch nicht hier eingetroffen. Hat sie vielleicht den Zug vert?“ Jürgen spürte, wie sein Herz zusammenzuckte. „Nicht angekommen? Aber Mama, ich habe sie selbst zum Zug gebracht und sie einsteigen sehen. Sie muss doch bei dir sein, wo soll sie denn sonst sein?“ „Mein Fahrer war am Zug, sie ist nicht ausgestiegen. Ich dachte, sie würde jetzt mit dem Mittagszug kommen. Und als sie dann immer noch nicht hier auftauchte, da wollte ich anrufen, aber dann kam dein Anruf!“ Jürgen stand wie erstarrt. „Mutter“, keuchte er leise. „Was ist, Jürgen, du machst mir Angst, was ist mit Maja, wo ist sie?“ „Ich weiß es nicht, Mutter, mein Gott, wo mag sie sein?“ „Vielleicht ist sie aus dem Zug gefallen!“ „Nein“, schrie Jürgen auf. „Bitte, sag so etwas nicht, Mutter.“ Er hörte die ängstliche Stimme der alten Frau. „Jürgen, du musst die Bahn anrufen. Sicher können sie dir sagen, wo sie geblieben ist. Vielleicht ist der Zug umgeleitet worden oder sonst irgend etwas. Sie kann doch nicht einfach verschwunden sein!“ „Ja, ja“, sagte er tonlos. „Du rufst mich doch gleich, wenn du was weißt!“ „Ja, Mutter, ich verspreche es dir!“ Langsam legte er den Hörer wieder hin. Er war kalkweiß und wischte sich mechanisch über die Stirn. Wenn nur die

entsetzliche Unruhe nicht wäre. Sie machte ihn fast verrückt. Dann ließ er sich mit der Bahn verbinden. Nein, der Zug sei pünktlich angekommen in Hamburg. „Ich suche meine Frau“, sagte Jürgen gequält. „Heißt Ihre Frau Maja Richards?“ „Ja, ja“, sagte Jürgen schnell. „Was ist mit ihr, wo ist sie?“ „Es ist seltsam, Herr Richards, aber mit dem Mittagszug wurde uns ein Koffer zugestellt. Er befand sich im Nachtzug, und auf dem Anhänger steht der Name Ihrer Frau.“ Jürgen ließ sich den Koffer samt Inhalt beschreiben. „Ja, das ist der Koffer meiner Frau. Aber wo ist meine Frau selbst?“ „Das wissen wir auch nicht, Herr Richards!“ „Vielleicht ist sie aus dem Zug gefallen“, keuchte Jürgen leise. „Unmöglich, Herr Richards. Aber wir können trotzdem überall noch einmal nachfragen.“ „Ja, bitte, tun Sie das, ich wäre Ihnen sehr dankbar.“ Qualvolle Stunden folgten, und Jürgen wollte niemanden sehen. Stumm saß er im Sessel und starrte die weiße Wand vor sich an. Endlich rief die Bahn wieder an. Nein, niemand sei auf der Strecke aus dem Zug gefallen. „Danke“, murmelte er und stand schwerfällig auf. „Das Beste ist, Sie melden es der Polizei“, sagte der Beamte freundlich. „Eine Frau kann sich doch nicht in Luft auflösen.“ „Ja, ich werde es tun“, sagte Jürgen. Seine Sekretärin erschrak, als sie das Gesicht ihres Chefs sah.

„Was ist?“, fragte sie leise. „Meine Frau ist verschwunden“, sagte Jürgen und ballte die Fäuste. „Verschwunden, aber das gibt es doch nicht!“ „Nein, aber ich weiß, wo sie ist“, damit stürmte er aus dem Büro. Er fuhr wie ein Wahnsinniger durch die Straßen. Er hatte nur einen Gedanken, und der trieb ihn vorwärts. Vor dem großen Fabrikgebäude am Ende der Stadt hielt er mit einem Ruck an. Der Kies knirschte unter den Rädern laut auf. Er knallte die Tür zu und stürmte wie ein Wahnsinniger die Treppe hinauf. In der Halle blieb er einen Moment stehen, dann lief er weiter. Er kannte sich hier gut aus. Dann stand er vor der Tür und riss sie mit einem Ruck auf. Die junge Frau am Schreibtisch stieß einen schrillen Schrei aus. „Was bilden Sie sich ein, wie können Sie hier nur so hereinstürmen? Verlassen Sie sofort das Zimmer!“ Jürgen lehnte sich von innen an die Tür und atmete schwer. „Ich möchte Ihren Chef sprechen, und zwar sofort!“ „Nein, das geht nicht. Haben Sie sich überhaupt angemeldet?“ Sie maß ihn mit einem bösen Blick. Jürgen ging zwei Schritte auf sie zu. „Sie melden mich sofort“, sagte er eisig. „Ich werde mich hüten, denn er hat gerade zwei Herren bei sich, und ich darf die Unterredung nicht unterbrechen, verstehen Sie!“ Jürgen hörte und sah nichts, er war einfach wie von Sinnen. Mit zwei Schritten war er an der gepolsterten Tür und wollte sie aufreißen. Doch das Mädchen war schneller und stellte sich mit ausgebreiteten Armen davor. „Sie werden das Zimmer nicht betreten, was bilden Sie sich eigentlich ein? Nehmen Sie erst mal bessere Manieren an!“, schrie sie ihm ins Gesicht.

„Lassen Sie mich vorbei“, sagte er eisig. „Niemals!“ Er packte sie bei den Schultern und wollte sie beiseite schieben. Sie stieß einen schrillen Schrei aus. Da wurde die Tür geöffnet, und Peter Barden stand vor ihnen. „Was geht denn hier vor?“ „Er hat mich gestoßen“, heulte die Sekretärin laut auf und rieb sich den zerschundenen Arm. Peter wandte sich um, und sein Gesicht wurde lang. „Du, Jürgen, was ist mit dir?“ Als er das Gesicht des Freundes sah, prallte er zurück. „Bist du krank, Jürgen?“ „Ich möchte dich sprechen, und zwar sofort, hörst du? Deine Sekretärin wollte mich daran hindern. Es ist sehr dringend!“ „Ja, aber“, sagte Peter unentschlossen. „Ich habe eigentlich im Augenblick keine Zeit.“ „Du wirst Zeit für mich haben“, knirschte Jürgen mit den Zähnen. Peter ging zurück und schloss die Tür. „Gut, ich weiß nicht, was du von mir willst. Aber bitte, komm hier in das kleine Konferenzzimmer. Drüben in meinem Zimmer sitzen zwei Herren!“ Jürgen ging mit. Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, da stürzte sich auch schon Jürgen auf den Freund und hielt ihn brutal fest „Wo ist Maja?“ „Hör mal“, sagte Peter und versuchte sich zu befreien. „Was sind das für Manieren?“ „Wo ist Maja, sofort sagst du mir, wo du sie versteckt hast, verstanden!“ Jetzt wurde auch Peter zornig. „Ich weiß nicht, was hier gespielt wird. Aber

bitte, lass mich sofort los, hast du verstanden?“ Jürgen tat es und ging zwei Schritte zurück. Er hielt plötzlich eine Pistole in der Hand. „Ich bringe dich um, du Hund!“ Peter wich bis zur Wand. „Jürgen“, schrie er. „Leg das Ding weg und sag mir endlich, was los ist. Du musst krank sein.“ „Ich bin nicht krank, du hast mir meine Frau gestohlen.“ „Deine Frau, Maja, Mensch, Jürgen, was sagst du da?“ „Du hast sie gestern aus dem Zug entführt. Ich weiß ja schon lange, dass du sie liebst und es nicht verwinden konntest, dass sie mich genommen hat und nicht dich. Wo ist sie?“ „Aus dem Zug, aus welchem Zug, Jürgen?“ Peter verstand gar nichts mehr. „Aus dem Zug nach Hamburg, aber das weißt du doch ganz genau.“ „Ich weiß gar nichts, ich weiß nicht, dass Maja nach Hamburg wollte, und was du sagst, ist Unsinn. Natürlich liebe ich Maja, aber ich habe mich damit abgefunden, dass sie deine Frau ist.“ „Wo ist sie jetzt?“ „Ich weiß es nicht, Jürgen, ich habe sie seit vorgestern nach dem Theater nicht mehr gesehen, ich schwöre es dir!“ Jürgen sah ihn an, langsam senkte er die Pistole. Er sackte in sich zusammen. „Peter“, stammelte er, dann ließ er sich auf einen Sessel fallen. Peter sah zu seinem größten Erstaunen, dass Jürgen weinte, er weinte. Er ging näher und nahm ihm erst einmal die Pistole ab. Bei Gott, sie war sogar geladen. „Verzeih mir“, sagte Jürgen. „Was ist mit Maja, Jürgen?“

„Sie ist verschwunden. Verstehst du das, einfach verschwunden. Ich brachte sie gestern zum Zug. Aber in Hamburg ist sie nicht angekommen. „Und da glaubst du also, ich hätte sie entführt?“, sagte Peter bitter. „Mensch, wir leben doch nicht im wilden Westen, Jürgen, wie hast du dir das nur gedacht?“ „Gedacht habe ich gar nichts, ich habe mir nur wieder ins Gedächtnis gerufen, dass du sie liebst!“ „Glaubst du denn, dass Maja mir gefolgt wäre?“ Jürgen sah ihn an. „Dummkopf“, sagte Peter leise. „Maja liebt nur dich, falls du das noch nicht wissen solltest!“ Jürgen sah ihn stumm an. „Ist es nicht ein wenig bitter für mich, dass du gleich mich verdächtigt hast, Jürgen, wo wir schon so lange befreundet sind? Glaubst du wirklich, ich könnte eine solche Schurkerei begehen?“ Jürgen errötete und sah ihn flehend an. „Verzeih mir, Peter, ich weiß, du musst jetzt sehr schlecht von mir denken. Aber versteh mich doch bitte. Ich glaube, ich werde noch verrückt. Wo ist Maja? Sie kann doch nicht einfach vom Erdboden verschluckt sein.“ „Nein“, sagte Peter. „Das kann sie nicht. Da muss etwas sein, was wir nicht wissen.“ „Ich werde zur Polizei gehen“, sagte Jürgen und stand auf. Bittend hielt er die Hand seinem Freund hin. „Kannst du es je vergessen?“ „Es ist schon vergessen, Jürgen. Rufe mich gleich an. Ich will dir helfen, wenn du Hilfe brauchst, dafür liebe ich Maja schon, um sie nicht im Stich zu lassen.“ Im Vorzimmer blieb Jürgen für einen Moment vor der jungen Frau stehen. „Verzeihen Sie mir bitte, ich war wie von Sinnen!“

Sie sah ihren Chef kurz an. Dieser lächelte ihr zu. Da lächelte sie Jürgen an, und dann verschwand er.

7

Jürgen war so fest davon überzeugt gewesen, dass Maja mit seinem Freund gegangen war, dass er jetzt, wo er wusste, dass er diesem sehr unrecht mit seiner Verdächtigung getan hatte, einfach nicht wusste, was er tun sollte. Er hatte das Vorzimmer verlassen und ging mit unsicheren Schritten den langen teppichbelegten Flur entlang. Ratlos blieb er mitten in der Halle stehen. Es war einfach zu viel für ihn gewesen. Sein Herz schlug dröhnend, und sein Kopf schmerzte fürchterlich. Plötzlich legte sich von hinten eine Hand auf seine Schulter. Er drehte sich um. Peter stand hinter ihm. „Komm“, sagte dieser ruhig. „Was willst du?“, fragte Jürgen wie aus einem Traum erwacht. „Ich will dir helfen, Jürgen!“ „Ja, aber du hast doch Besuch, du kannst doch nicht einfach davonlaufen, wirklich, das kannst du nicht, Peter!“ Peter lächelte ein wenig. „Weißt du, mein Junge, ich habe dich vorhin ein wenig voreilig abgespeist. Natürlich habe ich Besuch, aber damit wird wohl meine Sekretärin fertig. Ich sehe nämlich, dass du jetzt dringend Hilfe nötig hast.“ „Danke“, sagte Jürgen und reichte ihm die Hand. Lange sahen sich die beiden Freunde stumm an. „Tust du das Majas wegen?“ Peter hielt seinen Blicken stand. „Weißt du, Jürgen, ich liebe Maja, das habe ich dir ja nun schon oft genug gesagt. Es schmerzt mich ungemein, dass sie verschwunden sein soll. Aber in erster Linie ist es jetzt mein Freund, der Hilfe braucht!“

„Nach alledem, was ich dir angetan habe“, fragte Jürgen ungläubig. „Es ist schon vergessen. Komm, gib mir die Autoschlüssel..“ Willig folgte er dem Freund. Dieser schloss den Wagen auf, und bald darauf hatten sie sich in den laufenden Verkehr eingefädelt. Peter fuhr stumm. Vor dem großen Polizeigebäude hielt er an, und sie stiegen wieder aus. Hatte er eben wirklich die Wahrheit gesprochen? Kam wirklich in erster Linie sein Freund und dann Maja? Er sah ihr schmales Gesicht vor sich, die großen, lachenden Augen. Er stöhnte leicht auf. Nein, nein, dachte er immer wieder. Es durfte ihr nichts geschehen sein. Jürgen glaubte an eine Entführung. Wurde die Entführte anschließend nicht meistens ermordet? Grässliche Bilder standen vor ihm auf: In einem Gebüsch lag das Mädchen, geschändet, gemordet. Seine Fäuste ballten sich in der Tasche, und seine Zähne knirschten. Es durfte nicht sein! Wenn sie ihm auch nicht gehörte, wenn er sie nur ab und zu sehen konnte und ihr Lachen hörte! An der Pforte verwies man sie an Kommissar Grömer. Jürgen ging stumm neben ihm. Er schien sich mit solchen Gedanken noch nicht zu plagen. Manchmal hasste er diesen Freund wegen des Glücks, das er eingefangen hatte. Hatte Maja ihm nicht deutlich gesagt, dass sie nur Jürgen liebe? Nein, er musste aufhören, an sie zu denken, sonst würden seine Gedanken auch noch verwirrt. Kommissar Grömer war ein großer, schlanker Mann. Er sah eigentlich gar nicht wie ein Polizist aus. Vielmehr wie ein Geschäftsmann. Er schob ihnen zwei Sessel zu und ließ sich selbst hinter dem Schreibtisch nieder. „Nun, erzählen Sie mal der Reihe nach, Herr Richards!“ „Man hat also schon von der Bahn aus angerufen?“ „Ja, der Koffer ist auch schon gebracht worden, aber er hilft uns nicht viel weiter.“ Jürgen schloss die Augen. Er sah wieder den Regen vor sich, die nassen Schienen und dann den Dampf des Zuges, wie er im Nebel verschwand. Das war das letzte gewesen, was er gesehen hatte. „Sie hatten keinen Streit mit Ihrer Frau, Herr Richards?“

Jürgen sah ihn an. „Ich liebe meine Frau, Herr Kommissar, sie ist das Wertvollste, was ich besitze.“ Peter nickte zu seinen Worten. „Sie hat ihn nicht verlassen, das käme nie in Frage, ich weiß es ganz genau.“ „Aber man hat Ihre Frau in den Zug steigen sehen, sie ist nicht in Hamburg angekommen, man hat sie auch nicht aussteigen gesehen, sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!“, murmelte der Kommissar. „Aber hat der Schaffner denn meine Frau nicht gesehen? Er muss doch die Karten kontrolliert haben!“ „Die Schaffner wurden ausgetauscht, und der neue sagt aus, eine einzelne Dame habe er nicht im Zuge angetroffen, nur Ehepaare.“ „Unmöglich“, stöhnte Jürgen. „Haben Sie ein Bild von Ihrer Frau, Herr Richards?“ „Ja, hier bitte!“ Jürgen reichte es herüber. Der Kommissar nahm es und betrachtete es sehr eingehend und lange. „Maja Richards, ist das dieselbe Frau, die auch die Bücher schreibt?“ „Ja, meine Frau schreibt Bücher.“ Der Kommissar lehnte sich zurück und schloss die Augen. Eine verzwickte Sache. Eine junge Frau, schön und geliebt von ihrem Mann. Eine kleine Tochter ist auch da, sie ist reich und hat keine Sorgen, sie schreibt Bücher, sie hat also alles, was man sich nur wünschen kann. Und trotzdem verschwindet sie spurlos. Freiwillig? Nichts deutet auf einen Zwang hin. Aber wenn sie freiwillig gegangen wäre, so hätte sie doch zumindest den Koffer mitgenommen. Frauen sind eitel und gehen nicht ohne Kosmetika auf Reisen. Und der Koffer blieb zurück. Also doch nicht freiwillig. Wo, zum Teufel, steckte die Frau? „Ich werde Nachforschungen anstellen“, sagte er müde. „Sie werden Sie finden, nicht wahr?“

„Dafür sind wir ja da.“ Peter und Jürgen standen auf und verabschiedeten sich. „Ich werde kommen und Ihnen Bescheid sagen“, sagte der Kommissar. „Danke“, sagte Jürgen. „Komm, ich bringe dich jetzt nach Hause, Jürgen, arbeiten kannst du in dieser Verfassung doch nicht.“ „Nein, du hast recht, ich weiß einfach nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Du, Peter, glaubst du, dass man wirklich Vorahnungen haben kann?“ „Wieso?“ „Gestern, als Maja fortfuhr, ich weiß nicht, da war etwas in mir, ich bat sie zu bleiben, nicht zu fahren. Ach, hätte ich sie doch zurückgehalten.“ Plötzlich kam ihm ein entsetzlicher Gedanke. „Peter, man wird sie doch nicht ermordet haben?“ „Beruhige dich doch, Jürgen!“ „Aber sie muss doch irgendwo sein, sie muss – muss!“ „Maja wird wiederkommen, Jürgen!“ „Glaubst du das wirklich?“ Was sollte er darauf antworten? Dass er selbst keine Hoffnung mehr hatte? Dann hatten sie das Haus von Maja und Jürgen erreicht. Melanie kam ihnen entgegengelaufen. Jürgen fing sie auf und drückte sie stürmisch an sich. Peter sah Tränen in den Augen seines Freundes. „Ich werde jeden Tag kommen und nachfragen“, sagte er, wandte sich um und ging wieder fort, um ein Taxi zu suchen, das ihn zur Stadt zurückbringen sollte.

9

Maja hatte die Füße auf den Kaminrost gestellt und sah sinnend in die prasselnden Flammen. Der weite, purpurne Morgenmantel reichte bis auf den Boden. Stunde um Stunde saß sie hier, und sie merkte es nicht einmal. Irgendwo im Haus waren Geräusche und Stimmen. Aber sie hatte nicht den Wunsch zu gehen. Hier war es hübsch, fand sie, und sie blieb. Mitunter steckte die Alte den Kopf durch die Tür, ging aber bald wieder fort und ließ sie allein. Um die Mittagszeit kam der Arzt zurück. Als er die Frau am Kamin sitzen sah, ging er auf sie zu, kniete vor ihr nieder und umfing sie liebevoll. „Meine Liebste!“ Maja erwachte wie aus einem Traum und sah seine Augen vor sich. „Du bist zurück?“ „Ja, jetzt werden wir zusammen zu Mittag speisen. Hast du auf mich gewartet?“ „Ja!“ Ein kleines Lächeln huschte über ihre Züge. Robert war als Mann glücklich. Er besaß sie nun voll und ganz. Aber dass sie sich wie eine Marionette benahm, das störte ihn als Wissenschaftler. Er musste noch weiter forschen. Er musste ein Mittel finden, das sie gefügig machte, alles vergaß und doch auch noch einen Willen hatte. „Komm!“ Sie ging an seinem Arm wieder in das Esszimmer. Anschließend nahm er seine Frau und zeigte ihr den Garten. Maja blieb auf der Schwelle stehen und sah den Himmel und die Bäume. Aber alles war von dieser grässlichen Mauer umgeben. Der schwere Mantel berührte die Gräser. Sie schritt wie eine Königin aus dem Mittelalter einher. Das lange Haar war offen, und auch der weite Mantel aus Samt. So wollte Robert sie nur sehen. Und Maja hatte vergessen, dass es eine andere Welt gab.

