Hausmitteilung 6. Februar 2012
Betr.: Titel, Sauerland, Russland
SPIEGEL-Titel 4/2011, 30/2011
V
iele Menschen fühlen sich bei ihrer Arbeit oder in ihrem Alltag überfordert – und vermuten ein Burnout-Syndrom. Der SPIEGEL hat in zwei Titelgeschichten – mit jeweils zwei Titelbildern, das eine zeigt eine Frau, das andere einen Mann – beschrieben, wie die Seele durch Dauerstress Schaden nehmen kann und welche Wege aus tiefen Krisen herausführen. Wo aber verläuft die Grenze zwischen einer zeitweiligen Erschöpfung und einer psychischen Erkrankung? Die rasant gestiegene Patientenzahl, fand Titelautor Jörg Blech, 45, heraus, sei auch darauf zurückzuführen, „dass Menschen, die sich ausgebrannt fühlen, heute eher einen Arzt aufsuchen als früher“. Nicht jeder Betroffene sei behandlungsbedürftig – gleichwohl litten viele an einer Depression. Der Inlandsauflage liegt eine von SPIEGEL TV produzierte DVD zum Thema bei (Seite 122).
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OLIVER TJADEN
u den Medien hat Adolf Sauerland, 56, Oberbürgermeister von Duisburg, keine übermäßig differenzierte Meinung. Der Mann, in dessen Stadt im Sommer 2010 bei der Love Parade 21 Menschen ums Leben kamen, schimpfte schon mal über „Scheiß-Journalismus“ – und schwieg, wenn Berichterstatter ihn sprechen wollten. So brauchte es mehrere Versuche über fast ein Jahr, ehe Sauerland Sauerland, Geyer SPIEGEL-Reporter Matthias Geyer, 49, Rede und Antwort stehen mochte. Die Ausnahme machte der CDU-Politiker auch deshalb, weil ihn die Berichterstattung des SPIEGEL über das Versagen aller Beteiligten beeindruckt habe, wie er beim ersten Treffen bekannte. Nun aber ging es um ihn. In mehreren Gesprächen, unter anderem in jenem Wochenendhaus im Rothaargebirge, in das er nach der Love Parade geflüchtet war, versuchte er zu erklären, warum er keine Verantwortung trage und sich kommenden Sonntag lieber einem Abwahlverfahren stelle, als zurückzutreten. „Sauerland ist wie ein Findling, er lässt sich nur schwer bewegen“, sagt Geyer (Seite 50).
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it Russlands Jugend Schritt zu halten ist nicht immer einfach. Drei Monate lang begleiteten SPIEGEL-Redakteur Benjamin Bidder, 30, und die Fotografin Anna Sklann, 25, junge Frauen und Männer, die 1991, im Jahr des Umbruchs, geboren wurden. In Moskau führten die Dienstwege der SPIEGEL-Leute über Feuerleitern: Sie folgten sogenannten Roofern, die auf Dächer und Denkmäler klettern, um Nervenkitzel und spektakuläre Ausblicke zu genießen. Im tschetschenischen Grosny regnete es Patronenhülsen – junge Leute feierten Hochzeit, ein paar Gäste feuerten aus Kalaschnikows Freudensalven in den Himmel. „Es wächst eine freie Generation heran, die den Kommunismus nur aus Geschichtsbüchern kennt“, sagt Bidder (Seite 94). Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft Titel Stress, Burnout, Depression – wo verläuft die Grenze zwischen krank und gesund? ...... 122
HANS CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF
Deutschland Panorama: SPD-Linke rebelliert / Deutsche Parlamentarier in Kuba / Stromkunden sollen Griechenland retten ........................................ 17 Europa: Angela Merkels Wahlkampfhilfe für Frankreichs Präsident Sarkozy ................. 22 Schuldenkrise: SPIEGEL-Gespräch mit Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker über die stockende Reform Griechenlands und den Sinn eines EU-Sparkommissars ........ 25 Grüne: Wie die Partei unter Jürgen Trittin den außenpolitischen Kom verliert .......... 28 Affären: Hat Christian Wulff mit einem Leasingvertrag gegen das Ministergesetz verstoßen? ...................................................... 30 Außenpolitik: Repressalien gegen die politischen Stiftungen deutscher Parteien ...... 32 Karrieren: Der Spagat von CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt zwischen Raufbold und Modernisierer ........... 34 Finanzen: Viele Landesregierungen ignorieren die Schuldenbremse ...................... 36 Der Berliner Senator Ulrich Nußbaum über Länderfusionen aus Geldnot .......................... 39 Liberale: Funktionäre an der Basis quittieren ihre Arbeit ..................................... 40 Baden-Württemberg: Ein Bericht zum EnBW-Deal belastet Ex-Ministerpräsident Stefan Mappus ................................................ 41 Internet: Wie der Fall eines schwäbischen Gymnasiasten eine FBI-Operation platzen ließ .................................................... 42 Geschäftsideen: Taxizentralen wehren sich gegen eine Smartphone-App .......................... 44 Strafjustiz: Das Landgericht Aachen verhandelt gegen eine Ärztin, die ihren 50 Jahre älteren Ehemann ermordet haben soll ........... 46
Merkel wählt Sarkozy
Seite 22
Kanzlerin Merkel mischt sich in den französischen Präsidentschaftswahlkampf ein und wirbt für Nicolas Sarkozy. Sie braucht ihn als Partner bei der Euro-Rettung.
Der Günstig-Präsident
Seiten 30, 66
Als Ministerpräsident sorgte Christian Wulff für strenge Anti-KorruptionsRegeln im Land. Im eigenen Fall nahm er es mit dem Gesetz nicht so genau und nutzte bei einem Autoleasingvertrag die Sonderrabatte des VW-Konzerns.
Gesellschaft Szene: Schwindelfreier Hochhaus-Fotograf / Interview mit Manfred Krug über männliche Schönheit ....................................................... 48 Eine Meldung und ihre Geschichte – ein Inder überlebt den Angriff eines Leoparden und vert einen Triumph .......................... 49 Karrieren: Wie der Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland sein Festhalten am Amt rechtfertigt ...................... 50 Essay: Die marktkonforme Demokratie ......... 56 Ortstermin: Das Rätsel um die Krebstoten von Wewelsfleth ................................................. 59
Virtuelle Arbeitswelt
Seite 62
IBM plant einen radikalen Umbau des Unternehmens. Künftig soll eine Kernbelegschaft den Konzern steuern, ein Heer freier Mitarbeiter wird in virtuellen Netzwerken kontrolliert und kämpft um befristete Jobs.
Der Klima-Rebell Seite 134
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Gas-Eruptionen auf der Sonne
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REX FEATURES / ACTION PRESS
Wirtschaft Trends: Künftiger RWE-Chef plant drastische Einschnitte / Makabres Fonds-Angebot der Deutschen Bank / IG Metall fordert 6,5 Prozent mehr Lohn .................................. 60 Jobs: IBM plant die Arbeitswelt von morgen .................................................... 62 Konzerne: Ex-Aufsichtsrat Christian Wulff wird zum Risiko für VW ................................ 66 Industrie: Erstmals übernehmen die Chinesen ein deutsches Unternehmen von Weltrang ..... 68 Immobilien: Ein dubioses Geschäft in Moskau holt die LBBW wieder ein .............................. 70 Börsen: Die Regulierung beschert der Deutschen Börse gute Geschäfte .............. 74 Staatsfinanzen: Profitiert Deutschland wirklich von der Euro-Krise? ......................... 76
Mit ketzerischen Thesen sorgt der RWE-Manager Fritz Vahrenholt für Aufsehen: „Die Klimakatastrophe findet nicht statt“, behauptet der Umweltexperte. Die Sonne werde als natürlicher Klimafaktor unterschätzt. „Seit 2005 schwächelt die Sonne“, sagt Vahrenholt im SPIEGEL-Gespräch. „Von ihr haben wir erst einmal nur Abkühlung zu erwarten.“
Medien Trends: Online-Kompromiss spaltet ARD / Niggemeiers Medienlexikon ........................... 77 Fernsehshows: Mit dem Song Contest will sich Aserbaidschan als modernes Land präsentieren ................................................... 78
Ausland
Kampf um Damaskus
Panorama: Neue Bürgerbewegung in Griechenland / Gefangenenrevolte in Kirgisien ..................................................... 82 Syrien: Der Anfang vom Ende für Assads Regime ............................................... 84 Ruanda: Rufmord am Helden von Kigali ........ 88 Iran: Obama-Berater Dennis Ross warnt vor den Folgen einer Atombombe für das Mullah-Regime ................................... 90 Ägypten: Wer organisierte das Massaker von Port Said? ................................................ 92 Zeitgeschichte: Königliches Verständnis für die Putschisten von Madrid ...................... 93 Russland: Putins ungezogene Kinder – wie eine neue Generation das Land verändert ..... 94 Global Village: Küchenchefs von Kanzleramt und Elysée-Palast kochen in Tel Aviv für den Frieden ............................................... 98
Held oder Schwindler?
REUTERS
Seite 84
Noch sind sie den Truppen Baschar al-Assads deutlich unterlegen, doch im ganzen Land behaupten sich die Rebellen, die von Deserteuren Verstärkung erhalten: Der Kollaps des Regimes rückt näher.
Seite 88
Ein Hotelmanager aus Kigali gilt als afrikanischer Held: Mit List und Mut soll er sich Ruandas Massenmördern entgegengestellt haben. Nun wehrt er sich gegen Vorwürfe, er habe die Verfolgten nur ausgeplündert.
Dickens, der Autor der Krise
Seite 112
Wissenschaft · Technik Prisma: Ausgräber auf der Suche nach einem rätselhaften Kirchenkreuz der Kelten / Warum Nachoperationen bei Brustkrebs häufig unvermeidbar sind ............................. 120 Geschichte: Vernichten oder archivieren – der schwierige Umgang mit den explosiven Filmen aus der Frühzeit des Kinos ................ 132 Klima: SPIEGEL-Gespräch mit dem Strommanager Fritz Vahrenholt über seine ketzerischen Thesen zur Erderwärmung ....... 134
An diesem Dienstag vor 200 Jahren wurde Charles Dickens geboren, Englands großer Romancier des sozialen Elends. In Zeiten der Finanzkrise wirken die Werke des Autors („Oliver Twist“) aktueller denn je.
Jolies Regiedebüt Seite 102
Sport Szene: Neue Studie über einen bizarren Streit um Sepp Herbergers Spielsystem / Unfälle beim Risikosport Eisklettern ............ 139 Wellenreiten: Für lukrative Sponsorenverträge riskieren Profis Kopf und Kragen ................. 140 Doping: Schleppende Aufklärung in der Äffare um einen Erfurter Arzt ...................... 142 Medizin: Das Alzheimer-Outing des ehemaligen Schalke-Managers Rudi Assauer ... 143
GETTY IMAGES
Auf der in dieser Woche beginnenden Berlinale zeigt die Schauspielerin Angelina Jolie ihr Regiedebüt „In the Land of Blood and Honey“. Im SPIEGEL-Gespräch erzählt sie, warum sie einen Film über Liebe und Krieg gedreht hat, wie ihre Reisen als UnoSonderbotschafterin sie verändert haben und warum es ihr nicht reicht, Hollywoods Actionheldin zu sein.
Kultur Szene: Die schönsten Porträtfotos der Queen in London / Daniel Glattauers neuer Roman „Ewig Dein“ ........................... 100 Berlinale: SPIEGEL-Gespräch mit Angelina Jolie über ihr Regiedebüt und ihr eigenartiges Leben als Hollywood-Star ........ 102 Der chinesische Regisseur Zhang Yimou will sein Land auch cineastisch an die Weltspitze führen ......................................... 107 Bestseller ...................................................... 111 Autoren: Großbritannien begeht den 200. Geburtstag von Charles Dickens und entdeckt die Aktualität des Romanciers ....... 112 Filmkritik: „Hugo Cabret“ – Martin Scorseses Hommage an die Pioniere des Kinos ............ 118
Jolie
Briefe ............................................................... 8 Impressum, Leserservice .............................. 144 ........................................................ 146 Personalien ................................................... 148 Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 150 Titelbild: Foto Axel Martens für den SPIEGEL
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Briefe Nr. 4/2012, Privatschulen in Geldnöten
„Ein preiswürdiges Stück Wirtschafts-
Weder rechnen noch schreiben
journalismus. Die Rekonstruktion des
Unsere Erfahrungen mit einer privaten Schule anthroposophischer Ausrichtung: qualitativ schlechter Lehrkörper aufgrund knapper finanzieller Ressourcen, mieses Sozialverhalten von Lehrern, Schülern und Eltern, antiquierte Unterrichtsinhalte und eine unprofessionelle Nachmittagsbetreuung. Unser Kind wurde wieder glücklich – auf einer ganz normalen, staatlichen Schule!
Geschehens ist bewunderungswürdig. Das Timing der Publikation ist feinsinnig. Das Schweigen der Bank erscheint wulffig.“ SPIEGEL-Titel Nr. 5/2011
Nr. 5/2012, Die Zocker AG – Die dubiosen Geschäfte der Deutschen Bank
PROF. MICHAEL SCHMID, LITZENDORF (BAYERN)
ULRIKE GRABOW, DETMOLD
lich nicht eintreten. Nicht einmal von den Gewerkschaftern in diesem Aufsichtsrat. FREDDY KRAUS, CEBU (PHILIPPINEN)
Es ist eine Schande, dass die Führung der Deutschen Bank das Wort „deutsch“ in den USA und anderswo dermaßen in den Schmutz zieht. Ein ehemaliger Bundespräsidentenkandidat der Linken hat recht: Ackermann und Co. gehören nicht an die gedeckte Tafel im Kanzleramt, sondern hinter Schloss und Riegel.
Der Titel ist fesselnd wie ein Thriller. Auf grandiose Weise entlarven Sie die Machenschaften des Klüngels. Gruseln machen einen jedoch die skrupellose Dreistigkeit und moralische Verwerflichkeit der Investment-
OLAF NISSLER, BERLIN LAUREN LANCASTER / VERASIMAGES / AG. FOCUS
Leistung, die Leiden schafft
Unsere Tochter hat drei Jahre lang eine der genannten Privatschulen in Berlin besucht – mit dem Ergebnis, dass sie zwar fließend Englisch, aber weder rechnen noch rechtschreiben konnte. Als ich das der Schulleiterin meldete, empfahl man uns, unsere Tochter zum schulpsychologischen Dienst zu schicken. Kein Einzelfall: Am Ende des Schuljahres nahm ein Viertel der Eltern die Kinder aus der Schule.
DR. HENNING GOCKEL, MÜNSTER
Die Deutsche Bank repräsentiert jetzt das hässliche Gesicht des Raubtierkapitalismus. Profitgier lässt sich hier ganz deutlich als Krankheit diagnostizieren. DR. GÜNTHER WITZANY, BÜRMOOS (ÖSTERR.)
In Bayern wurde im vorigen Jahr die CoFinanzierung der Privatschulen auf Pauschalbeträge umgestellt. In der Folge kletterten die Ausgaben für Schule und Bus um weit über hundert Euro im Monat, und wohl einige Eltern überlegen, ob das überhaupt noch zu leisten ist. THOMAS HOFMANN, MAINBURG (BAYERN)
Deutsche Bank – Leistung, die Leiden schafft.
Handelsraum der Deutschen Bank in New York
HELMUT HÜMBS-STEINBECK, DE HEURNE (NL)
banker. Als Postbank-Kundin – Firmen-Slogan: „Unterm Strich zähl ich“ – frage ich mich: Gibt es denn noch ein halbwegs ethisch-korrektes Kreditinstitut?!
Das Private Gymnasium Esslingen, dessen pädagogisches Konzept auf Kinder mit AD(H)S zugeschnitten ist, wurde in neuer Trägerschaft weitergeführt und ist inzwischen staatlich anerkannt. Eltern, Lehrer und Psychologisch-Pädagogisches Team konnten es aus der Insolvenz führen.
JOSEFA VELTEN, TÜBINGEN
MAREN GÖPPERT FÜR DAS KOLLEGIUM, ESSLINGEN
Nach Jahren harter Recherchearbeit hätte man wenigstens so viel neue Erkenntnisse erwarten können, dass jeder Staatsanwalt eine Handhabe hätte, um endlich die ganze Bande der Drahtzieher, Akteure und Verantwortlichen zumindest sofort in Untersuchungshaft zu stecken und später zur Anklage zu bringen. So aber wird der Artikel folgenlos bleiben.
Ihr Artikel geht nicht darauf ein, dass insbesondere in Berlin die Schulen marode sind, Stunden unersetzt ausfallen, Gelder für Schulmaterial fehlen, Kinder über Monate kiffend im Park sitzen können, bevor man sich gemüßigt sieht, mal die Eltern zu informieren. Da ist man glücklich über engagierte Privatschulen, die dem verschlafenen Senat etwas entgegensetzen.
PETER BENDFELD, STELLE (NIEDERS.)
NIKOLA FÖRG, BERLIN
Tolles, einprägsames Titelfoto! So, wie der eine aussieht, handelt der andere! Wenn es zum Wohle der Normalkunden wäre, dann könnte man ja keine Einwände haben. Aber ausschließlich im eigenen und im Interesse der Aktionäre zu „zocken“, das halte ich für verwerflich! Übrigens, für Aussehen kann ja keiner was. Aber für eigenes Handeln ist jeder selbst verantwortlich! WOLFGANG JÖRGENS, SOPHIENHOF (THÜRINGEN)
Der Gesichtsausdruck von Investmentbanker Jain sagt mehr aus über die Person als tausend Worte! LOTHAR CATTARIUS, MAINZ
Wie könnte ein Mitglied des Aufsichtsrats der Deutschen Bank jetzt noch sagen: „Das habe ich ja alles nicht wissen können, wir wurden ja nicht informiert?“ Entweder das Mitglied tritt zurück, weil es diese ungeheuerlichen Vorgänge nicht akzeptiert, oder es stellt sein Amt sofort zur Verfügung, weil es diese ganzen Zusammenhänge nicht versteht. Nun, beide Entscheidungen werden mit Sicherheit natür8
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‣ Titel Ist Burnout nur eine Modekrankheit? ‣ Korruption Sind die Verhaltensregeln für Beamte zu streng?
‣ Literatur Ist Charles Dickens heute noch aktuell? D E R
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Briefe die damaligen Verhältnisse. Oder war die Stasi überall mit eigenen Leuten in der (West-)Berliner Polizei und Justiz an der Vertuschungsaktion nach dem Tod von Benno Ohnesorg mit dabei? Natürlich wurde die Aktion ihres IM „Otto Bohl“ Chapeau. Der Artikel räumt mit Mythen von der Stasi zunächst als „bedauerlicher und Spekulationen auf und schildert de- Unglücksfall“ bezeichnet – der sich kurz tailliert alle Fakten, die zum Tod Benno danach wunderbar im Sinne der DDROhnesorgs führten, so dass der Ge- Ideologie auch noch propagandistisch ausschichtsklitterung kein Raum mehr bleibt. schlachten ließ! Man denke nur an die JÖRG GOY, HANDEWITT (SCHLESW.-HOLST.) großzügige Freigabe der Autobahn durch die DDR für den Ohnesorg-Trauerzug. Spät kommt ihr – doch ihr kamt. Ich habe Damit wurde die Tat dann im Nachhinein nie daran gezweifelt, dass der Kurras den für die Stasi zu einem Glücksfall. armen Ohnesorg vorsätzlich erschoss. BERND HÖFER, BERLIN Nr. 4/2012, Die Wahrheit über den tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg wurde von der Polizei vertuscht
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HANS-JOACHIM BLANKENBURG, BENTFELD (NRW) POLIZEIHAUPTKOMMISSAR I. R.
Mord verjährt seit Juli 1979 in der Bundesrepublik nicht mehr, so das Ergebnis langjähriger Debatten. Diese Entscheidung des Bundestags galt offenbar bisher nicht für Kriminalobermeister Kurras, der in den letzten mehr als 40 Jahren von den staatlichen Institutionen gedeckt wurde. Diese Ungeheuerlichkeit ist jetzt vom SPIEGEL aufgeklärt worden. Als Konsequenz bleibt nur ein neues Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin wegen Mordes gegen Kurras.
WOLFGANG SCHÖNE
DR. TILMAN FICHTER, DR. SIEGWARD LÖNNENDONKER BERLIN, AUTOREN VON „DUTSCHKES DEUTSCHLAND“
Erschossener Ohnesorg, Schütze Kurras (Pfeil)
Mit Formulierungen wie „schnippelnde Finger“, „Rand abgeschnitten“, „Schweigen bricht“, wird der Eindruck erweckt, dass mein Foto von mir vorsätzlich manipuliert worden ist. Das entspricht nicht der Wahrheit! Warum das Ullstein-Fotolabor wenige Stunden nach dem Vorfall bei der Entwicklung des Bildes, den Rand weggelassen hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Meine Negative wurden am nächsten Vormittag dem Berliner Staatsschutz zur Auswertung übergeben. Dort hätte man das „ganze“ Foto erkennen müssen. WOLFGANG SCHÖNE, BERLIN
Wenn man bedenkt, dass der Anwalt von Kurras aus Geldern bezahlt wurde, die die Gewerkschaft der Polizei in einer Spendenaktion bei Polizisten einsammelte, wirft das ein bezeichnendes Licht auf 12
Ein unverzeihliches Versagen des Staates, seiner Organe und Bediensteten! Und einmal mehr: die Erschütterung der Integrität unseres Landes. Immerhin: Nun gibt es Gewissheit nicht nur über die moralische, sondern auch rechtliche Schande. ECKHARD PIEPER, WOLFSBURG
So besehen hatten die 68er mit ihrer Ansicht, dass hier die alten Mörder wieder walteten, völlig recht. HERBERT LEHNER, WIEN
Der allzu schnelle Kurras-Freispruch wirkte damals für viele wie ein Schock. Die Gutwilligen verloren das Vertrauen zum Rechtsstaat, und die Scharfmacher der Apo und RAF hatten einen idealen Märtyrer für ihre Propaganda. Der Fall Benno Ohnesorg wird zur Schande des deutschen Rechtsstaats, wenn er nicht endlich durch ein ordentliches Gerichtsverfahren geklärt wird.
OEGGERLI / SPL / AGENTUR FOCUS
Ein unverzeihliches Versagen
MRSA-Bakterien
ten Änderung des Arzneimittelgesetzes. Vorangegangene Novellierungen haben allerdings unter anderem dazu geführt, dass durch die lobbyindoktrinierte Politik die vormals illegale Vorratsabgabe von Tierarzneimitteln in großen Mengen an Tierhalter legalisiert und somit nahezu risikolos für alle schwarzen Schafe der betroffenen Berufsgruppen möglich wurde. Wenn dieses politische Versagen jetzt durch die angedachte Abschaffung des Dispensierrechtes auf dem Rücken der Tierärzte und deren Patienten ausgetragen werden soll, dreht sich mir angesichts der erneuten groben politischen Täuschung in Sachen Verbraucherschutz schlechterdings der Magen um. TOBIAS GUGGENMOOS, VILSECK (BAYERN)
Wäre es nicht einfach nur pervers, eines Tages vom Arzt hören zu müssen, dass man ja leider, leider an einer simplem Infektion sterben werde, weil durch übermäßigen „Fleischbiotikumkonsum“ kein Mittelchen mehr wirken kann?
DR. RÜDIGER TESSMANN, ALBENGA (ITALIEN)
KRISTINA ROTHENHAGEN, KIEL
Als Zeitgenosse spürt man sie plötzlich wieder, diese Empörung. Unter den jungen Menschen wurde sehr viel Vertrauen verspielt. Die Obrigkeit war auf einmal eine Macht mit Knüppeln und Pistolen, die gegen offensichtlich Unschuldige brutal eingesetzt wurden; ein Einsatz, der von einem bestimmten Teil der Presse auch noch ausdrücklich gelobt wurde.
Ihre Prognose – viele Tote durch resistente Erreger – ist unter Umständen unzureichend. Eine solche Katastrophe könnte möglicherweise den Planeten vom Homo sapiens massenhaft befreien und somit die Rettung des Klimas, der Ozeane und der Artenvielfalt einleiten.
ROLF GUGGENBERGER, NORDERSTEDT (SCHL.-HOLST.)
Der Beitrag unterstellt, dass Tierärzte massenhaft Antibiotika verkaufen wollten, um ihr Einkommen aufzubessern, und Landwirte diese Arzneimittel auch fordern, um das Wachstum ihrer Tiere zu fördern. Dabei wird die Bedeutung von Antibiotika als Masthilfsmittel deutlich überschätzt. Ihr Einsatz ist teuer und aufwendig und wird fachlich durch die Antibiotikaleitlinien beschrieben, die auch Wirksamkeitsprüfungen vorsehen. Die in der Humanmedizin kursierenden Probleme mit resistenten MRSA-Bakterien müssen zunächst einmal als deutlich hausgemacht bezeichnet werden und sind nicht die Folge des Einsatzes von Antibiotika in der Tierhaltung.
Die Geschichte der BRD wäre wohl nicht so brutal verlaufen, hätte man nicht diese große Vertuschungsaktion gestartet. THOMAS HANSEN, BERLIN
Nr. 4/2012, Killerkeime aus dem Stall
Erneute grobe Täuschung Die zurecht aufgeregte Diskussion um den Antibiotikaeinsatz hat auch alle sorgsam arbeitenden Tierärzte pauschal und massiv in die Kritik gebracht. Die volksnahe aignersche Lösung des Problems ist wieder einmal der alte Hut einer erneuD E R
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PETER HÜLCKER, NORDERSTEDT (SCHL.-HOLST.)
ROLF NATHAUS, REKEN (NRW)
Briefe Nr. 4/2012, Verfassungsschutz bespitzelt die Linke
Ross und Reiter Es ist schon ein ungeheuerlicher Akt, wenn Innenminister Friedrich die Partei Die Linke mit der NPD vergleicht und damit die Bespitzelung durch den Verfassungsschutz noch nachträglich sanktionieren will. Nun sollte der Bundestag endlich ein Machtwort sprechen und dem absurden Treiben des Verfassungsschutzes, der vor allen Dingen auf dem rechten Auge mehr als erblindet ist, ein Ende setzen! Schließlich sind die ganzen Aktionen doch nur einzig und allein darauf ausgerichtet, Linke-Parlamentarier und Anhänger zu verunsichern und eventuelle Wähler dieser Partei abzuschrecken.
STEFFI LOOS / DAPD
Wer den Verfassungsschutzbehörden eine gesetzwidrige Überwachung und Bespitzelung von Abgeordneten der Linkspartei
Linke-Spitze Wagenknecht, Enkelmann, Gysi
vorwirft, schlägt das Ross und meint den Reiter. Die herrschende Klasse, nicht nur in Deutschland, fürchtet die Verwirklichung einer von der Partei Die Linke geforderten sozial gerechten Politik wie der Teufel das Weihwasser. ROBERT MARXEN, VAREL (NIEDERS.)
Während das Schreckgespenst einer Kapitalflucht im Fall eines Wahlsiegs der Linken in leuchtenden Farben an die Wand gemalt wurde, konnte sich die Rechte entfalten und ausbreiten. Aufmärsche der Rechten wurden durch die Polizei sogar vor linken Gegendemonstrationen geschützt.
Der sinnlose und sittenwidrige Mord an Rabenvögeln durch die sogenannten Crowbuster fand und findet lebhaften Zuspruch nicht nur in breiten Jägerkreisen, sondern auch Unterstützung durch den Landesjagdverband Niedersachsen. Der bietet ganz unverblümt im „Jägerlehrhof“ des Jagdschlosses Springe unter dem Thema „Effektive und zeitgemäße Rabenvogelbejagung“ Seminare an. GERHARD HINZE, SCHÜTTORF (NIEDERS.)
Lust am Töten – nichts anderes ist das Motiv für dieses perverse Krähenabknallen der Crowbusters. Zumindest sorgen so jedoch die Jäger selbst dafür, dass ihr Ansehen weiter schwindet. HANS-PETER FELTEN, DAUN (RHLD.-PF.)