Robert schritt an ihrer Seite und erzählte ihr viel. Aber sie hörte ihm nur höflich zu und verstand doch nicht, was er sagte. Manchmal bückte sie sich nach einer Blume, weil es Robert verlangte. In einer Laube zog er sie an sich und küsste sie. Sie ließ es geschehen. Er küsste sie heiß und verlangend, aber sie erwiderte seine Küsse nie. Wie ein verwundertes Kind ließ sie alles über sich ergehen. Er umfasste ihren schönen Körper und sehnte sich schon wieder nach der Nacht, die sie zusammenbringen würde. Maja gab nur Antwort, wenn er sie fragte, und dann sagte sie nur immer Ja! Die Sonne ging als glutroter Ball unter, und er führte sie in sein Haus zurück. Sie gingen wieder zum Kamin. Maja setzte sich gehorsam und sah ihn an. Wie ein Kind! Robert ging fort. Dann kam er mit dem Abendtrunk wieder. Er wusste, wenn sie ihn nicht regelmäßig nahm, dann würde sie wieder erwachen, und sie würde alles erkennen. „Trink, meine Geliebte!“ Gehorsam nahm sie das Glas und trank es leer. Sie spürte, wie die Müdigkeit sie überfiel. Süße Müdigkeit. Sie wollte schlafen und sonst nichts. Sie spürte nicht mehr, wie sie hochgehoben und ins Schlafzimmer getragen wurde. Ihre Augen waren offen, aber sie lag in einem tiefen Schlaf. Robert liebte sie mit heißer Leidenschaft und konnte sich nicht sattsehen an dem wundervollen Körper. Nein, sie durfte nie mehr von ihm fort. Nie mehr, nie mehr!

9

Jürgen stand in seinem Zimmer, die heiße Stirn gegen die Fensterscheibe gepresst, und starrte nach draußen. Er sah nicht den Sonnenschein und die Blütenpracht im Garten. Er sah gar nichts mehr. Sein Herz war gestorben. Ein Aufstöhnen entrang sich seiner Brust, und er presste die Zähne zusammen. Dann nahm er wieder den unsinnigen Lauf im Zimmer auf. Immer hin und her. Die Hände auf dem Rücken verschränkt. „Maja, Maja“, immer wieder flüsterte er ihren Namen, glaubte er dadurch vielleicht eine kleine Erlösung zu bekommen? Sieben Tage, sieben Tage war sie nun schon fort. Ich kann nicht mehr, dachte er immer wieder. Es bringt mich um, diese Ungewissheit, dieses Warten. Ich kann doch nicht mehr! Die Türglocke ging. Er hörte es bis in sein Zimmer. Starr blieb er im Zimmer stehen. Maja? Ein unsinniger Gedanke schoss durch seinen Kopf. Wenn er jetzt zur Tür liefe, dann wäre Maja wieder da! Hastig riss er die Tür auf und stürmte in die weite Diele. Das Mädchen öffnete gerade die Tür. Im Hintergrund sah er ein Taxi, das gerade abfuhr. In der Tür stand eine alte Frau, groß und ernst mit schlohweißen Haaren. Er starrte sie töricht an. „Guten Tag, Jürgen!“ Nein, es war nicht Maja. „Mama!“ Er ging auf sie zu und reichte ihr die Hand, nahm sie sacht für einen kurzen Augenblick in die Arme. „Mama!“ Majas Mutter hatte Tränen in den Augen und schaute zu ihrem Schwiegersohn empor. „Noch nichts?“, hauchte sie leise.

„Nein, Mama.“ Es klang erstickt. „Ich musste einfach kommen, verzeih. Nach deinem Anruf hielt ich es einfach nicht mehr aus. Sobald ich mich einigermaßen wohl fühlte, habe ich mich in die Bahn gesetzt und bin gekommen.“ „Du entschuldigst dich, Mama, aber es war doch immer unser größter Wunsch, dich endlich bei uns zu sehen!“ Sie lächelte unter Tränen. Jürgen wandte sich für einen Augenblick ab. Er konnte einfach nicht mehr. Ihre Augen, sie hatte die gleichen Augen wie Maja! Um seine Erregung zu verbergen, gab er rasch dem Mädchen Anweisung, das Fremdenzimmer herzurichten. Dieses verschwand auch sogleich. Eine Tür flog auf, und Melanie kam angelaufen. Einen Moment blieb sie verblüfft stehen, doch dann stürzte sie sich in die Arme der alten Frau. „Mein Herzenskind“, murmelte die Großmutter in die seidigen Locken des Kindes. „Hast du die Mutti wiedergebracht?“, fragte das Kind mit heller Stimme. „Nein, aber bald wird sie wieder heimkommen, mein Liebling!“ „Ich möchte, dass die Mutti gleich kommt“, rief das Kind sehnsüchtig. „Sie hat mir versprochen, ganz schnell wiederzukommen! „Das hat sie mir auch“, sagte der Mann tonlos. Melanie trollte sich nach einiger Zeit wieder in ihr Kinderzimmer. Die Erwachsenen gingen ins Gartenzimmer. Erst als die Mutter bequem in einem Sessel untergebracht war, erzählte Jürgen alles, was er wusste. „Ich verstehe es nicht, mein Junge“, sagte die Mutter immer wieder. „Es ist entsetzlich, weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, als schwebe Maja in Gefahr, als rufe sie mich, und ich weiß nicht, wo sie ist. Ich kann ihr nicht zu Hilfe eilen.“ Er hielt inne und starrte aus dem Fenster. „Meine liebe Maja, ach, hätte ich das gewusst, nie hätte ich diesen unseligen

Brief geschrieben“, jammerte nun auch die Mutter. „Eine Woche ist sie nun schon fort.“ Und abermals ging die Türglocke. Beide hielten den Atem an. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und Kommissar Grömer betrat das Zimmer. Jürgen stand auf und machte Majas Mutter mit dem Kommissar bekannt. Dieser nahm Platz und sah sie beide an. „Und?“, fragte Jürgen beklommen. „Nun“, der Kommissar faltete die Hände und sah einen kurzen Augenblick aus dem Fenster. „Ich kann Ihnen nur eins sagen, Ihre Frau ist bis jetzt noch nicht gefunden. Wir haben die ganze Strecke immer und immer wieder abgesucht, alle Wälder und Dickichte, alles, was nur in Frage kam.“ „Was bedeutet das denn?“, fragte die Mutter leise. „Ja, gnädige Frau, also wir sind der Ansicht, dass Ihre Tochter noch lebt. Nirgends wurde eine Leiche entdeckt, die auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit ihrer Tochter hatte.“ Beide atmeten rascher. „Aber wo ist sie dann?“ „Ja, Herr Richards, das ist ein großes Rätsel, das auch die Polizei im Augenblick nicht lösen kann. Wir tappen völlig im Dunkeln. Keiner hat sie gesehen. Man muss nun auch noch bedenken, dass zur Tatzeit sehr schlechtes Wetter herrschte und sich demnach keiner auf der Straße befand. Und dann war es auch noch Nacht!“ Jürgen sah ihn lange an. „Haben Sie noch keinen Brief bekommen, Herr Richards?“ „Sie meinen einen Erpresserbrief?“ „Ja!“

„Ich habe bis jetzt noch nichts dergleichen erhalten.“ „Werden Sie es mir sagen, wenn sie einen bekommen?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Jürgen langsam. „Wollen die nicht immer, dass die Polizei aus dem Spiel bleibt?“ „Natürlich. Aber Sie müssen auch bedenken, dass wir diesen Burschen das Handwerk legen müssen.“ „Auf Kosten meiner Frau? Nie!“ „Ich verstehe Sie vollkommen, Herr Richards“, sagte Herr Grömer und steckte sich umständlich eine Zigarette an. „Aber was ich noch viel eher glaube, ist, dass Sie gar keinen Brief bekommen. Die Frist ist schon zu lang. Meistens setzten sich die Entführer gleich mit dem Opfer, das sie ausnehmen wollen, in Verbindung.“ „Was wollen Sie denn nur tun? Sie können doch nicht einfach tatenlos herumsitzen“, rief Jürgen gequält. „Nein, wir haben einen anderen Vorschlag. Mein Chef ist der Ansicht, dass wir Ihre Frau durch Plakate suchen sollen. Überall, an den öffentlichen Gebäuden, an Anschlagsäulen wird das Bild Ihrer Frau erscheinen. Irgendeiner muss sie doch gesehen haben. Vielleicht erinnert man sich dann endlich, und wir bekommen einen kleinen Hinweis. Gerade diese kleinen Hinweise bringen oft den Stein ins Rollen.“ „Ja“, sagte Jürgen demütig. „Ich glaube, uns bleibt keine andere Wahl.“ „Sie sind also damit einverstanden?“ „Ja, tun Sie, was Sie für richtig halten, nur bringen Sie mir bald meine Frau. Wissen Sie, es ist einfach qualvoll, ich halte es bald nicht mehr aus.“ „Ich verstehe Sie vollkommen“, sagte Herr Grömer mitfühlend. Dann stand er auf, verabschiedete sich und verließ das Haus. Stumm blieben die beiden zurück und sahen sich angstvoll an. Was würde die

Zukunft bringen? Was?

10

Zwei Tage später war es soweit, überall, auf allen Straßen, in allen Ecken, wo nur Platz war, klebte das Plakat. Bis nach Hamburg hinauf in jeder Stadt, in jedem kleinen Ort sah Maja von den Plakaten auf die Menschen nieder. Es war eines ihrer schönsten Bilder. Sie steht da und lächelt spitzbübisch, und ihre Augen sind voller Sonnenschein. Maja, wo bist du? Groß und in knallroten Lettern steht es über dem Bild. Und dann immer wieder der Aufruf an die Bevölkerung. Wer hat Maja gesehen? Diese Frau ist verschwunden, wer hat sie gesehen? Wenn Jürgen zur Fabrik fuhr, sah er überall das Gesicht seiner Frau, und seine Hände umkrampften das Steuer. Würde es Erfolg haben? Aber niemand meldete sich bei der Polizei. Niemand! Man wartete fieberhaft. Eine so große Aktion war schon lange nicht mehr gestartet worden. Es gab nur einen Menschen, der dazu hätte etwas aussagen können, und der tat es natürlich nicht.

11

Durch die Straßen der Stadt fuhr ein dunkler Wagen und darin saß Doktor Schneider. Seine Augen brannten, und um seine Lippen lag ein zynisches Lächeln. Ach, mochten sie nur rufen und flehen, er würde Maja nie mehr herausgeben. Nie mehr? Sie war bei ihm sicher. Keiner wusste um das dunkle Geheimnis dieses Arztes. Seine Haushälterin war ihm ergeben, und sie verließ auch niemals das Haus. Und Maja auch nicht. Nur er, und er würde sich nicht verraten. Ein toller Tanz war in seinem Herzen. Am liebsten hätte er den Leuten auf der Straße zugeschrien, sie ist bei mir, bei mir ist Maja und glücklich! Aber er tat es natürlich nicht, so unklug war er nun wieder nicht. Meine Maja, anders nannte er sie gar nicht. Was kümmerte ihn der Aufruf des Mannes? Pah! Und die Zeit verstrich, eine Woche, zwei, nein, jetzt waren es schon vier Wochen, die Maja bei dem Arzt lebte, und sie merkte es nicht. Sie lebte die ganze Zeit wie in Trance. Langsam wanderte sie durch das Haus, durch den Garten. Mitunter blieb sie wohl vor der hohen Mauer stehen, und ein Verwundern lag in ihren Augen. Jeden Abend nahm sie den Trunk, den ihr der Arzt reichte. Und sie tat alles gehorsam. Der Arzt war überglücklich, so willig hatte er seine eigene Frau nie angetroffen. Und seine Liebe zu dieser Frau stieg immer mehr. „Meine Geliebte“, murmelte er in ihrem seidigen Haar. „Ich liebe dich, ich liebe dich!“ Es war in der vierten Woche eines Morgens beim Frühstück. „Wie hast du geschlafen, meine Königin?“, fragte der Arzt wie üblich. Maja sah auf, ihre Augen waren nicht mehr so starr wie früher. Er bemerkte zu seinem Erschrecken, dass sie sich langsam an das Zeug, das er ihr jeden Abend gab, gewöhnte.

„Ich weiß es nicht“, sagte sie langsam und trank ihren Tee. „Was weißt du nicht?“, fragte er lauernd. „Ich hatte einen seltsamen Traum, weißt du …“ „Erzähle ihn mir!“ „Er war so unsinnig“, sagte Maja und lächelte den Arzt an. „Wirklich!“ „Aber ich möchte ihn gern hören, bitte, erzähle ihn mir!“ „Ja, wenn du willst. Also höre, im Traum war ich an einem ganz anderen Ort, in einem Haus …“ „Hast du das Haus erkannt?“, fragte er begierig. „Erkannt? Ich weiß nicht, was für ein Haus es war, nur es war ganz hell und froh, seltsam, und ein schöner Garten war da …“, sie stockte. „Und weiter?“ „Also in dem Traum war ich verheiratet!“, sagte sie leise. „Mit mir natürlich?“, lächelte der Arzt sie an. „Nein, mit einem anderen, ich kenne ihn nicht.“ „Beschreibe ihn“, sagte der Arzt brutal, obwohl er Angst hatte, mehr zu erfahren. Sollte sie von der Vergangenheit zu träumen anfangen? „Er war groß, größer als ich, und jung und blond und hatte lachende Augen, und wir liebten uns zärtlich. Unsinnig, nicht?“ Er lachte gekünstelt. „Na ja, wie so Träume nun mal sind. Aber denke nicht weiter darüber nach. Ich muss dich jetzt leider verlassen.“ „Ja, geh nur!“ Und so begann für Maja eine neue Zeit, immer wieder kamen dieselben Träume. Sie träumte von ihrem richtigen Mann, sie wurde langsam unruhig. Sie selbst

bemerkte es nicht. Aber der Arzt beobachtete sie mit stechenden Augen. „Was hast du heute Nacht denn wieder geträumt“, fragte er sie jeden Morgen. „Ich hatte ein Kind!“ „Aber, Maja, du hast doch gar keins!“ „Doch, doch“, ereiferte sie sich, „ich habe eins, im Traum natürlich. Ich sehe es so oft, als könne es wirklich aus Fleisch und Blut sein. Es ist ein kleines Mädchen und sehr süß!“ Sein Erschrecken wurde immer größer. Würde das Mittel noch lange anhalten? Er hatte noch kein neues. Fieberhaft arbeitete er jetzt nächtelang daran. Wenn Maja jetzt allein mit sich war, ging sie ruhelos durch das Haus. Manchmal fühlte sie sich an den Kopf. „Dieser Druck“, murmelte sie vor sich hin. Aber dann vergaß sie ihn auch wieder für Zeiten und war ruhig, bis die Träume sie wieder aufschreckten. Und dort fühlte sie sich immer so glücklich, aber war sie das denn mit ihrem Mann nicht auch? Sie träumte jetzt auch schon am Tage, wenn sie sich allein wähnte. Sie sah alles ganz genau vor sich. Das Haus, es war nicht so düster wie dieses, und da waren noch Leute, aber die waren so fern und schemenhaft. Es machte sie froh, davon zu träumen. Doch wenn ihr Mann da war, dann war sie nur für ihn da, seine Liebe erstickte sie mitunter. Er war so stürmisch und verlangend. Etwas in ihrem Herzen wehrte sich dagegen. Aber sie war zu schwach. Der Regen rauschte über die Plakate und ließ sie unansehnlich werden. Aber keiner fand Maja, sie blieb wie vom Erdboden verschluckt. Bette schlurfte durch das Haus und verrichtete ihre Arbeit. Maja vertändelte die Zeit und hatte nichts zu tun. Sie sollte nur schön sein für ihren Herrn und Gebieter. Sie hatte vergessen, dass es auch noch andere Kleidung gab als die ihre, Morgenröcke und Nachthemden. ,,Ich möchte mal reisen“, sagte sie eines Tages am Tisch zu Robert. Dieser starrte sie an. „Bis du denn nicht hier bei mir glücklich?“

„Doch! Aber die Mauer, warum ist sie so hoch?“ „Das hat seinen Grund“, sagte er kalt. „Später werden wir reisen, jetzt habe ich zu tun!“ „Ja“, sagte sie demütig und nahm wieder den Trank aus seiner Hand.

12

Mit raschen Schritten ging Peter die Auffahrt entlang. Ein unterdrücktes Schluchzen ließ ihn aus seinen Gedanken auffahren. Er blieb stehen und drehte sich um. Woher kam das Geräusch? Dann entdeckte er etwas im Gebüsch, ein kleines verweintes Etwas saß da. Ein Häufchen Elend. Es hatte die kleinen Ärmchen auf den Schoss gelegt und darin steckte der Kopf. „Melanie!“ Gerührt strich er dem weinenden Kind über das blonde Kraushaar. „Was ist denn?“ Große verweinte Kinderaugen starrten ihn für einen Moment verblüfft an. „So großen Kummer?“ Sie schnupfte arg und stand umständlich auf. Er hob das Kind in seine Arme und gab ihm einen herzhaften Kuss. Alles an dem Kind erinnerte ihn an Maja. „Warum hast du geweint, Herzchen?“ „Weil die Mutti nicht da ist, sie kommt und kommt nicht wieder, und ich habe solche Sehnsucht nach der Mutti!“ „Meine arme Kleine“, murmelte der Mann und drückte sie zärtlich an sich. „Wird sie nie mehr zu ihrem kleinen Mädchen kommen?“ Angstvoll hingen die Augen an ihm. Was sollte er sagen? Durfte er überhaupt noch Trost zusprechen, wo keiner mehr vorhanden war? Das Herz drehte sich ihm im Leibe um. Gab es wirklich irgendwo auf dieser Welt so einen grausamen Menschen, der eine Mutter festhielt? Er schluckte. „Bestimmt wird sie wiederkommen“, sagte er rau. Mit dem Kind auf dem Arm ging er weiter. Und hier suchte auch schon das Kindermädchen mit ängstlichen Augen überall das Kind, überglücklich schloss sie es in ihre Arme.

„Wo haben Sie sie gefunden?“ „An der Straße im Gebüsch! Sie müssen besser aufen!“ „Ja, ja“, sagte das Mädchen hastig. „Aber sie läuft immer wieder davon und will auf die Mutti warten. Und ich bringe es einfach nicht über das Herz, ihr zu sagen …“ Sie stockte, als sie die harten Augen von Peter sah. „Sie wird wiederkommen“, knirschte er mit den Zähnen. „Sie muss, muss doch wiederkommen!“ Dann ließ er das Mädchen stehen und ging ins Haus. Im Wohnzimmer saß die Mutter und häkelte. Ihre Hände zitterten leicht. Tiefe Schatten lagen um ihre Augen. Die Sorgen und Ängste wurden immer größer. Anfangs war man noch so zuversichtlich gewesen, aber je mehr Zeit verstrich, um so geringer wurde die Hoffnung. Musste man sie nicht überhaupt aufgeben? „Ich freue mich, dass Sie sich auch mal wieder sehen lassen, Herr Barden. Vielleicht muntert das Jürgen ein wenig auf.“ „Wo ist er denn?“ „In seinem Zimmer. Tag um Tag schließt er sich dort ein und kommt nur kurz zu den Mahlzeiten heraus.“ „Geht er denn nicht in die Fabrik?“, wunderte sich Peter nun doch ein wenig. „Ach, nein, man gab ihm für einige Zeit Urlaub. Ich glaube, er würde auch zu nichts taugen. Seine Gedanken sind ganz woanders. Ach, Herr Barden, ich mache mir solche Sorgen!“ „Natürlich verstehe ich das, gnädige Frau, ist es doch auch Ihre Tochter!“ „Ja, aber auch um Jürgen habe ich Sorgen. Er ist so anders, ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll. Aber ich meine, das Leben geht doch weiter. Er hat doch das Kind, das ihn noch braucht!“ Peter nickte langsam mit dem Kopf. Also machte sich auch die Mutter nicht mehr viel Hoffnung.

„Ich wollte schon längst wieder in Hamburg sein, aber ich kann jetzt meine Enkelin und meinen Schwiegersohn nicht allein lassen.“ „Jürgen wird es Ihnen bestimmt zu danken wissen, gnädige Frau!“ Sie hatte ein behutsames Lächeln in ihren Mundwinkeln. So hatte Maja auch immer gelächelt, wenn sie einen Scherz anbringen wollte. Mein Gott, er dachte schon in der Vergangenheitsform. „Jürgen spürt gar nicht, dass ich da bin!“ „Es wird auch wieder anders werden!“ „Glauben Sie es, Herr Barden?“ Wieder zwei ängstliche Augen, die ihn anstarrten. „Gewiss!“ Zum zweiten Male sagte er etwas, was er selbst nicht mehr glaubte. „Aber jetzt werde ich zu Jürgen gehen!“ Mit schnellen, elastischen Schritten verließ er das Zimmer. Er wusste, wo er seinen Freund finden würde. Behutsam klopfte er an dessen Tür. Als er sie öffnen wollte, stellte er fest, dass sie verschlossen war. „Wer ist da?“ „Ich, Peter, mach bitte auf!“ Schritte erklangen, und dann wurde der Schlüssel herumgedreht. „Komm rein!“ Peter war sehr erschrocken, als er seinen Freund sah. Seine Züge waren verfallen, und tiefe Ringe lagen um seine Augen. Die Haare lagen wirr um seinen Kopf, er war recht nachlässig gekleidet. Es stieg ihm in der Kehle hoch, als er ihn so dastehen sah. „Was willst du von mir?“ „Dich besuchen!“ „Wie du bemerkst, bin ich nicht in der Stimmung, mich zu unterhalten. Also

mach es bitte kurz!“ Peter fasste ihn bei der Schulter. „Jürgen“, doch dann ließ er ihn wieder los. Jürgen ging wieder auf und ab. „Ich weiß, was du mir sagen willst, reiß dich zusammen, Junge, lass den Kopf nicht hängen, wird schon gut! Nicht wahr, das wolltest du doch gerade sagen!“ Er stieß es fast wild hervor. „Aber ich kann nicht mehr, ich bin am Rande meiner Kraft, ich kann nicht mehr! Verstehst du, ich bin fertig und nur noch ein Wrack. Ich sitze Tag um Tag hier und kann nichts unternehmen. Und in mir schreit es, Maja, wo bist du, wo bist du! In der Nacht, immer verfolgt mich ihr Angstruf. Sie muss in Not sein, ich spüre es, aber ich kann ihr nicht helfen, Peter!“ Er riss seinen Freund herum und starrte ihn aus irren Augen an. „Sag, dass ich nicht verrückt bin, denn ich glaube es schon bald selbst! Mein Gott!“ Seine Hände fielen wieder herab, und er fasste sich an den Kopf. „Mein Gott!“ Peter war erschüttert. Es würgte ihn in der Kehle, und er musste sich erst räuspern, um sprechen zu können. „Du glaubst noch, dass sie lebt?“ „Beim Himmel, Peter, wenn ich erst anfange, das zu bezweifeln, mein Gott!“ „Aber sie ist schon so lange fort, oder hast du schon wieder etwas Neues von der Polizei gehört?“ „Nein.“ Peter beugte sich über den sitzenden Freund. „Würde Maja nicht wollen, dass du ihre kleine Tochter nicht vergisst!“ Jürgen erwachte wie aus einem Traum. „Aber ich kann ohne Maja nicht mehr leben, ich kann es nicht mehr.“ „Du musst es versuchen“, sagte Peter hart. „Du musst, denk doch an dein Kind!“ Ein wildes Schluchzen, schüttelte den großen Mann. Das blonde Haar fiel ihm in die Stirn. „Verzeih“, stammelte er heiser. Peter setzte sich auch. „Du musst wieder arbeiten, Jürgen, hörst du?“

„Ich kann doch nicht!“ „Du musst!“ „Ja“, es klang so fern und so weit. „Wirst du es mir versprechen?“ „Lass mir noch Zeit, hörst du!“ „Wie lange?“, fragte Peter hart. Er musste seinen Freund wachrütteln, bevor er ganz in den Abgrund fiel. Jürgen sah aus dem Fenster. „Eine Woche“, sagte er dumpf. „Warum gerade eine Woche, was versprichst du dir davon? Willst du nicht gleich wieder mit der Arbeit anfangen? Sie kann auch Tröster sein.“ Er schüttelte stumm den Kopf. Peter stand auf. „Ich muss jetzt gehen.“ Jürgen nickte nur schwach. Als Peter die Tür hinter sich zuzog, sah er, wie seine Schultern zuckten und bebten. Er verließ gleich das Haus, ohne noch einen Menschen zu sehen. Er hatte jetzt nicht mehr die Kraft, noch etwas zu sagen. Seinem Fahrer gab er Anweisung, ihn in die Fabrik zu fahren. Stumm saß er in die Polster zurückgelehnt. Er durfte Jürgen jetzt nicht sich selbst überlassen. Maja würde das bestimmt nicht wollen. „Maja, wo bist du?“ Da hing noch das vom Regen verwaschene Plakat. „Maja“, murmelte er dumpf vor sich hin.

13

Maja stand vor dem pompösen Spiegel im Schlafzimmer und sah sich selbst stumm an. Manchmal ging sie ein wenig näher, als suche sie etwas in ihrem Gesicht. Aber sie fühlte nur Resignation. Sie hob die Arme, und der schwere Morgenmantel fiel in einer Flut von Falten von ihren Schultern bis zur Erde. Seit einigen Tagen hatte sie ein Gefühl, als würde es ihr das Herz zersprengen. Diese Träume, immer wieder dieselben Träume. Sie schloss für einen Moment die Augen. Was war damit? Fühlte sie sich verfolgt, oder was war das? Aber das Seltsame war, sie fühlte sich in diesen Träumen so glücklich, so heiter. Ein kleines Lächeln huschte um ihre Lippen. Warum hatte sie immer wieder dieselben Träume? Robert wollte ihr keine Antwort darauf geben. Maja ließ die Arme wieder sinken und strich das Haar zurück. Sie betrachtete ihre Hände. Wenn sie nur etwas hätte tun dürfen. Es war so schrecklich langweilig. Mit schleppenden Schritten verließ sie das Zimmer. Bette huschte wie eine Vogelscheuche über den Flur. Ihr zahnloser Mund grinste sie an. „Wo ist mein Mann?“ „Ausgegangen, mein schönes Täubchen!“ „Ausgegangen?“ „Ja, doch, ich sagte es.“ Maja blieb an die Wand gelehnt stehen. „Warum darf ich nie mit ihm ausgehen, Bette? Warum gehen Sie nie aus?“ „Ich? Warum sollte ich? Ich habe doch alles, was ich will“, und sie lachte ein wenig schrill.

„Aber ich möchte einmal hinaus“, sagte Maja sehnsüchtig. „Der Herr Doktor wünscht es aber nicht!“ „Aber warum denn nicht, Bette. Warum will er es nicht?“ „Er will nicht, dass andere Männer dich sehen, er will dich allein besitzen. Vielleicht läufst du ihm wieder fort.“ Maja sah sie verwundert an. „Bin ich denn schon mal fortgelaufen?“ „Natürlich, mein Täubchen.“ Sie konnte sich an nichts erinnern. Das war eben so schrecklich. Sie wusste nur, hinter der großen Mauer ging das Leben weiter. Mitunter, wenn sie im Garten war, hörte sie Stimmen und das Lachen anderer Menschen, und dann sehnte sie sich fort. Wie ein gefangenes Vögelchen fühlte sie sich. Als hätte man ihr die Flügel abgeschnitten. Bette schlurfte weiter. Maja ging ratlos durch das Haus. Von einem Zimmer in das andere. Aber überall war dasselbe. Sie kannte es schon auswendig. Plötzlich stand sie unten im Gang vor einer großen, schmalen Tür. Hier hatte sie schon oft Robert hindurchgehen gesehen. Er hatte ihr gesagt, dort hinten wäre nur die Rumpelkammer. Ach, was tat man nicht alles, wenn man sich langweilte. Sie legte die Hand auf die Klinke, sie ließ sich tatsächlich herunterdrücken. Helligkeit schlug ihr entgegen. Sie schloss für einen Moment die Augen. Ein langer Gang lag vor ihr, und dann sah sie auch die Türen. Wie im. Schlaf ging sie weiter. Der Samt schleifte über die Fliesen und ließ sie lautlos gehen. Da war ein Raum mit nur Stühlen und dann der Untersuchungsraum mit den vielen Apparaten. Und dahinter das Labor. Sinnend blieb Maja in der Tür stehen und sah all das Fremde. Doch es war nichts, was sie ihre Langeweile hätte vergessen lassen. Die letzte Tür ging zu seinem Büro. An den Wänden waren viele Regale mit Büchern, und in der Mitte stand ein riesiger Schreibtisch. Maja betrat den Raum, tupfte hier und da mit den Fingerspitzen die Bücher an. Ihre Augen wanderten durch den Raum. Auf einem kleinen Seitentischchen

entdeckte sie eine Schreibmaschine. Zuerst wanderte ihr Blick darüber hinweg. Doch dann sah sie noch einmal hin, und noch einmal. Seltsam war es, etwas trieb sie dazu, näher zu gehen. Nun stand sie dicht davor und sah sich alles an. Mit den Fingern berührte sie leise die Tasten. Und da war doch der Traum, sicher, in dem Traum spielte auch immer eine Schreibmaschine mit. Oft hatte sie sich gesehen, wie sie schrieb. Sie lachte leise auf. Jetzt will ich doch mal sehen, ob ich schreiben kann. Im Traum konnte ich das so gut! Sie suchte ein Blatt Papier und spannte es ein. Noch fiel ihr nicht auf, wie selbstverständlich sie die Maschine bediente. Dann legte sie die Hände auf die Tasten und schrieb. Sie konnte tatsächlich schreiben, schnell und fehlerlos. Ihr Erstaunen war maßlos. Der Urinstinkt wurde wieder in ihr wach. Der Drang zu schreiben, die Schriftstellerin ließ sich nicht verdrängen. Noch erkannte sie es nicht. Es war nur ein großes Staunen über sie gekommen. Wie, sie konnte also wirklich schreiben! Im Haus entstanden irgendwo Geräusche. Ihr Mann kam zurück. Er hatte ihr verboten, durch die Tür zu gehen. Hurtig nahm sie das Blatt heraus, versteckte es in die Manteltasche und huschte über den Gang zurück. Bette hatte von ihrem Ausflug nichts bemerkt. Sie stand im Flur, als die Tür aufging und Robert sie erblickte. „Ah, meine Liebste, du hast schon auf mich gewartet?“ „Ja, Robert.“ Sie versuchte, ihr schnelles Herzklopfen zu verbergen. „Fein, ich bin gleich soweit, dass wir zusammen speisen können. Geh schon ins Wohnzimmer, ich hole nur deinen Abendtrank.“ Gehorsam tat sie, wie er ihr befohlen hatte. Kurz darauf kam er mit dem Glas wieder zurück. „Trink, meine Liebe.“ Sie wollte gerade trinken, als das Schellen eines Telefons sie erschreckte. „Ich bin gleich wieder da“, sagte Robert und ging. Maja wollte das Glas zur Seite stellen, aber sie war ziemlich ungeschickt und es kippte um, und sein Inhalt ergoss sich auf den Teppich. Sie war ziemlich erschrocken darüber. Denn sie wusste, Robert konnte mitunter sehr zornig

werden. Ich werde es ihm verschweigen, dachte sie bei sich und schob den schweren Lehnsessel über den dunklen Fleck. Da es nahe beim Kamin war, würde die Glut bald den Fleck austrocknen, und man würde nichts mehr sehen. Robert kam zurück. „Du hast schon getrunken? Fein!“ Sie speisten zusammen und gingen anschließend wieder ins Wohnzimmer. Robert las noch in einem Buch, und Maja saß beim Schein des Feuers und tat nichts. Das Prasseln der Scheite hatte sie sonst immer so müde werden lassen. Und zu ihrer größten Verwunderung spürte sie heute überhaupt keine Müdigkeit. Sie war noch hellwach, und auch ihre Glieder waren gar nicht so bleischwer wie sonst. Vielmehr musste sie ständig an ihr kleines Abenteuer denken, das sie gehabt hatte. Das Papier knisterte leise in ihrer Tasche. Behutsam nahm sie es heraus und schob es zwischen die Glut. Warum sie das tat, wusste sie auch nicht. Sie hatte noch nicht einmal gelesen, was sie überhaupt geschrieben hatte. „Wir gehen jetzt schlafen“, sagte Robert und stand auf. Zärtlich umfing er Maja und führte sie fort. Etwas in ihr wehrte sich dagegen, doch sie hatte Angst vor ihm und ließ alles über sich ergehen. Seine Leidenschaft und seine Liebe. Sie fühlte seine Hände auf ihrem Körper, sein heißes Blut durch ihre Haut. Was ist nur mit mir?, dachte sie immer wieder. Was? Als sie am nächsten Morgen erwachte, war ihr Mann schon fort. Er musste zu einem dringenden Fall in der Nachbarschaft. Als Arzt war er hervorragend, wenn er nur nicht von dieser Wahnidee befallen wäre, ein Mittel zu erfinden, um sich alle Menschen untertan zu machen. Maja lag in der Wanne, und der Schaum umspielte ihren Körper. Sie fühlte sich auf einmal so frei. Aber es war gar keine Müdigkeit da, und sie hätte singen können. So fühlte sie sich schon den ganzen Morgen. Richtig lustig war es in ihr. Robert war immer noch nicht zurück, und sie hatte sich vorgenommen, wieder heimlich auf der Maschine zu schreiben. Es machte ihr Spaß, und sie freute sich schon darauf. Bald darauf, als sie Bette in der Küche wähnte, huschte sie wieder den Gang entlang. Ach, sie war so aufgeregt. Und da war wieder die Maschine. Wie magisch wurde sie davon angezogen Schon saß sie davor, und hurtig schrieben ihre Finger Text auf Text. Es machte ihr ungeheuren Spaß. Und dann zog sie den Bogen aus der Maschine und las, was sie geschrieben hatte. Ihre Augen wurden

immer größer. Unbewusst hatte sie einige Zeilen aus einem ihrer früheren Romane geschrieben. Sie dachte nach, und es fiel ihr gar nicht mal so schwer, aber noch kam sie nicht hinter die Lösung. Langsam stand sie auf und verließ wieder den Raum. Ein Instinkt sagte ihr, dass sie nicht zeigen durfte, was sie getan hatte. Wieder übergab sie das Papier den Flammen. Den ganzen Tag über war sie nicht müde und unkonzentriert. Woran mochte das liegen? Als am Abend Robert ihr wieder das Glas mit der dunklen Flüssigkeit brachte, fiel ihr zum ersten Male auf, dass er nie etwas trank. Warum sollte sie denn immerzu trinken? Sie hatte doch gar keinen Durst! Ich werde es nicht trinken, dachte sie bei sich. Und als Robert das Zimmer verließ, goss sie den Inhalt in das Kaminfeuer. Prasselnd und zischend stoben die Funken für einen Augenblick in die Höhe. Doch dann war alles vorüber. Ja, und jetzt wusste sie auch, dass etwas mit dem Abendtrunk nicht stimmte. Sie wurde klarer, und aufmerksamer betrachtete sie ihre Umgebung. Gedanken stiegen in ihr auf, die sie früher nie gehabt hatte. Das war doch nicht in Ordnung. Noch lehnte sie sich dagegen auf. Sie wollte ihrem Mann doch eine gute Frau sein. Er liebte sie doch. Seit drei Tagen nahm Maja nicht mehr den Trunk. Der Arzt merkte nichts davon. Und dann machte sie noch eine Entdeckung. Die Träume, die sie in der Nacht hatte, waren jetzt auch am Tage da. Sie ließen sich nicht mehr verdrängen. Immer heftiger und stärker wurden sie. Und der Drang zum Schreiben wurde immer größer in ihr. Sie ertappte sich dabei, wie ihre Finger lautlos auf einer unsichtbaren Maschine zu schreiben begannen. Wie, wenn die Träume keine Träume waren, was dann? Einen ganzen Tag brauchte sie dazu, um diesen Gedanken zu Ende zu denken. Die Träume! Sie konnte schreiben! Sollten die Träume vielleicht doch Wirklichkeit sein? Sie erschrak mächtig über diesen Gedanken. Aber das Herz schlug so dumpf und so hohl. Nach außen hin war sie die gleiche sanfte, stille Maja. Aber in ihrem Kopf jagten sich die Gedanken und fanden kein Ende. Was ist mit mir, was? Als sie wieder einmal auf der Maschine schreiben konnte, schrieb sie unbewusst „Maja Richards“ und den Namen ihres wahren Mannes sowie den ihres Kindes. Nein, dachte sie entsetzt, nein, das kann doch nicht sein. Ich werde doch nicht

verrückt. Ich bin doch Maja Schneider! Ich will nur Maja Schneider sein. Ratlosigkeit und Bestürzung malten sich auf ihrem Gesicht. Doch wenn Robert kam, versuchte sie nur zu lächeln. Der Arzt war im Augenblick so mit seiner neuen Forschung beschäftigt, dass er für eine Weile vergaß, Maja genau zu beobachten. In der Liebe war sie gleich, und dort merkte er nichts. Jetzt dauerte es nicht mehr lange, bis Maja wirklich erkannte, dass hier etwas vorging, was nicht sein musste. Im Herzen hörte sie immer eine Stimme, die so flehentlich nach ihr rief und sie anbettelte. „Jürgen“, formten behutsam ihre Lippen das Wort: „Jürgen.“ Da wurde sie ruhiger. Aber wenn sie an Robert dachte, war sie unruhig. Er war ihr unheimlich. Das Gedächtnis und die Vergangenheit kamen langsam wieder in ihr hoch. Schon lange trank sie nichts mehr aus der Hand des Arztes und fühlte sich wieder stark und gesund. Sie saß im Sessel, schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Und dann sah sie eine Landschaft, sie war grau, und der Regen trommelte auf das Dach. Es war ein gläsernes Dach. Der Bahnhof. Ja, jetzt sah sie auch den Zug. Sie sah Jürgen vor sich, er küsste sie und dann flehte er sie an zu bleiben. „Bleib, Maja“, rief er, und seine Stimme drang in ihr Herz. Sie sah sich in einen Zug steigen und ihm nachwinken. Eine Nebelwolke verschluckte dann alles. Und dann? Was war dann? Ein Mann saß da, sie hatte Angst, sie fühlte wieder die gleiche Angst von damals in sich aufsteigen. Ein Mann, und dieser Mann sah wie Robert aus. Er sprach etwas zu ihr. Lisa, sagte er immer wieder. Aber sie hieß nicht Lisa, sie war Maja, Maja Richards. Und jetzt wusste sie auch wieder, warum sie in den Zug gestiegen war. Sie wollte nach Hamburg. Zu ihrer Mutter! Sie stöhnte leicht auf. Dann sah sie Augen, schreckliche Augen, sie bohrten sich immer tiefer in ihr Gesicht. Sie schloss die ihren und wollte vor diesen Augen fliehen, aber sie konnte nicht. Nein, sie konnte nicht davor fliehen. Mühsam öffnete sie wieder die Augen. Sie erschrak. Robert stand über sie gebeugt und starrte sie an. „Was ist?“

„Ich weiß nicht“, murmelte sie leise, „ich glaube, ich habe geträumt!“ „Mein armer Liebling“, sagte er leise und strich ihr über das Haar. „Immer noch dieselben Träume?“ „Ja.“ Sie erschauerte leicht. Was war die Wahrheit? Die Träume, die Wirklichkeit? Robert zog sie aus dem Sessel in seine Arme. Leise wie tröstend strich er über ihr volles Haar. „Bald werden sie dich nicht mehr quälen, bald habe ich es geschafft, ja geschafft. Alle Welt wird dann staunen, und man wird mir endlich Glauben schenken!“ Seine Augen glühten auf, und Maja starrte ihn an. Aber er sah diesen Blick nicht. Er war zu sehr von seiner Forscherleidenschaft besessen. „Was hat er mit mir vor“, dachte die junge Frau ängstlich. „Was?“ Die Alte schlurfte herein und brachte das Essen. Kaum konnte sie einen Bissen in sich hineinwürgen. Wenn sie das Antlitz ihres Kindes vor sich sah, dann wäre sie am liebsten in Tränen ausgebrochen. Jetzt wusste sie es genau, man hielt sie hier gefangen, aber warum? Was hatte sie getan? Sie war doch nicht irre! Wo war Jürgen? Warum kam er ihr nicht zu Hilfe? Der Arzt stand auf und ging auf sie zu. „Komm, wir gehen schlafen!“ Sie wollte sich dagegen wehren, sie wollte nicht mehr. Aber sie hatte Angst vor seinen Augen. Diese entsetzlichen Augen. „Ja“, murmelte sie leise und scheu.