Die Jägerei ist zu einem Spaß-Event verkommen. Das „grüne Abitur“ ist eher ein Armutszeugnis, denn es wird nicht halb so viel Wissen vermittelt, wie man bei einer verantwortungsvollen Hege benötigen würde. Jäger, die auf Krähenjagd gehen, können in der Voliere Kolkraben von Saatkrähen oder Rabenkrähen kaum unterscheiden. Ich habe es selbst erlebt! Wie soll man das dann bei der Jagd können? ANGELIKA BORNSTEIN, EITORF
Wer Computerspiele mit der Realität verwechselt und Lustgewinn beim Töten harmloser Vögel verspürt, ist psychisch krank oder hochgradig kriminell. CAROLA KÖHLER, HOFGEISMAR (HESSEN)
Nr. 4/2012, Wie deutsche Jäger einen Krieg gegen die Krähen führen
Lust am Töten Bei uns hat die Krähenpopulation sehr zugenommen, und zwar ohne Müllhalden in der Nähe. Wer freilaufendes Federvieh hat, das auch brütet, hat schon mehrfach Verluste erlitten und ist Zeuge der Jagdfähigkeit von Krähen geworden. HENRIK SPROEDT, SCHWABSTEDT (SCHL.-HOLST.) D E R
HENRI OSSENBRÜGGEN, APPEN (SCHL.-HOLST.)
Jäger, erlegte Krähen
THOMAS HENSCHKE, BERLIN
BEATRIX SAYER, HEIDELBERG
Nabu und Bund stellen die Krähen unter einen übertriebenen Schutz. Dass sie keine Singvogelbrut zerstören, ist wohl ein Gerücht. Diese Vögel sind in vielen Bereichen für Menschen und Tiere zu einer Plage geworden. Ich habe oft beobachtet, wie Krähen einen Seeadler attackierten.
Auch angebliche Fraßschäden von Krähen auf landwirtschaftlichen Nutzflächen können angesichts der europaweiten Überproduktion im Agrarsektor kaum mehr als Jagdbegründung herhalten. THOMAS NACHTIGAL, MEERBUSCH Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
[email protected]
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Deutschland
SASCHA SCHUERMANN / DAPD
MAURIZIO GAMBARINI / PICTURE ALLIANCE / DPA
Panorama
Steinbrück, Gabriel, Steinmeier
Mattheis SPD
Parteilinke will kämpfen Linken, die Mattheis Ende vergangenen Jahres zur neuen Vorsitzenden gewählt haben. „Wir wollen das Rentenniveau auf dem heutigen Stand halten, es darf nicht weiter abgesenkt werden“, sagt die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete. „Dafür werden wir als Parteilinke kämpfen.“ Damit stellt sie die Rentenreformen der SPD-Regierungszeit in Frage, die vorsehen, das Alters-
Der SPD droht nur zwei Monate nach ihrem Parteitag neuer Flügelstreit. Die Chefin des Forums Demokratische Linke 21 (DL 21), Hilde Mattheis, 57, kündigte an, „Bausteine für ein linkes Regierungsprogramm“ zu erarbeiten. Dies ist eine klare Absetzbewegung von der für die inhaltliche Ausrichtung des Wahlkampfs zuständigen Parteispitze. Die DL 21 ist der offizielle Zusammenschluss der SPD-
über die Unterzeichnung eines Kulturabkommens. „Die durchweg positiven Ergebnisse der Reise“ (so ein Teilnehmer) sollten in den kommenden Tagen Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) vorgestellt werden. Sowohl von kubanischer als auch von deutscher Seite sei „das Interesse an einem Ende der
KUBA
In die deutsch-kubanischen Beziehungen kommt Bewegung. Erstmals seit zehn Jahren besuchte Anfang Januar offiziell eine Delegation des Bundestags die sozialistische Insel in der Karibik. Nach über einjähriger Vorbereitung führte die vierköpfige interfraktionelle Gruppe aus dem Haushaltsausschuss des Parlaments unter anderem Gespräche mit dem stellvertretenden Außenminister. Mit dabei war je ein Abgeordneter von CDU/CSU, SPD, FDP und Linkspartei. Die deutschen Parlamentarier trafen sich auch mit Vertretern des Finanz- und des Außenhandelsministeriums. Ziel der Gespräche sei es gewesen, neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten, hieß es. Diskutiert worden sei zudem
ULLSTEIN BILD
Ende der Eiszeit?
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geld-Niveau jedes Jahr ein Stück abzusenken, um die Folgen der demografischen Entwicklung aufzufangen. Mattheis fordert außerdem, nochmals über die Reichensteuer zu debattieren. Nach ihren Plänen sollen Arbeitnehmer ab einem Einkommen von 250 000 Euro weiterhin einen Zuschlag von 3 Prozentpunkten auf den Spitzensteuersatz zahlen – insgesamt wären es dann 52 Prozent. Zum Missfallen der drei möglichen Kanzlerkandidaten Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier steht Mattheis zudem einem Bündnis mit der Linkspartei nach der Bundestagswahl aufgeschlossen gegenüber.
bisherigen Eiszeit“ deutlich geworden. Seit der Verhaftung etlicher Oppositioneller im sogenannten Schwarzen Frühling 2003 waren sowohl die Entwicklungszusammenarbeit mit Havanna als auch ein unterschriftsreifes Kulturabkommen gestoppt worden. Deutschland hatte sich seitdem nur noch punktuell in Kuba engagiert, etwa über die Welthungerhilfe oder beim Wiederaufbau einer 2008 durch einen Hurrikan zerstörten Kirche. Die nun in Aussicht stehende Ratifizierung des Kulturabkommens würde beispielsweise die Eröffnung eines GoetheInstituts mit öffentlicher Bibliothek auf der Karibikinsel ermöglichen und Stiftungen die Arbeit erHavanna leichtern. 17
Panorama REGIERUNG
MARIUS BECKER / DPA
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer muss sich erneut wegen des Vorwurfs rechtfertigen, CSU-nahe Mitarbeiter in seinem Ressort bei der Stellenvergabe zu bevorzugen. So hat Ramsauer seine persönliche Referentin laut Organigramm mit einem eigenen Referat L 11 ausgestattet. Mitarbeiter hat die Referentin allerdings nicht. Das Vorgehen ist zumindest unüblich. Bislang waren persönliche Referenten des Ministers direkt beim Ressortchef angegliedert – ohne Referat. Damit setzt sich die Reihe umstrittener Personalentscheidungen im Verkehrsressort fort. Ramsauer hatte Gefolgsleute unter anderem zu Unterabteilungsleitern gemacht, of- Ramsauer
GARCIA / IMAGO
Christsoziale Personalpolitik GS „Mellum“
Anreise erfolgte mit dem bundeseigenen Schiff GS „Mellum“. Höhepunkt der Sause war laut Tagesordnung der Programmpunkt „Erfahrungsaustausch und Grillen“. Die Regierungskontrolleure vermissen klare Regeln, in welchen Ausnahmefällen Kosten für Treffen des Personalrats außerhalb des Behördensitzes vom Ministerium übernommen werden. Das Haus prüft nun Schadensersatzansprüche gegen den damaligen Leiter der Zentralabteilung, Robert Scholl. Er hatte die Bezahlung der Reise aus Steuermitteln genehmigt und soll jetzt Stellung nehmen.
fenbar um den Einfluss der Union auf das Ministerium nach einem Regierungswechsel sicherzustellen (SPIEGEL 5/ 2012). Eine Schlüsselrolle bei Ramsauers Personalpolitik spielt der Personalrat, der die umstrittenen Entscheidungen absegnen muss. Als neuer Vizechef des Gremiums läuft sich ausgerechnet der Vorsitzende der CDU/CSU-Mitarbeitergruppe, Daniel Steinmann, warm. Der Bundesrechnungshof moniert mehrere Treffen von Personalräten in den vergangenen Jahren. Derzeit geht es vor allem um einen dreitägigen Trip auf die Insel Helgoland im September 2010. Die
EURO
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Deutsche Stromkunden sollen Griechenland retten
Zähe Aufklärung
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heißt es in dem Bericht des Überwachungsgremiums, der diese Woche vorgelegt werden soll. In Brüssel wächst allerdings der Widerstand gegen allzu harte Sparauflagen. „Wenn man Gehälter weiter kürzt, stellt man die Bereitschaft der griechischen Bevölkerung in Frage, aus der Krise herauszukommen“, sagt der deutsche Energiekommissar Günther Oettinger. „Das Sparen muss jetzt von Maßnahmen zur Abmilderung der Rezession begleitet werden.“
DIMITRI MESSINIS / AP
Die Bundesregierung prüft Pläne, die schrumpfende griechische Wirtschaft mit Hilfe der deutschen Stromkunden anzukurbeln. Um Investitionen in griechische Solarparks oder Windkraftanlagen anzureizen, soll die gesetzliche Förderung erneuerbarer Energien auch für griechische Unternehmen geöffnet werden, die Strom ins europäische Elektrizitätsnetz leiten. Zusätzlich soll es für Ökostrom-Investitionen in Griechenland Hilfen der Staatsbank KfW geben. Dies geht aus Plänen der EU-Kommission für ein neues griechisches Wachstumsprogramm hervor. Zugleich wächst die Kritik an der zögerlichen Art und Weise, wie Athen versucht, die Finanzkrise in den Griff zu bekommen. So hält es die Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds für erforderlich, die Arbeitskosten um 15 bis 20 Prozent abzusenken. Noch immer liege der gesetzliche Mindestlohn um rund 50 Prozent über dem Niveau Portugals,
Protest gegen Sparauflagen in Athen D E R
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Das Bundesverwaltungsgericht wirft Kanzleramt und Bundesnachrichtendienst (BND) vor, Unterlagen zu Adolf Eichmann, dem Cheflogistiker des Holocaust, zurückzuhalten. Dessen Akte umfasst mehrere tausend Seiten; Teile davon will der dem Kanzleramt unterstellte Dienst nur geschwärzt herausgeben. Nach einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts ist dies überwiegend „rechtswidrig“. Eichmann war 1961 in Israel vor Gericht gestellt und später hingerichtet worden. „Sogar die bereits veröffentlichten Verhörprotokolle hält der BND geheim“, kritisiert Anwalt Reiner Geulen, der auf Freigabe der Akten klagt. Erst kürzlich hat der Dienst auf Antrag des SPIEGEL seine Dossiers zu den DDR-Diktatoren Walter Ulbricht und Erich Honecker angeblich vollständig freigegeben. Sie enthielten aber vor allem Unterlagen, die mit den beiden nichts zu tun hatten oder die Auswertung der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ wiedergaben.
Deutschland ter anderem unter der Schirmherrschaft des damaligen Ministerpräsidenten Günther Oettinger (CDU). Bislang seien aber weder die Papiere noch überhaupt ein Antwortschreiben in Hannover eingegangen, bemängeln die Ermittler. Keine Kenntnis haben sie bislang auch über das Ergebnis einer Durchsuchung von Geschäftsräumen Schmidts im schweizerischen Zug. Schmidt, der Glaeseker mit Gratisurlauben in Spanien und Südfrankreich bestochen haben soll, versucht derzeit mit einen Anwalt, die Herausgabe der Ermittlungsergebnisse nach Deutschland zu verhindern. Eine Entscheidung könne deshalb noch Wochen dauern, fürchten die Beamten in Hannover.
JUSTIZ
Glaeseker-Akten fehlen
NIGEL TREBLIN / DAPD
Der Staatsanwaltschaft Hannover fehlen im Ermittlungsverfahren gegen den früheren Sprecher von Bundespräsident Christian Wulff, Olaf Glaeseker, wegen des Verdachts der Bestechlichkeit wichtige Unterlagen. So war die badenwürttembergische Landesregierung schon vor mehreren Wochen auf- Glaeseker gefordert worden, Akten über den Nord-Süd-Dialog, eine Partyreihe des Eventmanagers Manfred Schmidt, herauszugeben. Die Veranstaltung fand abwechselnd in Hannover und Stuttgart statt und stand un-
RECHTSTERRORISMUS
Im Mietwagen zum Mord
CAROLIN LEMUTH / DPA
Die Ermittlungen zur rechtsextremistischen Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) kommen deutlich voran. Inzwischen konnten Fahnder des Bundeskriminalamts (BKA) Unterlagen von insgesamt 64 Anmietungen von Leihwagen und Wohnmobilen sicherstellen, die die Zwickauer Neonazi-Zelle nutzte. 17
Wohnmobil der NSU-Terroristen
der Anmietungen stehen in zeitlichem Zusammenhang zu mutmaßlichen Straftaten des NSU: Es geht um neun Raubüberfälle, zwei Sprengstoffanschläge und sechs Morde. Zu den Tötungsdelikten in Rostock (Februar 2004), Dortmund, Kassel (April 2006) und Heilbronn (April 2007) reisten die Neonazis offenbar in Wohnmobilen an; zu den Erschießungen in Nürnberg D E R
und München (Juni 2005) in einem Kleintransporter des Typs Mercedes Vito. Gemietet wurden die Fahrzeuge jeweils kurz vor den Morden unter dem Namen „Holger G.“. Diesen Namen benutzte der verstorbene NSU-Terrorist Uwe Böhnhardt als Tarnidentität (SPIEGEL 2/2012). BKA-Präsident Jörg Ziercke fordert inzwischen eine Aufstockung der zuständigen Ermittlungsgruppe. Die bislang 360 Beamten sollten durch 50 zusätzliche Kollegen von der Bundespolizei und aus den Ländern verstärkt werden. Kommende Woche will der BKA-Chef seine Bitte in einer Telefonschaltkonferenz bei den Innenministern der Länder vorbringen. Thüringer Behörden fahnden derzeit nach einem weiteren untergetauchten Rechtsextremisten, der in der Schweiz wegen Waffendelikten aufgefallen ist. Seit August wird der 28-jährige Christian M. per Haftbefehl von der Staatsanwaltschaft Gera gesucht, weil er sechs Monate Haft wegen Volksverhetzung absitzen muss. Es wird vermutet, dass M. in der Schweiz abgetaucht ist. Die Spur in das Nachbarland ist alarmierend, weil sowohl die bei der NSU-Mordserie verwendete Pistole des Typs Ceska 83 als auch eine Pumpgun der Zwickauer Zelle aus der Schweiz stammen. Ob Christian M. mit den Waffen zu tun hatte, ist unklar.
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Deutschland
Panorama
GESCHICHTE
JULIAN THEILACKER
Schwache Stimme Hans-Peter Goldberg, 55, Bismarck-Experte, über die Entdeckung einer Tonaufnahme von 1889 mit der Stimme des damaligen Reichskanzlers Otto von Bismarck
CARO / TRAPPE
SPIEGEL: Das Organ Bismarcks klingt überraschend tief. Bislang schrieben Historiker immer, der schwergewichtige Hüne habe eine hohe Stimme gehabt. Woher stammt diese Version? Goldberg: Ein Reichstagsstenograf, ein gewisser Herr Schmidt, hat 1888 einen Band mit Bismarck-Anekdoten veröffentlicht. Darin behauptet er, aus dem „colossalen Manne“ habe eine „fast frauenhaft schwache Stimme“ gesprochen. Und dann gibt es die Erinnerungen des Diplomaten Arthur von Brauer, eines langjährigen Mitarbeiters Bismarcks. Er berichtet, dessen Stimme habe einen „hohen, beinahe Fistelklang“ gehabt. SPIEGEL: Haben die beiden gelogen? Goldberg: Nein, die beiden sind glaubwürdig. Während der jetzt gefundenen Aufnahme war der Kanzler offenkundig entspannt. Stimmen klingen ja oft anders, wenn jemand erregt ist und vor Publikum spricht. Und Bismarck hat selbst darüber geklagt, seine Stimme sei schwach und andere würden sich beschweren, dass er nicht zu verstehen sei. Von dem Abgeordneten Eduard Lasker wissen wir, dass einige Parlamentarier um Bismarck einen Kreis bildeten, wenn dieser sprach. Dabei war die Akustik des Reichstags ausgezeichnet. SPIEGEL: Experten streiten, ob Bismarck ein großer Redner gewesen sei. Spielt die Tonlage seiner Stimme in dieser Diskussion eine Rolle? Goldberg: Nein, seine Reden wurden von den meisten Zeitgenossen nicht gehört, sondern in den Zeitungen gelesen.
Kita-Kinder in Berlin FA M I L I E N
Kita wäre besser In den Reihen der CSU regt sich Widerstand gegen das geplante Betreuungsgeld. Die Europa-Abgeordnete Monika Hohlmeier fürchtet, dass besonders Familien aus bildungsfernen Schichten das Geld nicht zum Wohl ihrer Kinder einsetzen: „Diese Familien können oder wollen ihre Kinder nicht fördern und schädigen sie im Extremfall sogar. Hier wäre es gut, wenn die Kinder so früh wie möglich zusätzliche Förderung und Betreuung von öffentlicher Seite bekommen.“ Hohlmeiers CSU-Kollegin, die Bundestagsabgeordnete Dagmar Wöhrl, hält zwar an der Parteilinie fest, teilt aber die Bedenken
KARRI EREN
Uhrlau zur Bank
AKG
Bismarck
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ihrer Kollegin: „Frühkindliche Bildung halte ich besonders bei Familien mit Migrationshintergrund für wichtig.“ Ab 2013 sollen Eltern, die ihre Kinder im zweiten Lebensjahr nicht in einer Kita betreuen lassen, zunächst 100 Euro monatlich bekommen. Von 2014 an soll der Betrag auf 150 Euro pro Monat steigen und dann für Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr gezahlt werden. In der vergangenen Woche hatte EU-Sozialkommissar László Andor das Betreuungsgeld kritisiert. Statt Eltern zum Daheimbleiben zu animieren, solle der Staat besser für mehr Krippenplätze sorgen.
Der frühere Chef des Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, ist in die freie Wirtschaft gewechselt. Seit Anfang Februar arbeitet Uhrlau, der auch Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung war, im Risikomanagement der Deutschen Bank. Er solle das Geldinstitut in Fragen globaler Sicherheit beraten, heißt es. Der neue Job sei mit Kanzleramtsminister Ronald Pofalla abgesprochen und von diesem gebilligt worden. Uhrlau, 65, war Ende vorigen Jahres als Geheimdienstchef verabschiedet worden. Der Sozialdemokrat amtierte sechs Jahre lang als Präsident des Auslandsnachrichtendienstes. D E R
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ZAHL DER WOCHE
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Bürger
haben per Mail vergebens gegen die Erhöhung der Abgeordnetendiäten im nordrhein-westfälischen Landtag protestiert. Diese Woche will das Parlament eine Erhöhung um 500 Euro auf monatlich 10 700 Euro beschließen. Die Brandbriefe blieben auch deshalb ohne Wirkung, weil sie im Spam-Ordner der Landtagsverwaltung landeten. Da sie massenhaft über ein Internet-Tool des Steuerzahlerbundes NRW abgeschickt wurden, erfüllten sie die Kriterien für Spam-Post.
ELODIE GREGOIRE / REA / LAIF
Deutschland
Führungsduo Sarkozy, Merkel
E U R O PA
Pakt der Verzweiflung Kanzlerin Angela Merkel will sich im französischen Präsidentschaftswahlkampf offen an die Seite von Nicolas Sarkozy stellen. Das Bündnis ist ein Tabubruch in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen.
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in bisschen sah es aus wie eine Hochzeit, als Angela Merkel und Nicolas Sarkozy am vergangenen Montag den Sitzungssaal des Brüsseler Ratsgebäudes betraten. Sie nickten und verteilten Küsschen, die anderen Staats- und Regierungschefs standen Spalier. Natürlich, es ging nicht um die Vermählung der Kanzlerin und des französischen Präsidenten, aber den Segen für den Fiskalpakt, den sie gemeinsam für die EU erfunden hatten, wollten sich die beiden schon abholen. Als dies geschehen war, konnte man eine zufriedene Kanzlerin erleben, eine 22
Frau, die aus ihrer Sympathie für Sarkozy keinen Hehl macht. „Meine parteipolitischen Gefühle sind ja bekannt“, sagte Merkel nach dem Gipfel. Und dann folgte ein Satz, der bisher unvorstellbar war für einen deutschen Kanzler: „Nicolas Sarkozy hat mich im Wahlkampf unterstützt. Genauso gebe ich jetzt das zurück, was er mir hat zuteilwerden lassen.“ Die nüchterne Kanzlerin und der quirlige Staatspräsident haben einen Pakt geschlossen, wie es ihn noch nie gab in der langen Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen. Merkel hat sich entD E R
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schlossen, ganz unverhohlen Wahlkampf zu machen für den Kollegen in Paris. Für ihn wird sie jene Zurückhaltung fahrenlassen, die Kanzler in den letzten Jahrzehnten für geboten hielten. Wenn Sarkozy die Werbetour für seine Wiederwahl startet, dann wird sie mit ihm auf der Bühne stehen, so ist es geplant. Sarkozy wiederum wird in seiner Kampagne den Nachbarn jenseits des Rheins zum leuchtenden Vorbild erheben. Die deutsche Schuldenbremse, die deutschen Sozialreformen, die deutsche Produktivität – an alldem sollen sich die Franzosen
DUFOUR-POOL / SIPA
ein Beispiel nehmen. Als der Präsident Merkels Alptraum vor ein paar Tagen ein einstündiges Fernsehinterview gab, gebrauchte er 15-mal Auszüge aus dem 60-Punkte-Programm das Wort „Allemagne“. Selbst Parteifreun- des sozialistischen Präsidentschaftskandidaten François Hollande de fanden, Sarkozys Faible für DeutschEuropas Schuldenkrise Wirtschafts- und Sozialpolitik land wandle sich langsam zur Obsession. FğųžğšıćōĚŅųōĬĚğšk (ĴŝĨğŅ ZŸĔłĨŸıšųōĬĚğťĨšŸığťŭŋŘĬŅĴĔığōZğōŭğō Man kann die Bande zwischen Merkel ĒğťĔıŅŸťťğžœŋğğŋĒğšǿǽǾǾųš ğĴōŭšĴŭŭťćŅŭğšťžœō#ǿćųĨ#ǽ:ćıšğ und Sarkozy als eine neue Stufe der ųšœ <šĴťğŋĴŭ^ĔıſğšŝųōłŭćųĨwćĔıť #0 ǽǽǽōğųğ^ŭğŅŅğōĴŋšĴğıųōĬťſğťğō Freundschaft zwischen Berlin und Paris se ŭųŋųōĚğťĔıČĨŭĴĬųōĬ :œĒŝšœĬšćŋŋ$Ǿ%0 ǽǽǽōğųğ^ŭğŅŅğōĨŸš hen. Was ist zu sagen gegen zwei Staats ĴğťœŅŅĴōĚĴğťğŋ^Ĵōōğ ĒğōćĔıŭğĴŅĴĬŭğ:ųĬğōĚŅĴĔığ lenker, die zu einem virtuellen Herr ōğųćųťĬğšĴĔıŭğŭſğšĚğō! ^ŭććŭŅĴĔığšwœıōųōĬťĒćų$ǿ&%DĴŅŅĴœōğō scherpaar verschmolzen sind? Konrad ğĨŸšſœšŭųōĬžœōųšœ œōĚť ōğųğ^œĴćŅſœıōųōĬğō Adenauer und Charles de Gaulle schlossen vœŅŅğĴōĒğĴğıųōĬĚğšōćŭĴœōćŅğō 'ōığĒųōĬĚğšvğšŋŘĬğōťŭğųğšųōĚ den Elysée-Vertrag, Helmut Kohl und Fran VćšŅćŋğōŭğĴōĚĴğťğğťĔıŅŸťťğ Ěğť^ŝĴŭğōťŭğųğšťćŭğť çois Mitterrand reichten sich die Hände über den Gräben von Verdun. Und „Mer- Umfrage zu den Präsidentschaftswahlen YųğŅŅğ$eōť^œĨšğťĨŸš kozy“ setzen jetzt das in die Tat um, wo>ğFœųžğŅLĒťğšžćŭğųš!) Stimmenanteile in der ersten Runde (22. April 2012), in Prozent kŋĨšćĬğžœŋ*ǽ:ćōųćšǿǽǾǿ& von Freunde eines geeinten Kontinents ǾǽǽǽğĨšćĬŭğ schon immer träumten: europäische InnenFrançois Hollande 31,5 politik, ein Denken ohne Schlagbäume. Stimmenanteile bei der Stichwahl (6. Mai 2012) Nicolas Sarkozy 26 Das ist die wohlmeinende Sicht der Dinge, und sie wird gern verbreitet in François Hollande 58 Marine Le Pen 16 Berlin und Paris. „Es spricht für das Zusammenwachsen Europas, wenn KanzleNicolas Sarkozy 42 François Bayrou 12 rin Merkel mit Präsident Sarkozy Wahlkampf macht“, sagt der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz. In Wahrheit ist es eher Verzweiflung, derwahl im Mai. Der Präsident wolle als dem müden Wahlkampf Sarkozys Leben die Merkel und Sarkozy umtreibt. Der Macher auftreten, als Gestalter der Euro- einhauchen. Das ist die Idee. Schon an diesem Montag gibt Merkel Präsident liegt in Umfragen offenbar hoff- Rettung. Die Franzosen sollen ihn als einungslos hinter seinem sozialistischen nen Mann sehen, der Merkel ebenbürtig mit Sarkozy ein gemeinsames Interview, Herausforderer François Hollande zurück. ist und der nicht das Schicksal all jener die Zuschauer können es im ZDF und im Das deutsche Jobwunder in Frankreich beklagenswerten Staatschefs aus dem Sü- französischen Sender 2 sehen. Es zu wiederholen – mit diesem Versprechen den Europas teilt, die jetzt in Brüssel um wird im Salon Murat des Elysée-Palasts Milliarden für ihre maroden Haushalte aufgezeichnet, die Kronleuchter und die will er Wähler locken. Merkel wiederum graut vor einem Prä- betteln müssen und dabei nicht nur Teile vergoldeten Wandsäulen sorgen für eine sidenten Hollande, der auf sie wie eine ihrer Souveränität verlieren, sondern erhabene Kulisse. Und das ist erst die Ouvertüre des Wahlkampfeinsatzes der französische Ausgabe Oskar Lafontaines auch ihre Würde. Aber wie soll das gehen? Eben erst Kanzlerin in Frankreich. wirkt. Hollande ist für Euro-Bonds und Konkrete Termine stehen bislang zwar gegen eine verfassungsrechtlich veranker- wurde Frankreich das AAA-Rating gete Schuldenbremse; geht es nach ihm, lan- nommen, und das Schlimmste daran war noch nicht fest. Aber Sarkozys Strategen det Merkels Fiskalpakt, den sie gerade für die Franzosen, dass Deutschland seine haben Merkel schon fest eingeplant. Als mit viel Mühe durch die Brüsseler Instan- Topnote behalten durfte. Dazu kommen CDU-Generalsekretär Gröhe vor gut eizen geboxt hat, im Papierkorb. Scheitert die schlechten französischen Wirtschafts- ner Woche nach Paris zum UMP-WahlSarkozy, scheitert Merkels Europapolitik, daten, die so gar nicht zu Sarkozys Be- kampfauftakt fuhr, präsentierte ihm sein hauptung en, Frankreich spiele in ei- französischer Kollege Jean-François Copé so das Kalkül im Kanzleramt. eine Liste mit Vorschlägen. Deshalb läuft nun schon seit Monaten ner Liga mit Deutschland. Merkel freue sich auf die gemeinsamen Wenn schon die Zahlen nicht harmoeine Art Geheimdiplomatie zwischen dem Berliner Adenauer-Haus und der Pa- nieren, dann müssen wenigstens die Bil- Auftritte mit dem Präsidenten, sagte Gröriser UMP-Zentrale. Die Schwesterpartei der stimmen, da waren sich Deutsche und he anschließend bei seiner Rede vor den in Frankreich wird ähnlich intensiv be- Franzosen schnell einig. So entstand die UMP-Delegierten, der Applaus war betreut wie ein CDU-Landesverband, der Idee, dass Merkel vor der Präsident- geistert. Am folgenden Tag titelte das vor einer wichtigen Wahl steht. Entschei- schaftswahl nach Frankreich reist, um mit französische Blatt „Journal du Dimanche“ dendes Bindeglied zwischen beiden Sei- Sarkozy aufzutreten. Die Kanzlerin des süffisant: „Merkel wählt Sarkozy“. Vor ein paar Jahren wäre eine solche ten ist der französische Landwirtschafts- zuletzt boomenden Deutschland soll auch Schlagzeile undenkbar gewesen. Sarkozy minister Bruno Le Maire, Deutschlandfremdelte zu Beginn seiner Amtszeit mit Kenner in der französischen Regierung. dem rationalen Wesen Merkels, die KanzZweimal reiste er in den vergangenen lerin wiederum war irritiert von dem hyMonaten nach Berlin, um sich mit CDUpernervösen Aktionismus des französiGeneralsekretär Hermann Gröhe zu beschen Präsidenten und seiner Marotte, raten, einmal bekam er einen Termin bei Leute beim Reden immer anzufassen. ZuPeter Altmaier, einem der wichtigsten Beeinander führte die beiden dann erst die rater der Kanzlerin. Le Maire besprach Euro-Krise. die großen Linien der Operation WahlNun schweißt die beiden auch der gekampfhilfe, für die Details war dann der meinsame Gegner zusammen, der Soziastellvertretende UMP-Generalsekretär list Hollande. Der bezeichnet sich zwar Hervé Novelli zuständig. als „realistischen Linken“, aber sein WahlHaarklein erklärten die Franzosen Sar- Sozialist Hollande programm ist so voller teurer Versprekozys Wahlkampfstrategie für die Wie- Angriff auf Merkels Europapolitik D E R
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Staatsmänner Mitterrand, Kohl 1994: Unterstützung allenfalls als subtile Geste