14

Robert befand sich auswärts bei seinen Patienten, Bette hatte es gesagt. Maja ging unruhig durch das Haus. Sie durchwanderte den Garten, und ihre Augen suchten die Mauer ab. Nirgends war an ein Entkommen zu denken. Sie musste fort, sie fühlte, dass ihr hier Gefahr drohte. Was hatte er mit seiner Forschung vor? Sie wollte nach Hause, zu Jürgen, zu Melanie! Die junge Frau verkrampfte die Hände ineinander, und sehnsüchtige Blicke warf sie den Schwalben nach, die so frei und schwerelos durch die Luft segelten. Ach, wenn sie doch auch Flügel hätte, dann hätte sie fliehen können. Der schwere Morgenmantel streifte die Gräser. Gebeugt und traurig ging sie einher. Nein, hier draußen im Garten hielt sie es nicht aus. Langsam ging sie ins Haus. Sinnend stand sie im dunklen Flur und sah die große Eingangstür an. Ganz langsam, wie im Schlaf, ging sie darauf zu, vielleicht war sie offen und sie konnte fortlaufen? Sie drückte die Klinke herunter, aber sie bewegte sich nicht. Sie blieb verschlossen. Maja rüttelte und zerrte, und Tränen liefen über ihr Gesicht. „Maja!“ Schneidend klang es aus dem Hintergrund. „Maja, was tust du da?“ Maja erschrak bis ins Herz. Robert war bei ihr und riss sie von der Tür fort. „Was soll das bedeuten, Maja?“ Sie wich vor ihm zurück. Seine Augen blickten sie grausam an. „Ich wollte“, stammelte sie wie ein hilfloses Kind. „Ich wollte doch nur …“, sie brach ab. „Was wolltest du?“ „Nach draußen!“

„Dir gefällt es hier also nicht mehr? Du bist nicht glücklich bei mir?“ „Doch, doch“, sagte sie schnell. „Aber, Robert, ich möchte nur einmal für eine kurze Weile nach draußen. Hier wird es mir so eng. Ich habe nichts zu tun, ich möchte nur einmal nach draußen!“ „Nein!“, sagte er hart. „Robert!“, stammelte sie heiser. „Warum denn nicht?“ „Komm, geh in dein Zimmer, ich habe jetzt keine Zeit für dich. Später reden wir darüber, hörst du!“ „Ja“, sagte sie gehorsam und ging davon. Robert hastete durch den langen, dunklen Gang in die Küche. Maja hatte ihre Tür ein wenig aufgelassen. Sie hörte Robert mit Bette sprechen. „Du bürgst mir für Maja mit deinem Leben, Bette. Du musst auf sie aufen, hörst du? Du darfst sie mir nicht entwischen lassen wie damals Lisa!“ „Ja, ja“, hörte sie Bette murmeln. „Ja, ich werde schon aufen. Das Vögelchen ist eingesperrt und kann nicht hinaus.“ Sie kicherte wieder. Maja liefen kalte Schauer den Rücken herunter. Sie presste die Hände an die klopfenden Schläfen und überlegte. Ich muss mir was einfallen lassen, dachte sie immer wieder. Irgend etwas muss mir einfallen. Nun wanderte sie Tag um Tag unermüdlich durch das Haus. Ihre Sinne waren ganz wach. In jedem Zimmer schaute sie nach, und Bette war im Hintergrund und ließ sie nicht aus den Augen. Mochte sie nur suchen! Maja entdeckte die Tür zum Keller und stieg hinunter. Sie tat es mehr aus Langeweile. Hier standen viele chemische Dinge, von denen sie keine Ahnung hatte. Ihr Blick ging darüber hinweg. Gab es hier kein unverschlossenes Fenster? An den nackten Kellerwänden liefen dicke Kabel. Aber sie führten nur nach oben. Maja sah sie sinnend an. Dann wusste sie, was das war. Die Lichtleitung! Ihr Gehirn strengte sich an. Die junge Frau überlegte. Wenn sie nicht aus dem Hause kam, dann musste eben ein Fremder ins Haus kommen, ja, so musste sie

es machen. Und diesem konnte sie dann zuflüstern, dass sie hier gefangen war, und er sollte dann Nachricht an ihren Mann weitergeben. Fast hätte sie gelacht vor Freude über diesen genialen Einfall. Als sie die Treppe wieder hochstieg, stand oben Bette und sah sie hämisch an. „Sucht das Täubchen ein Loch, aus dem es schlüpfen will?“ Maja sagte nichts und ging in ihr Zimmer. Seit sie nun die Lösung wusste, wurde sie wieder ganz ruhig und besonnen. Ja, heiter! Als ihr angeblicher Mann heimkam, empfing sie ihn genauso freudig wie früher. Er schöpfte keinen Argwohn und war wieder sehr nett zu ihr. All seine Zärtlichkeit ließ sie mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen. Nicht mehr lange, dachte sie dabei. Bald, morgen schon, ja, morgen wollte sie ihr Werk ausführen.

15

Bette hatte für einen kurzen Augenblick die Küche verlassen. Darauf hatte Maja gewartet. Die ganze Zeit hatte sie lauschend hinter der Tür gestanden. Nun huschte sie herein. Schnell sah sie sich um, dann griff sie nach einem scharfen Messer und verbarg es gleich in den weiten Falten ihres Mantels. Schon war sie wieder lautlos verschwunden. Bette kam zurück und werkelte weiter, sie hatte nichts bemerkt. Maja drückte ihren Fund an die Brust und lief die Kellertreppe hinunter. Ihr Herz klopfte wie rasend. Da, ganz hinten in der Ecke, dort musste sie ihr Werk vollbringen. Ja, ja, ja! Sie jubelte fast. Mit dem scharfen Messer schnitt sie den einen Strang des Hauptkabels der Lichtleitung durch. Die beiden Enden bog sie so zusammen, dass man es nicht gleich bemerkte. Dann warf sie das Messer hinter ein Regal und ging wieder nach oben. Würde ihr Plan glücken? Ein toller Wirbel war in ihrem Herzen. Der Tag verging unendlich langsam. Aber dann war es soweit. Die Lampen sollten angezündet werden, und es ging nicht. Robert sprach mit Bette in der Küche. Diese holte eine Kerze und stieg mit dem Arzt in den Keller. „Wir müssen einen Elektriker holen“, sagte Robert dumpf. „Ich kann keinen Schaden an der Schalttafel entdecken.“ „Ich werde anrufen“, sagte Bette und schlurfte wieder nach oben. Maja ging in den Flur. „Warum ist kein Licht im Zimmer?“, fragte sie leise. Robert stand vor ihr. „Gleich, mein Kind, wir müssen einen Schaden beheben. Geh auf dein Zimmer!“ „Ich fürchte mich im Dunkeln, lass mich hier!“, bat sie. Bette kam zurück. „Der Elektriker kommt sofort!“

„Schön!“ Maja stand an die Wand gelehnt, die Augen riesengroß. Jetzt durfte sie keinen Fehler machen. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt. Ganz in der Ferne hörten sie das Brummen eines Autos. Robert ging, um das Tor zu öffnen, und kam dann mit einem fremden Mann zurück. Er war groß und schlank. Der Mann trug eine Taschenlampe und leuchtete damit auf den Weg. „Wo ist der Schaden?“ „Im Keller, kommen Sie!“ „Jemand muss mir aber die Lampe halten“, sagte der Mann. „Sonst kann ich nicht arbeiten.“ „Ach, bitte“, sagte Maja jetzt leise, „lasst mich das doch machen. Ich habe doch nichts zu tun. Ich kann gut die Lampe halten!“ Jetzt erst bemerkte der Mann Maja. Er richtete den Schein seiner Lampe auf sie. Aber Robert stellte sich gleich davor. „Nein, das ist keine Arbeit für dich!“, sagte er herrisch. „Bette wird das machen!“ „Aber …“, flehte sie leise. Doch die beiden stiegen schon in den Keller. Robert schnellte herum und starrte sie an. „Hast du das vielleicht gemacht? Ah, ich sehe jetzt klar, du wolltest mit dem Mann da unten allein sein, nicht wahr? Das war doch dein Plan, oder?“ Maja wich vor ihm zurück. „Aber du wirst es nicht, hörst du, du gehst auf dein Zimmer, und Bette bleibt bei dem Mann. Irrtum, mein Schätzchen, so entkommst du mir nicht!“ Aus, dachte sie tonlos. Aus, alles aus. Ein wildes Schluchzen drang in ihr hoch. „Ich muss zu meinen Patienten!“ Er ging. Doch vorher rief er Bette noch zu, bei

dem Manne zu bleiben. Maja hätte schreien können vor Pein. Nun war wieder alles umsonst. Aber es durfte nicht sein, nein, sie wollte, sie musste mit dem Mann sprechen, Sie musste es doch! Nur so konnte sie von hier fort. Sie stand oben an der Treppe und hörte sie dort unten murmeln. Ich werde es ihm zuschreien, alles! Und dann muss er mir doch helfen. Schon öffnete sie den Mund, da spürte sie einen leisen Luftzug von irgendwoher. Langsam drehte sie sich um. Der Flur war leer, Robert war fort. Und die hintere Tür war zu. Woher der Luftzug? Und dann entdeckten es ihre Augen. Die Eingangstür, die Tür war nicht hinter dem Mann verschlossen worden. Man hatte es vergessen. Einfach vergessen in der Eile. Maja drückte die Klinke herunter. Sie ließ sich bewegen. Die Tür öffnete sich. Freiheit! Draußen war stockfinstere Nacht, und es war kalt, und der Wind fegte um die Ecken. Maja sah sich nicht mehr um, als sie aus dem Hause huschte!

16

Der Zug brauste in die Bahnhofshalle und hielt dann schnaufend still. Leute quollen aus den Türen und hasteten weiter. Unter ihnen befand sich eine junge Frau. Dunkelhaarig, klein und grazil. Sie hatte keine Eile und schlenderte langsam dahin. Sie kam gerade aus einem verspäteten Urlaub und war jetzt auf dem Wege nach Hause. Einem Zuhause, das nur ihr gehörte. Klein, aber mein, so nannte sie es. Endlich waren die Ausgänge frei, und sie betrat die regennasse Straße. Lisa Schneider stellte den Kragen ihres Mantels hoch und versuchte, durch den Regen zu kommen. Er plätscherte unaufhörlich in der Gosse. Sie kam aus dem Süden, und nun diese Kälte! Doch sie lächelte nur. Die Straßen waren menschenleer, und niemand kam ihr entgegen. Gleich würde sie auch in ihrer kleinen Wohnung sein. Sie hielt den Kopf gesenkt. Vor einer Plakatsäule wehte ihr der Wind den Hut hoch und sie sah für einen kurzen Augenblick auf. Ihr Blick streifte ein verwaschenes Schild. Wie gebannt starrten ihre Augen dieses, Bild an. Mein Gott, dachte sie betroffen, das bin ja ich! Aber das konnte doch nicht sein. Langsam ging sie näher. Nein, sie war es doch nicht, aber welche Ähnlichkeit. Und dann las sie die Überschrift. „Maja, wo bist du?“ Man suchte also diese Frau. Ob man sie wohl schon gefunden hatte? Doch das Bild war schon über zwei Monate alt. Maja, welch ein hübscher Name, dachte sie bei sich. Nun erst las sie weiter. Sie verschwand aus dem Zuge nach Hamburg. Merkwürdig, warum ging es ihr so kalt durch und durch? Sie hatte doch damit nichts zu schaffen. Aber diese Augen, sie ließen sie nicht los. Man konnte doch nicht einfach spurlos verschwinden, das gab es doch nicht. Und jetzt wusste sie auch, warum sie fröstelte. Es war der Ort Kleinhagen! Sie wandte sich schnell ab und hastete die Straße weiter. Nur fort, in Sicherheit. Sie hatte das Plakat nicht gesehen. Lisa glaubte alles überwunden zu haben, aber manchmal kam es mit Macht wieder über sie. Sie konnte es einfach nicht vergessen. Kleinhagen, warum gerade dieser Ort, und dann die Ähnlichkeit? Warum? Ich spinne, dachte sie

immer wieder. Als sie die Wohnungstür aufschloss, kam ihr wohlige Wärme entgegen. Die nette Nachbarin hatte ihre Wohnung schon geheizt. Jetzt saß sie im Sessel und wartete auf Lisa. Lisa war zu Tränen gerührt vor Dankbarkeit. Sie hatte einen Augenblick Angst vor ihrer leeren Wohnung gehabt. „Ellen, wie lieb von dir!“, rief sie strahlend. Man begrüßte sich freundlich. „Erzähle, Lisa!“ Lisa drehte sich um. „Du, Ellen sag mal, ich habe da ein Bild gesehen, eine Frau wird gesucht. Weißt du etwas davon?“ „Ach, du meinst bestimmt Maja Richards, traurig, nicht wahr!“ „Man hat sie also noch nicht gefunden?“ „Nein!“ „Aber, man kann doch nicht einfach spurlos verschwinden.“ „Scheint so, sie saß im Zug, und bis Kleinhagen hat man sie noch gesehen, und dann war sie fort, aus!“ Lisa biss sich auf die Lippen. Nein, dachte sie ohnmächtig. Nein, ich will nichts damit zu tun haben. War das nicht ein ungeheuerlicher Verdacht? Sie ist bei Robert, dachte sie immer wieder. Er wohnt in Kleinhagen. Er hat sie geraubt, hält sie gefangen, so wie er es mit ihr gemacht hatte. Für seine Experimente. Aber sie hatte noch fliehen können vor dem Grauen, vor seinen Augen! Als die Nachbarin spürte, dass Lisa nicht mehr sprechen wollte, verließ sie sie. Sicher war sie noch müde. Lisa war sehr dankbar dafür. Sie musste überlegen, nachdenken. Aber musste sie denn überhaupt noch überlegen? Nein, sie lebte jetzt hier froh

und glücklich. Sie wollte ihn nie mehr wiedersehen, nein, sie würde sich nicht melden. Sie stöhnte wild auf. Aber dann sah sie die Augen dieser jungen Frau vor sich. Lisa bäumte sich auf. Ich will doch nicht! Es ist nur Zufall, redete sie sich ein. Ich spinne wirklich, ja, so wird es sein. „Maja, wo bist du?“ Sie hatte einen Mann und ein Kind! Das Kind suchte die Mutter. Robert sah also in Maja sie, Lisa, er hatte sie noch immer nicht vergessen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Ach, wie hatte sie diesen Mann geliebt. Heiß und innig. Sie war voller Leidenschaft für ihn gewesen und war so selig, als sie endlich heirateten. Und dann, sie wusste nicht mehr, wie lange sie bei ihm in diesem düsteren Haus eingesperrt gelebt hatte, als sie endlich bemerkte, dass sie mit einem Wahnsinnigen verheiratet gewesen war. Er war ein ausgezeichneter Arzt, o, ja, aber seine Wahnsinnsidee, eine Medizin ausfindig zu machen, um alle Menschen willenlos zu machen! Er wollte Herrscher über alle sein. Und sie war der Anfang gewesen. Und jetzt war diese Maja bei ihm. Lange stand sie am Fenster und starrte in die dunkle Nacht hinaus. Wenn er weiß, wo ich bin, wird er mich holen, dachte sie hilflos. Aber ich kann auch diese Frau nicht im Stich lassen. Wie muss sie sich vor ihm ängstigen. Seit Lisa geflüchtet war, hatte sie Angst vor den Männern. Sie war so scheu und ängstlich geworden. Mit niemanden schloss sie Kontakt. Müde stand sie auf und zog den nassen Mantel wieder an. Sie traf Ellen auf dem Flur. „Ich dachte, du wärst müde?“ Lisa lächelte schmerzlich. „Ich bin auch unsagbar müde!“ „Aber dann leg dich doch schlafen. Es regnet doch draußen!“

„Ich muss fort, ich habe etwas zu erledigen vergessen!“ „Ist das denn so dringend, kannst du das nicht auf morgen verschieben?“ Lisa schüttelte den Kopf. Sie verließ das Haus. Je näher sie der Polizeistation kam, um so langsamer wurden ihre Schritte. Lange stand sie vor dem Gebäude und zögerte. Aber dann gab sie sich einen Ruck. Sie wurde an Kommissar Grömer verwiesen. Lisa nahm Platz vor dem Schreibtisch. An der Stirnseite des Raumes befand sich das gleiche Plakat von Maja! Sie schluckte. „Was führt sie zu mir zu so später Stunde? Ist es sehr dringend, Frau Schneider?“ Lisa nickte. „Ja“, sagte sie leise. „Ich glaube schon.“ „Na, dann schießen Sie mal los, wo drückt der Schuh, kleine Frau?“ „Ich weiß, wo Maja Richards sich befindet“, sagte sie tonlos. „Wie?“ Grömer starrte sie an. Langsam wandte er sich um und sah auch das Bild an. Wie oft hatte er in den letzten Wochen schon davor gestanden und versucht, dieses Rätsel zu lösen. Es ließ ihm keine Ruhe. Aber nichts, nichts war geschehen. Sie war und blieb spurlos verschwunden. Und jetzt, zwei Monate danach, in einer Regennacht, kommt eine kleine Frau zu ihm und sagt, sie wisse, wo sich Maja Richards befinde! Er schluckte. „Sie scherzen mit mir!“ „Nein!“ Und dann bemerkte der Kommissar auch die Ähnlichkeit mit Maja. „Erzählen Sie!“ „Das will ich tun, darum bin ich gekommen!“ „Aber wir suchen sie schon so lange, warum kommen Sie erst jetzt?“

„Ich war verreist, ich bin erst heute wieder nach Hause gekommen. Ich habe es wirklich nicht gewusst, Sie müssen mir glauben.“ „Natürlich, glaube ich Ihnen, aber nun erzählen Sie mir, wo ist Maja?“ „Bei meinem Mann!“ „Was?“ Nun verstand Grömer nichts mehr. „Wo ist sie?“ „Bei meinem Mann!“ Er schluckte. „Er hat Ihnen das gesagt?“ Sie lächelte geisterhaft. „Ich lebe nicht mehr bei ihm. Aber Sie müssen mir glauben, ich will Ihnen alles erzählen. Sehen Sie, mein Mann lebt in Kleinhagen, ja, und er hat bestimmt Maja geraubt, Sie müssen mir glauben!“ „Ist es nicht etwas Ungeheuerliches, was Sie da vorbringen?“ „Wenn Sie ihn kennen würden, nicht!“, sagte sie bitter. „Gut, und warum soll sie bei Ihrem Mann sein?“ „Weil er in Maja wahrscheinlich mich sieht.“ „Aber er wird es gleich bemerken.“ „Schon, aber er will es bestimmt nicht. Mein Mann ist wahnsinnig, müssen Sie wissen. Darum bin ich ja auch vor ihm geflohen! Wenn Sie mich vor ihm schützen, will ich alles erzählen“, sagte Lisa leise. Aber sie kam nicht mehr dazu es zu sagen. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen, und zwei abgerissene Gestalten purzelten in den Raum. Lisa sprang vom Stuhl und starrte sie entgeistert an.

17

Als Maja die lange, dunkle Allee hinunterhastete, fröstelte sie, und ihre Schritte wurden noch schneller. Mit einem leisen Klicken fiel das große schmiedeeiserne Tor hinter ihr zu. Nun drehte sie sich noch einmal um und warf einen scheuen Blick auf das unheimliche Haus. Der Wind peitschte um die Ecken, Regen nieselte vom Himmel, und dicke, schwere Wolken zogen am nachtdunklen Himmel dahin. Sie trug nur wie üblich ein Nachtgewand und darüber den weiten Hausmantel. Ihre leichten Pantoffeln waren gleich durchnässt, und sie spürte, wie die Kälte schon an ihr hoch kroch. Aber um nichts in der Welt wäre sie wieder zurückgegangen. Frei, dachte sie immer wieder. Endlich frei! Sie konnte ihr Glück immer noch nicht so recht fassen. Doch ihr Instinkt sagte ihr, dass sie fort musste. Man durfte sie nicht finden. Sie wollte endlich heim zu Mann und Kind und zu der Mutter! Die Landstraße war leer und einsam. Das Haus lag weit außerhalb des Dorfes. So musste sie also zu Fuß weitergehen. Bald war auch ihr Haar durchnässt und hing in Strähnen herunter. Immer wieder blieb sie atemlos stehen und horchte nach hinten. Der Mantelsaum wurde von Nässe und Schmutz immer schwerer. Doch nichts regte sich, alles blieb still. Nur der Sturm jagte durch die Bäume und bog sie fast zu Boden. Sie fühlte sich von dem ungewohnten Marsch schon sehr erschöpft, aber sie taumelte immer weiter. Es mussten doch endlich Hä kommen. Dort wollte sie dann um Obdach bitten, bis es Tag wurde. Vielleicht gab man ihr auch ende Kleidung! Und dann hörte sie das Geräusch. Für einen Moment blieb sie wie erstarrt stehen. Noch war nichts zu sehen, aber die Lichtkegel geisterten schon am unteren Ende der Straße. Kam Robert sie suchen? Für eine Sekunde stand sie wie erstarrt auf der einsamen Straße. Nein, niemals, sie wollte nicht mehr zurück in das düstere Haus. Aber wohin sollte sie? Der Motorenlärm wurde immer lauter, und immer schneller kam das Auto heran.

Wie gehetzt sah sie sich um. Und dann entdeckte sie den Graben. Er war nass und zugewachsen, aber sie musste sich verstecken, sonst war sie verloren. Rasch sprang sie hinein und duckte sich tief. Es war keine Sekunde zu früh gewesen. Das Auto war da und erhellte für einen Augenblick die ganze Landschaft. Ihr Herz pochte zum Zerspringen, und sie wagte nicht zu atmen. Tief steckte sie den Kopf in den Graben. Dann war der Spuk auch schon wieder verschwunden. Nun fühlte sie erst, wie nass und schmutzig sie war. Alles an ihr klebte. Und sie fror erbärmlich. Einen Pantoffel hatte sie verloren. Aber sie war frei und würde es jetzt bleiben „Na, wen haben wir denn da?“ Eine Stimme ertönte neben ihr aus dem Graben. Maja ächzte wild auf und fiel hintenüber. „Aber, aber!“ Eine Gestalt kroch näher, betrachtete das Mädchen und schüttelte missbilligend den Kopf. „Wie man nur so leicht erschrecken kann“, murmelte er vor sich hin. „He, Sie, wachen Sie doch auf, das ist nicht gut, hier im Graben zu liegen!“ Ganz langsam öffnete Maja die Augen. Wolkenfetzen huschten vorbei, und für einen Moment erhellte der Mond die Welt. Sie sah ein altes, runzliges Gesicht über sich. Ein schiefer Hut. Aber die Augen, sie sahen so gütig aus! „Wer sind Sie?“, stammelte sie. „Wer ich bin? Nun das gleiche könnte ich Sie fragen. Haben Sie mich erschreckt, als sie in den Graben sprangen. Himmel, bald wären Sie auf meinem Kopf gelandet. Auf der Flucht?“ Maja richtete sich halb auf und blickte auf die Straße. „Wer sind Sie?“ Der Alte kratzte sich am Kopf. „Ich bin Willy“, sagte er munter. „Willy? Einfach Willy?“ „Landstreicher Willy, mit der Zeit vergisst man seinen bürgerlichen Namen.“

„Was machen Sie denn hier im Graben?“ „Sie sind ja ziemlich neugierig, kleines Fräulein!“ Maja schluckte. „Nicht böse sein, aber ich habe meine Gründe dazu, wissen Sie!“ „Gehen Sie auch auf die Walze?“ „Was ist denn das?“ „Na, herumvagabundieren!“ „Nein, nein, ich will nach Hause!“ „So, Sie haben sich da aber einen sehr komischen Weg ausgesucht! Wer war denn das im Auto?“ „Sie haben es bemerkt?“ „Klar, ich sah doch, wie Sie erschrocken waren. Nun ich habe alles gesagt!“ „Willy“, es kam zögernd über ihre Lippen. „Werden Sie mir helfen?“ Der alte Mann wackelte mit dem Kopf. „Sie sind mir eine, erst springen Sie mir fast auf den Bauch und dann wollen Sie noch Hilfe von mir haben. Haben Sie wenigstens Tabak bei sich?“ Sie schämte sich. „Nein, aber wenn ich wieder zu Hause bin, sollen Sie so viel haben, wie Sie wollen!“ „Das ist ein Angebot, erzählen Sie!“ „Ja!“ „Übrigens, der da im Auto, war das Ihr Mann?“ „Nein, das war bestimmt Doktor Schneider, wenn Sie ihn kennen!“ „Und ob ich ihn kenne“, rief der Alte.

„Ja, ich bin vor ihm geflüchtet!“ „Sie hatten also auch Angst vor seinen Augen?“ „Ja, ja, aber da war noch etwas anderes. Helfen Sie mir wirklich?“ „Wenn Sie vor dem flüchten, bestimmt. Der Kerl kommt mir sowieso unheimlich vor. Prima Arzt, hat mir mal einen Dorn aus dem Fuß gezogen und nichts dafür genommen. Aber er sprach von seinen Experimenten, und ich bekäme Geld, wenn ich mich zur Verfügung stellte und so. Aber die Augen, ich hatte richtige Angst vor ihm und habe gemacht, dass ich wieder fort kam. Und dann das Haus, da sollte ich drin wohnen. Nee, richtig gruselig. Und davor sind Sie geflüchtet?“ „Ja!“ Der Alte musterte Maja wieder eingehend. „Weiß nicht, aber mir kommt es so vor, als kenne ich Sie, ja wirklich, aber ich kann mich nicht besinnen. Aber nun erzählen Sie, ich unterbreche Sie auch nicht mehr!“ „Der Arzt hielt mich gefangen, ich glaube, seine Frau ist ihm fortgelaufen, und nun sollte ich seine Frau sein. Aber ich bin es doch nicht, ich habe einen Mann und ein Kind. Lange habe ich es nicht gewusst, er gab mir immer etwas zu trinken, und dann vergaß ich immer alles. Aber eines Tages spürte ich, dass da etwas nicht stimmte, und dann wurde mir alles wieder klar. Und ich sann jeden Tag darüber nach, wie ich fortlaufen konnte, und heute endlich ist es mir geglückt, und jetzt möchte ich heim, nach Hause, bitte, helfen Sie mir!“ „Wie sind Sie denn in das Haus gekommen? Waren Sie seine Patientin?“ „Nein, nein, ich kann mich nur an einen Zug erinnern, mehr nicht. Ich war im Zug, und dann seine Augen, mehr weiß ich nicht!“ „Halt“, schrie Willy. Maja zuckte zusammen. „Ich hab‘s, ich hab‘s! Himmel, jetzt fällt es mir wieder ein. Das Plakat. Ja, richtig. Mein Gott, und der Kerl war es!“

„Was meinen Sie?“, fragte Maja leise. Im Innern glaubte sie schon, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. „Ich habe doch gar nichts von einem Plakat gesagt.“ „Nein, aber ich. Sie sind Maja Richards, stimmt‘s?“ Maja starrte ihn an wie einen Geist. „Ja!“, sagte sie leise. „Aber woher wissen Sie?“ „In der Stadt und an jeder Plakatsäule hängt doch Ihr Bild, schon seit Monaten. Man sucht Sie überall.“ Tränen stürzten in ihre Augen. „Man hat mich also nicht vergessen?“ „Nein, nein, die Polizei steht einfach vor einem Rätsel. Immer wieder rief sie dazu auf, Sie zu suchen, sich zu melden, wenn man Sie gesehen hat. Aus einem Zug nach Hamburg sind Sie spurlos verschwunden.“ „Ja, jetzt weiß ich es wieder, ich wollte zu meiner Mutter! Oh, mein Gott!“ Sie schluchzte leise vor sich hin. Der alte Landstreicher war gerührt. Vorsichtig legte er einen Arm um die bebenden Schultern. „Kommen Sie, wir werden das Kind schon schaukeln. Wir gehen zur nächsten Polizeistation im Dorf. Sie müssen Ihnen weiterhelfen.“ „Aber wenn er uns unterwegs findet, was dann? Ich habe doch solche Angst!“ „Willy schafft das schon. Kenne hier eine Menge Schleichwege. Wir gehen nicht die Straße, sondern durch den Wald. Komm, mein Täubchen, ich werde dir helfen!“ „Ja“, sagte Maja dankbar. „Das werde ich Ihnen nie vergessen.“ „Ach, Quatsch, jetzt keine großen Sprüche. Ich sehe, Sie sind in Not, und dieser Schuft, dieser ausgekochte Schuft.“ Drohend streckte er die Hand in Richtung des düsteren Hauses. Maja ließ sich von ihm hochziehen. Sie sah erbärmlich aus. Aber der Regen hatte endlich aufgehört. Sie sehnte sich nach einem heißen Bad und nach

frischen Kleidern. Querfeldein ging ihr Weg. Sie gingen im Schatten von Hecken und Büschen. Willy war sehr geschickt darin. Sie verschmolzen förmlich mit der Landschaft. Unterwegs machten sie keinen Lärm und sprachen auch nicht miteinander. Wussten Sie denn, ob ihr Feind nicht vielleicht in der Nähe war? Der Wald nahm sie auf, und sie wanderten unter den Bäumen weiter dem Dorf zu. Maja raffte ihren weiten Mantel zusammen. Oft blieb er am Rankengestrüpp hängen, und sie riss ihn einfach los. Sie konnte sich damit nicht aufhalten. Sie war dem Landstreicher unendlich dankbar. Ohne ihn wäre sie dem Arzt vielleicht direkt in die Arme gelaufen. „Gleich sind wir da!“, raunte Willy an ihr Ohr. „Ja, ich sehe schon die Lichter zwischen den Bäumen schimmern!“

18

Doktor Schneider kam aus dem Behandlungszimmer heraus. Endlich flammte das Licht im Haus wieder auf. Der Handwerker und Bette kamen aus dem Keller zurück. Er bezahlte die Rechnung, brachte den Mann nach draußen und verschloss dann wieder sorgfältig das große eiserne Tor. Dann erst ging er Maja suchen. „Maja, wo bist du?“ Aber keine Frauenstimme meldete sich. Das war ihm neu. Sonst war sie immer gleich gelaufen gekommen, wenn er gerufen hatte. Er betrat das Wohnzimmer. „Maja!“ Aber auch hier war sie nicht. Was war los? Plötzlich griff es ihm so kalt ans Herz. Und von einer Panik erfasst, stürzte er in alle Zimmer und rief nach Maja. „Maja, Maja, so antworte mir doch endlich! Wo bist du?“ Ratlos stand er für einen Augenblick in der Halle. Dann lief er in die Küche. „Ist Maja nicht hier?“ Bette sah auf. „Aber ist sie denn nicht im Wohnzimmer? Sie haben Sie doch dorthin geschickt.“ „Nein, sie ist nicht im Wohnzimmer und auch nicht im Schlafzimmer. Sie ist nirgends, Bette, wo ist Maja?“ Die alte Frau wich zurück. „Aber Sie haben mir doch befohlen, im Keller zu bleiben, und das habe ich auch getan!“ Der Arzt ließ sich erschlagen auf einen Stuhl fallen und grub sein Gesicht in die

Hände. „Maja“, murmelte er aus verwundetem Herzen. „Maja, Liebe!“ „Die Tür“, sagte Bette leise. „Was meinst du damit?“ „Sie haben wahrscheinlich vergessen, die Tür hinter dem Handwerker abzuschließen.“ „Ja“, sagte er langsam. „So wird es wohl gewesen sein.“ Dann sprang er auf. „Ich werde sie finden. Weit wird sie bestimmt noch nicht sein. Sie muss ja die Straße nehmen, da sie hier fremd ist. Ich bin gleich wieder mit ihr zurück. Ich nehme den Wagen und hole sie zurück. Ja, ich hole sie zurück.“ Schnell verließ er das Haus und holte den Wagen aus der Garage. Die ganze Strecke fuhr er ab, aber er sah nirgends eine irrende Gestalt. Er sah überhaupt keinen Menschen auf der Straße. Robert knirschte mit den Zähnen. Das konnte doch nicht möglich sein! Sie musste doch irgendwo sein. Irgendwo, aber wo? Er hielt den Wagen an und dachte lange nach. Wohin würde sie sich wenden? Bestimmt zur Polizei, er musste ihr also nur zuvorkommen, das war alles. Robert lächelte grausam und schaltete den Motor wieder an. Ein leises Surren ertönte nur und er fuhr die stille Dorfstraße entlang bis zur kleinen Polizeistation. Er schloss den Wagen ab und betrat den hellerleuchteten Wachraum. Nur ein Beamter tat Dienst. „Ah, Herr Doktor“, sprang dieser gleich diensteifrig auf. Der Arzt sah sich um. Aber nichts schien auf Maja hinzudeuten. „Ich komme mit einer großen Bitte zu Ihnen“, sagte er langsam. „Ich werde Ihnen behilflich sein, wenn ich es kann“, versicherte der Beamte ihm.

Ein Fensterflügel stand ein wenig offen, damit die stickige Luft aus dem Ofen abziehen konnte. „Mir ist eine Patientin entlaufen“, sagte er leise. „Eine was?“ Der Beamte glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Robert strich sich langsam über das Haar. Was sollte er sagen? „Ja“, begann er langsam. „Das ist so. Bekannte von mir haben in ihrer Familie ein Mädchen, es ist geistesgestört. Sie mussten jetzt für eine Weile verreisen. Und da ich Arzt bin, habe ich mich selbstverständlich bereit erklärt, sie solange zu betreuen.“ „Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Doktor.“ „Ja, aber nun ist sie mir vor einer halben Stunde fortgelaufen. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen klarmachen soll. Eigentlich gefährlich ist sie ja nicht. Es ist nur so, Sie wissen doch, wie diese Menschen sind. Wenn sie sich angeblich bedroht fühlen, könnten sie zu Handlungen gereizt werden, die unübersehbar sind!“ Der Beamte verstand zwar nicht sehr viel. Und das wollte der Arzt auch. Aber sehen konnte er gleich, dass er Angst ausgestreut hatte. Vor geisteskranken Menschen hatte jeder normale Mensch Angst. Und das hatte er bezweckt. „Und Sie sagen, sie läuft hier herum? Hier in der Nähe des Dorfes?“ „Natürlich, denn mein Haus liegt ja nicht weit von der Straße.“ „Natürlich, natürlich!“ Robert lächelte satanisch. „Was sollen wir machen? Sie mit Hunden suchen. Sie sagen, sie ist gefährlich?“ „Nun, so schlimm ist sie auch wieder nicht. Ich wollte nur sagen, wenn man sie aufgreift, will ich nicht, dass etwas davon an die Öffentlichkeit dringt. Sie rufen mich gleich an, und ich hole sie ab!“ „Wie sieht sie denn aus?“ „Sie hat schwarzes Haar und trägt einen weinroten Hausmantel. Und darunter

ein Nachthemd. Daran werden Sie sie gleich erkennen. So läuft ja kein normaler Mensch herum.“ „Nein.“ „Ich kann mich auf Sie verlassen?“ „Bestimmt, Herr Doktor, zumal Sie immer so lieb und freundlich zu meiner Frau und den Kindern sind. Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Natürlich werde ich dafür sorgen, dass niemand etwas davon erfährt.“ „Ich bitte auch nur meiner Freunde wegen. Ich wüsste sonst nicht, wie ich ihnen wieder vor die Augen treten soll.“ „Ich werde Sie gleich anrufen, wenn das Mädchen auftaucht. Ich muss nachher meine Runde machen und werde die Augen offenhalten.“ „Vielen Dank, Sie sind sehr liebenswürdig.“ Robert verbeugte sich leicht, und so übersah der treue Beamte das grausame Lächeln in seinen Augen und um den harten Mund. Er führte den Besucher bis zur Tür. Für einen Augenblick standen sie in dem hellerleuchteten Viereck und gaben sich noch einmal die Hand. Dann schritt Robert schnell die wenigen Stufen hinunter und stieg in seinen Wagen. Mit keinem Blick streifte er die Mülltonnen unter dem offenen Fenster. Der Wagen wurde gewendet und raste die Straße entlang und verschwand in der Dunkelheit. „Nein“, keuchte Maja. Willy legte schnell die Hand auf ihren Mund. „Nein!“

19

Nachdem sie den Wald durchstreift hatten, waren sie ins Dorf gelangt. Willy kannte sich hier gut aus. Sie gingen an einsamen Gehöften vorbei und kamen so bis zur Dorfmitte. In der Dunkelheit sahen sie die hellerleuchteten Fenster der Polizeiwache. Maja war überglücklich, endlich würde sie auf Menschen stoßen, die ihr weiterhelfen konnten. Langsam waren sie weitergegangen. Sie mussten an dem offenen Fenster vorbei. Und dann hörte Maja die Stimme und blieb wie angewurzelt stehen. Ihre Finger verkrampften sich in den Ärmel des Landstreichers. Dieser wollte sich unwillig umdrehen. „Er ist dort drin“, flüsterte sie fast lautlos. Willy pfiff leise vor sich hin und duckte sich unter das Fenster. Nun konnten die beiden das Gespräch verfolgen. Maja war einer Ohnmacht nahe. Konnte ein Mensch wirklich so grausam sein? Sie hätte aufschreien mögen vor Verzweiflung. Aber Willy sah sie beschwörend an. Jetzt hörten sie Schritte. Er ging wieder fort. Rasch huschten sie hinter die Mülleimer. Der Lichtkegel der Autolampen streifte sie ganz deutlich. Das war zu viel für Maja. „Nein“, stammelte sie „nein, das darf doch nicht sein.“ Willy hielt ihr den Mund zu und zerrte sie mit sich fort. Sie mussten erst mal von der Polizeiwache weg. Er war überhaupt kein Freund davon. Hinter einer Scheune machte er endlich halt und lehnte die junge Frau an die Wand. „Ich kann nicht mehr“, murmelte sie. „Ich kann doch nicht mehr. Er wird mich bekommen, ganz bestimmt. Der Beamte wird ihm mehr glauben als mir!“ Dass es so sein würde, das konnte sich der Landstreicher an zwei Fingern abzählen.

„Was soll ich denn machen? Bald wird es Tag sein, und man wird mich hier finden und wieder zurückbringen.“ „Lass mich mal überlegen. Wir müssen doch eine Lösung finden, Herrgott noch mal!“ Maja sah den Landstreicher an. Dieser kaute an einem nassen Grashalm und hatte ein zerfurchtes Gesicht. Das Dunkel der Nacht ging langsam in ein Grau über. Die junge Frau hatte recht, sie mussten von hier fort, das war klar. „Wir müssen in die Kreisstadt“, sagte er leise. „Und wie weit ist das?“ „Zwanzig Kilometer!“ „Das schaffen wir nie, und außerdem laufe ich schon die ganze Zeit barfuß. Mir ist erbärmlich kalt.“ „Man müsste fahren können!“ „Womit denn?“, fragte Maja bitter. „Mit einem Auto natürlich.“ „Ich würde ja eins schnorren, wissen Sie, aufknacken, das kann ich gut. Aber leider kann ich nicht fahren, also hilft uns das auch nicht weiter.“ Maja wurde ganz aufgeregt. „Das könnten Sie machen?“ „Na, klar, Willy weiß sich immer zu helfen.“ „Fein, dann machen wir es so, ich kann fahren!“ Die beiden sahen sich an und lachten. „Ist das nicht strafbar?“, fragte sie leise. „Schon, aber danach dürfen wir jetzt nicht fragen. Wir brauchen es unbedingt. Wir wollen es ja nicht verkaufen, sondern wir leihen es uns doch nur einfach aus!“

„Gut, und wo ist eins?“ „Hier, der Bauer, an dessen Scheune wir stehen, hat seinen Wagen immer dort drinnen abgestellt!“ „Wird er es nicht hören, wenn wir den Motor anlassen?“ „Wir werden es bis zur Straße rollen, und außerdem liegt die Scheune ziemlich weit ab vom Wohnhaus. Kommen Sie!“ Sie schlichen sich davon. Schnell war das große Holztor aufgemacht. Dunkel stand der Opel dort. Maja legte den ersten Gang ein, löste die Bremse, und dann schoben sie das Ding mit vereinten Kräften hinaus. Es klappte alles wunderbar. An der Straße angekommen, stiegen sie ein. So ein Glück, der Besitzer hatte noch nicht mal den Schlüssel abgezogen. Wirklich leichtsinnig. Aber den beiden sollte es nur recht sein. Majas Hände zitterten, als sie den Wagen in Gang setzte. „Können Sie auch wirklich fahren?“ Sie lachte. „Ich meine, ich helfe Ihnen ja gern, aber ich möchte nicht gern mein Leben an einem dieser Bäume hier beenden!“ „Keine Bange, Willy. Ich kann fahren, und wenn ich erst mal wieder zu Hause bin, dann bekommen Sie auch Ihren Tabak, ja.“ Er grinste von einem Ohr zum anderen. „Dann man los!“ Und der Wagen verschwand in der fahlen Dämmerung.