chen, dass es selbst den Sozialdemokraten in Berlin unheimlich wird. Die haben nämlich, zum Beispiel, die Rente mit 67 miteingeführt, während Hollande es schon als Zumutung empfindet, dass die Franzosen frühestens mit 62 in Rente gehen können. Besonders heikel ist für Merkel aber Hollandes Europapolitik. Bisher konnte sie ihre Sparpläne nur deshalb in ganz Europa durchsetzen, weil sie Sarkozy an ihrer Seite wusste. Hollande hat schon klipp und klar gesagt, dass er den Fiskalpakt, das Herzstück von Merkels Europapolitik, kippen werde. Zwar verbreiten Merkels Berater, Hollande werde schon zur Vernunft kommen, sollte er erst einmal im Elysée sitzen. Aber das könnte sich als Wunschdenken erweisen. „Es ist unglaublich, wenn man uns sagt, ein neugewählter sozialistischer Präsident dürfe an diesem Abkommen nichts ändern wollen. Dann kann man uns gleich sagen: Ihr braucht keine Wahlen durchzuführen“, sagt Hollandes Wahlkampfleiter Pierre Moscovici. Er hat auch ein hübsches Beispiel einer Regierungschefin parat, die sich ganz allein gegen den Rest Europas durchsetzte, auch wenn Hollande diesem Extrem nicht folgen will. Margaret Thatcher habe einst gesagt: „I want my money back.“ Natürlich weiß Hollande, wie kritisch Merkel auf ihn blickt. Der Sozialist hatte im Dezember die SPD in Deutschland besucht und gerufen: „Wir gewinnen zusammen.“ Das fand Merkel nicht so amüsant. Aber dass die Kanzlerin sich nun so demonstrativ auf die Seite Sarko24
zys stellt, ist für Hollande doch ein Schock. Denn der Kandidat hätte ganz gern seinen Wahlkampf mit einem Termin im Berliner Kanzleramt geschmückt. Der blasse Monsieur Hollande könnte ein bisschen Glanz gut vertragen. Aber seit Wochen bleiben die Anfragen der Sozialisten unbeantwortet, Hollandes Wahlkampfleiter Moscovici sagt: „Es ist an Frau Merkel zu entscheiden, wann und ob ein solches Treffen stattfinden könnte.“ Zwar hat der deutsche Botschafter in Paris den Sozialisten versichert, dass es eine Tradition gebe, den wichtigsten Gegenkandidaten des Präsidenten in Berlin zu empfangen. So erzählt es zumindest Jean-Marc Ayrault, Hollandes Berater für Deutschland-Fragen. Aber Merkels Leute suchen gerade nach einer Begründung, wie sie Hollandes Begehren ablehnen können, ohne dabei allzu viel außenpolitisches Porzellan zu zerschlagen. Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen, aber Merkels Wahlkampfhilfe für Sarkozy lässt schon jetzt die Sorge aufkeimen, wie es mit den deutsch-französischen Beziehungen weitergehen soll. Wie will die Kanzlerin mit einem Präsidenten arbeiten, den sie als Kandidaten so düpiert hat? Merkels Leute geben sich keine Mühe, ihre Abneigung gegen Hollande zu verbergen. „Bei der Auseinandersetzung zwischen Sarkozy und Hollande stehen sich zwei Grundauffassungen gegenüber“, sagt CDU-Generalsekretär Gröhe. „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit oder linke Umverteilungspolitik.“ D E R
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In der Regierungskoalition regt sich nun Verdruss über die Parteilichkeit der Kanzlerin. „Die Bundesregierung ist nicht Partei im französischen Wahlkampf“, sagt Außenminister Guido Westerwelle auf die Frage, ob er sich auch engagieren wolle. Deutlicher kann der Chefdiplomat sein Missfallen nicht zum Ausdruck bringen. Tatsächlich hat noch nie ein deutscher Regierungschef so offen in einen Wahlkampf im Ausland eingegriffen, und Merkel selbst hat ja immer viel Wert auf Neutralität gelegt, auch wenn sie jetzt sagt, sie trete in Frankreich nur als CDUVorsitzende auf. Als Präsidentschaftskandidat Barack Obama im Sommer 2008 vor dem Brandenburger Tor sprechen wollte, verbannte Merkel ihn vor die Siegessäule. Man möge das für „altmodisch“ halten, sagte sie damals. Aber vor dem Brandenburger Tor dürften nur gewählte Präsidenten sprechen. Wenn sie nun sagt, Sarkozy habe sie selbst im Wahlkampf unterstützt, ist das nur die halbe Wahrheit. Als Sarkozy sie im Mai 2009 in Berlin besuchte, war das eine Veranstaltung der Jungen Union und der Jugendorganisation der UMP – und damit eben kein reiner Wahlkampftermin. Helmut Kohl machte seine Unterstützung allenfalls als subtile Geste deutlich. So besuchte er den damaligen konservativen Präsidentschaftskandidaten Edouard Balladur 1995 bei dessen Winterurlaub in Chamonix und nannte ihn „cher ami“. Einmal gestattete Kohl seinem politischen Freund François Mitterrand die Verwendung des berühmten Fotos, das die beiden Hand in Hand in Verdun zeigte – aber nicht für dessen Wiederwahl, sondern für den Europawahlkampf. Vielleicht aber sollte Hollande die Wahlkampfhilfe Merkels still genießen, denn am Ende hilft sie womöglich nicht Sarkozy, sondern ihm. Im Moment jedenfalls scheint sie eher kontraproduktiv. Viele Bürger sind genervt von ihrem Präsidenten, der ihnen ständig erklärt, was die Deutschen alles besser machen. In der legendären französischen Satiresendung „Les Guignols de l’Info“ hat eine rotgesichtige Puppe mit starkem deutschem Akzent schon einen festen Platz. Sie stellt Angela Merkel dar und wird vorgestellt als „Présidente de la République française“, und ihre zackigen Ansprachen über die verluderte Disziplin der Franzosen enden mit dem Ausruf: „Arrbeiiit!“ Als kürzlich Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn bei Hollande anrief, war das Gespräch schnell bei Merkel und ihrer geplanten Kampagne in Frankreich. Er solle sich bloß nicht darüber aufregen, riet Asselborn: „Das ist das Beste, was dir ieren konnte.“ PETER MÜLLER, RENÉ PFISTER, MATHIEU VON ROHR, CHRISTOPH SCHULT
Deutschland
SPI EGEL-GESPRÄCH
„… dann folgt die Pleite“
JOCK FISTICK / DER SPIEGEL
Der Chef der Euro-Gruppe, Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker, 57, über die Rückschläge bei der Griechenland-Rettung und das Ziel einer europäischen Wirtschaftsregierung
Premier Juncker: „Korruptionselemente auf allen Ebenen der Verwaltung“ SPIEGEL: Herr Premierminister, darf man einem korrupten Land Geld geben? Juncker: Ich ahne schon, worauf Sie anspielen wollen. SPIEGEL: Auf ein Zitat von Ihnen. Sie haben Griechenland vor nicht allzu langer Zeit einen „korrupten Staat“ genannt. Juncker: Ich habe in der Tat vor drei Jahren gesagt, in Griechenland gäbe es Korruption. Aber das heißt nicht, dass man Griechenland nicht unterstützen darf. Im Gegenteil. Man muss Griechenland helfen, wenn das Land sich ehrlich bemüht, die Korruptionselemente abzustellen, die es erkennbar dort gegeben hat. Und Griechenland tut das. SPIEGEL: Die Mühe trägt aber keine Früchte. Die Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds hat gerade festgestellt, dass sich am katastrophalen Zustand der griechischen Verwaltung so gut wie nichts verändert hat. Das Gespräch führten die Redakteure Michael Sauga und Christoph Schult.
Juncker: Die griechische Regierung weiß selbst, dass es Korruptionselemente auf allen Ebenen der Verwaltung gibt, und sie hat erkannt, wie sehr dieses immer wieder an die Oberfläche drängende Thema das Image des Landes belastet. Die Griechen arbeiten gegenwärtig intensiv daran, die Korruption in ihren Behörden abzustellen. SPIEGEL: Ihr Optimismus in Ehren, aber schon jetzt ist klar, dass die Griechenland-Hilfe erneut nachgebessert werden muss, weil in den Finanzplänen eine Lücke in zweistelliger Milliardenhöhe klafft. Woher soll das Geld kommen? Juncker: Zunächst einmal müssen die privaten Gläubiger ihren Beitrag leisten, dann werden wir mit der griechischen Regierung über zusätzliche Sparmaßnahmen reden. Und erst danach werden wir sehen, ob das zweite Hilfspaket mit den bislang geplanten 130 Milliarden Euro ausreichen wird. SPIEGEL: Sollte sich die EZB beteiligen, zum Beispiel indem sie auf Zinsgewinne aus ihren Griechenland-Anleihen verzichtet? Juncker: Die EZB ist unabhängig, sie muss das selbst entscheiden. Aber natürlich D E R
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trägt sie, was die Zukunft Griechenlands betrifft, auch eine Verantwortung. SPIEGEL: Seit drei Jahren kämpft Europa nun schon gegen die griechische Schuldenkrise. Das Problem wird aber nicht kleiner, sondern immer größer. Ist das Land überhaupt reformierbar? Juncker: Es ist richtig, dass unser Griechenland-Programm vom rechten Wege abgekommen ist, weil die Griechen einige Ziele nicht erreicht haben. Trotzdem haben wir gemeinsam mit der Regierung in Athen erhebliche Fortschritte erzielt. Das Haushaltsdefizit wurde abgesenkt, und die Arbeitskosten in Griechenland konnten zurückgeführt werden. SPIEGEL: Sie beschönigen die Lage. Bei den Strukturreformen der griechischen Wirtschaft ist so gut wie nichts vorangekommen. Juncker: Und Sie malen alles schwarz. Es stimmt, dass die Strukturreformen noch nicht ausreichend sind, es gibt aber erkennbare Fortschritte. Die Wirtschaft des Landes hat wieder an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. So zu tun, als ob die Griechen auf der faulen Haut lägen und sich 25
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GERASIMOS KOILAKOS / INVISION / LAIF
den europäischen Strukturfonds stärker zur Bekämpfung der Krise einsetzen können. SPIEGEL: Der zuständige Kommissar sagt, dass in den Fonds kaum noch Mittel frei seien. Juncker: Ich rede ja auch nicht von freien Mitteln, ich rede von echten Umschichtungen. Wenn wir sagen, wir wollen gleichzeitig konsolidieren und wachsen, dann müssen wir eben die vorhandenen Mittel besser nutzen. Mein Vorschlag lautet, sie in prosperierenden Regionen zurückzufahren und dort einzusetzen, wo es brennt. SPIEGEL: Aber so etwas dauert doch Jahre, bevor es irgendeine Wirkung entfaltet. Haben nicht diejenigen recht, die sagen, ohne einen weitergehenden Schuldenschnitt in Griechenland, der auch die öffentlichen Gläubiger einbezieht, wird sich die Lage nicht verbessern? Juncker: Es ist verfrüht, dieses Thema zu behandeln. Wenn wir im Rahmen eines neuen Griechenland-Programms den Weg aufzeigen können, wie das Land dauerhaft gesunden kann, werden wir auch über eine weitere Entschuldung nachdenken können. Solange das Programm aber noch nicht verabschiedet ist, sind solche Überlegungen verfrüht. SPIEGEL: Wie sicher sind Sie, dass im Jahr 2013 der Euro-Zone noch dieselben Mitglieder angehören wie im Jahr 2012? Juncker: Hundertprozentig sicher. SPIEGEL: Wir sind da skeptischer. Derzeit greift die Krise auf Portugal über, wo die Risikoprämien drastisch steigen. Macht Ihnen das Sorge? Juncker: Ja, aber ich halte das für einen einmaligen Vorgang. Ich bin überzeugt, dass die Ansteckungsgefahren der Griechenland-Krise heute geringer sind als vor ein oder zwei Jahren. Die Märkte haben zur Kenntnis genommen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. SPIEGEL: In Portugal wächst der Schuldenberg ebenfalls, ohne dass die Wirtschaft Tritt fasst. Benötigt nicht auch Portugal den Schuldenschnitt? Juncker: Es wird keinen Schuldenschnitt für Portugal geben. Wir haben immer gesagt, dass Griechenland ein Sonderfall ist. Dort war eine gewisse Beteiligung der privaten Gläubiger notwendig, für andere Länder ist sie definitiv ausgeschlossen.
nicht bewegen, wird der tatsächlichen Entwicklung nicht gerecht. SPIEGEL: Die Bewegung reicht aber nicht aus. 50 Milliarden Euro sollten mit der Privatisierung griechischen Staatsvermögens erlöst werden, jetzt hat Athen eingeräumt, dass diese Zahl aus der Luft gegriffen war. Wie wollen Sie das den europäischen Bürgern erklären? Juncker: Ich bin dabei, den europäischen Bürgern zu erklären, welche Verbesserungen es in Griechenland gegeben hat. Beim Thema Privatisierung wende ich mich allerdings eher an die Regierung in Athen, denn bei diesem Thema ist sie deutlich hinter dem zurückgeblieben, was verabredet war. Griechenland muss wissen, dass wir bei dem Thema Privatisierung nicht lockerlassen. SPIEGEL: Haben Sie eine Idee, wie sich dieser Erkenntnisprozess befördern lässt? Juncker: Wir werden unsere istrativen Hilfen verbessern. Es gibt viele Experten in Europa, die in den Privatisierungsprozessen der vergangenen Jahre viele Erfahrungen gesammelt haben. Solche Experten sollten künftig Hilfestellung in Griechenland leisten. SPIEGEL: Wenn Sie schon in diesem Fall ausländisches Fachpersonal für hilfreich halten: Was spricht dann gegen einen Sparkommissar, wie ihn das deutsche Finanzministerium gefordert hat? Juncker: Griechenland wird schon heute scharf kontrolliert. Sollte sich Griechenland weiter vom Pfad der angedachten Tugend entfernen, wird die Intensität der Überwachung zunehmen. Die Idee eines Sparkommissars ist nicht absurd, zumindest so lange nicht, so lange er nicht nur für Griechenland eingesetzt wird, sondern für alle Schuldenländer, die sich von den Zielen entfernen. 26
SPIEGEL: Und wenn auch eine stärkere Überwachung nichts bringt? Juncker: Wenn Griechenland aus eigenem Verschulden den Anungspfad substantiell verlässt, dann darf Athen nicht länger die Erwartung haben, dass Solidaritätsleistungen von den anderen erbracht werden. Wenn wir feststellen sollten, dass alles schiefgeht in Griechenland, dann würde es kein neues Programm geben, dann hieße das, dass im März die Pleiteerklärung erfolgt. Das weiß Griechenland, und allein die Möglichkeit, dass so etwas ieren könnte, sollte den Griechen dort Muskeln verleihen, wo sie im Augenblick noch ein paar Lähmungserscheinungen haben. SPIEGEL: Das Problem ist aber, dass sich die Griechen in einer aussichtslosen Lage befinden, selbst wenn sie sich noch so anstrengen. Die Schulden wachsen weiter, und die Wirtschaft schrumpft. Juncker: Wahr ist, dass die griechische Wirtschaft in den letzten drei Jahren eine Rezession von zwölf Prozent zu verkraften hatte und dass die Arbeitslosigkeit dramatisch zugenommen hat. SPIEGEL: Eben. Die Euro-Zone beschließt ein Sparpaket nach dem anderen, aber sie hat keinen Plan dafür, wie das Land wieder auf Wachstumskurs kommen kann. Juncker: Wir Europäer haben uns zur Bekämpfung der Finanzkrise nach 2008 so intensiv verschuldet, dass es jetzt keinen Spielraum für massive Konjunkturprogramme mehr gibt. Also muss man bestehende Instrumente intelligent nutzen. Wir brauchen eine Debatte, wie wir das Geld aus * Valdis Dombrovskis (Lettland), Zoran Milanović (Kroatien), Loukas Papademos (Griechenland), Donald Tusk (Polen), Viktor Orbán (Ungarn), Nicolas Sarkozy (Frankreich) mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso (3. v. r.) am 30. Januar in Brüssel. D E R
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THIERRY MONASSE / POLARIS / STUDIO X
Demonstration in Griechenland: „Die Idee eines Sparkommissars ist nicht absurd“
Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel*
„Ein Pakt ersetzt noch keine Politik“
SPIEGEL: Auch Italien und Spanien sind längst nicht aus der Gefahrenzone. Muss der Rettungsschirm aufgestockt werden? Juncker: Ich will nicht über Zahlen sprechen, sondern über das Prinzip: Die Brandmauer muss so hoch sein, damit das Feuer, das in Griechenland brennt, nicht auf andere europäische Hä übergreift. Wir haben ja den bisherigen Rettungsschirm EFSF, der noch über Mittel in Höhe von 250 Milliarden Euro verfügt. Ich bin dafür, EFSF und ESM zusammenzuführen. SPIEGEL: Der Maastricht-Vertrag wird in dieser Woche 20 Jahre alt. Seine große Schwäche war, dass er eine Währungsunion begründete, ohne zugleich eine politische Union zu schaffen. Wird dieses Defizit mit dem beim jüngsten Gipfel beschlossenen Fiskalpakt ausgeglichen? Juncker: Als der Maastricht-Vertrag verhandelt wurde, gab es eine sehr intensive Debatte. Die einen, darunter Deutschland, meinten, es reiche, nur die Geldpolitik an einer zentralen Stelle zu bündeln und ansonsten die Wirtschaftspolitik weitgehend in nationaler Verantwortung zu belassen. Die anderen, dazu gehörten der damalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors, der französische Finanzminister Pierre Bérégovoy und meine Wenigkeit, plädierten dafür, parallel zur Europäischen Zentralbank eine europäische Wirtschaftsregierung zu schaffen. SPIEGEL: Ist der Fiskalpakt die Wirtschaftsregierung, die Sie damals anstrebten? Juncker: Ein Pakt ersetzt noch keine Politik. Eine Wirtschaftsregierung entsteht nicht durch die Ratifizierung eines Pakts, sondern durch politisches Handeln. Ich verstehe den Fiskalpakt wie folgt: Wann immer ein Land eine Wirtschaftsreform in die Wege leiten möchte, muss künftig darüber vorher in der Euro-Gruppe geredet werden. Die Pflicht, sich abzusprechen, gilt umso mehr für große Länder, weil ihre Politik enorme Auswirkungen auf die benachbarten Wirtschaftsräume hat. Es muss Schluss sein mit den nationalen Alleingängen. Ich weiß aber nicht, ob alle Unterzeichner des Fiskalpakts meine Version teilen. SPIEGEL: Offenbar nicht: Gerade hat Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy eine Erhöhung der Mehrwertsteuer angekündigt. Juncker: Das hat uns in der Euro-Gruppe ebenso auf kaltem Fuß erwischt wie 2005 die Ankündigung der Großen Koalition in Berlin, die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent zu erhöhen. Wissen Sie, dass dadurch die Inflation im gesamten EuroRaum während der folgenden zwei Jahre um 0,3 Prozentpunkte angestiegen ist? SPIEGEL: Solche Alleingänge wollen Sie den Hauptstädten verbieten? Juncker: Ich gehe davon aus, dass künftig jedes Land eine geplante Reform in der Euro-Gruppe zur Sprache bringt. Sonst wird es der Vorsitzende der Euro-Gruppe tun. Im Übrigen hatten wir uns das schon D E R
einmal vorgenommen, in einem Ratsentschluss im Dezember 1997. SPIEGEL: Was nur beweist, dass Papier geduldig ist und sich auch der Fiskalpakt als Papiertiger entpuppen könnte. Soll die Euro-Gruppe nur über geplante Reformen reden, oder sollen die Finanzminister auch ein Veto aussprechen dürfen? Juncker: Ein Land wird am Ende immer souverän entscheiden können. Aber Wirtschaftsregierung bedeutet, dass niemand etwas tun kann ohne, erstens, mit den Partnern darüber geredet zu haben und, zweitens, bewiesen zu haben, dass es der gesamten Euro-Zone zuträglich ist. SPIEGEL: Und wenn es nicht zuträglich ist, muss das Land diese Maßnahme dann unterlassen? Juncker: Ich hielte dies für die einzig logische Schlussfolgerung, ja. SPIEGEL: Das Problem ist doch, dass sich die Staaten immer auf außergewöhnliche Umstände berufen, um doch mehr Schulden zu machen. Auch im Fiskalpakt findet sich dieses Schlupfloch wieder. Juncker: Das ist kein Schlupfloch, sondern ein vertraglich abgesicherter gesunder Menschenverstand. Wenn es eine solche Möglichkeit nicht geben würde, könnten wir nicht adäquat auf Krisen reagieren. Dann müssten wir mitten in einer Notlage Strafzahlungen verhängen und würden die Haushaltsprobleme der Länder verstärken. SPIEGEL: Der Fiskalpakt ist aber verwässert worden. Deutschland konnte sich nicht mit der Forderung durchsetzen, dass die EUKommission Defizitsünder vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen darf. Diese Aufgabe sollen nun die Länder selbst übernehmen. Halten Sie es im Ernst für denkbar, dass Deutschland Frankreich verklagt? Juncker: Das hört sich zwar gespenstisch an, aber die beiden Länder haben so heftig für die Schuldenbremse gestritten, dass ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht, wenn sie sie nicht umsetzen. SPIEGEL: Aber der Kandidat der französischen Sozialisten, François Hollande, will den Fiskalpakt nicht akzeptieren. Juncker: Frau Merkel hat erklärt, sie könne sich das nicht vorstellen. Und auch ich erwarte, dass Frankreich die Schuldenbremse einführt. Auch neugewählte Präsidenten müssen sich an vor ihrem Amtsantritt getroffene europäische Vereinbarungen halten. SPIEGEL: Herr Premierminister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Video: Christoph Schult über den EU-Rat in Brüssel. Für Smartphone-Benutzer: Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“. 6 / 2 0 1 2
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Deutschland GRÜNE
Ja, nein, weiß nicht Von Auslandseinsätzen bis zum Umgang mit Israel – die Grünen sind außenpolitisch zerstritten. Fraktionschef Jürgen Trittin gibt keine Richtung vor.
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MICHELE TANTUSSI / DAPD
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Politiker Trittin
Kleinlaute Korrekturen
als Vorwand für den Sturz Muammar alGaddafis gedient. „Ich halte den Einsatz für einen Missbrauch des Prinzips der Schutzverantwortung“, sagt Katja Keul, Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion. Die Außenpolitiker Kerstin Müller und Tom Koenigs wollen die Grünen dagegen auf ein Bekenntnis zum Uno-Grundsatz der Schutzverantwortung verpflichten. Sonst überwiege „die Gefahr des NichtHandelns oder des unentschlossenen Handelns der internationalen Gemein-
THOMAS IMO / PHOTOTHEK.NET
enn es um den Euro geht, ist auf Jürgen Trittin meist Verlass. Dreimal schon verhalf der Grünen-Fraktionschef in den vergangenen zwei Krisenjahren der Kanzlerin zu stabilen Mehrheiten im Bundestag. „Dass sich unsere Nachbarn auf Deutschland verlassen können“, sagt Trittin dann gern, „liegt auch daran, dass es in diesem Hause eine verantwortungsbewusste und europaverlässliche Opposition gibt.“ Weit reicht diese Verlässlichkeit nicht. Kürzlich entschied der Bundestag über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und damit über eine der zentralen Fragen der deutschen Außenpolitik. Die Haltung der Grünen lässt sich am besten in drei Zahlen wiedergeben: 10-mal Ja, 19-mal Nein, 30 Enthaltungen. Weniger Verlässlichkeit geht nicht. Nach über sechs Jahren in der Opposition ist die Partei munter dabei, das außenpolitische Erbe ihres Patriarchen Joschka Fischer zu verspielen. Der hatte die Grünen als Außenminister nach 1998 in einem beispiellosen Kraftakt auf Regierungskurs gezwungen. Fischer führte Krieg in Afghanistan und gegen Jugoslawien, er beschwor – selbst wenn die Farbbeutel flogen – die Bündnistreue zu den USA und wurde zum treuen Freund Israels. Die Grünen, die einst den Austritt aus der Nato wollten, hatten ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Zum Elend einer Oppositionspartei gehört es, dass sie fordern kann, was sie will – es bleibt folgenlos. Und so sind die Grünen nach ihrer Abwahl 2005 schnell wieder in alte Muster zurückgefallen. In der Außenpolitik ist die Partei bei vielen Fragen nicht mehr sprechfähig. So streiten sich die Grünen über die Frage, ob Gewaltanwendung nach dem neuen Uno-Grundsatz der „Schutzverantwortung“ akzeptabel ist. Danach muss sich die Staatengemeinschaft in innere Angelegenheiten anderer Länder einmischen, wenn dort die Zivilbevölkerung massakriert wird. Viele Grüne glauben, der Libyen-Einsatz habe dieses Prinzip ruiniert. Denn der Schutz der Zivilbevölkerung habe nur
Bundeswehrsoldaten in Afghanistan
In alte Muster zurückgefallen D E R
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schaft im Fall schwerster Menschenrechtsverbrechen wie in Syrien“, schreiben sie in einem Antrag für die Fraktion. Die Partei gönnt sich beim Thema Rüstungsexporte eine radikale Haltung. Der linke Flügel und manche Außenpolitiker fordern eine schärfere Regulierung. „Das ist einer der wichtigsten Bereiche der Außenpolitik, da müssen wir auch grundsätzlich agieren“, sagt Fraktionsvize Frithjof Schmidt. Der Krach mit den möglichen Koalitionspartnern von Union oder SPD wäre damit programmiert. Besonders heikel ist die Exportfrage, wenn es um Waffen für Israel geht. Rüstungsexpertin Keul findet, dass „Israel keine deutschen U-Boote erhalten darf, die als nukleare Trägersysteme dienen können“. Doch genau solche U-Boote dienen Israel als Existenzsicherung gegen Iran. Früher hätte ein Mann wie Fischer die Partei auf Linie gebracht. Jetzt fällt diese Aufgabe Trittin zu, der inoffiziellen Nummer eins der Grünen. Doch der Fraktionschef weiß oft selbst nicht, wohin die Reise gehen soll. Vor ein paar Tagen trafen sich die Abgeordneten im Bundestag, um kurzfristig über einen Entschließungsantrag der Linkspartei zu entscheiden: Die gezielten Tötungen durch Nato-Soldaten in Afghanistan sollten sofort aufhören. Zwei Redner argumentierten für Enthaltung, weil die Kritik in der Sache berechtigt sei, zwei plädierten für ein Nein. Die Linke wolle das Tötungsprogramm nur anprangern, um den Sofortabzug aus Afghanistan zu forcieren. Die Mehrheit um Fraktionschefin Renate Künast stimmte mit Nein. Trittin votierte für Enthaltung – und verlor. In der namentlichen Abstimmung machte er eine Kehrtwende und lehnte brav den Antrag der Linken ab. Als sich die Bundesregierung im vergangenen März im Uno-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über den Militäreinsatz in Libyen enthielt, fand Trittin das zunächst vollkommen okay. Seine Fraktion in Berlin dagegen kritisierte die Enthaltung in einer internen Abstimmung. Trittin ruderte zurück. Intern räumte er später kleinlaut ein, im ersten Impuls einen Fehler gemacht zu haben. Anders als Fischer fremdelt Trittin nach wie vor mit den Grundkonstanten deutscher Nachkriegsaußenpolitik: der Bündnissolidarität mit den USA, der Einbindung in die Nato und der Sonderbeziehung zu Israel. Der obligatorische Israel-Besuch war in den Neunzigern für den damaligen grünen Fraktionschef Fischer ein Muss, um die Regierungsfähigkeit seiner Partei unter Beweis zu stellen. Trittin war schon lange nicht mehr da. Im März will er hinfahren. Er weiß, es wird Zeit. RALF BESTE
Deutschland
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Günstiger, schöner, luxuriöser Als Ministerpräsident von Niedersachsen legte Christian Wulff Wert auf strenge Anti-Korruptions-Regeln. Als Bundespräsident muss er nun ein Autoleasing zu Sonderkonditionen erklären.