20

Lisa Schneider stand da und starrte die beiden Gestalten an. Auch der Kommissar war aufgesprungen und wusste im ersten Augenblick nicht, was er dazu sagen sollte. Maja und Willy hatten den Wagen vor dem großen Polizeigebäude abgestellt und waren dann beide erschöpft ins Haus getaumelt. Jetzt ließen die Kräfte merklich nach. Übernächtigt, zerrissen und dreckig, die Haare wirr und verschlammt, so taumelten sie in das Zimmer. Wärme schlug ihnen entgegen, und sie atmeten erleichtert auf. Willy blieb fürs Erste im Hintergrund. Man konnte nie wissen, was ierte. Auf ihn waren die Bullen nicht immer gut zu sprechen. Aber Maja sah den Mann und taumelte weiter. Mit letzter Kraft hielt sie sich am Schreibtisch fest. „Bin ich hier bei der Polizei?“ „Ja“, sagte Grömer. „Was wollen Sie?“ Maja holte tief Luft. Sie hob den Kopf. Und dann sah sie das Bild Ihr eigenes Bild und den Aufruf. „Maja, wo bist du?“ Sie schluckte Tränen rannen aus ihren Augen. „Was wollen Sie?“, fragte Grömer noch einmal. Maja hob die Hand und zeigte auf das Bild. „Ich bin Maja Richards!“, sagte sie leise. Grömer starrte sie an. „Wie?“, fragte er verblüfft „Sie wollen …“ Dann lachte er auf.

Diese abgerissene Vogelscheuche bekannte sich zu diesem wundervollen Mädchen. Maja schluchzte, „Ich bin es wirklich!“ „Sie haben zu viel getrunken“, sagte Grömer. Erst die Frau mit der Anschuldigung, ihr Mann hielte Maja fest. Und jetzt sollte die heiß Gesuchte wirklich vor ihm stehen. Es war zum Lachen. Wirklich. Man wollte ihn wohl narren. Alle wollten ihn narren, da er immer noch nicht den Fall gelöst hatte „Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie erst einmal Ihren Rausch aus. Und waschen könnten Sie sich auch.“ Lisa stand immer noch da und sah die Fremde an. Das sollte Maja sein? Sie konnte es auch noch nicht so recht glauben. „Na, sieh mal an, Willy ist ja auch da“, merkte jetzt erst der Kommissar. „Wie kommst du denn hierhin und warum?“ Willy stotterte. „Ich habe die junge Frau gefunden. Auf der Landstraße. Und sie sagte, sie wäre die Gesuchte. Sie ist es, Herr Kommissar, bestimmt Und da habe ich ihr geholfen. Sie tat mir leid, wirklich!“ Maja war zusammengesackt und lag auf dem Fußboden. Kommissar Grömer schellte. Ein Beamter betrat den Raum. „Bringen Sie mal die junge Frau in die Ausnüchterungszelle, Morgen wird sie wohl wieder wissen, wer sie ist.“ „Aber ich bin doch Maja, Maja Richards, so glauben Sie mir doch endlich! Ich will nicht mehr zurück, nein, ich habe Angst, ich will nach Hause. So rufen Sie doch meinen Mann, er muss mich doch kennen, bitte!“ Grömer zögerte einen Augenblick. Er sah die flehenden Augen. Aber dann war Maja fort. „Der Mantel“, rief plötzlich Lisa.

„Ach, Sie sind ja auch noch da. Was ist denn jetzt schon wieder los? Hier geht es ja zu wie in einem Tollhaus.“ „Der Mantel. Ich wusste es nicht sofort. Aber irgend etwas kam mir so bekannt vor.“ „Sie hatte doch gar keinen Mantel an, junge Frau.“ „Einen Morgenmantel.“ „Das habe ich gesehen. Und?“ „Er gehörte einmal mir. Ich kann es beschwören, wirklich. Ich habe ihn früher getragen.“ „Sie meinen, als Sie noch bei Ihrem Mann gelebt hatten?“ „Ja, doch, ja, wie kommt diese Frau an meinen Mantel?“ „Vielleicht hat sie ihn gestohlen. Glauben Sie denn, dass diese Frau Maja Richards ist?“ „Ja“, sagte Lisa plötzlich. „Ich glaube es fest. Sie muss es sein. Das Haar, es war dunkel, und auch die Größe stimmt. Ich glaube bestimmt, dass es die Gesuchte ist.“ Der Kommissar fasste sich an den Kopf. Er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Alles kam ihm so wirr vor, aber er spürte, er war einer heißen Spur begegnet. „Warum rufen Sie nicht ihren Mann an, er muss sie doch wirklich erkennen!“ Grömer sah auf. „Jetzt? Wissen Sie auch, wie spät es ist?“ „Aber das tut doch nichts zur Sache.“ „Schön, wie Sie wollen, ich werde es tun.“

21

Zwei Monate waren seit Majas Verschwinden vergangen. Eine Ewigkeit, und Maja war nicht gefunden worden. Jürgen hatte aufgehört, darauf zu hoffen. Aber sein Herz war gestorben. Er konnte einfach nicht mehr fröhlich werden. Er konnte überhaupt nichts mehr. Morgen war die Frist um, und dann musste er wieder seine Arbeit aufnehmen. Er hatte es Peter versprochen. Aber er mochte nicht daran denken. Nein, die mitleidigen Blicke der Mitmenschen wollte er nicht sehen. Konnte sie einfach nicht ertragen. Am liebsten hätte er sich in eine dunkle Ecke verkrochen und wäre dort geblieben. Aber dann dachte er an seine kleine Tochter. Sie war das einzige, was ihm geblieben war. Manchmal fragte sie noch nach der Mutter. Aber sie war noch zu klein, um ihren wirklichen Verlust zu erfassen. Die Großmutter versuchte auch, keinen Schatten auf des Kindes Glück fallen zu lassen. Sie wurde immer blasser und älter. Niemand im Hause sprach mehr über Maja. Jürgen konnte es nicht mehr ertragen. Immer und überall sah er ihr Bild vor sich. Es war so schrecklich, so qualvoll. Und besonders nachts. Er fand keine Ruhe mehr. Hin und her warf er sich und stöhnte wild und heiß auf. Maja, wo bist du? Er war in einen bleiernen Schlaf gefallen, als er plötzlich wach wurde. Irgend etwas hatte ihn geweckt, aber er wusste noch nicht, was es war. Jürgen blieb liegen und lauschte. Das Haus lag wie ausgestorben da. Und dann hörte er es wieder. Das Telefon schrillte in seinem Arbeitszimmer. Laut und vernehmlich. Wer mochte anrufen? Ein Freund, Peter? Er wollte nichts mehr hören, man sollte ihn allein lassen. Sein Blick fiel auf die Uhr. Vier Uhr in der Früh. Das Telefon schrillte weiter. Mutter wird es hören, dachte er bei sich und stand langsam auf. Wahrscheinlich

hatte einer eine falsche Nummer gewählt. Als er sich erhob, fiel ein Gegenstand auf die Erde. Er bückte sich danach. Majas neues Buch. Gestern hatte ihr Verleger es geschickt. Er schluckte. Rasch durchquerte er die Halle. „Ja, bitte, hier bei Richards!“ „Entschuldigen Sie die Störung, Herr Richards, hier spricht Kommissar Grömer!“ Jürgens Rücken versteifte sich. Wie lange hatte er nicht mehr angerufen? „Ja?“, fragte er rau. „Was gibt es, Herr Kommissar? Warum rufen Sie mich so früh an?“ „Ja, Herr Richards, es ist so, also ich will Ihnen um Gottes willen keine Hoffnungen machen. Aber vor einer Stunde ist hier eine Frau angekommen, sie sagt, sie wäre Maja Richards, die Verschwundene.“ Jürgen starrte in den nachtschlafenden Garten. „Was sagen Sie, Maja ist da?“ „Ich weiß nicht, ob sie es ist, Herr Richards. Ich müsste Sie schon bitten, zu kommen, um sie zu identifizieren!“ „Ja“, sagte Jürgen gepresst. „Also ist sie es doch nicht!“ „Bitte, Herr Richards, sie kann es sein, und sie kann es auch nicht sein!“ „Ich verstehe!“ „Hat sie wenigstens eine entfernte Ähnlichkeit mit meiner Frau?“ „Ja, das schon.“ „Wo soll sie denn bis jetzt gewesen sein?“ „Ich habe sie noch nicht vernommen. Sie ist mit einem Landstreicher gekommen, und er sagt, er habe sie auf der Landstraße gefunden. Er glaubt auch, es sei Maja Richards!“

„Gut, ich komme so schnell wie möglich!“ „Danke, Herr Richards, Sie würden uns in dieser Sache sehr viel weiterhelfen. Sie ist nämlich ziemlich verworren.“ Langsam legte Jürgen den Hörer wieder auf die Gabel. Ein Geräusch an der Tür ließ ihn herumfahren. Majas Mutter stand dort im Morgenmantel. „Wer hat angerufen, Jürgen?“ „Der Kommissar!“ „Und?“ Wie viel Hoffnung lag in diesem kleinen Wörtchen. „Es hat sich eine Frau bei ihm gemeldet, die sagt, sie wäre Maja!“ „Du glaubst ihm nicht?“ „Der Kommissar glaubt es selbst nicht so recht. Und, Mutter, ich kann nicht mehr hoffen, ich kann es nicht. Langsam habe ich versucht, meine Ruhe wiederzugewinnen. Und jetzt dies!“ „Du sollst zu ihm kommen?“ „Ja.“ „Gehst du?“ „Ich habe es versprochen.“ „Dann will ich dich nicht länger aufhalten, Jürgen.“ Und sie ging mit gebeugten Schultern fort. Rasch wählte er eine Nummer. Es dauerte lange, bis sich jemand verschlafen meldete. „Peter, ich bin‘s, Jürgen!“ Peter fiel bald aus dem Bett, als er die Stimme erkannte. „Du, weißt du auch, wie spät es erst ist?“

„Ja, ja, aber Peter, du musst mir helfen. Ich brauche dich!“ „Schieß los!“ „Ich soll zur Polizei kommen. Maja soll sich angeblich gemeldet haben. Bitte, komme mit! Ich kann allein die Enttäuschung nicht tragen.“ „Gut“, sagte Peter ruhig. „Ich hole dich sofort ab.“ „Danke, Peter!“ „Aber, Jürgen, das ist doch selbstverständlich. Und hoffen wir, dass sie es wirklich ist, ja?“ „Nein, nein, ich mache mir keine Hoffnung mehr. Ich kann eine erneute Enttäuschung nicht ertragen. Bitte!“ „Also, schön. In einer Viertelstunde bin ich bei dir!“ Jürgen stand schon unten in der Auffahrt, als er den Wagen seines Freundes hörte. Gleich stieg er ein. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt. „Was sagt der Kommissar, Jürgen?“ „Er zweifelt selbst daran!“ Peter umkrampfte das Steuer. Er fühlte sich einsam und leer. Wenn es nicht Maja war, wie würde sich Jürgen verhalten? Maja, Maja, er konnte sie nicht vergessen.

22

Der junge Beamte hielt Maja am Arm fest. „Kommen Sie und machen Sie mir keine Scherereien. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Schlafen Sie sich erst mal aus!“ „Nein“, flüsterte Maja erstickt. „Aber so glauben Sie mir doch endlich, ich bin Maja Richards! Warum wollen Sie mir das nicht glauben? Ich möchte nach Hause, endlich nach Hause, haben Sie denn kein Herz?“ Der Beamte räusperte sich. Die Stimme klang so flehend, so zu Herzen gehend. Vielleicht war sie es doch? Er schielte sie von der Seite her an. Ähnlichkeit hatte sie ja, das stimmte. Aber das hatte auch die andere Frau, die noch beim Chef drin war. Wer war denn nun wer? Nun, sein Auftrag lautete, die Frau in die Zelle zu bringen. Und das tat er jetzt auf alle Fälle. Er wollte keinen Ärger haben. Gleich lief sein Dienst ab, und dann ging er nach Hause. Maja blieb stehen und wollte sich losreißen. „Lassen Sie mich gehen. Ich will selbst mein Glück versuchen!“ „Nein und nochmals nein!“ Sie schluchzte. Alle Welt schien sie verlassen zu haben. Vorsichtig stieg sie die dunklen Treppen zum Keller hinunter. „Hier, um die Ecke, stoßen Sie sich nicht den Kopf ein. So, jetzt sind wir da, und Sie können schlafen!“ Eine Tür wurde geöffnet. Ein kleiner Raum, eine Zelle mit einem primitiven Bett und einem Stuhl! Ehe Maja sich versah, war die Tür hinter ihr zu, und sie war allein. Sie konnte geschlossene Tür mehr ertragen.

Sie warf sich dagegen. „Lasst mich hinaus, so lasst mich doch bitte wieder hinaus.“ Mit den Händen schlug sie dagegen. Ihr ganzer Körper bäumte sich auf. Aber niemand hörte sie. Unaufhaltsam rannen die Tränen aus ihren schönen Augen. Das Haar hatte sich jetzt endgültig gelöst und hing ihr wirr ins Gesicht. Müde streifte sie es zurück. Müde, ja das war sie, aber sie war auch schmutzig und fröstelte. Wie ein verwundetes Tier kroch sie auf die Pritsche, rollte sich zusammen und schluchzte leise vor sich hin. Die dünne Decke konnte kaum wärmen. So erbärmlich und klein kam sie sich vor. Und wenn sie an ihre kleine Tochter und an ihren Mann dachte, dann liefen wieder die Tränen unaufhaltsam. Aber was würde jetzt mit Willy geschehen? Sie hatten doch das Auto genommen. Ob er ihretwegen nun auch eingesperrt wurde? Und er hatte ihr gleich geglaubt und ihr geholfen. Alles war so sinnlos. Mann wollte ihr einfach nicht glauben. Werde ich denn langsam verrückt oder bin ich es gar nicht, dachte sie bei sich. Vielleicht bin ich gar nicht Maja? Nein, nein, sie ballte die Hände zusammen und presste sie gegen die heiße Stirn. Ich bin es, ich bin es doch wirklich!

23

Peter und Jürgen hatten schweigend den Weg im Wagen zurückgelegt. Nun standen sie vor dem großen Gebäude. Es war noch sehr früh am Morgen, und die Sterne begannen erst langsam zu verblassen. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Alles lag noch in tiefem Schlaf. Auch bei der Polizei brannten nur wenig Lichter. In ein paar Stunden würde der hektische Betrieb erst beginnen. Jürgen stand stumm neben dem Wagen und wartete, bis Peter ihn abgeschlossen hatte. Er sah die lange Front hinauf und grübelte immer wieder. War Maja dort drinnen? Sein Herz presste sich zusammen. Nein, er hatte Sich doch fest vorgenommen, nicht zu hoffen. Er wollte nicht noch mehr verwundet werden. Peter trat zu ihm. ,,Na, wollen wir jetzt?“ „Wir müssen wohl!“ Es klang heiser. „Du, hör mal“, fing Peter an. „Ich weiß, was du sagen willst. Aber mach dir keine Sorgen. Ich glaube einfach nicht, dass sie es ist!“ Peter sah ihm lange ins Gesicht. „Du hast also die Hoffnung schon aufgegeben?“ „Ja! Was soll ich denn sonst machen?“ Er fasste ihn bei den Schultern und schob ihn langsam vorwärts. „Komm, wir wollen erst mal sehen!“ Ihre Sohlen quietschten auf dem leeren Flur. Kein Laut drang zu ihnen. „Ja, der Kommissar wartet schon auf Sie“, wurde ihnen gesagt. Jetzt standen sie vor seiner Tür.

Wieder war ein Zögern bei Jürgen. Peter klopfte energisch an. Dann öffnete er die Tür. „Ah, Herr Richards, es freut mich, dass Sie gleich gekommen sind. Ich weiß nämlich nicht mehr, was ich von der ganzen Sache halten soll!“ „Ist es nicht meine Pflicht?“, sagte Jürgen müde. Seine Augen hingen an dem Bild seiner Frau. Heiß stieg es in ihm hoch. Lisa saß hinter der Tür und konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. War Maja, die Frau, die man fortgeführt hatte, wirklich seine Frau? „Wo ist die Frau?“, fragte Peter. „Wir wollen es schnell machen. Sie verstehen?“ „Natürlich verstehe ich Sie!“ In diesem Augenblick wandte sich Jürgen um und entdeckte Lisa. Seine Augen wurden für einen Moment ganz groß. Sein Herz stockte. Auch Peter sah nun die Frau und blieb wie angewurzelt stehen. Das Blut kam und ging bei Jürgen. Lisa senkte den Blick. Sie fühlte sich so entsetzlich hilflos. Jürgen ging ein paar Schritte auf sie zu, dann blieb er stehen. Langsam wandte er sich um und sah den Kommissar an. „Sie ist es nicht!“, murmelte er leise. Peter starrte sie noch immer an. Beim Himmel, welche Ähnlichkeit! Lisa zuckte zusammen unter den Blicken von Peter. Sie hatte Angst vor Männern. Er sollte gehen, sie nicht so anstarren. „Nein“, sagte auch Peter. „Sie ist nicht Maja!“ Jetzt musste sich Jürgen doch hinsetzen. Sein ganzes Innerstes war in Aufruhr. Diese Ähnlichkeit, gab es das wirklich? Müde stützte er den Kopf in seine Hände und stöhnte einmal tief auf. Der Kommissar hatte wirkliches Mitleid mit dem jungen Mann.

Peter konnte einfach nicht den Blick von Lisa abwenden. Sie hatte die Augen gesenkt und nestelte an ihrem Mantel. „Ich habe mich ja auch gar nicht als Ihre Frau ausgegeben“, sagte Lisa leise in die Stille hinein. „Das war eine andere Frau. Ich bin ja nur gekommen, weil ich zu wissen glaubte, wo man Ihre Frau gefangen hält.“ Jürgen schnellte herum. „Es gibt hier noch eine andere Frau? Gibt es die wirklich. Gibt es wirklich so viele Frauen, die meiner Frau ähnlich sehen?“ „Es scheint so“, sagte der Kommissar. „Wo ist sie?“, fragte nun Peter. „Wir haben sie in Gewahrsam gebracht. Sie ist kein schöner Anblick, wissen Sie! Wir glauben eher, dass sie eine Landstreicherin ist und sich jetzt wichtig machen will!“ „Eine Landstreicherin will meine Frau sein, Herr Kommissar? Deswegen haben Sie mich rufen lassen? Wissen Sie eigentlich, was das für mich bedeutet: immer wieder neue Hoffnungen, wo ich sie doch schon lange begraben habe?“ „Ich weiß, aber sie verlangte es so inständig!“ Jürgen lief zur Tür. „Komm, Peter!“ „Nein“, schrie Lisa, „nein, das dürfen Sie nicht tun. Nun sind Sie schon mal hier, und nun müssen Sie sich auch die Frau ansehen. Ich glaube nämlich, dass es Ihre Frau ist, wirklich!“ Jürgen lächelte bitter. „Vielen Dank!“ „Nein, nicht so, bitte!“ „Wenn wir schon hier sind, Jürgen, dann können wir ja auch einen Blick auf die Frau werfen“, sagte Peter langsam. „Na, schön, mir ist es egal. Also so machen Sie schnell, ich will wieder nach Hause!“

Der Kommissar ließ sich den Schlüssel bringen. „Wir gehen am besten nach unten!“, meinte er. „Darf ich mit?“, bat Lisa leise. „Mir tut die Frau so unendlich leid. Wenn sie es nämlich nicht ist, dann möchte ich mich ein wenig um sie kümmern.“ „Kommen Sie!“ Zu viert stiegen sie die Treppe hinunter. Maja hörte die vielen Schritte und wickelte sich noch mehr in die Decke. Sie wollte Ruhe haben, man glaubte ihr doch nicht mehr. Sie wollte nur noch eins, sterben! Die Tür ging weit auf. Jürgen betrat als erster den Raum. Er sah nur die erbärmliche Gestalt auf der Pritsche, einen schmutzigen, zerrissenen Mantel und einen Wust von schwarzen Haaren. „Würden Sie bitte einmal aufstehen?“, sagte der Kommissar. Maja regte sich nicht. „Kommen Sie, Sie wollten doch, dass man Ihren Mann benachrichtige. Hier ist er!“ Jürgen, dachte sie, und ihr Herz zuckte wild auf. „Jürgen!“ Langsam erhob sie sich und richtete sich auf. Mit der linken Hand strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Sie hob ihren Kopf und sah direkt in die Augen von Jürgen. Ein zittriges Lächeln lag um ihre Lippen. Die plötzliche Freude war für sie zu viel. Jürgen, Jürgen, dachte sie immer wieder. Sie wollte aufspringen und ihm in die Arme fallen, aber sie war zu schwach dazu. Alles hielt den Atem an. Peter musste sich an die Tür lehnen. Lisa hielt den Atem an, und ihr Herz klopfte so stürmisch.