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kommen ist, acht Wochen nach den ersten Meldungen über einen dubiosen Privatkredit fürs Eigenheim in Großburgwedel. Selten wurde das Privatleben eines Politikers so durchleuchtet wie das des Christdemokraten aus Osnabrück. Und noch nie wurde einem Bundespräsidenten so nachgestellt wie Christian Wulff.
VITTORIO TEUCHMANN / SUCCOMEDIA
ie jüngste Kreation aus dem Hause Audi sollte erst in ein paar Monaten zu den Händlern rollen, doch die Kritiker hatten ihr Urteil über den Q3 bereits gefällt: Schwärmerisch beschrieb „auto motor und sport“ im Sommer 2011 sein „maskulines, aggressives Gesicht mit scharf geschnittenen Scheinwerfern“, lobte das stilvolle Interieur und die Verarbeitungsgüte, die den „anspruch“ der Marke unterstrichen. Ein Auto mit Klasse also, genau das richtige mithin für die First Lady. Dachte wohl Bettina Wulff und ließ beim VWKonzern nachfragen, ob sie das Schmuckstück – etliche Monate vor der Markteinführung – mal fahren dürfe. Normalerweise werden sogenannte Vorserienautos nur von Werksingenieuren bewegt; die sollen in der Phase vor dem Produktionsstart letzte Fehlerquellen aufspüren. Doch wenn sich die Gattin des Bundespräsidenten, der viele Jahre lang Aufsichtsrat der Audi-Mutter VW war, interessiert zeigt, will keiner unhöflich sein. Also wurde ein Q3 nach Berlin geschafft, zu Bettina Wulffs Verfügung. Das Auto entsprach jedoch nicht ganz den Erwartungen der Präsidentengemahlin: Der Vorserienwagen aus Ingolstadt trug ein rotes Kennzeichen. Wulff wollte aber mit einem gewöhnlichen schwarzen Nummernschild aus Berlin durch die Hauptstadt touren. Diesen Wunsch konnte nicht mal der Vorstand des größten deutschen Automobilkonzerns erfüllen: Vorserienfahrzeuge sind von der Zulassungspflicht ausgenommen, sie dürfen ausschließlich mit einem Kennzeichen für Probe- oder Überführungsfahrten bewegt werden. Der fesche Q3 wurde unverrichteter Dinge wieder retour geschickt. Im Nachhinein mag Bettina Wulff froh sein über ihre Abneigung gegen rote Nummern. Lästige Fragen, wie lange sie das Werksauto genutzt und ob sie dafür gezahlt habe, konnte Gernot Lehr, der vielbeschäftigte Anwalt des Bundespräsidenten, vorige Woche locker abwehren. Zudem kam Wulff jüngst doch noch zu ihrem Q3-Erlebnis. Vom 22. Dezember bis 23. Januar stand ihr ein reguläres Serienauto zur Verfügung, für das sie der Audi AG 850,01 Euro Miete zahlte. Trotzdem verdeutlicht die Episode, auf welchem Niveau die Causa Wulff ange-
Aber in seiner Gier nach Glamour und großer Geste offenbart Wulff nicht nur Defizite in Stil, Moral und Anstand. Denn nun sieht es so aus, als habe er in einem bisher unbekannten Fall von Schnäppchenjagd gegen ein Gesetz verstoßen. Es geht – mal wieder – um das „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Landesregierung“ Niedersachsens, kurz Ministergesetz genannt. Und diesmal scheint die Sache wirklich ernst zu sein. Von 2003 bis Juni 2010 war Wulff Ministerpräsident des Landes. Und in Paragraf 5 Absatz 4 des Gesetzes ist vorgegeben: Minister und der Ministerpräsident „dürfen keine Belohnungen und Geschenke in Bezug auf ihr Amt annehmen“. Bislang rechtfertigte Wulff viele Gratisurlaube und Vorteile damit, dass sie ihm nicht in Bezug auf sein Amt als Ministerpräsident gewährt worden seien.
Ehepaar Wulff auf dem Semperoper-Ball in Dresden 2011
Doch schuld daran ist der erste Mann im Staate selbst. Fassungslos registrieren Politiker, Journalisten und längst auch die Bundesbürger, wie ein Amtsträger mit einem sechsstelligen Einkommen kaum eine Gelegenheit auslässt, günstiger, schöner, luxuriöser durchs Leben zu ziehen. Egal in welchem Verhältnis er zu seinen Gönnern steht. Ein Bankkredit zu Sonderkonditionen, ein Urlaub beim Aufsichtsrat eines Versicherungskonzerns, die Einladung eines Marmeladenherstellers nach München – für Christian Wulff alles rechtens, alles unbedenklich. Vieles versucht der Unionsmann mit engen freundschaftlichen Beziehungen zu erklären, und mancher Vorhalt entpuppte sich bei Licht betrachtet auch als haltlos. D E R
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Im Jahr 2010 leaste Wulff einen Škoda Yeti. Der Ministerpräsident bekam den kleinen Geländewagen beim VW-Konzern zu sogenannten Aufsichtsratskonditionen. Gewöhnliche Kunden zahlen eine monatliche Leasingrate von 1,5 Prozent des Kaufpreises; Aufsichtsräten wird nur ein Prozent in Rechnung gestellt. Wulff erhielt demnach den Rabatt nur, weil er Aufsichtsrat des VW-Konzerns war. Und Aufsichtsrat war er nur, weil er als Ministerpräsident das Land Niedersachsen, das 20 Prozent der Stammaktien hält, in dem Kontrollgremium des AutoRiesen vertritt. Ein Vorteil von 0,5 Prozent klingt gering. Bei einem Fahrzeug für rund 20 000 Euro entspricht dies einer Ersparnis von 100 Euro im Monat; hoch-
gerechnet auf die Leasingdauer betrug der Vorteil 1200 Euro. Während VW „zu Kundenbeziehungen keine Angaben“ machen möchte, teilt Wulffs Anwalt Lehr mit, Wulff habe die „innerhalb des VWKonzerns üblichen Vergütungen gezahlt“. VW-Angestellte können tatsächlich zu den gleichen Vorzugskonditionen wie der damalige Ministerpräsident Autos leasen. Nur für Normalkunden wird es teurer. Vielleicht kann Wulff auch diesen jüngsten Fall der Annahme eines Vorteils abfedern, mit einer Geste der Zerknirschtheit. Doch allmählich wird auch seinen letzten Getreuen klar, dass hier jemand in zwei Welten lebt, mit zwei Wertesystemen. Da gibt es Wulffs Welt, in der die Fünf eine ziemlich gerade Zahl ist. Und es gibt die übrige Welt, in der die Menschen ganz und gar gesetzestreu agieren müssen, weil sie sonst ihren Job verlie-
Wulffs Extratouren Ein Leasing-Vertrag mit VW bringt Christian Wulff in Bedrängnis.
Anzeige, ein Gericht verurteilte den Beamten zu 4200 Euro Geldstrafe. Im vorletzten Jahr seiner Zeit als Ministerpräsident führte Wulff für Beschäftigte des Landes die „Richtlinie zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung in der Landesverwaltung“ ein. Transparenz sei wichtig, „um bereits den Anschein einer Einflussnahme auf die Landesverwaltung zu vermeiden“. Niedersächsischen Beamten ist es strikt verboten, sich auf Urlaubsreisen mitnehmen zu lassen, Fahrkarten oder Flugtickets anzunehmen oder vergünstigte Darlehen zu akzeptieren. Im Anhang der Richtlinie findet sich der Aufruf: „Seien Sie Vorbild: Zeigen Sie durch Ihr Verhalten, dass Sie Korruption weder dulden noch unterstützen.“ Die scharfe Linie der Niedersachsen, nach der schon der Anschein vermieden
Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Landesregierung, § 5 „Die Mitglieder der Landesregierung dürfen, auch nach Beendigung ihres Amtsverhältnisses, keine Belohnungen und Geschenke in Bezug auf ihr Amt annehmen.“
Christian Wulff ist Ministerpräsident und Mitglied der Landesregierung.
Als VW-Aufsichtsrat nimmt Wulff Sonderkonditionen beim Leasing eines Škoda Yeti in Anspruch.
Als Ministerpräsident von Niedersachsen sitzt er automatisch im VW-Aufsichtsrat.
ren – auch weil der Landesvater und Jurist Wulff höchste Maßstäbe von Moral und Anstand an sie anlegte. Ende 2003, schon ein halbes Jahr nachdem der CDU-Politiker Regierungschef in Hannover geworden war, richtete Niedersachsen eine Anti-Korruptions-Hotline ein. Bei Verdacht auf Mauscheleien konnten Hinweisgeber fortan anonym ihre Beobachtungen bei der Polizei loswerden. Zwei Jahre später erfasste die sogenannte Weintrauben-Affäre die Polizei. Ein Oberkommissar im Landkreis Harburg hatte nach einer Lkw-Kontrolle eine Stiege Weintrauben, vier Rispen, von dem Fahrer angenommen. Die Sache kam zur
werden müsse, „im Rahmen der Amtsführung für persönliche Vorteile empfänglich zu sein“, führte zu etlichen Verfahren. So bekamen es mehrere Lehrer mit der Staatsanwaltschaft zu tun, weil sie von einem Freizeitpark in der Lüneburger Heide Freikarten im Wert von 35 Euro zugeschickt bekommen hatten. Der Veranstalter wollte mit der Aktion für Klassenausflüge werben. Einige Lehrer besuchten den Erlebnispark in ihrer Freizeit, lösten die Freitickets ein – und kassierten Strafbefehle wegen Vorteilsnahme. Die Irritation unter deutschen Beamten ist entsprechend groß in diesen Wochen. Warum soll für das Staatsoberhaupt nicht gelten, was dem kleinen Staatsdiener abD E R
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verlangt wird? Wie lange muss ich mit jemandem befreundet sein, damit er mich zum Urlaub einladen darf? Oder: Darf mir ein früherer Schulkamerad einen günstigen Kredit vermitteln? Andreas Riegel, Chef der Organisation Transparency International im Rheinland, muss solche Fragen von Berufs wegen beantworten. Der Regierungsdirektor a. D. bringt in speziellen Kursen Vertretern von Firmen und Behörden bei, gegenüber Korruption wachsam zu sein. Doch neuerdings hat Riegel Schwierigkeiten, ernst genommen zu werden. Die Affäre um Wulff, dem auch vorgeworfen wird, seine Pflichten als VW-Aufsichtsrat verletzt zu haben (siehe Seite 66), sei „absolut schädlich und kontraproduktiv für die Korruptionsbekämpfung in Deutschland“. Ähnliches berichten Anti-KorruptionsBeauftragte und Strafverfolger quer durch die Republik. Eigentlich hatten sie das Bewusstsein in den vergangenen Jahren erfolgreich geschärft. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude etwa gab 2007 seinen Bediensteten einen glasklaren Leitfaden an die Hand: Wer sich unerlaubt beschenken lasse, schrieb Ude persönlich, müsse „mit schwerwiegenden Konsequenzen bis hin zum Verlust der beruflichen Existenz bei der Stadt und erheblichen Vermögensverlusten rechnen“. Besser, so der SPD-Politiker: „Sie nehmen überhaupt nichts an!“ Udes Juristen haben in ihrer Liste kaum eine Versuchung ausgelassen, die einen Staatsdiener ereilen kann. Das regelt alles von „Abholung vom Flughafen“ (erlaubt) und „Alkoholika“ (unter 15 Euro erlaubt) bis zu „zinslosen oder zinsgünstigen Darlehen“ (verboten). Der Leitfaden liest sich wie eine Blaupause zu den Vorwürfen gegen Wulff. Denn verboten sind in München auch „Partyorganisation für private Zwecke“, „Rabatte für Einzelpersonen“, „unentgeltliche oder verbilligte Überlassung von Fahrzeugen“ oder die „unentgeltliche oder verbilligte Überlassung von Unterkünften“. Für den Besuch auf dem Oktoberfest dürfen die Bediensteten je einen Bierbon und eine Marke für ein Brathendl annehmen; sonst bekommen sie Probleme. So erging es Mitarbeitern des Kreisverwaltungsreferats, also jener Behörde, die auch die Wiesn überwacht. Als sich auf dem Amt die Gutscheine stapelten, ermittelte die Staatsanwaltschaft nach einer Strafanzeige gegen sieben Mitarbeiter, der Vorgesetzte musste am Ende eine Geldauflage zahlen. Kurz bevor die Kreditmodalitäten bei Wulffs Hauskauf publik wurden, zum Welt-Anti-Korruptions-Tag am 9. Dezember 2011, veröffentlichte das Bundesinnenministerium ein Handbuch, das den Umgang mit Geschenken für alle Bundesbeamten erklärt. Bargeld und geldwerte Dinge sind demnach generell verboten, 31
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und selbst kleine Gaben müssen der eigenen Behörde gemeldet werden. Innenminister Hans-Peter Friedrich lobte die Veröffentlichung als wichtigen Schritt, der „die Integrität stärkt“. In diesem Sinne wirkt die Affäre um den Herrn aus Schloss Bellevue wie ein Integritätszerstörungsprogramm. Der CDUBundestagsabgeordnete Karl-Georg Wellmann, der schon Anfang Januar Wulff den Rücktritt nahelegte, wendet sich deshalb öffentlich an seine Parteispitze: „Es wird immer schwerer, unseren Mitgliedern zu erklären, dass wir bei Bauamtsmitarbeitern peinlich darauf achten, dass sie keine Vorteile annehmen, beim Bundespräsidenten solche Vorwürfe aber einfach wegwischen.“ Einige aus seinem Ortsverband seien deshalb ausgetreten. Ein Ende der bitteren Nachrichten aus Wulffs Welt ist nicht abzusehen. Ende Januar entschlüsselten Spezialisten in Hannover den Zugang zu einem gesicherten Ordner auf dem Dienstcomputer von Wulffs ehemaligem Sprecher Olaf Glae- Demonstration in Istanbul: Verbotene Parteinahme für die PKK? seker. Viele der Dateien enthalten Presseerklärungen und Memos aus der Zeit in AU S S E N P O L I T I K der Staatskanzlei. Im Speicher abgelegt sind auch Gästelisten zum Nord-Süd-Dialog, also jener Promi-Sause, die Wulff in die Kritik gebracht und Glaeseker ein Verfahren wegen des Verdachts der Bestechlichkeit eingehandelt hat. Die deutschen Parteistiftungen spielen beim Umbruch Zu den Dokumenten zählen E-Mails von Bettina Wulff. Unter der Betreffzeile im Nahen Osten eine wichtige Rolle. Sie geraten „Nord trifft Süd“ nennt sie dem Büro deshalb ins Visier der Machthaber und werden drangsaliert. ihres Mannes Personen („Noch ein paar Nachzügler …“), die noch eingeladen werden sollten – etwa ihre beste Freundin ls Andreas Jacobs am Nachmittag Kairo in der vergangenen Woche dafür und deren Ehemann. des 29. Dezember in die Konrad- eingesetzt. Eine Garantie gegen weitere Im Januar hatte Wulffs Stab noch beAdenauer-Stiftung gehen will, ste- Repressalien ist das nicht. Die ägyptische hauptet, der Nord-Süd-Dialog sei eine Pri- hen schwerbewaffnete Sicherheitskräfte Militärregierung ist nervös. Der Vorfall in Kairo zeigt, wie schwievatveranstaltung des Kölner Party-Ma- vor seinem Büro. Drinnen durchsucht chers Manfred Schmidt gewesen. Im Lau- die ägyptische Polizei die Räume der rig die Auslandsarbeit der Stiftungen ist, fe der vergangenen Wochen wurde sie CDU-nahen Organisation. Die Beamten die die sechs im Bundestag vertretenen dann peu à peu zu einem Fest des Landes beschlagnahmen Computer und Doku- Parteien unterhalten. Die Friedrich-EbertNiedersachsen, von Wulff und Glaeseker. mente. Der Büroleiter wird später stun- Stiftung ist mit 90 Auslandsbüros die größDie Mails, die von den Ermittlern quasi denlang von einem Ermittlungsrichter te, die den Grünen nahestehende Heinals Beifang entdeckt wurden, zeigen ein- verhört. Zur Begründung heißt es später, rich-Böll-Stiftung die jüngste Stiftung. Sie mal mehr, wie im Hause Wulff Privates die Stiftung habe „auf illegale Art und werben mit jeweils unterschiedlichen und Dienstliches vermischt wurde. Mal Weise Büros in Ägypten eröffnet und da- Schwerpunkten für Demokratie, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. bittet Bettina Wulff, die 2009 in der Pres- mit gegen das Gesetz verstoßen“. Aus Sicht der Gastländer sind die Stifseabteilung der Drogeriekette Rossmann Die deutsche Stiftung in Kairo ist als tätig war, um eine Eintrittskarte für einen eine von insgesamt 17 ägyptischen und tungen allerdings keineswegs Wohltäter, Kollegen; mal lässt sie einen früheren ausländischen Nichtregierungsorganisa- die unverfängliche politische EntwickMitstreiter bei der Continental AG auf tionen (NGO) ins Visier des Militärrats lungshilfe leisten. Vor allem in autoritären die Gästeliste setzen. Und am 20. Novem- geraten. Das hat auch mit ihrer kritischen Regimen geraten sie schnell in den Verber notiert die Büroleiterin des Minister- Sicht auf das Regime zu tun. Jacobs hatte dacht, gegen die Regierungen zu arbeiten. präsidenten: „Frau Wulff möchte wissen, im November in einem Bericht beklagt, Je stärker die Regime im Nahen Osten ob Familie Brune aus Bremen auch zum dass die Menschenrechtslage am Nil wie- wanken, desto größer ist die Gefahr für Nord-Süd-Dialog eingeladen ist.“ der genauso katastrophal wie unter dem die Stiftungen, in die Machtkämpfe verDie Bremer Marc und Jens Brune sind früheren Diktator Husni Mubarak sei und wickelt zu werden. Vorfälle wie in ÄgypEigentümer des Hotels Seesteg auf Nor- „die herrschenden Militärs den politi- ten werden sich wohl häufen. Das Misstrauen der Autokraten ist derney. Die Wulffs haben dort wiederholt schen Übergang verzögern oder sogar entspannte Urlaubstage verbracht. verhindern wollen“. So etwas lesen die durchaus begründet. In der Vergangenheit haben die Stiftungen oft eine wichMachthaber nicht gern. JAN FRIEDMANN, tige Rolle beim Übergang zur Demokratie Inzwischen ist das Adenauer-Büro wieMICHAEL FRÖHLINGSDORF, HUBERT GUDE, DIETMAR HAWRANEK, PETER MÜLLER, der geöffnet. Außenminister Guido Wes- gespielt. In Chile etwa hatte der erste deBARBARA SCHMID, ANDREAS ULRICH terwelle hat sich bei seinem Besuch in mokratisch gewählte Präsident nach der
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Pinochet-Diktatur, der Christdemokrat Patricio Aylwin, enge Verbindungen zur Adenauer-Stiftung. Wer in einer Diktatur Seminare zur Pressefreiheit organisiert oder Kontakt zu Oppositionspolitikern pflegt, der arbeitet aus Sicht der Machthaber schnell gegen das System. Schon im Juli 2011 hatte der ägyptische Militärrat über eine eigene Web-Seite verlauten lassen, dass das Land von zwielichtigen Organisationen bedroht werde, die eine „ausländische Agenda“ befolgten und zur Destabilisierung Ägyptens beitrügen. Hunderte Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen mussten daraufhin ihre Kontobewegungen überprüfen lassen. Was die Stiftungen als Förderung von Demokratie und Menschenrechten verstehen, begreifen autoritäre Regime als Angriff auf ihre Macht. In Weißrussland etwa ist eine deutsche Stiftung sogar ohne offizielle Genehmigung im Untergrund tätig, berichten Diplomaten. Dass sich das auch gegen den Diktator Alexander Lukaschenko richtet, liegt auf der Hand. Das zum Teil schwierige Verhältnis der Stiftungen zu ihren Gastländern liegt auch an ihrer ungewöhnlichen Konstruktion: Die Stiftungen sind keine Regierungsorgane. Ihre Auslandsarbeit wird aber von der Regierung bezahlt. 2011 flossen rund 250 Millionen Euro aus den Etats von Auswärtigem Amt und Entwicklungsministerium an die Stiftungen. „Manche Regierungen wissen nicht, wie sie mit uns umgehen sollen“, sagt der stellvertretende Generalsekretär der Adenauer-Stiftung, Gerhard Wahlers. Selbst in befreundeten Ländern ist es für die Stiftungen schwer, nicht in den Strudel der innenpolitischen Auseinandersetzung zu geraten. In Israel gibt es keine Repressalien gegen die Stiftungen. Begeistert ist man über ihre Arbeit aber nicht gerade, im Gegenteil: Sie müsse sich jetzt öfter fragen lassen, warum ihre Organisation mit öffentlichen Geldern finanziert werde, sagt Angelika Timm von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der Linken nahesteht.
Zuweilen gibt es den Vorwurf, sich in israelische Angelegenheiten einzumischen. „Das liegt auch daran, dass wir mit Partnerorganisationen zusammenarbeiten, die aus israelischer Sicht sehr weit links stehen“, sagt ein Vertreter einer Stiftung, die zum bürgerlichen Lager zählt. Vor einigen Wochen brachte die israelische Regierung einen Gesetzentwurf in die Knesset ein, dem zufolge „politische NGO“ künftig den Höchststeuersatz von 45 Prozent auf alle Spenden von ausländischen, staatlichen Gebern zahlen sollen. Sollte das Gesetz tatsächlich verabschiedet werden, könnte das für die parteinahen Stiftungen „massive Auswirkungen“ haben, sagt Ralf Hexel, Leiter der EbertStiftung in Herzlia. „Wir sind nicht der verlängerte Arm der deutschen Außenpolitik“, sagt der Chef der Böll-Stiftung, Ralf Fücks. Das stimmt formal. Die Stiftungen erhalten keine Weisungen aus der Bundesregierung. Sie werden im Auswärtigen Amt aber als wichtiger Faktor der deutschen Außenpolitik gesehen. Häufig weisen deutsche Diplomaten auf die besondere Rolle hin, die Stiftungen im arabischen Frühling für die deutsche Politik übernähmen. Sie erreichten, anders als die Botschaften, die ganze Bandbreite der Gesellschaft. Die Adenauer-Stiftung etwa sucht vor allem konservative Gruppen als Partner, die EbertStiftung Gewerkschaften oder sozialdemokratische Organisationen. Die Stiftungen können Kontakte zu oppositionellen Gruppen pflegen, zu denen Diplomaten aus außenpolitischen Gründen Abstand halten müssen. Diese Doppelfunktion – die formale Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Nähe zur Regierung – schafft Misstrauen. Weil die Stiftungen in Berlin als Instrument der Außenpolitik gesehen werden, geraten sie obendrein bisweilen in den Verdacht, enge Kontakte zum Geheimdienst zu pflegen. Das iert auch in Ländern, die wie die Türkei Verbündete Deutschlands in
Parteinahe Stiftungen
DPA
FriedrichEbert-Stiftung
Stiftungsleiter Jacobs
Stundenlange Verhöre
Beschäftigte
Einrichtungen in Deutschland
im Ausland
SPD
620
17
90
KonradAdenauer-Stiftung CDU
564
18
knapp 80
HannsSeidel-Stiftung
CSU
270
7
rund 50
HeinrichBöll-Stiftung
Grüne
209
16
28
FriedrichNaumann-Stiftung FDP
188
10
43
Rosa-Luxemburg-Stiftung
170
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Linke D E R
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der Nato sind. Da hilft es kaum, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara schon seit 28 Jahren und die FriedrichEbert-Stiftung in Istanbul seit 24 Jahren aktiv sind. Das tiefverwurzelte Misstrauen der Behörden ist nicht gewichen. „Die Türkei traut ja nicht einmal der eigenen Zivilgesellschaft über den Weg“, sagt Ulrike Dufner, die seit acht Jahren das Büro der Böll-Stiftung in Istanbul leitet. „Wie soll sie dann erst ausländischen Zivilorganisationen trauen?“ Im Jahr 2002 leitete der Generalstaatsanwalt am Sicherheitsgericht in Ankara ein Verfahren gegen vier deutsche Stiftungen sowie das Deutsche Orient-Institut ein, weil diese angeblich eine Gefahr für die Sicherheit und die Einheit des türkischen Staates darstellten. Als Vorlage diente der Anklage das Buch eines ultranationalistischen Geschichtsdozenten. Die Stiftungen, so hieß es darin, seien Handlanger des Bundesnachrichtendienstes. Ihr Ziel sei es, die Türkei zu schwächen und so leichter zu beherrschen. Der Prozess endete 2003 mit einem Freispruch, aber an der grundsätzlichen Einstellung der staatlichen Stellen änderte sich nichts. Bis heute, sagt Dufner, seien die Stiftungen dem Staat ein Dorn im Auge. 2011 warf ihnen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sogar vor, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu unterstützen. Für den Argwohn vieler Regierungen gibt es bisweilen durchaus Gründe. In Spanien wurden Parteien nach dem Ende der Franco-Diktatur auch über politische Stiftungen finanziert. Der Bundesnachrichtendienst soll dafür einen Geheimfonds eingerichtet haben, dessen Mittel vom Kanzleramt verteilt wurden. Heute gebe es das nicht mehr, versichern alle Beteiligten. Der Militärrat in Ägypten setzt seinen Feldzug gegen ausländische Stiftungen dennoch fort. Derzeit stehen vor allem US-amerikanische Organisationen im Visier der Behörden – unter ihnen das den Demokraten nahestehende National Democratic Institute und das International Republican Institute (IRI). Gegen sechs amerikanische NGO-Mitarbeiter wurden sogar Ausreisesperren verhängt, der Bürochef des IRI in Kairo etwa durfte nicht nach Dubai ausfliegen; ein Vorfall, der dazu führen könnte, dass Washington seine Militärhilfe aussetzt. Für die deutschen Stiftungen aber ist es kein Trost, dass die Amerikaner im Moment noch stärker drangsaliert werden. Sie wissen, dass es auch sie wieder erwischen kann. Stiftungschef Jacobs hat im Januar einen neuen Länderbericht verfasst. Er fällt für den Militärrat wenig schmeichelhaft aus. JULIANE VON MITTELSTAEDT, RALF NEUKIRCH, DANIEL STEINVORTH, VOLKHARD WINDFUHR
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PETER KNEFFEL / DPA
Deutschland
CSU-Politiker Dobrindt
KARRI EREN
Powered by CSU Generalsekretär Alexander Dobrindt gilt als einer der schärfsten Pöbler der Republik. Dabei hält er sich für den modernsten Parteimanager Deutschlands. Von Markus Feldenkirchen
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rei Tage nachdem er bei „Günther flächen, die entstehen werden, von PresJauch“ wieder mal rumgerüpelt seräumen und Kommunikationsinseln, es und ein Verbot der Linkspartei ge- klingt alles sehr transparent, das Wort fordert hat, steht Alexander Dobrindt im „modern“ kommt in manchen Sätzen Foyer der Münchner CSU-Zentrale und gleich mehrmals vor. Er wirkt höflich, lämöchte zeigen, wie modern und weltof- chelt gern, ein wenig verschmitzt vielfen er und seine Partei in Wahrheit sind. leicht, aber freundlich. „Sie sehen, der Pförtner sitzt nicht mehr Dobrindt, 41, wirft einen letzten Blick hinter Panzerglas“, sagt Dobrindt. „Habe auf den grauen Betonklotz, vor dem er ich veranlasst.“ Er schaut zum Ausgang. steht. „Ich will die Hütte schnell auf einen „Die Drehtür ist auch weg. Wir haben im modernen Stand kriegen. Damit man auch Eingangsbereich keine Schleusensituation von außen sieht, dass sich was ändert. Das mehr.“ Er öffnet die Tür, die keine Dreh- t ja alles nicht mehr in die Zeit.“ tür mehr ist, und tritt auf den Hof. Wie er Es gibt eine merkwürdige Diskrepanz jetzt dasteht, mit schmaler Krawatte im zwischen dem Dobrindt, der gerade seischwarzen, enggeschnittenen Dreiteiler ne Hütte modernisieren will, und jenem und sich die neue Designerbrille mit dem Dobrindt, der die Linkspartei verbieten Schriftzug „KRASS“ zurechtrückt, ähnelt will und Hannelore Kraft „das faulste Ei er dem Fußballtrainer Felix Magath. In in der deutschen Politik“ genannt hat. seinem Blick liegt dieselbe Süffisanz. Mal klingt er wie der Chef einer WerbeHier vorn, sagt Dobrindt, werde er bald agentur, der weiß, was in die Zeit t anbauen. Er redet von Präsentations- und was sich überholt hat, ein anderes 34
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Mal wie ein Raufbold alter Schule. Dobrindt nannte die FDP eine „Gurkentruppe“ und mutmaßte, dem Liberalen Wolfgang Kubicki sei wohl die „Schweinegrippe aufs Gehirn geschlagen“. In der FDP heißt er seither Doofbrindt. Das Land verdankt ihm zudem Weisheiten wie diese: „Diejenigen, die gestern gegen Kernenergie, heute gegen Stuttgart 21 demonstrieren, müssen sich nicht wundern, wenn sie irgendwann ein Minarett im Garten haben.“ Mit derlei Sprüchen wirkt Dobrindt, der so gern modern sein möchte, wie eine Figur von gestern. Traditionell waren CSU-Generalsekretäre meistens Männer, denen man ungern im Dunkeln begegnete. Es gab den Eisernen Vorhang, die Marktwirtschaft kämpfte gegen den Kommunismus und Bayern gegen den Rest der Welt. Die Dinge waren übersichtlich. Die Generalsekretäre hießen wie sie sich gaben, Tandler, Protzner, Goppel, sie trugen Spitznamen wie „blondes Fallbeil“ (Edmund Stoiber) oder „Wadenbeißer“ (Erwin Huber). Der letzte Vertreter ihrer Art war Markus Söder. In der modernen Welt aber sind Generalsekretäre eher als Eventmanager und Produktdesigner gefordert. Der erste CSU-Generalsekretär des neuen Typs war Karl-Theodor zu Guttenberg, auch wenn er nicht lange im Amt blieb. Es scheint, als habe sich Dobrindt noch nicht entschieden, zu welcher Welt er gehören möchte.
STEFAN PUCHNER / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Bevor er Berufspolitiker wurde, stu- zentrum“, und begrüßte tausend Gäste Gasthof „Zum Hirsch“ und dem Schweinsdierte er Soziologie und arbeitete bei ei- beim „Europakongress“ der CSU. Schein- braten, aber nicht mehr mit der „Ladies nem Gerätebauunternehmen in seinem werfer tauchten den Saal in kühles, hell- After Work Party, powered by CSU“. „Es gibt so Momente, da spürt man: Geburtsort Peißenberg. Dort, im Schatten blaues Licht. Es wirkte wie die PräsentaJetzt ist es Zeit“, sagt Dobrindt. „So war der Zugspitze, wurde er dreimal schon tion eines Sportwagens. „Darstellung, Inhalt, Optik, Präsenta- es auch beim Projekt Gewichtsabnahme.“ Schützenkönig. Seine Frau ist Schriftfühtion, Internet.“ Bei jedem Wort klappte Er hält inne, dann korrigiert er sich: rerin in einem CSU-Kreisvorstand. Er läuft aus dem Hof hinaus zur Straße, ein Finger an Dobrindts Hand hoch. „Das „Oder besser: Gewichtsmodernisierung.“ Von jenem Sonntag an verzichtete vorbei an der Parteizeitungs-Zentrale des sind die Schlüsselwörter.“ Vor einem Jahr erfand er deshalb die Dobrindt auf Schokoriegel, Gummibär„Bayernkuriers“, bald steht er vor dem Parteirestaurant. Was Dobrindt im Gro- „Lounge in the City“, in der „Ladies After chen, Kuchen und Alkohol. Er verlor 19 ßen mit der CSU vorhat, hat er hier, im Work Partys, powered by CSU“ stattfin- Kilo in acht Monaten, kaufte sich neue, den. Demnächst soll mit „Talk in the gutgeschnittene Anzüge und eine kluge Kleinen, bereits umgesetzt. Jahrzehntelang hieß das Restaurant City“ ein weiteres Event folgen. „Das Felix-Magath-Brille. „Ich fand’s an der „Löwe & Raute“. Dann kam Dobrindt, wird auch ein Riesenerfolg – weiß ich Zeit, einfach persönlich mich auch weiänderte erst den Namen in „franz josef“, jetzt schon.“ Und bei der Landtagswahl terzuentwickeln“, sagt er. „Die Partei weil er fand, „dass bayerische Vornamen im nächsten Jahr werde man „den mo- wird noch fitter werden, und ich will das sehr angesagt sind“, und änderte dann dernsten, den hipsten, den angesagtesten auch.“ Die Reduktion der Politik auf das den Rest. Wie Rach der Restauranttester. Wahlkampf“ führen, den eine Partei der- Äußerliche ist mit Dobrindt in eine neue Er bittet an einen Tisch neben der Glas- zeit führen könne. Es klingt wie das größ- Dimension vorgestoßen. Er hat sich selbst end gemacht, hat sein Leben veränfront. „Das war hier alles Wand.“ Er dert, um sein Produkt besser verkörpern klopft gegen das Glas. Dunkel sei es hier zu können. gewesen, die Tischgarnituren traditionell. Warum aber leistet er sich immer wie„Haben wir alles rausgeschmissen.“ der diese Ausfälle? Warum die Forderung Dann deutet er auf die Fotografien an nach einem Verbot der Linkspartei, warden Wänden, sie zeigen altdeutsche um die Pöbeleien gegen den politischen Schriftzüge bayerischer Biermarken oder Gegner? Wie t das zu seiner Moderdas Schild eines Sudkessels. Man hätte das nisierungsstrategie? Schild natürlich im Original an die Wand Dobrindt knetet die Hände, er weiß hängen können, sagt Dobrindt. Er aber um diese Diskrepanz, er ringt mit einer habe sich bewusst für Fotografien entschieAntwort. „Das ist eben der klassische Teil den. „Das ist ja gerade das Supermoderne: meiner Aufgabe“, sagt er schließlich. auf klassische, traditionelle Motive hinzu„Der ist auch notwendig, nach wie vor.“ weisen, ohne sie wirklich zu haben.“ Er klingt jetzt kleinlauter als zuvor, zöDobrindt ist jetzt in Modernisierungsgerlicher, als sei er sich selbst nicht mehr laune. „Da hinten“, sein Finger zeigt in ganz sicher. „Die Basis erwartet nun mal den Nebenraum. „Da versuchen wir die eine gewisse Zuspitzung von mir.“ jungen Leute anzusprechen, mit hohen Vielleicht aber ist die Basis längst viel Stühlen und hohen Tischen, das ist etwas, klüger, als Generalsekretäre gern unterdas mehr der modernen Ausgehsituation stellen. Vielleicht weiß sie längst, dass entspricht.“ diese Schaukämpfe nicht mehr glaubwürDobrindt reibt sich die Hände, er wirkt dig sind, dass es sich um Rituale aus einer sehr zufrieden mit sich. „Da muss man schlichteren Welt handelt. Vielleicht ahnt nicht drüber reden, das sieht ja jeder, der sie auch, dass ihr Generalsekretär, gleich reinkommt, dass das hier funktioniert.“ Amtsvorgänger Söder nachdem er bei „Günther Jauch“ ein VerSeit der Neueröffnung des Parteirestau- Letzter Vertreter seiner Art bot der Linken gefordert hat, mit deren rants im vergangenen Oktober habe man doppelt so viel Kundschaft wie früher. te Modernisierungsprogramm seit Roose- Vertreter Dietmar Bartsch bis weit nach Mitternacht Bier trinken geht. Das Publikum sei jünger. So ähnlich stellt velts New Deal. Im „franz josef“ ist Dobrindt noch etDobrindt bestellt jetzt Würstl mit Sauer sich das auch mit der CSU vor. Dann beugt er den Kopf weit über die erkraut, dazu eine Cola Light, Tradition was eingefallen. Vor einiger Zeit habe er Tischplatte. „Sagen Sie: Wie stellen sich und Moderne. Irgendwann fiel ihm auf, Uli Hoeneß zu einer Vorstandsklausur Ihre Freunde in Berlin eine typische Ver- dass er selbst nicht in die Events te, eingeladen, weil der es mit dem FC Bayanstaltung der CSU vor?“ Herausfordern- die er geschaffen hatte. Vor acht Monaten ern geschafft habe, „eine Modernität hinder Blick, süffisantes Magath-Lächeln. habe er sich deshalb „bewusst hingesetzt“ zukriegen, um für alle fanbar zu sein“. Die Antwort gibt er gleich selbst „Ich sag und nachgedacht, ob er so weitermachen Man habe an diesem Abend viel über das Ihnen, was die denken: Die treffen sich wolle wie bisher. Damals wog er rund Spannungsverhältnis von Tradition und im Gasthof ‚Zum Hirsch‘ im Hinterzim- hundert Kilogramm, trug Doppelkinn Moderne gesprochen, sagt Dobrindt. Hoemer, trinken Weißbier, essen Schweins- und weite Anzüge. Er erinnerte mehr an neß habe ihnen dann von seinem Versuch braten, und einer erzählt dann was.“ seinen fülligen Vorgänger Bernd Protzner berichtet, seine Wurstfabrik zu modernisieren. Mehrfach habe er probiert, die Dann folgt sein Plan: „Wer künftig an die als an Magath oder Guttenberg. Er habe leidenschaftlich Schokoriegel, Würstl mit Hilfe einer Maschine in die CSU denkt, denkt nicht mehr an den ‚Goldenen Hirschen‘ und an Schweinsbra- Gummibärchen und Kuchen genascht, er- Plastikverpackung zu bekommen. Nach ten, der denkt an die supermoderne zählt Dobrindt. „Ich hätte jeden Nachmit- vielen Versuchen habe er es aufgegeben. BMW-Welt, mit offenen Foren, modernen tag fünf Stücke Kuchen essen können.“ Die Würstl würden noch heute handAber er litt unter seiner Leidenschaft, und verpackt. Farben, moderner Form.“ „Sehen Sie“, sagt Dobrindt und lächelt. Zwei Tage zuvor stand Dobrindt in der er spürte, dass sein Äußeres nicht mehr Münchner BMW-Welt, einem futuris- zur neuen Botschaft te, der moder- „Es gibt auch Dinge, die müssen bleiben, tischen „Erlebnis- und Auslieferungs- nen Partei. Es vertrug sich noch mit dem wie sie waren.“ D E R
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Ungebremst und ungeniert Die Bundesländer haben sich verpflichtet, ab 2020 keine neuen Schulden zu machen. Doch schon jetzt zeichnet sich ab, dass viele dieses Versprechen brechen werden – weil die Landesregierungen noch nicht einmal sparen, wenn die Steuereinnahmen steigen.
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inanzminister gelten nicht als fröhliche Menschen. Die Schulden des Landes drücken, die Wünsche der Wähler nerven, da kann man schnell die gute Laune verlieren. In diesen Wochen aber scheint alles anders zu sein. In München berichtete ein strahlender Landesminister seinen Kabinettskollegen, dass die Steuereinnahmen stark, ja sensationell gestiegen seien. Das Land habe 2,2 Milliarden Euro mehr in der Kasse als erwartet, jubelte Markus Söder (CSU) und erklärte den Freistaat zur „Stabilitätsoase in Deutschland“. Etwas bescheidener, aber nicht weniger erfreut trat in Dresden sein sächsischer Amtskollege auf, nachdem die Haushaltsabteilung seines Ministeriums einen vorläufigen Kassenabschluss vorgelegt hatte. Im Vergleich zum Vorjahr, berichtete Georg Unland (CDU), ergebe sich ein Steuerplus von mehr als einer halben Milliarde Euro. Selbst in Nordrhein-Westfalen, wo das Landesverfassungsgericht die rot-grüne Regierung zum strikten Sparkurs verdonnert hat, konnte der Finanzminister plötzlich Positives vermelden. Im Vergleich zu 2010 seien die Einnahmen um drei Milliarden Euro gestiegen, verkündete Minister Norbert Walter-Borjans (SPD), „840 Millionen höher als erwartet“. Die Finanzminister der Bundesländer dürfen sich fühlen wie Spieler, die ihr Vermögen fast verzockt haben und plötzlich
eine Glückssträhne erleben. Die zusätzli- befinde sich „auf gutem Weg“, einen auschen Millionen und Milliarden, die nun geglichenen Haushalt bis zum Jahr 2020 in den deutschen Landeshauptstädten be- zu erreichen, behauptet die Saarländerin jubelt werden, sind freilich ebenso ver- Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), führerisch wie trügerisch. Die Summen Ministerpräsidentin des Flächenlandes ändern nichts daran, dass die Länder drin- mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung. gend sparen müssten. Und sie verstellen Klaus Wowereit (SPD), Regierender Bürden Blick darauf, dass viele dies nicht germeister im ebenfalls hochverschuldekonsequent tun – und damit schlimms- ten Berlin, verspricht sogar „spätestens 2016“ einen Etat ohne Neuverschuldung. tenfalls den Ruin riskieren. Für viele Experten, etwa in den LanDabei haben Bundestag und Bundesrat vor zweieinhalb Jahren eine „Schulden- desrechnungshöfen, klingen solche Ausbremse“ im Grundgesetz verankert: Die sagen wie Märchen. Sie fragen sich, wann Länder sollen spätestens ab 2020 nicht die Regierungen endlich mit dem Sparen mehr auf Pump leben. Sie dürfen nur anfangen. Die Zeit ist günstig, weil die noch so viel Geld ausgeben, wie sie ein- Einnahmen aus Lohn- und Einkommennehmen. Schon jetzt allerdings, knapp steuern so hoch sind wie fast noch nie. ein Jahrzehnt bevor die Regelung greifen Wenn die Regierungen nicht jetzt sparen soll, sehen Experten das Ziel in Gefahr, und Schulden abbauen – wann dann? „Die strukturellen Einsparungen fallen weil viele Länder weiter Vollgas geben, viel zu niedrig aus oder finden erst gar statt auf die Bremse zu steigen. Berlins parteiloser Finanzsenator Ul- nicht statt“, kritisiert der Wirtschaftsweirich Nußbaum warnt bereits davor, dass se Christoph Schmidt vom Rheinisch„nicht alle Länder überleben werden“ Westfälischen Institut für Wirtschaftsfor(siehe Interview Seite 39). Doch deren schung (RWI). Die Schuldenlast der LänRegierungen verhalten sich wie die Grie- der nehme insgesamt „weiterhin kräftig chen vor einigen Jahren, als die Lage des zu“. So plant die nordrhein-westfälische Landes schlecht war, aber noch nicht aus- Regierung, 2012 die Ausgaben im Versichtslos erschien. Alle ahnten, dass es so gleich zum Vorjahr noch zu steigern. Weit nicht ewig weitergehen konnte, aber nie- über drei Milliarden Euro müssen dabei mand hatte die Macht und den Mumm durch neue Schulden finanziert werden. „Einen Konsolidierungskurs hat die Langegenzusteuern. Stattdessen behaupten auch deutsche desregierung in Wahrheit noch gar nicht Landespolitiker, dass alles bestens sei eingeschlagen“, sagt Rainer Kambeck, Exoder zumindest besser werde. Ihr Land perte für Länderfinanzen beim RWI.
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+1 Sachsen
MecklenburgVorpommern
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0 –1 Quelle: Bundesfinanzministerium
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Nettokreditaufnahme
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Neuverschuldung der Bundesländer von 2003 bis 2010, in Mrd. €
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Q Schuldentilgung
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Finanzministertreffen in Hamburg 2011: Wie Spieler, die ihr Vermögen fast verzockt haben
Noch schlechter ist die Lage in Bremen. hoher Schuldenberg. Trotz des unerwarDer Stadtstaat gibt rund vier Milliarden teten Milliardensegens sollen die AltschulEuro im Jahr aus, nimmt aber nur drei den laut Haushaltsplan im Laufe des JahMilliarden ein. Die Schulden werden nach res nur um vergleichsweise mickrige 250 den Berechnungen des Senats im kom- Millionen Euro schrumpfen. Regierungsmenden Jahr auf mehr als 20 Milliarden chef Horst Seehofer (CSU) hat zwar anEuro wachsen. Und niemand weiß, wie gekündigt, künftig größere Summen für diese Summe jemals getilgt werden soll. den Schuldenabbau bereitzustellen. Doch Auch in ostdeutschen Ländern, die der- dieses Geld dürfte dann anderen Ländern zeit üppige Zuschüsse aus dem Solidar- fehlen, denn finanzieren will Seehofer pakt kassieren und teilweise sogar Haus- den Abbau unter anderem über eine Rehaltsüberschüsse aufweisen, wird die form des Länderfinanzausgleichs. Das Grundproblem ist überall das gleiLage kompliziert. Weil der Solidarpakt auslaufe und die Einwohnerzahl sinke, che: Anders als der Bund können die Länverliere Mecklenburg-Vorpommern bis der ihre Einnahmen kaum beeinflussen. 2020 rund eine Milliarde Euro, sagt Fi- „Autonom entscheiden wir im Grunde nanzministerin Heike Polzin. Die SPD- nur über die Grunderwerbsteuer“, sagt Politikerin sagt: „Wir stehen am Anfang der Vizevorsitzende der Finanzministerkonferenz, der Hesse Thomas Schäfer eines schwierigen Jahrzehnts.“ Selbst in Bayern sind die Verhältnisse (CDU). Die meisten Länder haben diese nicht so geordnet, wie sie auf den ersten Steuer gerade erst erhöht. Auch bei den Ausgaben ist der SpielBlick erscheinen: In Söders „Stabilitätsoase“ türmt sich ein 32 Milliarden Euro raum klein. Die Länder sind für Bereiche
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mit viel Personal zuständig: Schulen, Justiz, Universitäten, Polizei. Im Flächenland Hessen wird jeder zweite Euro aus den Steuereinnahmen für Mitarbeiter ausgegeben, beim Bund beträgt der Anteil nur rund zwölf Prozent. Da Lehrer, Professoren und Polizisten in der Regel unkündbare Beamte sind, lassen sie sich nicht einfach von der Gehaltsliste streichen, und sie kosten auch im Ruhestand noch viel Geld. Weil die westdeutschen Länderverwaltungen über Jahrzehnte aufgebläht wurden, werden die Kosten für die Versorgung der Pensionäre noch viele Jahre lang massiv steigen. Selbst bei einem sofortigen Einstellungsstopp würden die Versorgungsausgaben seines Landes noch bis 2030 wachsen, sagt Hessens Finanzminister Schäfer. Ohnehin seien Einstellungsstopps politisch kaum durchzusetzen, klagen Finanzminister gern untereinander, wenn
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Aufgaben an die Länder oder Kommunen abschiebt. Zudem dürfen sich die Länder individuelle Regeln dafür basteln, wie sie ihre Einnahmeausfälle aus Konjunkturkrisen berechnen. Laut Grundgesetz dürfen solche Ausfälle per Kredit ausgeglichen werden. Doch die Berechnungsverfahren sind äußerst kompliziert, schon geringfügige Änderungen der Parameter können große Spielräume für neue Schulden schaffen. Klaus Behnke, der Präsident des rheinland-pfälzischen Landesrechnungshofs, fürchtet, dass „es nur sehr wenige Abgeordnete in den Parlamenten gibt, die das dann noch nachvollziehen und kontrollieren können“. Kreative Finanzminister, glaubt Behnke, dürften auch künftig Wege finden, Haushaltslöcher auf Pump zu stopfen. Notfalls werden sie es vermutlich mit bewährten Tricks versuchen, etwa die Schulden in Neben- und Schattenhaushalte, Zweckgesellschaften oder landeseigene Unternehmen auslagern. Auch PPPProjekte – Partnerschaften mit privaten Unternehmen, etwa bei Bauprojekten – sind bei Rechnungsprüfern berüchtigt. Häufig werden landeseigene Immobilien an Investoren verkauft und dann über langfristige Verträge gemietet. Auch dies, warnen Rechnungshofpräsidenten, sei oft nichts anderes als eine verdeckte Kreditaufnahme. So treiben viele Landespolitiker nicht den Schuldenabbau voran, sondern machen ungebremst und ungeniert lieber neue Versprechen, nicht nur im Wahlkampf. Die bayerische Regierung liebäugelt mit einer pompösen neuen Konzerthalle in der Landeshauptstadt – als wäre die Elbphilharmonie, das Millionengrab der Hamburger, nicht Warnung genug. Die Hessen stampfen bei Kassel einen mehr als 250 Millionen Euro teuren Provinzflughafen aus dem Boden. Der wird nach Meinung vieler Experten dauerhaft auf Subventionen angewiesen sein, noch hat sich jedenfalls keine Fluggesellschaft gefunden, die dort landen will. Im Saarland will die Noch-Regierungschefin Kramp-Karrenbauer dafür sorgen, dass der Fußball-Drittligist 1. FC Saarbrücken für geschätzte 28 Millionen Euro ein neues Stadion bekommt. Wenn man die Schuldenbremse „radikal“ auslege, räumt die Politikerin ein, dann dürfe man bis 2020 „überhaupt nichts mehr bauen“. Aber das, sagt Kramp-Karrenbauer, gehe natürlich nicht. CHRISTIAN OHDE / ACTION PRESS
sie sich alle paar Wochen treffen. In fast nicht allzu streng mit den Defizitsündern allen Landtagen versuchen sich Regie- umgehen. Die Länderfinanzminister stelrungen und Opposition mit Ankündi- len 16 von 18 Mitgliedern und kontrolliegungen zu übertrumpfen, wer den Schu- ren sich damit praktisch selbst. Was ieren wird, wenn einige Länlen die meisten Lehrer spendiert oder den Städten und Dörfern die meisten der ab 2020 trotz allem neue Schulden machen, ist unklar. Möglicherweise nicht Polizisten. Wie die Länder unter diesen Umstän- viel. Auch vor der Grundgesetzänderung den einen ausgeglichenen Haushalt errei- gab es schließlich schon Verfassungschen wollen, ist vielen Experten ein Rät- regeln, die die Verschuldung begrenzen sel. „Etliche Länder scheinen die letztlich sollten. Bund und Länder durften sich nötigen Konsolidierungsmaßnahmen auf- nur so viel Geld leihen, wie sie nachweiszuschieben“, stellte die Bundesbank be- lich für Investitionen ausgaben. Selbst diese vergleichsweise niedrige reits in ihrem Monatsbericht vom verganHürde haben zahlreiche Länder gerissen, genen Oktober fest. RWI-Chef Schmidt sieht diesen Befund durch eine Analyse der Haushaltsplanungen von 2011 bestätigt. Danach weisen „alle Länder bis auf Sachsen einen strukturell unterfinanzierten Haushalt auf“. Das Geschenk der stark wachsenden Steuereinnahmen habe zwar für schönere Bilanzen mit geringeren Defiziten gesorgt, aber an der bedenklichen Ausgabenstruktur wenig verändert. „In Wirklichkeit verschieben die meisten Länder das Sparen in die Zukunft“, sagt Schmidt. Das soll seit 2010 ein „Stabilitätsrat“ verhindern. Er achtet darauf, dass alle Länder einen „Pfad“ zum schuldenfreien Wirtschaften be- Millionengrab Hamburger Elbphilharmonie: Bewährte Tricks schreiten. Auf vier besonders hoch verschuldeten Ländern klebt das Bremen beispielsweise in jedem einzelnen Etikett „Haushaltsnotlage“. Berlin, Bre- Jahr der vergangenen zwei Jahrzehnte. men, Saarland, Schleswig-Holstein sowie Es gab ja ein Schlupfloch: Die Regierung Sachsen-Anhalt erhalten zudem bis 2019 musste nur eine „Störung des gesamtwirtjedes Jahr 800 Millionen Euro als Über- schaftlichen Gleichgewichts“ konstatieren, gangshilfen. Dafür müssen sie darlegen, dann war eine höhere Neuverschuldung dass sie ihre Neuverschuldung jedes Jahr erlaubt, zur Stützung der Konjunktur. Nur wenn die angebliche „Störung“ allein bisschen mehr abbauen. Auf dem Papier gelingt das einigerma- zu offensichtlich als Scheinargument zu ßen. Alle Finanzminister, auch die der entlarven war, zog hin und wieder eine Notlagen-Länder, können auf ihrem Com- Landtagsopposition dagegen vor Gericht. puter bunte Grafiken mit stetig abfallen- Mitunter wurde der Trick dann nachträgden Linien zeigen. Diese stehen für „Neu- lich vom Verfassungsgericht des Landes verschuldung“ und sollen, so ist es auf gerügt. Viel mehr ierte meistens nicht. Die neue Verfassungsregel, die „Schuldem Bildschirm zu sehen, spätestens 2020 mehr oder weniger sanft auf die Null-Li- denbremse“ von 2009, ist zwar wesentlich nie aufsetzen. Aber wie realistisch ist das? strenger formuliert. Aber auch sie bietet Die Fachleute der Bundesbank haben in Ausnahmen und Schlupflöcher. So sind den Finanzplanungen der Länder häufig Kreditaufnahmen erlaubt, wenn eine den Verweis auf „globale Minderausga- schwache Konjunktur die Steuereinnahben“ gefunden. Unter Haushaltsexperten men einbrechen lässt. Die Finanzminister gilt die Floskel als offenes Bekenntnis der müssen dann nur einen Tilgungsplan vorRatlosigkeit: Man weiß zwar, dass man legen. Das Gleiche gilt bei Naturkatastroseine Ausgaben stark kürzen müsste, hat phen oder „außergewöhnlichen Notsituaaber noch nicht die geringste Idee, wo tionen“. Solche Formulierungen schaffen Raum für Interpretationen. Rheinlandsolche Einsparungen möglich sind. Sollte eines der Notlagen-Länder sein Pfalz hat in seiner Landesverfassung Sparziel nicht erreichen, kann der Stabi- schon eine sehr weitgehende Auslegung litätsrat die Übergangshilfen streichen. verankert: Das Land will sich ab 2020 Andere Sanktionen sind nicht vorgese- neue Kredite genehmigen, wenn etwa der hen. Vermutlich wird der Rat ohnehin Bund die Steuern senkt oder zusätzliche
MATTHIAS BARTSCH, ANDREA BRANDT, MICHAEL FRÖHLINGSDORF, SIMONE KAISER, MAXIMILIAN POPP
„Nicht alle werden überleben“
Arme Bremer Schuldenstand der Länder * pro Kopf, 2010 in Euro
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Schulden mehr machen. Wer bis dahin seinen Haushalt nicht in Ordnung gebracht hat, riskiert seine Selbständigkeit. Schließlich können Sie nur gestalten, wenn Sie Ihre politischen Ziele auch finanzieren können. 2020 wird darum zum Schicksalsjahr im deutschen Föderalismus. Dann wird nicht nur die Schuldenbremse wirksam, auch der Länderfinanzausgleich läuft aus, ebenso der Solidarpakt für die Ostländer. SPIEGEL: Mit welchen Folgen? Nußbaum: Das alles wird das Kräfteverhältnis zwischen Bund, Geber- und Nehmerländern deutlich verändern und den Zentralismus in Deutschland stärken. SPIEGEL: Wer wird die größten Probleme bekommen? Nußbaum: Ich glaube, dass nicht alle Länder überleben werden. Bremen und das Saarland dürften es am schwersten haben. Wenn Länder Grundbedürfnisse wie innere Sicherheit, Schulen, Kindergärten, Infrastruktur nicht mehr nachhaltig finanzieren können, wird sich das regionale Selbstbewusstsein schnell in Grenzen halten. Unter dem fiskalischen Druck wird es sicher zu Veränderungen kommen. SPIEGEL: Und wer soll Pleitekandidaten übernehmen? Nußbaum: Es wird nicht um Übernahmen gehen, sondern um Fusionen, denen die Bürger beider Seiten zustimmen müssen. Wir reden hier über Szenarien, aber ein Zusammenschluss Bremens mit Niedersachsen wäre sicher denkbar, ebenso ein Zusammengehen des Saarlands mit Rheinland-Pfalz. SPIEGEL: Uns wundert, dass Sie Berlin übersehen. Ihr Land ist einer der größten Schuldner der Republik.