Und dann der Schrei! Jürgen fiel auf die Knie und umfing seine Frau. „Maja“, stammelte er. „Maja, Maja, Maja!“ immer und immer wieder. Der Kommissar und Lisa wischten sich die Augen. Sie sahen sich an und lächelten. Peter fühlte eine unendliche Leichtigkeit in seinem Herzen aufsteigen. Es war Maja, Maja war wieder da! Maja lächelte verzückt, Tränen rannen über ihre Wangen. „Endlich“, flüsterte sie leise. „Maja, Maja!“ Jürgen weinte, er wollte es nicht, er wollte es wirklich nicht, aber das Glück und die Überraschung waren zu groß. Langsam stand er auf, und auch Maja erhob sich. Jetzt konnte sie es wieder. Seite an Seite standen sie uns sahen sich unverwandt an. „Es ist meine Frau“, sagte Jürgen. Es klang jubelnd. „Meine Glückwünsche, Herr Richards!“ „Danke!“ „Maja!“ Die junge Frau sah auf und lächelte. Sie löste sich für einen Augenblick von ihrem Mann. „Peter, lieber, lieber Peter!“ Peter nahm ihre schmutzigen Hände andächtig in die seinen und küsste sie zärtlich. Sie entzog sie ihm behutsam. „Ich sehe erbärmlich aus!“, sagte sie lächelnd.

„Was macht das schon. Du bist wundervoll!“ „Dürfte ich Sie vielleicht alle in mein Büro bitten?“ Hand in Hand stiegen sie die Treppe hinter den ändern hinauf. Der junge Beamte, der ihnen entgegenkam, starrte sie verblüfft an. Doch Maja sah nur ihren Mann. Ihre Hände ließen sich nicht mehr los. Glückseligkeit lag auf ihren Gesichtern. „Dass du wieder da bist, du, meine Königin!“ Sie lächelte ihn an. Und sein Herz wurde wieder ganz weit und licht. „Und ich hatte es nicht mehr geglaubt.“ „Mein Jürgen!“ Der Kommissar räusperte sich, als sie wieder alle in seinem Büro waren. „Vielleicht berichten Sie uns jetzt alles, gnädige Frau?“ Maja setzte sich, und dann erst sah sie Lisa, die schüchtern an der Tür stehengeblieben war. Aber noch machte sie sich keine Gedanken über diese fremde Frau. „Man hielt mich gefangen“, begann sie leise. „Ja, und ich musste flüchten, sonst würde ich jetzt noch immer dort sein. Es war so schrecklich!“ „Wo, wo?“, fragte Jürgen aufgeregt. „Wo warst du?“ „Ich war bei einem Doktor Schneider!“ Ein wildes Stöhnen kam von der Tür. Maja sah sich um. „Wer ist das?“ Grömer winkte Lisa näher. „Kommen Sie, Frau Schneider, Sie hatten also doch recht!“ „Ja, ja“, stammelte Lisa und war ganz blass geworden. „Ich sagte es doch!“ „Sind Sie …“, fragte Maja und stand langsam auf.

„Ja, ich bin Roberts Frau!“ Maja blieb stehen. „Ich bin geflüchtet wie Sie! Auch ich hatte Angst, schreckliche Angst vor seinen Augen, vor dem Haus!“ Maja nickte langsam. „Ach, Sie werden es mir nicht glauben, aber ich habe Robert mal geliebt. Er war so wundervoll, früher, meine ich. So ganz anders als jetzt. Aber dann begann er mit der Forschung!“ Sie erschauerte und brach ab. Maja legte den Arm schwesterlich um die zitternde Frau. „Ich weiß“, sagte sie ruhig. „Wie müssen Sie gelitten haben“, stammelte Lisa. „Oh, wie müssen Sie ihn hassen!“ „Hassen? Ich weiß es nicht, ich hatte nur Angst, Angst und so schreckliches Heimweh nach meinem Mann und meinem Kind!“ Lisa wischte sich die Tränen fort. „Jetzt sind Sie wieder bei ihm, und ich kann gehen. Ich will nicht, dass er mich je findet.“ „Wir brauchen Sie“, sagte Grömer langsam. „Wenn das alles stimmt, was Sie beide sagen, dann ist dieser Mann nicht mehr normal und gefährlich!“ Lisa erschauerte. „Er wird mich verfolgen, mich wieder zu sich holen. Ich will nicht, ich habe meine Pflicht getan!“ „Wir werden Sie schützen!“ Lisa sah aus traurigen Augen den Kommissar an. „Ich habe Angst!“ Jürgen schaltete sich ein. „Herr Kommissar, würden Sie uns denn wenigstens erlauben, dass sich meine Frau erst mal badet und sich umzieht?“ „Natürlich!“

„Komm, Maja, wir gehen heim!“ Ihre Augen strahlten. Lisa stand demütig daneben. Peter sah sie an. Lisa trat zurück in den Schatten. Maja sah es und drehte sich nach ihr um. Noch immer stand die Furcht in den Augen der jungen Frau. Maja reichte ihr beide Hände und zog sie näher. „Kommen Sie doch mit uns, ja?“ Lisa zögerte. „Aber ich bin Ihnen doch fremd, und Sie können es doch nicht ernstlich wollen?“ „Doch, doch, natürlich, Sie wollten mir ja auch helfen, nicht wahr?“ „Ja!“ „Sehen Sie, kommen Sie schon. Nachher kommen wir gemeinsam wieder.“ „Ja“, sagte Grömer. „Das wäre mir sehr lieb, denn dann kann ich endlich den Vorgang, der mir so viel Kopfzerbrechen bereitet hat, abschließen.“ Peters Haar leuchtete in der Sonne, als er neben seinem Wagen stand. Maja und Jürgen setzten sich nach hinten. Lisa neben Peter. Bis jetzt hatte dieser noch keine Silbe zu der Frau gesagt. Er mag mich nicht, dachte Lisa. Aber sie wusste von seinen Augen, dass er Maja liebte. Was geht es mich an, dachte sie weiter. Ich will nur meine Ruhe. Wenn mich bloß Robert nicht findet! Langsam belebte sich die Stadt, und der Verkehr setzte wieder ein. „Mama ist zu Hause“, sagte Jürgen zu seiner Frau. Maja hatte ihren Kopf an seine Schultern gelegt. „Wir müssen sehr behutsam sein, sonst erschrickt sie tödlich, Maja!“ „Ja. Ich bin ja so glücklich, Jürgen!“ Peters Hand zitterte leicht, als er in die Einfahrt einbog. Er half Lisa beim

Aussteigen. Sie stand neben ihm, klein und zerbrechlich. Er sah den weichen Flaum ihrer Nackenlöckchen. Sie hätte wirklich Majas Schwester sein können. Maja war überglücklich, endlich ihr Haus wiederzusehen. Wie oft hatte sie es schon in den Träumen gesehen. Ganz leise öffneten sie die Eingangstür. Im Esszimmer regte sich etwas. Die Mutter war schon auf und wartete auf Jürgen. Ihre Augen blickten müde und traurig. Jürgen ging zu ihr. Sie saß im Lehnstuhl und sah ihm still entgegen. „Wieder nichts?“ Jürgen nahm ganz behutsam ihre Hände in die seinen. „Mama, du darfst nicht erschrecken!“ Sie wurde totenblass. „Ist sie tot?“ Als Maja die Stimme hörte, konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie schlüpfte auch in das Zimmer. Schnell lief sie auf die alte Frau zu und umarmte sie zärtlich. „Mama, liebe, liebe Mama, ich bin wieder da!“ Die Hände zitterten. „Mein Kind, Maja, bist du es wirklich?“ „Ja, Mama, und ich habe euch so viel Kummer gemacht!“ „Nein, nein, aber du bist wieder da, du bist es wirklich, mein Kind!“ Noch konnte sie es nicht begreifen. Und dann lief sie ins Kinderzimmer, so, wie sie war! Lisa und Peter lächelten sich zum ersten Male verstehend zu.

24

Bette schielte mürrisch durch die Tür. Das war mal wieder ein Ärger. Und sie würde es wieder ausbaden müssen. Zum Glück war es aber nicht ihre Schuld, dass die Frau entwischt war. Der Doktor selbst hatte vergessen, die Tür wieder zu verschließen. Die ganze Nacht war er mit dem Wagen unterwegs gewesen und hatte die Gegend abgesucht. Aber nichts entdeckt. Jetzt saß er vor dem Kamin im Wohnzimmer und starrte in die Glut. Dumpf und wie ein Stück Blei, lag sein Herz in der Brust. Nur langsam bahnte sich sein Blut den Weg. Er fühlte sich eiskalt und gebrochen. Warum war sie ihm davongelaufen? Hatte sie denn nicht alles gehabt, was sie sich gewünscht hatte? Hatte sie nicht immer gesagt, sie liebe ihn? Woran war er gescheitert? War der Trank nicht stark genug gewesen? Mit den Träumen hatte es angefangen, und das war ein Zeichen gewesen, dass die Medizin nicht für immer anhielt. Er musste etwas finden, etwas! Aber nun war es zu spät, nun war sie fort. Und ohne Maja war das Leben für ihn sinnlos und leer. Zuerst Lisa und dann Maja! Wieder die schreckliche Einsamkeit ertragen? Er knirschte mit den Zähnen. Er hatte sie geliebt, beide hatte er geliebt, und sie hatten ihn verlassen. Bette tappte ins Zimmer. „Soll ich das Frühstück bringen?“ Robert sah düster auf. „Wie? Ach, ist egal, mir ist alles egal!“ Bette hatte Mitleid mit dem Mann. „Wird schon wiederkommen, die kleine Frau!“

„Meinst du?“ Ein ganz kleiner Hoffnungsschimmer glomm wieder in ihm auf. „Kann ich jetzt decken?“ „Ja!“ Schwerfällig stand er auf. „Ich werde erst einmal baden. Und dann frühstücken.“ Im Schlafzimmer erinnerte ihn alles an Maja! Er dachte an die wundervollen Nächte mit ihr und stöhnte wild auf. Das Wasser troff ihm von der Stirn, als er den Bademantel umgürtete und ins Wohnzimmer kam. Das Essen war schon zugerichtet. Er wollte sich gerade an den Tisch setzen, als das Telefon klingelte. Rasch durchquerte er die Halle. „Ja, hier bei Doktor Schneider!“ Grömer war am Apparat. „Doktor Schneider persönlich?“ „Ja!“ „Wir haben hier eine Frau aufgefunden.“ „Ja!“ Robert war ganz Spannung. „Unser Außenposten Kleinhagen teilte uns eben mit, dass Ihnen in der vergangenen Nacht eine Frau fortgelaufen sei?“ „Ja, ja, das stimmt, sie ist eine Patientin von mir.“ „Sie ist bei uns, was sollen wir mit ihr machen?“ „Ich werde gleich zu Ihnen kommen, Herr Grömer, und sie mit mir nehmen!“ „Darum wollte ich Sie gerade bitten. Sie werden also kommen?“ „Ja, sofort. In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen in der Stadt!“

Dann legte er auf. Bette stand in der Tür. „Man hat sie gefunden!“ „Na, sehen Sie!“ „Ich muss gleich fort“, und schon lief er ins Schlafzimmer um sich anzuziehen. „Und das Frühstück?“ „Nachher!“

25

Maja stand vor dem Spiegel. Das frisch gewaschene Haar kringelte sich wieder zu kleinen Löckchen. Jürgen trat ein, und seine Augen glänzten. Lächelnd lief sie auf ihn zu und schmiegte sich in seine Arme. Er küsste sie leidenschaftlich. „Dass du wieder da bist, mein Herz, ich kann es immer noch nicht fassen!“ Das weinrote Wollkleid umschmeichelte ihre Figur. Langsam lösten sie sich wieder voneinander. „Müssen wir uns nicht eilen, die anderen warten doch auf uns!“ „Ja, ja, wir müssen schon.“ „Komm!“ Sie fasste ihn bei der Hand, und so verließen sie das Zimmer. Peter, Lisa und die Mutter befanden sich bereits im Frühstückszimmer. Jürgen warf Peter einen raschen Blick zu und wunderte sich über dessen Gesichtsausdruck. Er zeigte Resignation, Hoffnung und auch wieder Erstaunen. Was sollte das bedeuten? Man nahm Platz. Majas Hand zitterte ganz leicht, als sie die Kaffeetasse hob. Gestern um diese Zeit hatte sie noch mit Robert an einem Tisch gesessen. Es würde lange dauern, bis sie endlich alles würde vergessen können. Lisa sagte keinen Ton. Sie saß ganz still da, und ihre Augen gingen mitunter furchtsam herum, als suche sie einen Ausgang, durch den sie schlüpfen könnte. Maja legte sanft ihre Hand auf Lisas. „Sie brauchen keine Angst zu haben!“ Lisa zuckte zusammen. Peters Augen verdüsterten sich unmerklich.

„Der Kommissar wird Sie schützen“, sagte auch Jürgen. „Ja“, hauchte sie. Nicht nur Furcht war in ihrem Herzen, sondern auch hoffnungsloses Weh. Sie hatte ihn so geliebt, sie hatte eine Familie gründen wollen, so wie Maja. Aber sie musste fliehen. Und nun war sie allein, grenzenlos allein. Ihre Augen hatten in Tränen geschwommen, als sie Maja mit ihrem Kind sah. Warum war ihr dieses Glück nicht vergönnt? Warum nicht? Aber sie hatte Angst vor den Männern, unsagbare Angst, Sie sehnte sich nach Liebe und Zärtlichkeit, aber sie war so scheu wie ein Reh. Und darum wurde sie auch nicht beachtet. Jürgen stand auf. „Wir müssen jetzt wohl aufbrechen. Je schneller wir es hinter uns gebracht haben, um so besser ist es.“ „Ich fahre euch“, sagte Peter rau. „Aber das brauchst du wirklich nicht, Peter, ich kann es auch ganz gut!“ Peter schüttelte den Kopf. Er kannte sich selbst nicht mehr wieder. „Kommt!“ Der Kommissar wartete schon auf sie. „Und?“, fragte Maja leise und zögernd. „Ich habe ihn angerufen, er wird gleich kommen.“ Fahle Blässe überzog ihr Gesicht. „Kommen Sie, haben Sie keine Angst, er kann Ihnen nichts antun.“ „Ich weiß.“ Und dann erklärte der Kommissar, wie sie sich verhalten sollten. Beide, Maja und Lisa, sollten nebeneinander sitzen. Jetzt sahen sie sich so ähnlich wie zwei Geschwister. Natürlich hatten sie mit Frisur und Kosmetik ein wenig nachgeholfen. Und dann warteten sie.

Der Zeiger kroch unaufhaltsam an der großen Uhr über dem Schreibtisch weite. Maja fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie hatte Mitleid mit Robert. Und dann hörte sie seine Schritte auf dem Flur. Auch Lisa erkannte sie gleich. Sie zuckte zusammen. Die Tür ging auf. Groß und stattlich kam Robert Schneider in den Raum. Sie saßen so, dass er sie nicht gleich sehen konnte. „Sie haben mich angerufen? Ich bin Doktor Schneider!“ Grömer stand langsam auf. „Ja, ich habe Sie angerufen, da unser Außenposten mir sagte, Sie wünschten kein Aufsehen in dieser Sache.“ „Nein, nein, er hat recht, so ist es. Wo ist sie? Ich möchte sie gleich mitnehmen. Ein zweites Mal wird ihr das nicht mehr gelingen!“ Maja erschauerte. Jürgen und Peter standen im Nebenzimmer und hörten alles mit. Jürgen ballte die Fäuste und stöhnte wild auf. Am liebsten hätte er diesen Mann umgebracht. „Ich glaube nicht, dass sie Ihnen noch einmal entlaufen wird“, sagte Grömer langsam. „Aber da ist noch eine Sache, wir haben zwei Frauen aufgegriffen, hoffentlich finden Sie die rechte heraus!“ Robert lachte. „Natürlich, ich kenne sie durch und durch! Hat sie etwas über mich gesagt? Mich schlecht gemacht?“ „Bis jetzt noch nicht!“ Robert konnte es immer noch nicht fassen. So leicht sollte es ihm sein, Maja wiederzubekommen Und dann sah er das Plakat über dem Schreibtisch. Seine Augen verengten sich zu einem Spalt. Grömer folgte seinem Blick. „Sie kennen nicht zufällig diese Frau? Wir suchen Sie schon seit Langem!“ Roberts Hände umkrampften den Hut. „Nein“, stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Aber ich möchte jetzt gehen, ich habe keine Zeit mehr. Die Praxis ruft, verstehen Sie!“

„Natürlich. Schön, dann drehen Sie sich doch mal kurz um und zeigen Sie mir, welche nun Ihre angebliche Patientin ist!“ Robert tat es und erstarrte. Sein Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen. Was wurde hier mit ihm gespielt? Narrte man ihn? „Was soll das heißen?“, keuchte er. „Sie sollen die Richtige aussuchen“, sagte Grömer gelassen. Robert taumelte vorwärts. Zweimal Maja, das konnte es doch nicht geben, das gab es doch nicht! „Das ist eine Falle!“ „Glauben Sie?“ Er stürzte auf Lisa zu. „Das ist Maja, Maja, komm mit nach Hause!“ „Ich bin nicht Maja“, sagte sie leise. „Wer denn, wer denn?“, flehte der Arzt. „Wer bist du?“ Lisa wandte sich ab. Tränen traten in ihre Augen. Jetzt, wo sie ihn nach so langer Zeit wiedersah, stieg in ihr alles wieder hoch. Alles! „Robert“, stammelte sie. „Warum hast du das getan? Warum hörst du nicht endlich auf, warum, warum?“ „Komm heim“, winselte er leise wie ein Hund. „Komm heim, und alles wird wieder gut, Maja!“ „Ich bin Maja“, sagte Maja und stand langsam auf. Robert starrte sie an. „Nein“, sagte er, „du nicht, die andere! Du willst mich narren. Komm, Maja, komm“, flehte er Lisa an. Seine Hände zitterten, und seine Blicke gingen durch den Raum. „Warum bist du mir davongelaufen, warum?“

Er wusste nicht mehr, wo er sich befand. Er sah nur die beiden gleichen Gesichter vor sich, und langsam verschmolzen sie zu einem. „Komm, o bitte, komm wieder mit mir. Das Haus ist so leer und kalt ohne dich. Deine Medizin wartet auf dich. Ich habe eine neue gemacht.“ „Das Spiel ist aus, Robert, ich bin geflüchtet, weil ich nicht deine Frau bin. Ich bin Maja Richards, und du hast es die ganze Zeit gewusst. Schon lange habe ich deine Medizin nicht mehr genommen, hörst du!“ Er sackte auf einem Stuhl zusammen, und seine starken Schultern zuckten und bebten. Er weinte. „Du bist meine Frau, Maja“, stammelte er immer wieder. Alles war so verworren, so durcheinander. „Komm heim!“ „Nein“, sagte Maja. Der Kommissar kam näher. „Nun?“, fragte er langsam. Robert starrte ihn an. „Wer sind Sie?“ „Der Kommissar!“ „Ach, ja-ja!“ „Geben Sie jetzt zu, dass Sie die Frau gefangen hielten?“ „Es ist meine Frau“, murmelte Robert. „Ich darf doch meine Frau wohl einschließen.“ Er weinte wie ein kleines Kind. „Ich habe doch nur immer ihr Bestes gewollt. Meine Medizin, wenn sie erst bekannt ist, werde ich berühmt, sehr berühmt, und ich mache mir die ganze Welt untertan. Ja!“ Er sprach irre und verhedderte sich immer mehr. Der Schock war zu viel für ihn. Schon lange hatte er diesen Wahn. Er hatte die Wirklichkeit vergessen. Er sah nur die beiden Gesichter. „Komm!“

„Robert, ich bin Lisa!“ Sie war zu ihm getreten und strich ihm langsam über das Haar. „Du?“ „Ja, ich!“ „Oh!“ „Robert, ich möchte wieder frei sein, wirst du dich von mir scheiden lassen?“ Er sah sie aus glasigen Augen an, und dann lachte er, er lachte und lachte und konnte nicht mehr aufhören. Ein Arzt kam, und zwei Pfleger brachten ihn fort. Das Lachen blieb noch lange Zeit im Raum hängen. „Lisa“, sagte Peter leise. Sie schluchzte nur vor sich hin. „Ich möchte nach Hause“, sagte Maja und stand auf. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. „Ja, Sie können jetzt alle gehen.“ Grömer blieb allein zurück. Lisa stand verloren auf der Straße und sah die anderen fortfahren. Nein, sie wollte nicht mit, sie wollte auch nicht nach Hause gebracht werden. Sie wollte nur allein sein, ganz allein! Maja sah sich noch einmal um.