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Schuldenbremse für die Bundesländer? Nußbaum: Ab 2020 dürfen wir keine neuen
bis spätestens 2016 in Ordnung bringen. Trotzdem wird eine Fusion mit Brandenburg wieder zum Thema werden, übrigens auch von Hamburg und SchleswigHolstein. SPIEGEL: Die Bürger dürften davon kaum begeistert sein, denken Sie an die 1996 geplatzte Fusion von Berlin und Brandenburg. Nußbaum: Der Wille zum Zusammenschluss war damals eigentlich da. Allerdings haben die Berliner Altschulden verständlicherweise die Brandenburger verschreckt. Die Lehre daraus lautet: Beim nächsten Anlauf braucht es vorher einen Schuldenschnitt. SPIEGEL: Damit würde schlechtes Wirtschaften belohnt. Bund und Geberländer werden sich bedanken. Nußbaum: Die Bundesrepublik haftet insgesamt sowieso für die Schulden der är-
* einschließlich der Gemeinden Quelle: Statistisches Bundesamt
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SPIEGEL: Welche Auswirkungen hat die
Nußbaum: Wir werden unseren Haushalt
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Nußbaum, 54, kennt sich in Deutschlands ärmsten Bundesländern aus: Er studierte im Saarland und verdiente in Bremen im Fischhandel ein Vermögen, bevor er dort 2003 parteiloser Finanzsenator wurde. 2009 ging er in gleicher Funktion nach Berlin.
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NORBERT MICHALKE / DER SPIEGEL
Berlins Finanzsenator Ulrich Nußbaum über die Zukunft überschuldeter Bundesländer
meren Länder. Sonst würden wir in Berlin, in Bremen, Schleswig-Holstein und im Saarland mit unseren Finanzkennziffern schon heute keine Kredite mehr bekommen. Wir erhalten sie aber, weil die Kapitalmärkte vom bündischen Prinzip ausgehen und wissen, dass der Bund und die anderen Länder auch für unsere Verbindlichkeiten einstehen. SPIEGEL: Wer soll bei einem Schuldenschnitt Altlasten übernehmen? Nußbaum: Vorrangig der Bund. Allerdings wird er im Gegenzug weitere zentrale Befugnisse verlangen. Zum Beispiel fordert er seit langem einen einheitlichen Steuervollzug, ein Bundesfinanzamt. Auch bei Wissenschaft und Forschung würde er seine Kompetenzen gern weiterentwickeln. SPIEGEL: Bislang haben die Länder ihre Kompetenzen eifersüchtig verteidigt. Nußbaum: Wir müssen diskutieren, wo aus unserer Sicht die Kernpunkte der Länderautonomie liegen und wo es Veränderungen geben kann. Ich persönlich könnte auch auf den Bildungsföderalismus gut verzichten. SPIEGEL: Und was hätten die reichen Geberländer davon? Sie würden für eine solidere Finanzpolitik bestraft – und müssten ebenfalls Kompetenzen abgeben. Nußbaum: Sie werden einen echten Wettbewerb zwischen den Ländern verlangen und versuchen, sich abzukoppeln, zum Beispiel über geringere Unternehmen-
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INTERVIEW: FRANK HORNIG, ANDREAS WASSERMANN
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Klappe halten Die Krise der FDP erreicht die Basis: Viele Funktionäre wenden sich gegen die Partei. Sie wollen nicht länger für die Fehler der Führungsriege geradestehen.
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s sollte ein heiteres Fest werden, Blumen zum Jubiläum, Sekt, ein schönes Foto. Dirk Niebel war extra angereist zum Neujahrsempfang der FDP in Heidelberg, der Entwicklungshilfeminister wollte Annette Trabold ehren, Mitglied der FDP seit 30 Jahren, Stadträtin seit 1989. Kaum war Niebel da, wetterte Trabold los. „Wir hier an der Basis müssen die Suppe auslöffeln, die uns die Bundes-FDP einbrockt. Was wir hier vom größten Teil der FDP-Führung geboten bekommen, das ist unsäglich!“ Wenn sich die Parteispitze nicht bald zusammenreiße, „dann gibt es eine Suppe, die ich nicht essen
CLEMENS BILAN / DAPD
steuern. Wenn wir ab 2020 einen neuen Länderfinanzausgleich vereinbaren, dürfte es zudem weniger solidarisch zugehen. Wenn Bayern allein bestimmen könnte, würde es Geldflüsse nach Berlin schon heute nicht mehr geben. SPIEGEL: Das Grundgesetz verlangt aber, dass die Lebensverhältnisse in ganz Deutschland gleichwertig sein sollen. Nußbaum: Daran sollten wir auch festhalten. Gerade deshalb müssen wir für alle Länder 2020 eine faire Ausgangsbasis herstellen. Der Preis dafür wird sein, dass wir Teile der Altschulden in einen großen gemeinsamen Topf hineinnehmen. Allein in Berlin sollten wir 30 von 63 Milliarden Euro Verbindlichkeiten streichen. Nur dann kommen wir in der Verschuldung pro Kopf auf den Stand gesunder Bundesländer. SPIEGEL: Damit würde das Problem doch nur innerhalb Deutschlands verlagert. Nußbaum: Anders geht es nicht. Wie, bitte schön, sollen denn die armen Länder ohne Schuldenschnitt ab 2020 ihre Pflichtaufgaben erfüllen, Zinsen für Altlasten zahlen – und dabei die Schuldenbremse einhalten? Das kann nicht funktionieren. SPIEGEL: Wie wäre es, wenn sie sich aus eigener Kraft aus dem Schuldenloch befreiten? Manche Geberländer verstehen schon heute nicht, warum Berlin etwa eine neue Kunsthalle plant oder auf Studiengebühren verzichtet. Nußbaum: Die Debatte, wer sich was leistet, können wir gern führen. Dann müssen wir aber auch darüber reden, wer zuletzt neue Wasserstraßen bekam oder wer die längeren Autobahnen erhält. Was ist mit den Kohlesubventionen? Und wem nutzt die Förderung erneuerbarer Energien? SPIEGEL: Sie können es drehen, wie Sie wollen: Unterm Strich stehen die Südländer besser da und verfügen über eine stärkere Wirtschaft als Berlin. Nußbaum: Lassen Sie uns doch eine konsolidierte Bilanz der Zahlungsströme in Deutschland erstellen. Das habe ich als Finanzsenator zunächst in Bremen und nun in Berlin schon mehrfach angesprochen. Aber ausgerechnet die Geberländer verweigern sich. SPIEGEL: Warum haben die meisten Reformversuche beim Länderfinanzausgleich in der Vergangenheit so wenig gebracht? Nußbaum: Bislang war es doch so: Ich mache als Landesregierung Schulden, mein Parlament stimmt zu – auch wenn klar ist, dass ich das Geld wohl nie zurückzahlen kann und am Ende faktisch ganz Deutschland dafür haftet. Und wenn sich Bund und Geberländer beschweren, verweise ich auf meine Landesautonomie. Deshalb war es nur konsequent, die Schuldenbremse einzuführen.
Vorsitzender Rösler
Völlig überfordert
werde“. Erstmals in ihrem Leben denkt Trabold ernsthaft daran, ihr politisches Engagement an den Nagel zu hängen. Die Krise der FDP ist an der Basis angekommen. Inzwischen laufen der FDP nicht bloß Wähler und Mitglieder weg, sondern auch Funktionsträger: Kreisvorsitzende, Stadtverordnete. Seit Monaten vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendwo in Deutschland ein liberaler Kommunalpolitiker hinschmeißt. Wer mit den Aussteigern spricht, hört die unterschiedlichsten Geschichten, aber der rote Faden ist die Enttäuschung. „Die FDP hat uns im Stich gelassen“, sagt Albert Schweiger, Immobilienkaufmann, bis D E R
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Januar Kreisvorsitzender im schwäbischen Memmingen. Als Schweiger vor fünf Jahren in die FDP eintrat, dachte er, die Partei tue etwas für den Mittelstand. Dann wurden im Ort Millionenaufträge ohne Ausschreibung vergeben. Schweiger und andere in seinem Kreisverband fanden das wettbewerbsverzerrend. War nicht die FDP die Partei der Ordnungspolitik? Sie wandten sich an den Landesvorsitzenden und sogar an die FDP-Abgeordneten in Brüssel. Alle gaben ihnen Recht und versprachen, sich zu kümmern. Aber geschehen, sagt Schweiger, sei nichts: „Die Leute an der Parteispitze kämpfen alle nicht um die Sache.“ Mehr als die Hälfte der FDP-Mitglieder trat wie Schweiger in der Oppositionszeit ein. Sie glaubten, an der Regierung würden die Verheißungen des Parteichefs Guido Westerwelle wahr. Als dann ein Wahlversprechen nach dem anderen verpuffte, gingen die Neumitglieder als Erste. Aber inzwischen geht die Krise der FDP tiefer. 25 Jahre war Brigitte Pöpel Mitglied der FDP, sie saß im Kreisvorstand in Wiesbaden und im Rathaus. Doch nach dem Sieg bei der Bundestagswahl wurde ihr die Partei immer fremder. Der neue Vorsitzende Philipp Rösler überzeugt sie nicht, in ihren Augen wirkt er völlig überfordert. Zum Bruch zwischen ihr und der FDP kam es nach dem Mitgliederentscheid zum Euro-Rettungsschirm. Pöpel unterstützte den Antrag des Euro-Rebellen Frank Schäffler. „Kritiker wie ich wurden massiv von der FDP-Führung attackiert“, sagt sie. Konstruktive Kritik sei in der Partei nicht erwünscht. „Die Haltung ist: Die Leute, die an der Basis die Arbeit machen, sollen die Klappe halten. Das hat mir irgendwann gereicht.“ Im Januar legte sie alle Parteiämter nieder. Die große Distanz zwischen Bundesund Lokalebene war immer ein Manko der deutschen Politik, schon durch die alte Bundesrepublik geisterte der Ausdruck „Raumschiff Bonn“. In der FDP hat die Abkopplung der Parteispitze von der Basis seit dem Regierungsantritt jedoch gefährliche Formen angenommen. Oben werden nach elf Oppositionsjahren plötzlich alle Kräfte vom Regieren aufgezehrt. Unten an der Basis weiß kaum noch ein Funktionär, wie er die Politik der Parteispitze vor seinen Leuten vertreten soll. Jene Funktionäre, die noch bei der FDP ausharren, wählen zum Teil drastische Mittel, um ihrer Wut Luft zu machen. Der Kreisverband Dingolfing-Landau hat beschlossen, keine Beiträge mehr an die Bundespartei abzuführen. „Berliner Dummheit darf nicht auch noch finanziell unterstützt werden“, sagt der Kreisvorsitzende Franz Egerer. Es sei angebracht, „dass sich die Schuldigen in der Parteizentrale zu einem historischen Kniefall durchringen und die Basis akzeptieren“. MERLIND THEILE
Lecko mio Ein Bericht der Landesregierung nährt den Verdacht, dass der umstrittene EnBW-Deal vor allem dem damaligen Ministerpräsidenten Mappus dienen sollte.
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suchungsausschuss offen verwenden, die auch EDF-Chef Henri Proglio hatte offenandere, 21 Seiten stark, ist nicht für die bar die Investmentbank mandatiert. Aus Öffentlichkeit bestimmt. Sie gibt den In- der Korrespondenz „ergibt sich, dass auf halt von Dokumenten wieder, die Mor- französischer Seite der Chef des franzögan Stanley der Landesregierung zur Ver- sischen Ablegers von Morgan Stanley, fügung gestellt hat. Diese als vertraulich Herr René Proglio, involviert war“, heißt klassifizierten agen erhellen wesent- es im Bericht. Die Namensgleichheit ist liche Punkte des umstrittenen Milliarden- kein Zufall, die Herren Proglio sind Zwillingsbrüder. geschäfts. Das ist viel Nähe: Käufer Mappus beSo war es offenbar nicht der französische Energiekonzern und Anteilseigner auftragt einen Freund von Morgan StanEDF, der das Aktiengeschäft forcierte, ley in Deutschland, Verkäufer Proglio seisondern Mappus selbst. Anfang Dezem- nen Bruder bei Morgan Stanley in Frankber 2010 zitiert Notheis in einer E-Mail reich. Und auch zur Kernfrage des Untersuan seinen Freund Mappus einen Anwalt der EDF. Laut diesem Anwalt müsse deut- chungsausschusses, warum der Deal am lich werden, dass die Initiative vom Land Parlament vorbei eingefädelt werden sollausgegangen sei. Notheis’ Kommentar: te, finden sich in dem Bericht interessante Hinweise. In einer E-Mail habe ein Ver„Stimmt sogar :-)“. Entgegen Andeutungen, die Mappus treter der beratenden Anwaltskanzlei zur Begründung des Geschäfts gemacht Gleiss Lutz angemerkt, dass bei dem von hat, waren auch keine anderen Interes- Mappus und Notheis favorisierten Weg senten für die EnBW-Anteile in Sicht. Zu- „nicht sicher ausgeschlossen werden“ könmindest findet sich in all den Unterlagen ne, dass ihn „der Staatsgerichtshof in einem späteren Verfahren“ missbillige. kein Hinweis auf mögliche Mitbieter. Für die Anwälte war also klar: Lässt Der Bericht macht zudem deutlich, dass Morgan Stanley mit sich selbst ver- man das Parlament außen vor, trägt die handelte. Nicht nur Mappus, sondern Landesregierung ein juristisches Risiko. Diese Einschätzung geht auch aus einer internen E-Mail zweier Gleiss-Lutz-Anwälte hervor. Sie findet sich in den rund hundert Aktenordnern, die ihre Kanzlei dem Ausschuss übergeben hat. Darin heißt es über Mappus, abgekürzt M.: „Die Besprechung ging sehr schnell, M. nimmt das Risiko, es ohne Parlamentsvorbehalt zu machen.“ Nicht nur diese agen könnten den ehemaligen Ministerpräsidenten in Erklärungsnot bringen. Der Obmann der Grünen im Untersuchungsausschuss, Uli Sckerl, sieht weitere Ungereimtheiten. Mappus habe zuletzt wiederholt auf Akten verwiesen, die dem Ausschuss und wohl auch dem Staatsministerium nicht vorliegen. Mappus solle alle Unterlagen herausrücken – oder bitte erklären, was mit diesen Dokumenten in den gut sechs Wochen zwischen seiner Abwahl und dem Regierungswechsel im Frühjahr 2011 iert sei. Im Staatsministerium ahnt man schon, wie Mappus sich herausreden könnte. Schließlich ist dort bekannt, dass er sich beim Auszug aus dem Amtssitz, der Villa Reitzenstein, bei der ITAbteilung erkundigte, ob sein E-Mail- wirklich 30 Tage nach seinem Weggang gelöscht werde – automatisch und unwiderruflich.
eit seinem Abgang von der politischen Bühne hat Stefan Mappus, 45, selten Gelegenheit, vor großem Publikum zu reden. Vielleicht ließ es sich der Ex-Ministerpräsident von BadenWürttemberg deshalb nicht nehmen, die „Ehrenmütze“ einer Freiburger Narrenzunft persönlich zu übergeben – und in die Bütt zu steigen. Der CDU-Politiker spottete über seine Abwahl nach nicht mal 14 Monaten im Amt und über die folgende Job-Pleite beim Pharmakonzern Merck, für den er nun eigentlich in Südamerika arbeiten wollte. „Jetzt sitz ich da mit meiner Ehrenmütz’ / und ärgere mich wie der Blitz“, deklamierte er, „statt Caipi am Strand von Rio / Untersuchungsausschuss in Stuttgart – lecko mio.“ Bald werden nicht mehr rumpelnde Reime, sondern ernste Antworten von Mappus erwartet. Seit Freitag beschäftigt sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit dem Rückkauf von Anteilen am Energieversorger EnBW, den die Landesregierung unter Mappus’ Regie 2010 betrieb. Der Ausschuss will klären, wer die Verantwortung dafür trägt, dass der 4,7-Milliarden-Deal am Landtag vorbei eingefädelt wurde – was der baden-württembergische Staatsgerichtshof als Verfassungsbruch wertete. Der Ex-Ministerpräsident wird als Zeuge unter Eid aussagen müssen, voraussichtlich Anfang März. Ein Bericht der grün-roten Landesregierung nährt jetzt den Verdacht, dass bei dem Deal nicht die Interessen Baden-Württembergs im Vordergrund standen, sondern vor allem zwei langjährige Freunde profitierten: der Investmentbanker Dirk Notheis, Deutschlandchef von Morgan Stanley, und Ministerpräsident Mappus, der sich im Wahlkampf als großer Wirtschaftslenker zu profilieren versuchte. Der Bericht, den die Regierung dem Ausschuss vorlegte, existiert in zwei Fassungen. Die eine dürfen die Parlamentarier im Unter- Karnevalist Mappus: „Ärgere mich wie der Blitz“ D E R
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Deutschland INTERNET
Spur nach Schwaben Wie ein Schüler aus Eislingen als Online-Ganove international Karriere machte – und sein Fall eine FBI-Undercover-Aktion auffliegen ließ
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ziemlich alles, was Online-Ganoven beim Ausnehmen ihrer Opfer benötigen: Das Angebot reichte von Kreditkartennummern bis zu Zugangsdaten für Amazonoder Ebay-Konten. Die Server, auf denen DarkMarket lief, verwaltete FBI Special Agent Keith Mularski aus Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania. Unter dem Pseudonym „Master Splyntr“ sammelte er für seine Behörde jahrelang wertvolle Informationen im digitalen Untergrund – bis eine Pannenserie beim Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg, das vom FBI über die Spur ins Schwäbische informiert worden war, die Undercover-Operation enthüllte. So erhielt Matrix001 eines Tages eine anonyme E-Mail, in der er gewarnt wurde. Sein Telefon werde überwacht, die Polizei kenne seinen Namen, er solle Beweise zerstören und andere „Carder“ warnen. Bis heute ist nicht geklärt, wer den Tipp gab.
vier Monate in Untersuchungshaft nach Stuttgart-Stammheim, wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Als der SWR-Reporter Kai Laufen eher zufällig auf den Fall stieß, entdeckte er in den Akten eine verräterische E-Mail, die offenbar durch einen weiteren Fehler der schwäbischen Ermittler an den Anwalt von Matrix001 geraten war. „Ich bin Master Splyntr“, hieß es in der dort zitierten Mail, abgesandt von der Dienstadresse des FBI-Agenten Mularski. Erst dadurch wurde die Undercover-Operation auch öffentlich bekannt. Innerhalb des Landeskriminalamts Baden-Württemberg hatte die misslungene FBI-Kooperation ein unschönes Nachspiel. Einer der LKA-Fahnder wurde unter dem Verdacht suspendiert, die Warn-Mail an Matrix001 geschrieben zu haben; zeitweise wurde ihm auch vorgeworfen, er habe die FBI-Operation ab-
RSA
F-SECURE
agsüber büffelte „Matrix001“, wie der Teenager aus dem schwäbischen Eislingen sich im Internet nannte, am Gymnasium Englisch. Nachts nutzte er das Gelernte für Verhandlungen mit Kreditkartenbetrügern. Weltweit. Der Teenager wohnte bei seinen Eltern in einer Doppelhaushälfte. Was er in seinem Jugendzimmer unter dem Dach so trieb, davon erzählte er niemandem. Dass er im Milieu der organisierten Netz-Kriminellen eine international bekannte Größe war, hätte wahrscheinlich sowieso keiner geglaubt. Matrix001 entwarf an seinem Windows-PC mit simplen Grafikprogrammen Druckvorlagen für Kreditkarten. Die gängigen Visa- und Mastercard-Dekors verhökerte er für 45 Dollar. Bestimmte American-ExpressKarten waren aufwendiger nachzubauen, sie kosteten bis zu 250 Dollar. Seine Abnehmer waren begeistert. In sogenannten Carding-Foren FBI-Undercover-Agent Mularski, Matrix-Angebot auf DarkMarket: Kreditkartenfälscher im Jugendzimmer bestellten sie die täuschend Matrix001 schickte die Warn-Mail an sichtlich enthüllt. Doch das Amtsgericht echt aussehenden Vorlagen, um damit Karten-Rohlinge zu bedrucken und dann „Master Splyntr“ weiter und informierte Bad Cannstatt befand, dem Beamten sei damit das FBI. Wegen des offenkundigen nicht nachzuweisen, dass er die Warnung einkaufen zu gehen. Der Fall des jungen Fälschers beschäf- Lecks in deutschen Ermittlerkreisen zo- verfasst hat. Von den Vorwürfen gegen Matrix001 tigte jahrelang die Justiz; jetzt beschreibt gen die US-Amerikaner den Zugriff auf das Buch eines ehemaligen BBC-Korre- die Hehlerbörse vor und lösten umge- blieb nicht viel übrig, der gravierendste spondenten, wie er online mit Krimi- hend eine internationale Polizeiaktion Punkt der „kriminellen Vereinigung“ wurde verworfen. Am Ende verurteilte nellen aus der Türkei und der Ukraine aus. In Eislingen klingelte es kurz darauf ihn das Amtsgericht Göppingen zu 21 MoGeschäfte machte – unter Aufsicht des amerikanischen FBI*. Denn Matrix001 ar- morgens an der Tür. Matrix001, der ne- naten auf Bewährung. Der junge Mann sagt, er habe sein „Lebeitete, ohne es zu ahnen, monatelang benbei sein Abitur bestanden und eher eng mit einem US-Fahnder zusammen, pro forma ein BWL-Studium begonnen ben seither umgekrempelt“. Er hat ein der unter falscher Identität einen der hatte, öffnete im Pyjama. Erstaunlich ab- neues Studium absolviert, eines, das seigrößten Schwarzmärkte für Internet- gebrüht bat der junge Schwabe darum, nen Talenten entspricht: Grafikdesign. sich schnell noch etwas überziehen zu dür- Diese Woche hat er seine Abschlusspräkriminelle betrieb (SPIEGEL 27/2011). In diesem nur auf Empfehlung zugäng- fen. In seinem Zimmer gelang es ihm, den sentation, dann will er sich einen Job sulichen Forum („DarkMarket“) gab es so laufenden Rechner auszuschalten. Ma- chen, in einer Agentur. Von seinem Vortrix001 hatte die Festplatte hochgradig ver- leben im Untergrund des Internets hat er * Misha Glenny: „CyberCrime: Kriminalität und Krieg schlüsselt, sein wort hatte 64 Zeichen. nur engen Freunden erzählt. „Matrix001 im digitalen Zeitalter“. Aus dem Englischen von SebasDer Computer fiel als Beweismittel gegen ist Geschichte“, sagt er. tian Vogel. Deutsche Verlags-Anstalt, München; 352 Seiihn deshalb aus. Der 22-Jährige kam für MARCEL ROSENBACH ten; 19,99 Euro. Erscheint am 12. März. 42
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Deutschland Wie die Taxi Pay GmbH, die führende Zentrale des Berliner Taximarkts, die alten Pfründen verteidigen will, erfuhr zuletzt eines ihrer ältesten Mitglieder: Hilmar Franke, seit 37 Jahren am Steuer, hat Taxizentrale sich nicht nur bei myTaxi angemeldet, Die meisten Taxifahrer bekommen ihre Fahrten um mehr Touren an Land zu ziehen. Für von Taxizentralen vermittelt. Für diesen Service zahlen sie zwischen 100 und 700 Euro im Monat. 45 Euro im Monat fährt er auch das schwarz-gelbe Logo des Start-up-Unternehmens auf der Autotür spazieren. Kunde Prompt erhielt Franke einen Brief der ćť-ćōĚ (V^ĒğťŭĴŋŋŭćųŭœ
Taxi Pay GmbH, die ihm unmissverständ ŋćŭĴťĔıĚğō^ŭćōĚœšŭĚğť<ųō
lich eine Entscheidung abverlangte: wir den und übermittelt ihn an den oder die. Taxifahrer. MyTaxi zu nutzen, erklärt Hermann Taxifahrer Ĵōğ<ćšŭğğĴĬŭćŅŅğećĴťĴōĚğš Waldner, Geschäftsführer und Eigner von kŋĬğĒųōĬćōğĴōğťſĴšĚ ğšećĴĨćıšğšŅČĚŭ Taxi Pay, wolle er den Fahrern nicht verüber die App vermittelt. die App auf sein bieten, bei der Werbung jedoch müsse ĴğećĴćōĨćıšŭłćōōĴō Smartphone „man eine Grenze ziehen dürfen“. My ĔıŭğĴŭŸĒğšĚćť^ŋćšŭ
ųōĚšğĬĴťŭšĴğšŭ Taxi sieht das anders. Welche Werbung ŝıœōğ ĴťŝŅć žğšĨœŅĬŭ sich als Fahrer. werden. &ŸšĿğĚğōžğšŋĴŭŭğŅ
an der Wagentüre klebe, sei „allein die ĴğŝŝłćŅłųŅĴğšŭžœšćĒ ŭğōųĨŭšćĬćıŅŭğš Entscheidung des Taxi-Unternehmers, den Fahrpreis. ğĴōğ(ğĒŸıšĒğĴ denn dem gehört schließlich das Auto“, ğš(ćťŭłćōōĚğō ŋ ećĴťĴōĚĚćť !"ğōŭ# sagt App-Erfinder Külper. Sein UnternehFahrer bewerten. men prüfe den Fall – und werde „gegebenenfalls rechtliche Schritte gegen die Taxi rund 2,6 Milliarden Euro Umsatz. Und Pay GmbH einleiten“. GESCHÄFTSIDEEN In Österreich konnte myTaxi eine deshalb führen viele Taxizentralen, die von ihren Mitgliedern mitunter mehrere Beschwerde der Aufsichtsbehörde beim hundert Euro pro Monat verlangen, eine Kartellgericht durchsetzen: Auch dort rabiate Abwehrschlacht: Sie drohen, sie hatten Taxigemeinschaften ihren Fahrern schimpfen, sie verbieten, und wenn das Zusammenarbeit mit der neuen KonkurDas Taxigewerbe steht vor einem alles nicht hilft, kopieren sie. renz verboten. In einem anderen österBislang operiert myTaxi in 30 deutschen reichischen Fall bekamen Mewes und Umbruch: Die neue Handy-App „myTaxi“ bedroht die großen Ruf- Städten, 800 000 Nutzer haben die App Külper bereits in erster Instanz recht. nach eigenen Angaben heruntergeladen. Eine Wiener Zentrale wurde einstweilig Zentralen. Die wehren Noch sind es nur wenige Prozent aller Ta- abgemahnt, weil sie die Website und das sich mit rabiaten Methoden. xifahrer, die sich über das Smartphone ru- Logo von myTaxi nachgeahmt hatte. Auch die deutschen Zentralen scheinen fen lassen. Doch spätestens seit Januar er derzeit irgendwo in Deutsch- wird das Handy-Programm von den klas- den unliebsamen Wettbewerber mit desland in ein Taxi steigt und eine sischen Vermittlungszentralen als existen- sen eigenen Waffen schlagen zu wollen. emotional aufgeladene Unter- tielle Gefahr wahrgenommen: Da strichen Sie haben die Plattform taxi.eu kreiert – haltung wünscht, der sollte den Fahrer die Hamburger myTaxi-Gründer Sven und wollen sich diese Woche in Düsselnach „myTaxi“ fragen. Die Antworten Külper und Niclaus Mewes von Investoren dorf treffen, um eine einheitliche Verdürften extrem unterschiedlich ausfallen, zehn Millionen Euro für die technische marktungsstrategie für ihre App zu entmyTaxi wird geliebt oder als „Scheiß- Aufrüstung ein. Ein großer Anteil kam werfen. Bislang fällt taxi.eu allerdings hauptkram“ verachtet – nur gleichgültig scheint ausgerechnet von Car2go, einer Tochter es niemandem zu sein. „Taxifahren ist des Daimler-Konzerns, des Marktführers sächlich durch unfeine Methoden auf. So hatte ein Anonymus in den KommentarKrieg“, so beschreibt ein Fahrer aus Ham- unter den Taxiherstellern. „Wir schäumen vor Enttäuschung und spalten verschiedener Blogs als vermeintburg die Stimmung in der Branche. „Da Wut“, schrieb der Deutsche Taxiverband licher Nutzer gegen die myTaxi-App muss jeder sehen, wo er bleibt.“ MyTaxi ist eine Software. Für die Be- vorvergangene Woche an Daimler-Chef gestänkert – und taxi.eu gelobt. Allersitzer von Smartphones macht sie die Dieter Zetsche. Der Deal sei für die Taxi- dings ließ sich die IP-Adresse des KriCallcenter der Taxigemeinschaften über- branche ein „Schlag ins Gesicht“, Daim- tikers zum Teil zurückverfolgen, auf einen Server von Waldners Taxi-Impeflüssig. Mit der App können Kunden ihr ler paktiere mit dem Feind. Bei der Bekämpfung dieses Feindes rium. Für den Geschäftsführer keine groTaxi ohne Umweg über eine Zentrale bestellen. Per GPS ermittelt das Programm sind die Vertreter der Zentralen nicht ße Affäre: Wenn ein Fahrer sauer sei, binnen Sekunden den Standort des Ta- zimperlich. Als im vorigen November die „weil myTaxi täglich behauptet, die Zenxirufers und sendet ein Signal an die Fah- „Taxi-Tage“ eröffnet wurden, habe die tralen abschaffen zu wollen, kann ich das rer im Umkreis. Sobald einer von ihnen Messe Hannover myTaxi einfach ausge- sogar verstehen“. Im Übrigen könne er „nicht jeden der 140 Mitarbeiter im Griff den Auftrag annimmt, kann der Kunde schlossen, klagen die Inhaber. Die Taxizentrale Nürnberg riet ihren haben“. auf seinem Handy-Bildschirm verfolgen, Fahrer-Veteran Franke hat sich entwie sich das Taxi nähert. Für jede vermit- Mitgliedsfirmen, den Fahrern zu verbietelte Tour kassiert myTaxi vom Drosch- ten, myTaxi zu nutzen, und andernfalls schieden. Er will lieber am Fortschritt teilmit Kündigung zu drohen. Das ist recht- haben als ihn zu bekämpfen. Im Dezemkenbetreiber 79 Cent. Eröffnet ist damit ein Verteilungs- lich indes fragwürdig. 2009 entschied das ber kündigte er seinen Vertrag mit Taxi kampf. Es geht, nach Schätzungen des Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Pay. Und fährt jetzt mit myTaxi vorrangig Deutschen Taxi- und Mietwagenbunds, dass ein Fahrer mehrere Taxivermittlun- die Generation Smartphone. um 260 Millionen Fahrgäste pro Jahr und gen nutzen dürfe. ANNA KISTNER
Taxi 2.0
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Deutschland Rechtsmediziner Rothschild
RALF ROEGER / DMP
HENNING KAISER / DAPD
Keine Einstichstellen am Körper des Toten
Verteidiger Birkenstock, Laps, Angeklagte: Ist Suizid wirklich ausgeschlossen? STRAFJUSTIZ
Ein ganz normales Paar Die Angeklagte soll ihren Mann mit Morphin ermordet haben. Sie ist Ärztin. Jenseits des Klischees aber gibt es Zweifel. Von Gisela Friedrichsen
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in Mann, 85, stirbt. Seine Ehefrau ist 50 Jahre jünger und überdies von Beruf Ärztin. Das reicht manchem schon für einen Anfangsverdacht. Der Leichenbeschauer riet der jungen Witwe, nachdem sie ihren Mann tot vor dem Sofa kniend gefunden hatte, zu einer Obduktion. „Zu Ihrem Schutz, falls Vorwürfe kommen sollten“, warnte er. „War für Sie der Altersunterschied ein Verdachtsmoment?“, fragte Monate später, als der Fall längst einer für die Strafjustiz geworden war, der Vorsitzende Richter im Aachener Gerichtssaal den Leichenbeschauer als Zeugen. Es gebe doch Schauspieler, die über hundert seien „und durchaus …“, der Vorsitzende be46
endete den Satz nicht. Das war kurz vor Weihnachten, und Jopie Heesters lebte noch. „50 Jahre!“, ereiferte sich der Zeuge, doch, das sei in seinen Augen durchaus eine ungewöhnliche Situation. „Komisch war es schon“, gibt auch ein Kripo-Beamter als Zeuge zu. „Ich flachste noch mit den Kollegen: Die hat den Alten sicher aus dem Weg geräumt – jetzt, wo sie einen Job hat und er für sie zum Klotz am Bein wurde.“ Aber das sei nur „Rumspinnerei“ gewesen. Anzeichen für Fremdverschulden habe es nicht gegeben. Der erste Verdacht aber, die Grundannahme, blieb in den Köpfen der Ermittler haften. Im Sektionsprotokoll wurde zunächst als Todesursache des alten Herrn „akutes D E R
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Herzversagen“ vermerkt. Denn Hermann v. d. H. litt an einem erheblich vergrößerten Herzen, an verkalkten Herzklappen und an Arteriosklerose sowie vielfältigen weiteren Krankheiten des Alters, gegen die er allerlei Medikamente einnahm. Er war in letzter Zeit gebrechlich geworden, ging an Krücken, Schmerzen quälten ihn, sein Allgemeinzustand war beklagenswert. Er habe keine Lust am Leben mehr gehabt, beobachteten Zeugen. Ein „natürlicher Tod“ also. Oder? Die Annahme „Junge Ärztin entledigt sich des greisen Gatten“ ließ die Ermittler nicht los. Die Staatsanwaltschaft gab ein chemisch-toxikologisches Gutachten in Auftrag. Und dies schien nun der Volltreffer: Der Tote hatte nicht nur Beruhigungsmittel im Blut, sondern auch Morphin – in einer so aberwitzigen Überdosis aber, dass man schon wieder fragen möchte, ob sie tatsächlich von einer Ärztin verabreicht wurde, selbst wenn diese töten wollte. Das schwache Herz hätte v. d. H. jederzeit umbringen können. Das Morphin aber musste ihn umbringen. In einem solchen Fall gibt es nur auf den ersten Blick nicht viel zu verteidigen. Allenfalls den Zweifel – und der ist ein hohes Gut im Strafprozess. Der Zweifel könnte als Einziger das Klischee von der lustigen Witwe überwinden. Wer weiß denn, ob das altersschwache Herz des Herrn v. d. H. nicht schon versagt hatte, ehe das Morphin in seinen kranken Körper gelangte? Wer hat es verabreicht? Hat es sich der alte Mann vielleicht selbst zugeführt als Schmerzmittel und versehentlich überdosiert? Es gibt Strafprozesse, in denen einem Gutachter, oft ist es der Rechtsmediziner, die für die Urteilsfindung ausschlaggebende Rolle zuzufallen scheint. Der mysteriöse Tod des Herrn v. d. H. aber ist allein Sache der 1. Schwurgerichtskammer des Landgerichts Aachen mit dem Vorsitzenden Gerd Nohl. Denn nur sie hat zu entscheiden, ob und – falls ja – inwieweit sich die Angeklagte schuldig gemacht hat. Markus Rothschild, Professor für Rechtsmedizin an der Universität zu Köln, hielt eine Verabreichung des Opiats mittels einer oder mehrerer Spritzen für „höchstwahrscheinlich“. Aber: Einstichstellen am Körper des Toten gab es nicht. Und laut Notarzt auch keine blutunterlaufenen Stellen, wie man sie von Injektionen kennt. Rothschild fand zwar eine verfärbte Stelle in der Ellenbeuge, wo üblicherweise Blut entnommen wird. Doch eben keinen Einstich. Spritzen, Morphin-Ampullen oder Tabletten wurden in der Wohnung nicht gesehen. Aber: Die Polizei hatte die Wohnung auch nicht durchsucht.
Fragen über Fragen. Woher stammte das Morphin? Verschrieben worden war es dem alten Herrn nicht. Wurde die Substanz auf einmal zugeführt? Oder hat v. d. H. vielleicht zwei, drei Wochen vor dem Tod schon Morphin-Pflaster verwendet oder Zäpfchen? Rothschild hielt das für ausgeschlossen, unter der Bedingung allerdings, dass Leber und Niere funktionierten. Diese These muss nun ein Toxikologe prüfen und beantworten. Reinhard Birkenstock, der Verteidiger der wegen Mordes Angeklagten, hat unter anderem die Frage nach einem möglichen Suizid des alten Mannes aufgeworfen. Andeutungen hatte dieser gemacht. Etwa: Er fürchte, die junge Frau auf Dauer nicht halten zu können. Quälte ihn die Angst vor dem Verlassenwerden, vor der Einsamkeit, der zunehmenden Hilfsbedürftigkeit? Wer die Angeklagte für tatverdächtig hält, muss erklären, warum eine Ärztin, wenn sie denn ihren Mann töten will, ausgerechnet ein Mittel wählt, und dies in absurd hoher Dosis, das sie todsicher in Verdacht bringt. Warum hat sie nicht Insulin genommen? Dieses zerfällt rasch in seine Bestandteile, so dass es schon kurz nach To- Ärztin v. d. H.: Start in ein eigenständiges Leben deseintritt nicht mehr nachgewiesen werden kann. Die Angeklagte ist sich Heroin, brach die Hauptschule ab, zuckerkrank und spritzt sich Insulin. Sie widersetzte sich allen Bemühungen der verfügte über Vorrat. Es wäre ein Leichtes Behörden, sie zu einer Berufsausbildung zu bewegen, und glitt in die Obdachlogewesen, die Tat damit zu begehen. Natürlich kann man fragen, warum ein sigkeit ab. Zuerst versuchte sie, als StraTäter nicht intelligenter geplant, besser ßenmusikantin zu überleben, dann als gelogen oder geschickter gehandelt hat. Prostituierte. Die prägenden BegegnunDoch die Angeklagte wusste, dass ihr gen des Mädchens mit dem anderen GeMann seinen Körper nach seinem Tod schlecht fanden auf dem Strich statt. Als der Wissenschaft zur Verfügung stellen die junge Frau den damals 70 Jahre alten wollte. Sie hätte mit dem Entdecktwerden v. d. H. kennenlernte, war sie nicht nur rechnen müssen. Oder ist sie mit einem vorbestraft, sondern auch noch mit Hesolchen Fatalismus zu Werk gegangen, patitis C infiziert. Ihre Rettung war, dass sie zu v. d. H. dass sie das Risiko vergaß? Der Eindruck, den diese – vor Gericht zog und nun mit seiner Hilfe an Methaschweigende – Angeklagte macht, ent- don-Programmen teilnahm und Schulabzieht sich jedem Vergleich mit anderen schlüsse nachholte. Sie legte das Abitur Fällen. Man sucht nach Spuren ihres na- ab, studierte Medizin, promovierte. Für hezu unglaublichen Lebenswegs in ihrem den Mann muss sie die ganze Freude seiGesicht, in ihrer Haltung, ihren Gesten – nes späten Lebens gewesen sein. Im Geund findet nichts. Sie sitzt zwischen den genzug kümmerte sie sich um ihn und Verteidigern Birkenstock und Jürgen pflegte ihn. Ob sie ihm nur dankbar war Laps, weder in sich versunken noch auf- oder als Mann liebte? Wer weiß das begehrend, nicht teilnahmslos, aber auch schon. Das Paar führte ein zurückgezogenes, nicht interessiert, nicht freundlich, aber auch nicht abweisend, weder Mitleid bescheidenes Leben. Den Kontakt zu seinen vier Kindern aus früheren Ehen hatte noch Ablehnung erregend. Mit 13 hatte sie laut Anklage schon Er- v. d. H. vor Jahrzehnten abgebrochen. Die fahrung mit Haschisch, mit 14 spritzte sie kleine Wohnung der beiden beschrieb die D E R
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Polizei als „unterwohnt“, also ärmlich eingerichtet. Wer mit ihnen umging – Arzthelferinnen, Nachbarn, Bankangestellte –, erinnert sich an den liebeund respektvollen Ton, den das ungleiche Duo pflegte, und an die gegenseitige Fürsorge. 2010 heirateten sie; v. d. H. setzte seine Frau als Alleinerbin ein. Er war nicht reich, aber er wollte sie für den Fall seines Todes versorgt wissen. „Das war ein ganz normales Paar“, sagt eine Zeugin. Mit dem Anfang der Ehe aber begann auch schon ihr Ende. Die junge Frau findet eine Anstellung als Anästhesistin an der Uni-Klinik in Ulm. Der überraschte Ehemann will nicht, dass sie weggeht. Er sperrt seine Konten. Doch sie verdient ja nun bald selbst. Aachen ist Vergangenheit. Via Internet lernt sie einen Mann aus Baden-Württemberg kennen. Wieder ist es nicht einer ihres Alters, sondern ein 65jähriger pensionierter Musiklehrer, der sie inzwischen heiraten will. Es sei geplant gewesen, sagt dieser als Zeuge vor Gericht, eine polnische Hilfe für Herrn v. d. H. zu engagieren. Und am Wochenende habe sich die junge Frau selbst um ihren Mann kümmern wollen. „Definitiv gelogen“, sagt die Staatsanwaltschaft dazu. Es hatte wohl Streit unter den Eheleuten wegen der unterschiedlichen Lebensplanung gegeben. Aber v. d. H. enterbte seine Frau nicht. Wo also ist das Motiv für einen Habgiermord, den die Anklage unterstellt? Die junge Ärztin musste nicht morden, um ein eigenständiges Leben führen zu können. Ist ein Suizid des einsamen Mannes wirklich fernliegend? Verteidiger Birkenstock wirft den Anklägern vor, der Frage, ob v. d. H. vielleicht nach einer tödlichen Injektion verlangt habe, nicht nachgegangen zu sein. Und auch nicht geprüft zu haben, ob fahrlässige Tötung vorliegen könnte. Alle Zeugen erinnern sich an die Erschütterung und die Trauer der Angeklagten nach dem Tod des alten Mannes, dem sie so viel verdankt. Niemand argwöhnte: Der kam es doch nur aufs Geld an. Ginge es nach der Staatsanwaltschaft, würde die Angeklagte zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt werden. Die Verteidigung plädierte auf Freispruch. Ein Urteilstermin war schon festgelegt, wurde aber verschoben. Die Nohl-Kammer macht es sich nicht leicht. 47
Szene
Was war da los, Herr Ta?
BIOGRAFIEN
„Toupetträger erkennen sich sofort“ Der Schauspieler Manfred Krug, 74, über Beharrlichkeit SPIEGEL: Wie haben Sie es geschafft, eine Fernsehkarriere zu machen, obwohl Sie mit Mitte zwanzig bereits eine Glatze hatten? Krug: Ich habe mir anfangs Toupets besorgt. Ich wollte in den Filmen doch noch als jugendlicher Held durchgehen und Geld verdienen, da musste ich zuflicken. SPIEGEL: In dem Bildband, der nun über Sie erscheint, steht unter manchen Fotos, wann Sie ein Haarteil getragen haben und wann nicht. Warum schummeln Sie nicht mehr? Krug: Toupetträger erkennen sich untereinander sowieso sofort. Das kann so gut eingekämmt und geknüpft sein, wie es will.
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Ta über Toronto
Ich fand mich damals ja nicht mal besonders schön, auf den alten Starpostkarten aus der DDR kam ich mir zu süß vor, zu weich. Ich habe dann darauf hingearbeitet, mehr wie ein Kerl auszusehen. Der Fotograf Jim Rakete hat mal einen schönen Mann aus mir gemacht, 1977, da war ich 40 und gerade in den Westen ausgereist – mit Glatze. SPIEGEL: Was Ihnen dann in Ihrer Karriere weiterhalf, war der Lkw-Führerschein. Weil Sie den hatten, bekamen
Sie den Job in der Fernsehserie „Auf Achse“. Krug: Ich hatte schon mal in der DDR einen Lkw-Fahrer gespielt, und damals durfte ich auch nicht nur so tun, als ob ich fahren könnte. SPIEGEL: 15 Jahre lang machten Sie bei „Auf Achse“ mit, dabei waren die Drehs oft gefährlich, schlecht bezahlt, die Drehbücher mies, schreiben Sie. Warum kündigten Sie nicht? Krug: Weil der Job auch praktisch war. Ich war so in Lateinamerika, in Afrika, am Nordpol. Ich kam ja frisch aus einem Land, wo Krug man zwar eine Weltanschauung haben sollte, die Welt aber nicht anschauen konnte. SPIEGEL: Und jetzt haben Sie aus fünf Koffern fast tausend Fotos aus Ihrer Karriere hervorgeholt. Weil jetzt Schluss ist? Krug: Ja, ich bin Rentner und mache nur noch, was ich will – Musik. NESTOR BACHMANN / DPA
tigen, langsamen Bewegungen bin ich auf den Vorsprung gekrochen, ich glaube, es war eine Vorrichtung für Fensterputzer. Eine Sicherung hatte ich nicht, es war eine ziemlich spontane Idee. Dieser Büro-Tower liegt in der Innenstadt von Toronto. 40 Stockwerke bin ich mit dem Fahrstuhl hochgefahren und dann durch die Dachluke nach draußen geklettert, ein befreundeter Fotograf hat mich begleitet. Zuerst fühlte ich mich unwohl, ich versuchte, nicht nach unten zu sehen. Aber als ich den Abgrund erreichte, war ich plötzlich wie im Rausch. Ich fühlte mich sehr lebendig, der Blick auf die Stadt war einzigartig: Unter mir lag die Yonge Street, es heißt, sie sei die längste Straße der Welt. Ich hatte das Gefühl, mit allen, mit der ganzen Stadt, zusammen zu sein.“
TOMER RYABOI
Neil Ta, 32, kanadischer Fotograf, über die Schönheit des Abgrunds: „Mit vorsich-
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Krista Maria Schädlich, Oliver Schwarzkopf (Hg.): „MK Bilderbuch. Ein Sammelsurium. Mit Texten von Manfred Krug“. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin; 344 Seiten; 69,95 Euro.
Gesellschaft
Das Fauchen des Todes Wie ein Inder einen Leoparden traf und einen Triumph verte
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m 7. Januar 2012 wird eine Bild- spricht, dass er ein netter Kerl und ein serie des indischen Fotografen Ma- guter Fotograf ist, doch das Geschäft ist nas Paran ins Netz gestellt; die Re- schwierig. Vor 20 Jahren, weiß Dey, war sonanz ist überwältigend. Die Bilder wer- ein Fotostudio in Guwahati noch etwas den auf der ganzen Welt übernommen. Besonderes. Mittlerweile haben praktisch Zu sehen ist ein Mann in einer weißen alle Leute Digitalkameras, Foto-Handys, Jacke, der mit einem Leoparden kämpft. sie machen Videos, stellen diese ins Netz. Ja, wenn er ein Bild machen würde, Es ist ein Kampf auf Leben und Tod. Mit einem Prankenhieb hat die Raubkat- das die Leute aufregt, erschüttert – aber ze den Mann nahezu skalpiert, die Kopf- Guwahati ist nicht Mumbai, hier laufen haut hängt nur an einem Fetzen. Alles an dem Mann drückt Panik aus, er ist nichts – nur noch Beute. Der Leopard hingegen wirkt zwar deplatziert, zwischen Kisten und Fahrrädern, aber immer noch elegant, so als wüsste das Tier genau, wie es ökonomisch jagt, kämpft, tötet. Für Großstadtmenschen ist das Bild wie eine vage Erinnerung an eine Zeit, da Tiere noch nicht domestiziert, sondern feindlich, gefährlich, oft übermächtig waren. Manas Paran, der Fotograf, 30 Jahre alt, wohnhaft in Guwahati im indischen Bundesstaat Assam, Dey, angreifender Leopard bekommt in den nächsten Tagen viele Interview-Anfragen. Stolz erzählt er, wie er dem Tier durch die Stadt folgte, auf der Jagd nach dem einen packenden Bild. Für den Mann in der weißen Jacke hingegen interessiert sich die Welt kaum. Sein Name ist Kripesh Dey, 40 Jahre alt, ironischerweise ist er ebenfalls Fotograf. Dey wohnt mit seiner Frau und der Tochter in der NavagraAus der „Welt“ ha Road, in der Altstadt von Guwahati, er ist zurück aus dem Krankenhaus, kann aber noch nicht arbeiten, keine Ahnung, sagt er, wie einem keine Filmstars über den Weg. Es er die Krankenhausrechnung, etwa 1500 können Jahre vergehen, ohne dass etwas Euro, bezahlen solle. Er sei oft müde, und Besonderes geschieht. An jenem Samstag, dem 7. Januar, ist nur langsam heile seine Kopfverletzung, erzählt er am Telefon. Gelegentlich fragt Dey wie jeden Morgen um sechs Uhr aufer sich, ob er Glück oder Pech hatte an gestanden, er hat seinen Spaziergang abjenem Tag. War das die Chance seines solviert, seine Tochter Nishta zur Schule gebracht, rasch gefrühstückt, ein Glas Tee, Lebens? Jedenfalls hat er sie vert. „Sweet Memories“ heißt der Fotoladen, Kekse. Um halb neun geht er hinüber in den Dey betreibt, er liegt gegenüber sei- den Laden, durch einen Durchgang. Ihm ner Wohnung. Sweet Memories bietet fällt nichts auf, nur dass Bosco, sein Hund, bilder, Babyfotos, Poster, Hochzeiten, seltsam ist, irgendwie verdruckst. Als Dey von morgens um neun bis abends um die Ladentür aufschließen will, spürt er acht, an sechs Tagen in der Woche. Man einen stechenden Geruch. Sieht einen glaubt Dey gern, wenn man mit ihm Schatten. Hört ein Fauchen, dann ein GeD E R
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räusch, als würde Papier zerrissen, etwas Warmes läuft ihm übers Gesicht, sein Blut. Leoparden riskieren viel, sobald sie kämpfen. Selbst eine kleine Verletzung kann die Tiere derart behindern, dass sie zu langsam sind, keine Beute mehr erjagen. Leoparden greifen also nur an, wenn es nicht anders geht, wenn sie sich bedroht fühlen; dann aber attackieren sie mit absoluter Entschlossenheit. Vielleicht hat der Hunger das Tier in die Stadt getrieben – große Teile des Dschungels bei Guwahati wurden gerodet. Als der Leopard durch die Gassen schlich, wird er gemerkt haben, wie fremd ihm dieses Terrain ist, das Licht, die ungewohnten Zweibeiner, die lauten Geräusche. Auf seinen Irrwegen durch die Stadt hat er schon einen Menschen tödlich verletzt. In dem Durchgang vor Deys Fotoshop, zwischen Kisten und alten Fahrrädern, hat das Tier sich verkrochen. Aber dann kommt Dey. Das Blut läuft ihm in die Augen, er sieht nichts. Er spürt keinen Schmerz, aber Todesangst. Und dann ist da der Gestank aus dem Maul des Tiers, nach faulendem Fleisch. Irgendwann kann Dey eines der alten Fahrräder packen, es zwischen sich und das Tier zerren. Und irgendwann lässt der Leopard ab, flieht. Dey wankt auf die Straße, man bringt ihn ins Krankenhaus, operiert noch am Nachmittag. Der Leopard verletzt zwei weitere Menschen, dann wird er betäubt und gefangen; später setzt man das Tier in einem Naturschutzgebiet aus. Kripesh Dey ist ein höflicher Mensch, auch in dieser Lage. Er gönne, sagt er, seinem Kollegen, dem anderen Fotografen, dessen Erfolg. Wenn er selbst eine Kamera dabeigehabt hätte, wenn er das Tier rechtzeitig bemerkt hätte, hätte er die Bilder seines Lebens machen können. Wenn, wenn. Etwas Besonderes ist geschehen, er hat es knapp überlebt – immerhin das. Aber mehr auch nicht. Dass das Leben dann einfach weitergeht, mit Rechnungen, die man bezahlen muss, mit der Arbeit, die sich nicht von selbst erledigt, das sei seltsam, sagt Dey.