26

Es waren schon wieder vier Wochen vergangen. Und Maja begann langsam alles zu vergessen und war wieder glücklich im Kreise ihrer Familie. Die Mutter war auch endlich herübergezogen. Peter kam oft und blieb im trauten Kreise sitzen. Aber sein Herz war nicht so recht bei der Sache. Jürgen hatte also sein Glück wiedergefunden. Und er stand wieder da mit leeren Händen. Aber seltsam, früher hatte er Maja geliebt, aber seitdem sie wieder daheim war, war sein Herz still geworden. Er konnte mit ihr lachen und scherzen, ohne dass sein Herz schneller und heftiger schlug. Maja spürte es gleich und freute sich darüber. Es war immer ihr geheimer Kummer gewesen, dass Peter sich nicht von ihr lösen konnte. „Du musst heiraten“, sagte sie ihm oft. „Gründe doch auch endlich eine Familie. Mach es uns doch nach!“ Er lächelte verbindlich. „Später einmal.“ Und vor seinem inneren Auge stand ein Bild. Er konnte sich nicht mehr davon losreißen. Maja ging in die Stadt, um Einkäufe zu machen. Als sie aus einem Modegeschäft kam, sah sie eine junge Frau vor dem Schaufenster stehen. Sie stutzte einen Augenblick, dann ging sie auf sie zu. „Lisa“, lächelte sie heiter. „Dass ich Sie auch mal wiedersehe! Damals habe ich ganz vergessen, mich nach Ihrer Adresse zu erkundigen. Oh, wie freue ich mich, dass ich Sie endlich wiedergefunden habe!“ Auch Lisa lächelte leicht. „Wie geht es Ihnen, Lisa?“ „Mir geht es gut!“ „Haben Sie wieder etwas von Robert gehört?“

Lisa betrachtete lange Zeit die Auslagen, dann begann sie leise: „Er hat die Scheidung eingereicht, weil ich ihn darum bat. Er ist jetzt in einer Klinik, freiwillig, und er will auch dort bleiben. Unter Aufsicht forscht er jetzt an einer anderen Sache. Das, was früher war, hat er jetzt vergessen. Er soll dort sehr glücklich sein. Die Ärzte sagen, er ist ein Genie, er musste nur in die rechte Bahn geleitet werden.“ Maja hatte sich bei Lisa eingehakt. „Kommen Sie mit zu mir nach Hause, ja? Oder haben Sie keine Zeit?“ „Doch, Zeit habe ich, aber komme ich auch nicht ungelegen?“ „Kommen Sie nur, mein Mann wird sich freuen!“ Und so war Lisa wieder bei Richards. Sie spielte den ganzen Nachmittag mit Melanie. Und das Kind war begeistert von der neuen Tante. „Sie sollten wieder heiraten“, sagte Maja sinnend. Lisa zuckte zusammen. „Ach nein“, sagte sie schnell. Weiter berührten sie das Thema nicht mehr. Auch Jürgen freute sich über den Gast. „Sie müssen uns viel öfter besuchen kommen!“ „Gern, wenn ich darf?“ Zum Abendbrot gesellte sich noch ein weiterer Gast zu ihnen. Als die Türglocke anschlug, ging Maja öffnen, Peter stand draußen. „Komm nur, ich habe eine Überraschung für dich.“ Und plötzlich kam ihr eine gute Idee. „Was für eine?“, wollte Peter wissen. „Bitte, erst sagen!“ „Nein, nein, es wird nichts verraten, komm!“ Als er das Esszimmer betrat, blieb er wie angewurzelt stehen. Lisa! Zwei Monate lang hatte er sie nicht mehr gesehen. Er hatte sie nicht vergessen können all die Zeit. Aber keiner wusste, wo sie wohnte. Lisa!

Als Lisa ihn sah, wurde auch sie blutrot. Maja bemerkte es mit Entzücken. Beide sprachen kein Wort und sahen sich nur an. Nach Tisch setzte sich Maja zu Lisa. Peter war mit Jürgen in dessen Arbeitszimmer gegangen. Jürgen hatte geschäftliche Probleme, die er mit Peter besprechen wollte. Dieser ließ sich nur widerwillig mitziehen. Er wäre lieber bei den Frauen im Wohnzimmer geblieben. Maja ahnte die große Verlassenheit Lisas. Sie sprach sehr wenig und war sehr scheu. Hatte sie Angst vor dem Leben? Oder was war es? „Lisa“, Maja sah sie eine Weile stumm an, „ich freue mich wirklich, dass wir uns getroffen haben. Ich habe so oft an Sie gedacht, aber ich wusste leider nicht Ihre Adresse. Warum sind Sie nicht schon früher zu uns gekommen?“ Lisa lächelte ihr zartes Lächeln. „Hätte ich das denn tun sollen?“ „Natürlich!“ „Ich dachte halt, ich würde nur stören!“ „Nein. Aber mir kommt da ein guter Gedanke, Lisa, wollen Sie meine Freundin sein?“ Lisa wurde blutrot und sah auf ihre gefalteten Hände im Schoss. „Das wäre sehr schön“, sagte sie still. Und im Herzen nahm sich Maja vor, recht lieb zu diesem einsamen Geschöpf zu sein. Sie musste doch auch endlich alles einmal vergessen. Sie hatte es doch auch überwunden, schon so lange. „Liebst du Robert noch immer?“ Lisa sah aus dem Fenster. Der Herbst hatte alle Blätter im Garten gelb gefärbt. Nun fielen sie auf den grünen Rasen, ganz leise und sacht. Und dieser sah aus wie ein bunter schöner Teppich. Und dazwischen der leise Regen. Und in ihr klang noch immer die Frage. Liebst du Robert noch immer? Bis jetzt hatte sie es

immer geglaubt, aber, endlich danach gefragt, verspürte sie zu ihrer größten Verwunderung, dass es gar nicht mehr der Fall war. „Nein“, sagte sie verwundert. „Nein, er tut mir nur leid. Hin und wieder gehe ich ihn besuchen. Er ist sehr glücklich dort. Er kennt nur noch seine Arbeit. Alles andere hat er vergessen. Mich und dich, er weiß gar nicht mehr, dass ich einmal seine Frau war.“ Die Männer kamen zurück. Peter stand am Fenster mit dem Rücken zu den beiden Frauen und sah hinaus. Maja stand auf und ging in die Küche. Sie wollte für Getränke sorgen. Jürgen ging ihr nach. Nun waren die beiden Menschen allein. Lisa blieb im Schein der Stehlampe sitzen und sah den breiten Rücken am Fenster. Peter drehte sich langsam um und ging quer durch den ganzen Raum. Vor Lisa blieb er einen Augenblick stehen und wollte etwas sagen. Doch dann tat er es nicht. In einem Sessel nahm er Platz und bediente sich mit einer Zigarette. „Nein, ich rauche nicht“, sagte sie mit ihrer feinen, leisen Stimme. „Diese beiden Menschen sind nun wieder glücklich“, sagte Peter leise. „Und wir stehen da und dürfen ein wenig von dem Glück ahnen.“ „Sie lieben Maja!“, sagte Lisa leise und erschrak selbst über ihren Mut. Peter sah sie überrascht an. „Hat Maja Ihnen das gesagt?“ „Nein, aber man fühlt doch so etwas!“ Peter blies den Rauch aus. „Ja, ich habe sie geliebt, lange konnte ich es nicht überwinden, aber jetzt habe ich es hinter mich gebracht. Und ich bin sehr froh darum!“ Lisa wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Und dann kamen die beiden auch schon wieder zurück. Es wurde ein sehr schöner Abend. Aber dann endlich stand Lisa auf.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie behutsam. „Ich werde dich nach Hause fahren“, sagte Maja. „Lass nur, ich bringe sie heim“, sagte Peter und holte die Wagenschlüssel aus der Tasche. „Danke für alles“, murmelte Lisa. „Du musst recht bald wiederkommen, nicht wahr?“ „Ja, ich werde kommen, wenn ich darf!“ Maja und Jürgen blieben in der hellerleuchteten Tür stehen und sahen die beiden davonfahren. Nun lachte auch Jürgen. „Glaubst du denn wirklich, die beiden lassen sich verkuppeln?“ „Welch ein böses Wort, Jürgen! Natürlich nicht so, ich dachte, wenn sie sich öfters hier bei uns sehen, dann werden sie sich wohl schon kriegen!“ Jürgen lachte noch immer. „Du, lachst du mich aus oder was ist?“ „Vielleicht kommt Peter deswegen nicht, weil er den Braten riecht. Den bekommst du nicht so schnell ins Ehejoch!“ Maja sah aus dem Fenster. „Und ich hatte mir das so schön gedacht. Aber dass Lisa auch keine Zeit hat, das verstehe ich nicht. Sie hat doch keine Freunde und Verwandten. Warum kommt sie nicht?“ „Zerbrechen wir uns doch nicht den Kopf darüber, meine liebe Maja, komm, lass uns einen Spaziergang machen, ja?“ Sie schmiegte sich an den geliebten Mann. Im Wagen selbst blieb alles für lange Zeit stumm. Endlich sagte Lisa: „Hier, die nächste Straße rechts, dort muss ich aussteigen.“

Peter hielt an. Zum Teufel, warum war er eigentlich so schüchtern? Früher war er es doch nicht gewesen. Machte das die Frau? Lisa wollte aussteigen. Da hielt er ihre linke Hand fest. Lisa sah ihn stumm, an. „Werden wir uns wiedersehen, Lisa?“ „Bestimmt, Sie kommen doch auch öfters zu Richards!“ „Ich meine es anders, morgen Abend? Darf ich Sie morgen Abend zum Essen einladen?“ Sanft entzog sie ihm die Hand. „Lisa?“ „Ja“, sagte sie sanft. „Ich werde kommen!“ Und dann war sie verschwunden. Peters Herz machte einen Jauchzer.

27

Majas Finger wählten schnell die Zahl und dann surrte das Telefon. Es meldete sich eine Stimme. Peter. Aber er hatte keine Zeit und legte wieder auf. Maja blieb sinnend vor ihrem Schreibtisch stehen. Als sie ein Geräusch hörte, drehte sie sich um. Jürgen stand in der Tür. „Darf man stören? Oder musst du arbeiten?“ „Komm nur, im Augenblick zerbreche ich mir nur meinen Kopf!“ „Über einen neuen Roman?“ „Nein, nein, das nicht. Du, sag mal, Jürgen, warum hat Peter eigentlich keine Zeit mehr zu kommen?“ „Du hast ihn gerade angerufen?“ „Ja, und vorher Lisa, sie kommt auch nicht!“ „Dumm, nicht wahr? Aber warum willst du die beiden denn unbedingt hier bei dir haben? Wenn mich nicht alles täuscht, so hast du das schon lange vor?“ Sie lachte, und kleine Grübchen zeigten sich auf ihrer Wange. „Nun, ich wollte ein wenig Amor spielen!“ „Amor? Ich verstehe gar nichts mehr!“ Maja lächelte. „Ich habe mir gedacht, es wäre doch hübsch, wenn Lisa und Peter ein Paar würden, nicht?“

28

Das welke Laub raschelte zu ihren Füßen. Der Herbst kam jetzt mit Macht und entlaubte die Bäume. Lisa wanderte durch den Park, ganz allein. In ihrem Kopf sah es wüst aus. Sie musste erst wieder einen klaren Gedanken fassen. So ging es nicht weiter. Sie blieb auf einer Lichtung stehen. Ein Eichhörnchen huschte über den Weg. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Und dann hörte sie die Schritte hinter sich. Ich werde mich nicht umdrehen, dachte sie, und ihr Herz zitterte. Vielleicht hat er mich nicht gesehen und geht einfach weiter. Dumpf und hohl klopfte es. Still, du dummes Herz. „Lisa!“ Es war zu spät. Jetzt konnte sie nicht mehr fliehen. „Lisa!“ Sie wurde bei den Schultern gefasst und herumgedreht. Sie sah das männliche Antlitz über sich. Die klugen Augen, die Wuschelhaare. Mein Gott, wie liebte sie ihn. „Lisa!“ Ein zittriges Lächeln lag um ihre Lippen, „Warum bist du nicht gekommen? Ich habe so lange an der Ecke auf dich gewartet. Warum bist du hier?“ Lisa ging einen Schritt zurück, und seine Arme sanken von ihrer Schulter herab. Soweit war es schon mit ihm, dass er um ihre Liebe bettelte. „Lisa, hast du mich überhaupt lieb?“ Die junge Frau sah zu Boden. Tief steckten ihre Hände in den Manteltaschen.

„Komm, wir gehen ein Stück spazieren!“ Das waren ihre ersten Worte. „Bitte, beantworte meine Frage, Lisa!“ Sie sah ihn an, und da füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Du“, lächelte sie leise. „Also doch“, jubelte er heiter. Er wollte sie in die Arme reißen. „Nein“, sagte sie schnell. „Ich muss mit dir reden.“ „Gibt es denn da noch etwas? Lisa, ich bitte dich noch einmal, werde meine Frau!“ „Ich kann es nicht“, rief sie mit erstickter Stimme. „Warum denn nicht, du bist doch wieder frei“, rief er verwundert. „Ja, ja“, es brach aus ihr heraus. „Warum quälst du mich denn so, warum?“ „Mein Herz, was ist dir?“ Nun weinte sie wirklich. Seine Stimme war ganz weich und zart. „Du liebst mich ja gar nicht“, sagte sie langsam. „Was sagst du da?“ „Bitte!“ Sie starrte an ihm vorbei. „Robert hat mich geliebt, ja, das hat er wirklich, und als ich nicht mehr da war, lernte er Maja kennen und liebte sie heiß und innig, weil er in ihr mich sah.“ „Aber was hat das denn mit uns zu tun, meine Kleine? Ich bin doch nicht Robert!“ „Nein“, ihre Stimme zitterte vor unterdrückten Tränen. „Du nicht, bei dir ist es anders. Du hast Maja geliebt, heiß und innig, still, ich weiß es, und du hast es mir auch einmal gesagt, damals, ganz im Anfang. Und du weißt aber auch, dass

du sie nicht bekommen kannst. Und jetzt willst du das gleiche wie Robert. Weil du Maja nicht bekommen kannst, willst du mich, weil ich ihr ähnlich sehe und du in mir nur immer Maja siehst!“ Er starrte sie lange an. Sein Herz tat ein paar rasche Schläge. Was ist mit ihr? „Ist es nicht so? Und ich will mich nicht verkaufen lassen. Wenn ich heirate, dann will ich sicher sein, dass mein Mann mich auch wirklich meint. Ich möchte nicht nur das Abbild einer anderen sein.“ Der junge Mann stand vor ihr und hatte den Kopf gesenkt. „Ich habe mir gedacht, dass du so denken würdest. Ich wusste es!“ „Und?“ Er nahm sie in seine Arme und küsste sie ganz zart. „Mein Engel, ich liebe dich nicht erst seit Kurzem, sondern schon seit damals, als ich dich auf der Polizeiwache sah. Ich kann dich nur bitten, mir zu glauben. Ich habe dich wirklich lieb. Und wenn du glaubst, dass ich in dir nur Maja liebe, nun denn, dann ändere dich doch. Färbe dein Haar, sei eine andere, und du wirst sehen, ich werde dich immer noch lieben!“ Da lachte Lisa befreit auf. „Du liebst mich wirklich, mich, Lisa?“ „Ja, mein Herz, und wirst du meine Frau?“ „Ja, ja, ja“, es klang jubelnd. „Denn ich hab dich ja schon so lange lieb!“

29

Maja sah Jürgen an. „Ich verstehe gar nichts mehr!“ „Was ist denn nun schon wieder, Maja?“ „Nun, wochenlang bemüht man sich, Lisa und Peter einzuladen, und sie haben beide eine Ausrede. Und nun stell dir vor, wer angerufen hat!“ „Peter?“ „Richtig, und er will heute Abend kommen.“ „Fein.“ „Und vor einer Stunde rief Lisa an.“ „Na, da kannst du ja jetzt endlich dein Werk in die Tat umsetzen.“ Maja machte eine böse Miene und lachte doch. „Du, lache nicht so! Mir ist es wirklich ernst damit!“ „Armer, armer Peter“, lachte Jürgen. Zum Abendbrot waren sie da. Zuerst Lisa, die sich vielmals entschuldigte. Und eine halbe Stunde später Peter, der über das ganze Gesicht grinste. „Na, altes Haus“, lachte Jürgen. Nach dem Essen musste Jürgen Peter ein wenig mit sich nehmen, Maja hatte es ihm gesagt. Sie wollte mit Lisa allein sein. Aber merkwürdig, da saß sie nun, eine ganz andere Lisa. Maja begann das Gespräch. „Du, Lisa, ich freue mich wirklich, dass du endlich

mal wieder Zeit für mich hast.“ Lisa errötete sacht. „Weißt du, ich muss dir etwas sagen, ich bekomme bald wieder ein Baby!“ „Oh, wirklich, da freue ich mich aber sehr, Maja.“ Und ihre Freude war wirklich echt. „Willst du immer noch nicht heiraten, Lisa?“ „Wen denn?“, lächelte die junge Frau zurück. „Nun, ich wüsste einen sehr netten Mann für dich!“ „Und der wäre?“ „Du bist also nicht mehr abgeneigt?“ „Wenn ich dich sehe, und jetzt noch höre, dass du wieder ein Kind bekommst, nun, ich glaube, es würde wirklich Freude machen.“ „Beim Himmel, Lisa, hast du dich aber in den kurzen Wochen geändert!“ „Du hast mir noch nicht gesagt, wen du für mich ausgesucht hast!“ „Nun, wie wäre es mit Peter Barden? Er ist sehr nett!“ Lisa lächelte verschmitzt. „Ach, und du glaubst, der lässt sich verkuppeln? Wenn ich mich nicht täusche, ist er schon verlobt!“ „Wie?“ Maja sprang hoch wie von einer Tarantel gestochen. „Was hast du gesagt?“ „Er ist verlobt, ist das so schlimm?“ „Lisa, woher weißt du das? Ich habe noch nichts gehört!“ „Man hört so allerhand in der Stadt. Schließlich ist er eine begehrte Partie. Erbe einer großen Fabrik!“

„Ja, ja“, murmelte Maja leise. „Es tut dir weh“, fragte Lisa leise. „Nein, nein, das ist es nicht, aber ich hatte es mir so hübsch gedacht!“ „Du liebst ihn also gar nicht?“ „Ich habe nur immer Jürgen geliebt, aber wir sprechen jetzt von dir.“ Plötzlich gab Lisa der überraschten Maja einen Kuss. Da kamen die Männer zurück. Maja sprang auf und lief ihrem Mann entgegen. „Du, Peter ist ein Schuft!“ „Warum, wenn man fragen darf. Ich finde es nicht.“ „Ich wollte ihm eine Frau besorgen, und nun höre ich, dass er schon verlobt ist!“ Jürgen lachte schallend. „Arme Maja!“ „Wen wolltest du mir denn anhängen?“, fragte Peter scheinheilig und hatte den Schalk im Nacken sitzen. „Ich dachte, Lisa würde wohl zu dir en. Aber jetzt, oh, Peter, du hast mich enttäuscht!“ „Wer ist denn überhaupt die Glückliche, und warum hast du sie denn nicht mitgebracht?“, fragte Jürgen. „Ich habe sie ja mitgebracht“, sagte Peter. Ging quer durch den Raum, zog Lisa vom Sofa und küsste sie heiß und innig. „Na!“ Maja und Jürgen sahen ihn entgeistert an. „Lisa ist meine Braut und zukünftige Frau!“ „Jetzt weiß ich auch, warum ihr nie Zeit für uns hattet!“, prustete Jürgen und verschwand, um etwas Trinkbares zu besorgen. Das mussten sie doch feiern. ENDE