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EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE:
RALF HOPPE
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Gesellschaft
Platz des Oberbürgermeisters im Rathaus
KARRI EREN
1,333 Prozent Schuld Dem Rücktritt hat er sich verweigert, nun jagen ihn möglicherweise die Einwohner davon. Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland muss sich jetzt der Verantwortung für 21 Tote stellen. Er versteht nicht, warum. Von Matthias Geyer
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dolf Sauerland läuft über nassen, weichen Schnee, er zieht einen Werkzeugkoffer hinter sich her, den er vor kurzem im Baumarkt gekauft hat, aus Aluminium und auf Rollen, er schließt die Haustür auf, hält seinen Kopf in den Flur und sagt: „Oh, et müffelt.“ Wahrscheinlich die Wasserrohre. Er ist seit einiger Zeit nicht mehr hier gewesen. 50
„Gehn Se schon mal rein“, sagt Sauerland, „ich spül eben die Bäder durch.“ Er läuft mit kleinen, schnellen Schritten die Stufen nach oben, man hört jetzt nur noch das Rauschen von Wasserhähnen. Das Haus hat er vor vielen Jahren zusammen mit seinem Vater gebaut, an einem Hang im Rothaargebirge, 160 Kilometer weit weg von Duisburg, seiner Stadt. An den Wänden hängt ein Kruzifix, D E R
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eine Tafel mit der Aufschrift „Unser tägliches Brot gib uns heute“, außerdem hängen da ein paar Löffel aus Zinn und ein Rentierfell, das er mal in Norwegen gekauft hat. Manchmal verbringt Sauerland hier das Wochenende. Als im Sommer vor zwei Jahren bei der Love Parade in Duisburg 21 Menschen starben und die Stadt ihren Oberbürgermeister suchte, war das Haus sein Versteck.
jetzt nur noch in die Gewinde des Radios greifen. Sauerland atmet schwer, dann kracht das Radio auf die Arbeitsplatte. „Leckomio“, sagt er. Er steckt seinen Kopf in den Oberschrank, der Bauch liegt schwer auf der Arbeitsplatte. Seit der Love Parade hat er 20 Kilogramm zugenommen, das sind zwei Konfektionsgrößen zusätzlich. Der Blutdruck stieg, die Füße wurden dick. Es lag alles daran, dass er nicht mehr diszipliniert essen konnte. Es war eine schwere Zeit, es gab Morddrohungen und hässliche Berichte in den Zeitungen, sogar über sein Privatleben. So gesehen sind sich Adolf Sauerland und Christian Wulff wieder sehr nah in diesen Tagen. Sauerland zieht den Kopf aus dem Oberschrank, das Radio hängt jetzt an vier Schrauben. Es ist noch nicht richtig fest, aber man kann es erst mal so lassen. Sauerland gießt Kaffee in die Tassen und setzt sich an den Tisch. Adolf Sauerland hat ein Jahr gebraucht, um sich bei den Angehörigen der Opfer zu entschuldigen. Er hat gesagt, er habe nie etwas persönlich unterschrieben und deshalb auch nichts falsch gemacht. Er kann nicht erkennen, dass er die Verantwortung hätte. Er ist noch immer Oberbürgermeister, trotz allem. Er hat einfach weitergemacht. Eine Initiative wütender Bürger hat 80 000 Stimmen gesammelt von Duisburgern, die ihn weghaben wollen, so wie ein arabisches Volk seinen Diktator weghaben will. Aber Adolf Sauerland ging nicht. Nächsten Sonntag ist jetzt ein offizieller Wahltag in Duisburg, zum ersten Mal in der Geschichte Nordrhein-Westfalens kann eine Stadt ihren Oberbürgermeister aus dem Amt befördern. Wenn
ANP PHOTO / ACTION PRESS
VOLKER HARTMANN / DAPD / DDP IMAGES
„So, jetz müsstet gehn“, Sauerland ist zurück im Erdgeschoss, er zieht seinen Werkzeugkoffer in die Küche, dreht die Heizungsventile auf, füllt Kaffeepulver in einen Filter und packt dann eine große Tüte mit Nussecken aus, die er eben im Ort gekauft hat. Adolf Sauerland spricht eigentlich nicht mehr mit Journalisten, seit das damals iert ist. Nun hat er sich einen ganzen Tag Zeit genommen, um darüber zu reden, wie er die Dinge sieht. Es soll ein Gespräch werden über Schuld und Verantwortung und über die Frage, wann ein Politiker gehen sollte. Sauerland, ein kleiner, schwerer Mann mit rundem Bauch, rundem Kopf und sauber ausrasiertem Kinnbart, hat einen Parteifreund von der CDU mitgenommen zu dem Gespräch. Er heißt Peter Ibe, und es bleibt unklar, was seine Aufgabe ist. Ibe, ein großgewachsener Bauunternehmer mit behaglichem Stimmklang, setzt sich an den Kopf des Küchentischs, als wäre er ein Schiedsrichter. Ibe zieht sein iPhone aus der Tasche und sieht nach, was es draußen in der
Welt an neuen Nachrichten gibt. Der Empfang im Haus ist schlecht, es dauert lange, bis sich eine Internetseite auf Ibes Telefon geöffnet hat. Irgendjemand hat wieder eine kleine, klebrige Geschichte aus dem Leben von Christian Wulff herausgefunden, wird gemeldet. Jeden Tag schnurrt die Würde des Bundespräsidenten weiter zusammen. „Der arme Kerl“, sagt Ibe. Sauerland kniet auf dem Küchenboden über seinem Werkzeugkoffer, der so groß ist, dass man ein ganzes Haus damit zusammenbauen könnte. Er sucht aber nur einen kleinen Schraubenzieher. Er möchte ein Radio unter einem Oberschrank befestigen. Er blickt hoch, lächelt ein bisschen und sagt: „Ich sag dazu nix, nee, dazu sag ich gar nix mehr.“ Als die Katastrophe in Duisburg iert war und das ganze Land darauf wartete, dass der Oberbürgermeister die Verantwortung übernehmen, dass er Worte finden und zurücktreten würde, war Christian Wulff noch das gute Gewissen der Politik. Und irgendwann sagte Wulff: „Unabhängig von konkreter persönlicher Schuld gibt es auch eine politische Verantwortung. Das alles wird der Oberbürgermeister genau abwägen müssen.“ Sauerland war der Vater dieser Stadt, aber er war einfach weg. Er war mit seiner Familie in dieses Ferienhaus hier geflüchtet, wo es wenig Verbindung nach draußen gibt. Er hat Schrauben mitgebracht, Spezialschrauben, „Achtziger M4“, die kriegt man nicht überall, sagt er. Er lässt sie aus dem Innern des Oberschranks in vorgebohrte Löcher fallen, von außen hält er das Radio fest. Die Schrauben müssen
Massenveranstaltung Love Parade 2010: Er war der Stadtvater, aber er war einfach weg D E R
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OLIVER TJADEN / DER SPIEGEL
92 000 Bürger gegen ihn stimmen, muss er gehen. Adolf Sauerland beißt in eine Nussecke. „Die sind gut, ne?“ 80 000 Unterschriften. Beeindruckt Sie das? „Diese Stadt hat 485 000 Bürger.“ Es beeindruckt Sie also nicht? „Es ist mehr als unangenehm. Gestern war ich sogar Gegenstand einer Frage bei dieser Rateshow. Wie heißt die gleich?“ „‚Wer wird Millionär?‘“, sagt Ibe. Die Frage war: Wogegen haben die Bürger Duisburgs 80 000 Stimmen gesammelt? Wattenmeer, Sächsische Schweiz, Sauerland oder Schwarzwald? Es ging um 1000 Euro. Sauerland war eine Ramschfrage. „Glauben Sie mir, das ist nicht einfach.“ Verstehen Sie, dass man in Ihnen alle Klischees wiederfinden kann, die es von Politikern gibt? „Nein. Was denn?“ Machtversessenheit. „Nein, nein.“ Auf SPIEGEL ONLINE hat er neulich eine interessante Nachricht gelesen. Es ging um die Wahl in Russland. Es hieß, dass Putin in einer Moskauer Nervenheilanstalt 93 Prozent der Stimmen geholt habe. Moskau und Duisburg, das ist im Prinzip dasselbe. In Duisburg, so jedenfalls hat Sauerland das gehört, sind die Leute von der Initiative mit ihren Listen in die Altersheime gegangen. Und haben Unterschriften von Menschen gesammelt, die gar nicht mehr schreiben können. „Könnt ich prüfen lassen. Mach ich aber nicht“, sagt Sauerland. Sein BlackBerry klingelt, eins von zwei Telefonen, die er manchmal vor sich herträgt wie Reichsäpfel. Der Chef einer städtischen Gesellschaft ist dran. Am Ende des Gesprächs sagt Sauerland: „Ja, is gut, ich ruf dann da mal an. Tschüs.“ Es ging offenbar darum, dass diese Gesellschaft mehr Geld braucht und dass der Oberbürgermeister behilflich sein soll. „Hätt se mal besser nich angenommen, Adolf“, sagt Ibe. „Wieso?“, fragt Sauerland. Er ist ja sehr gern Oberbürgermeister. Er freut sich doch, wenn er gebraucht wird. Wenn ihm die eigenen Wähler keinen Tomatenketchup ins Gesicht spritzen, wie das schon iert ist. Wenn bei Personalversammlungen niemand aufsteht und sagt: „Ich schäme mich, es ist unerträglich“, wie das jetzt eine Angestellte der Stadt tat. Die Gelegenheiten, bei denen er störungsfrei Oberbürgermeister sein kann, werden weniger. Schön ist es deshalb immer, wenn es Termine mit Kindern gibt. Vor kurzem war das Kinderprinzenpaar der neuen Karnevalssession im Duisburger Rathaus, es trug rote Jacken und weiße Schals und hörte einfach zu, was Adolf Sauerland im Karneval schon so al-
Privatier Sauerland im Ferienhaus: Sie haben ihn satt wie ein arabisches Volk seinen Diktator
les erlebt hat. Es hörte Geschichten vom Fuzzi und vom Zwacki, Prinzen aus früheren Jahren, er kannte sie alle. Am Ende bekam er einen Orden geschenkt. „Oh, schön“, sagte Sauerland, er schob die randlose Brille auf die Stirn und sah den Orden lange an. Für einen Moment wurde es ganz still, und man bekam eine Ahnung davon, welche Magie Orden für Adolf Sauerland haben müssen. Er steckte den Orden in seine Jackentasche und lief hinunter ins Erdgeschoss. Im Treppenhaus stand eine große Fotowand mit einer Luftaufnahme von Duisburg. In der Mitte waren viele gelbe Flächen markiert. Sauerland blieb davor stehen, seine Hand wedelte über die gelben
Er bekommt einen Karnevalsorden und schaut ihn lange an. Man begreift, was ihm ein Orden bedeutet. Flächen, er sagte: „Dat hier, dat is alles Foster.“ Foster, Lord Norman Foster. Foster, der die Reichstagskuppel in Berlin plant und den Swiss-Re-Tower in London und den Flughafen in Peking, aber eben auch die Innenstadt von Duisburg. Und er, Sauerland, hat Foster geholt. Kann man auf der Luftaufnahme eigentlich auch das Gelände der Love Parade sehen? Sauerland wackelte mit dem Kopf, nein, sagte er, „dat is da unten“, er bückte sich tief, als würde er etwas auf dem Boden suchen, „dat is da nich mehr drauf“. Es ist jetzt richtig warm geworden in der Küche, am Fenster treibt Schneeregen D E R
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vorbei, Sauerland schüttet einen Rest Kaffee in die Tasse. „Ich mach noch mal frischen“, sagt er. Haben Sie sich eigentlich etwas vorzuwerfen? Er putzt mit dem Spüllappen die Warmhalteplatte sauber und setzt die Kanne darauf, „so“, der Kaffee dauert jetzt einen Moment. „Wissen Sie, im Nachgang hab ich immer überlegt: Hätte ich mich persönlich noch mehr damit beschäftigen sollen? Aber wir hatten ja Experten. Ich hab mir berichten lassen, was kann man noch mehr machen? Ich wüsste nicht, was. Wir haben alles getan, dass es zu dieser Katastrophe nicht kommen kann.“ Aber es ist dazu gekommen. Sauerland ritzt jetzt mit dem Fingernagel das Veranstaltungsgelände auf die Tischdecke. Die Zugangsstraßen, die Rampe, den alten Güterbahnhof. Überall gab es Tore, und die Tore konnte man aufund zumachen. Vorn an den Straßen gab es Tore, sogenannte Vereinzelungsanlagen, die geschlossen werden sollten, wenn der Andrang zu groß werden würde. Er betrachtet die Linien auf der Tischdecke. Es sieht so aus, als liege das perfekte Veranstaltungsgelände vor ihm. Als könnte man darauf sofort wieder eine Love Parade veranstalten, wenn man wollte. Auf der Tischdecke hat alles funktioniert. „Das, was iert ist, hätte nach den Sicherheitsszenarien nie ieren dürfen. Warum das iert ist, weiß ich nich. Sag ich auch nix zu. Die Zuständigkeit der Stadt endete vor den Vereinzelungsanlagen. Und danach war das die Zuständigkeit anderer. So ist die Erklärung.“ Die Stadt, heißt das, hat keinen Fehler gemacht. Er, der Oberbürgermeister, hat damit auch keinen Fehler gemacht. Er hat
Gesellschaft keine Schuld. Und damit hat er auch keine Verantwortung, juristisch gesehen. „Dat klären jetz die Gerichte“, sagt Sauerland. Muss man als Oberbürgermeister von einem Gericht schuldig gesprochen werden, um verantwortlich zu sein? „Wenn Sie sagen: Der Oberbürgermeister einer Stadt ist politisch verantwortlich, wenn in seiner Stadt irgendetwas iert, mit dem er kausal erst mal nicht direkt unter Umständen zu tun hat, ja, dann sollten Se den Job einfach einstellen.“ Warum? „Weil ihn dann keiner mehr machen kann. Und will. Und wird. Wann ist ein Oberbürgermeister verantwortlich für das, was in seiner Stadt iert? Nehmen wir mal an, in Duisburg iert ein schlimmer Unfall, Verkehrsunfall, Fußgängerunfall. Trägt der OB dann die politische Verantwortung?“ Nein. „In Duisburg gibt es einen Unfall bei einer Kirmes. Trägt der Oberbürgermeister die politische Verantwortung?“ Nein. „Weil das eine private Sache ist. Die Love Parade auch.“ Die Love Parade war eine Massenveranstaltung, die Sie in Ihrer Stadt haben wollten. „Das ist keine städtische Veranstaltung, sondern eine Veranstaltung von einem privaten Veranstalter. Auf einem Privatgelände. Bei dem der Oberbürgermeister die Verantwortung für eine Genehmigung trägt. So. Dat is alles. Genauso, wie er die Verantwortung trägt für die Genehmigung einer Straßenführung, wie er die Verantwortung trägt für Kreuzungssituationen. Kann überall wat ieren.“ Was haben Sie mit der Tatsache zu tun, dass es in Duisburg 21 Tote gab? „Ungefähr so viel wie jedes der anderen 74 Ratsmitglieder auch. Und diejenigen, die jetzt rumrennen und sagen, der muss weg, die sind danach alle abgetaucht. Für die gab es nur einen Idioten, der dat wollte, und dat war der Oberbürgermeister.“ Wollte der das nicht? „Der wollte das auch. Aber mit einem Stimmenanteil von einem Fünfundsiebzigstel. Und deshalb hab ich gesagt: Die moralische Verantwortung, dat gewollt zu haben, die übernehme ich, und dat is verdammt scheiße, mit der zu leben. Aber die 74 anderen bitte auch.“ Sie sind der Chef dieser 74. „Wissen Se, ich bin der Vater von vier Kindern. Aber nicht der Chef der 74. In keinster Weise.“ Was sind Sie denn sonst als Oberbürgermeister? „Ich bin der Vorsitzende des Rates. Und der Chef der Verwaltung. Aber nicht der Chef des Rates.“ Von der Arbeitsplatte her gurgelt die Kaffeemaschine, Adolf Sauerland hat die D E R
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NORBERT ENKER
Duisburger Stadtteil Bruckhausen, Oberbürgermeister Sauerland: Es ist kein schöner Gedanke für ein Stadtoberhaupt, irgendwann wieder
Jacke ausgezogen, seine Arme stecken in einem weißen Oberhemd mit einem zu großen Kragen, sie liegen jetzt ruhig vor seinem Bauch. Sauerland sitzt auf seinem Stuhl wie ein Findling. Man kann ihn schwer bewegen. Wieder klingelt ein BlackBerry, diesmal das andere, das private. In der Leitung ist jemand, der Peter heißt, es geht um neue Winterreifen für den Mini, ein Cabrio, das Sauerland letzten Sommer angeschafft hat. „Der soll die Dinger bringen“, sagt Sauerland. Peter ist Angestellter in einem Reisebüro, das Sauerland mit seiner Frau aufgebaut hat. Angefangen haben sie mit einem Schreibwarenladen, und dann wurden sie immer größer. Inzwischen kümmert sich nur noch Sauerlands Frau ums Geschäft, er selbst ist ja auch immer größer geworden, als Politiker. Er ist im Stadtteil Walsum auf die Welt gekommen, im Norden von Duisburg. Seit der Krieg vorbei ist, gab es hier praktisch nur die SPD. Sauerlands Vater war im Bergbau, aber nie bei den Sozialdemokraten, er leitete Kirchenchöre und spielte die Orgel, auch in evangelischen Kirchen, obwohl er Katholik war. Adolf Sauerland ist viele Jahre lang Messdiener gewesen, das Katholische ist ihm nach wie vor wichtig. Er ging in die CDU, nachdem Franz Josef Strauß 1980 die Bundestagswahl verloren hatte. Als Sauerland Oberbürgermeister wurde, war das wahrscheinlich wie eine Revanche für damals. „In der Nacht, als Adolf gewonnen hatte, da haben bei uns erwachsene Männer geweint“, sagt Peter Ibe, er guckt über den Küchentisch wie ein Groupie. „Weißt du noch, Adolf?“ Vergessen wird ja gern, hinter dem ganzen Ärger um die Love Parade, was Adolf 54
Sauerland in all den sieben Jahren, in denen er Oberbürgermeister ist, geschaffen hat. Vor ein paar Wochen ließ er sich von seinem Chauffeur, Herrn Weiß, von Duisburg nach Walsum fahren, zu einem gemütlichen Abendessen, und unterwegs zeigte er seine Stadt oder besser das, was er aus dieser Stadt gemacht hat. Man konnte ihn sich dabei auch am Mikrofon vorstellen bei einer Stadtrundfahrt mit dem Bus. Es ging dann weiter Richtung Walsum, und Herr Weiß fuhr durch das Duisburger Hafengelände auf Straßen, die es eigentlich gar nicht gibt, so sagte es Sauerland jedenfalls. „Woher kennt Herr Weiß die Wege? Na? Wer ist Chef der Hafengesellschaft?“,
Er kam nicht zum Gottesdienst für die Toten, weil die Angehörigen ihn nicht dabeihaben wollten. fragte Sauerland. Er saß auf dem Beifahrersitz wie ein kleiner Hafenkönig. Wahrscheinlich ist es kein schöner Gedanke für einen Hafenkönig, irgendwann wieder Fernreisen oder Büromaterial verkaufen zu müssen. In Walsum kam erst mal links das Krankenhaus, in dem er geboren wurde, „und gleich kommt links die Feuerwache“. Herr Weiß fuhr an der Feuerwache vorbei, hinter den Garagentoren standen drei Feuerwehrwagen. „Einen von denen hab ich neulich getauft. Der heißt jetzt Adi.“ Adi. Sauerland ist 1955 geboren. Wie kommt er eigentlich an den Namen Adolf? „Mein Vater hieß so. Mein Großvater hieß so. Das war eine Tradition. Aber die D E R
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habe ich beendet. Von meinen Kindern heißt keins Adolf.“ Das Auto parkte schließlich vor einem Fischrestaurant, das eigentlich immer ausgebucht ist. Der Oberbürgermeister Sauerland hatte vor einer Stunde anrufen lassen, und schon war ein großer Tisch frei. Zwei Angestellte führten ihn an seinen Tisch wie eine Garde. Er musste gar nichts bestellen, es kam alles von selber, erst der Restaurantchef und dann das Essen. Erdnüsse, kleine frittierte Sprotten, Muscheln, Schnecken, Catfish gebraten, Catfish gedünstet, Bratkartoffeln, dazu König Pilsener und klarer Schnaps mit einem Würfelzucker im Glas. Nach jedem Gericht kam die Bedienung und fragte: „Ist auch alles recht, Herr Sauerland?“ Wenn etwas auf den Tisch gestellt wurde, aß Sauerland es auch auf. Es t einiges in ihn rein. Er kann viel vertragen. Vielleicht sind das Momente, die einen Politiker am Leben halten, um den es einsam geworden ist. Vielleicht muss man sich Christian Wulff, wenn er im Schloss Bellevue Briefe von Bürgern öffnet, die ihm Mut machen, so vorstellen wie Adolf Sauerland im Fischrestaurant. Es gibt immer auch einen anderen Blick auf die Wirklichkeit. Wulff ist nach der Love Parade mal in Duisburg gewesen. Er war da schon Bundespräsident, und es war noch alles gut. Er kam als Besucher zu einem Konzert, Fritz Pleitgen und Hannelore Kraft waren auch gekommen, und auf einem Foto klaffte eine große Lücke zwischen dem Bundespräsidenten und dem Oberbürgermeister. Das Foto sah aus wie eine Karikatur vom Guten und vom Schlechten. In den Zeitungen stand, Wulff habe mit Sauerland nichts zu tun haben wollen.
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Fernreisen und Büromaterial verkaufen zu müssen
Aber das war nicht so, sagt Sauerland. Die Wahrheit war, dass es regnete und dass Pleitgen plötzlich einen Schritt nach links gemacht habe, um unter den Regenschirm des Bundespräsidenten zu kommen. So sei die Lücke entstanden. Unter anderem deshalb hat Adolf Sauerland neulich auch von „Scheiß-Journalismus“ gesprochen. Jetzt kommen sie wieder alle an und wollen mit ihm sprechen, wegen des Abwahlverfahrens. Aber das macht er natürlich nicht. Die wollen ja sowieso nur wissen, warum er nicht zurücktritt. „Ich hab doch keine Lust, morgens schon in die Zeitung zu kotzen, oder?“ Er nimmt sich noch eine Nussecke vom Teller. „Denk dran, Adolf, da läuft ein Tonband“, sagt Peter Ibe. Haben Sie eigentlich mal ernsthaft darüber nachgedacht zurückzutreten? „Also, jeder Vergleich, den ich jetzt wählen würde, wär hinkend. Deshalb will ich das nicht vergleichen, ja? Aber vielleicht nur mal so ein Gedankengang: Als der Radkranz vom ICE abgesprungen ist und Menschen ums Leben gekommen sind, ist da jemand hingegangen und hat gesagt: Der Bundesverkehrsminister muss zurücktreten? Oder die Bundeskanzlerin? Der Bundesverkehrsminister war Herr der Bahn. Und der Bundesverkehrsminister ist so was wie ein Dezernent bei mir. Also, die politische Verantwortung, die es da geben möchte, liegt dann bei denjenigen Institutionen, die über dem Bundesverkehrsminister stehen. Dat ist de Bundeskanzlerin. Eindeutig.“ Auf dem Esstisch liegt ein Text, den der frühere Bundespräsident Roman Herzog einmal in der „Welt“ veröffentlicht hat. Es geht darin um die Frage, wann ein Politiker die Verantwortung überneh-
men muss. Der Text ist von 2001, und Sauerland ist froh, dass er ihn noch gefunden hat. Er zieht ihn heran wie ein entlastendes Indiz. Herzog schreibt darin, einfach gesagt, dass ein Politiker nicht zurücktreten sollte wegen etwas, das er nicht selbst verschuldet hat. Das macht Sauerland gute Laune. Herzog schreibt aber auch: „Wer nicht untragbar geworden ist, sollte auch nicht zum Rücktritt aufgefordert werden, und nur wer untragbar ist, sollte gehen müssen.“ Adolf Sauerland kam nicht zum Gedenkgottesdienst für die Toten seiner Stadt, weil die Angehörigen ihn nicht dabeihaben wollten. Er war nicht bei der Eröffnung des Mahnmals, weil die Bürger ihren Oberbürgermeister da nicht sehen wollten. Er darf nicht mal die Weihnachtskarten an die Eltern der Toten unterschreiben. Sind Sie nicht schon deshalb untragbar geworden? „Dat is ne schwierige Situation, ja. Und dat tut auch weh. Dat is nich so ganz einfach.“ Er spricht jetzt ganz leise, seine Stimme bricht ihm weg. Für einen Moment sieht es so aus, als gäbe es noch ein Opfer mehr in Duisburg. Peter Ibe sitzt still auf seinem Platz und bewegt sich nicht. Es ist so gut für Adolf Sauerland, dass es Leute gibt wie Peter Ibe. Leute von der CDU, die es auch mal andersherum sehen. Kurz vor Weihnachten waren sie alle zusammengekommen, es war der erste Parteitag seit der Love Parade. Sie trafen sich in einer Mehrzweckhalle, die Sauerland einige Jahre zuvor vor dem Abriss gerettet hatte. Die meisten waren D E R
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schon ältere Männer, einige von ihnen lassen sich ab und an zusammen mit dem Oberbürgermeister Akupunkturnadeln in die Ohren stecken, um Gewicht zu verlieren. Draußen im Foyer gab es Currywurst, Buletten und Bier, Sauerland saß drinnen auf einem Podest und lutschte Hustelinchen-Bonbons, weil er eine schwere Erkältung hatte. Der Parteivorsitzende sprach von einer „Hexenjagd, beispiellos und unterirdisch“, und sagte: „Adolf, meinen ganz großen Respekt. Ich weiß gar nicht, wie du das ausgehalten hast.“ Sauerland blinzelte in die Halle und hielt mit letzter Kraft eine Rede. Er sprach von Foster und der schönen Innenstadt, dem schönen Weihnachtsmarkt und dem schönen Parkhaus, von den Weihnachtstagen, die schlimm seien für ihn, weil man immer an die Opferfamilien denken müsse. Er sagte, dass Duisburg nicht in die Hände der Sozialdemokraten zurückfallen dürfe und dass er keine Angst habe vor dem 12. Februar, vor dem Tag, an dem er abgewählt werden soll. Er wirkte eigentlich ganz zuversichtlich. Kaum jemand in der Stadt glaubt ja, dass an einem einzigen Sonntag 92 000 Stimmen zusammenkommen werden, weil die Leute wahrscheinlich wie immer zu faul sind, wählen zu gehen. Wahrscheinlich wird er noch sehr lange Oberbürgermeister bleiben. Adolf Sauerland guckt auf die Uhr, es ist spät geworden, und er hat jetzt Hunger auf etwas Herzhaftes. Ist das alles nicht auch eine Frage der Ehre? „Mmh. Eine Frage der Ehre heißt auch, dass man seine Leute nicht im Regen stehen lässt.“ Verstehen Sie, dass es die Sehnsucht gibt nach einem, der dafür geradesteht? „Es gibt ja einen, der dafür geradesteht.“ Wer denn? „Der, der die Verantwortung dafür zu tragen hat. Den wird’s geben, wenn das Gericht es sagt. Und der isset dann.“ Und so lange trägt niemand die Verantwortung dafür, dass 21 Menschen tot sind. „Ja, so isset. Dat stimmt.“ Sauerland erhebt sich, er packt die restlichen Nussecken in eine Frischhaltetüte und fegt mit der Hand die Krümel vom Tisch. Er geht an den Oberschrank, steckt seinen Kopf hinein und dreht die vier Schrauben fest. Er stellt sich vor das Radio und bückt sich noch einmal, dann sagt er: „Eins, zwei, fertich. Alles schön fest und gerade.“ Er zieht seinen Werkzeugkoffer in den Flur, bleibt stehen, er atmet tief ein und läuft noch mal eben in den Keller, die Bäder unten durchspülen. Als er wieder oben ist, sagt er: „So, jetzt müffelt nix mehr.“ Es ist jetzt eigentlich alles in Ordnung. 55
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Unbarmherzige Samariter Wie Margaret Thatcher und ihre deutschen Schüler die marktkonforme Demokratie erschaffen haben Von Barbara Supp
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SRDJA DJUKANOVIC / CAMERA PRESS
ie lebt, aber sie weiß vermutlich nicht mehr, wie sehr sie ist auch nach Deutschland eingesickert, ist Regierungshandeln Europa verändert hat, und Deutschland auch. Sie sagte: geworden, auf kompliziertem Weg. Nicht wie bei Thatcher, die widerspenstigen Parteipolitikern „Es gibt keine Gesellschaft. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen.“ Sie sprach viel von Selbstverantwortung und von gelegentlich ihre Lektüre auf den Tisch klatschte, den marktliberalen Propheten Friedrich von Hayek, der ihre Orientierung Fesseln, die es abzustreifen gelte, und sie machte Ernst. Sie wird jetzt im Kino gewürdigt, als alte, inzwischen de- war: „Das ist es, woran wir glauben.“ So sprach Thatcher. mente und früher mal eiserne Lady, und gleichzeitig wird in Leiser, diskreter ist dieses Streben nach Deutschland durchGroßbritannien schon mal über ihre Beerdigung diskutiert, soll gedrungen und wirkt nun, von Deutschland aus, weiter in es ein Staatsbegräbnis sein? Verdient sie das? Europa. Es wurde nicht offen als Staatsziel verkündet, in die Margaret Thatcher, die ehemaPolitik kam es über Berater aus lige britische Premierministerin, Unternehmen, Verbänden, Unihat großen Anteil an jener Krise, versitäten: über Experten. Experte: Das klingt unabhänin der sich Europa, der Kapitalisgig und klug. mus und die Demokratie zurzeit Manche dieser Experten kennt befinden, nur diskutiert das man, aber andere sind oft wichkaum jemand, aus Pietät vieltiger als diejenigen, die man stänleicht. Oder weil ihr Beitrag undig in Talkshows dozieren hört. terschätzt wird, immer noch. Dringend, schrieb in den neunziNun, da sich viele ducken vor ger Jahren so ein mehr in Wirtder Macht der Märkte, demütig wie vor einer Naturgewalt, da schaftskreisen bekannter Experhilft es, daran zu erinnern: Diese te, müsse der Staat an Macht verHerrschaft der Märkte wurde lieren. Dagegen sei Widerstand von Menschen gemacht. zu erwarten. Zu lösen sei das ProMargaret Thatcher war daran blem, indem man beispielsweise beteiligt, die Folgen sind bis heuSteuern senke. Man brauche „das te bitter zu spüren. Premierministerin Thatcher 1983 Diktat der leeren Kassen“. Man Die Folgen jenes Tages im Okbrauche „ein Defizit, das als antober vor 25 Jahren beispielsweise. stößig gilt“. So könne man den Gefordert wird ein „Diktat Ein Gesetzespaket Thatchers trat Staat beschneiden. Ganz unverder leeren Kassen“. Ein in Kraft. Es brachte neue Zeiten blümt steht es da: Nicht aus Notin der Londoner City, modernere, wendigkeit solle der Staat macht„Defizit, das als anstößig gilt“. wie es schien: Schluss mit der loser und ärmer werden, sondern Trennung zwischen Fremd- und aus Prinzip. Eigenhandel an der Börse. Schluss mit den festen Gebührensätzen Der das schrieb, war kein Exot. Es war Herbert Giersch, ein für Finanztransaktionen. Ungebremste Zulassung ausländischer vor anderthalb Jahren in hohem Alter verstorbener WissenFirmen. London wurde zum wichtigsten Finanzplatz der Welt. schaftler, der jahrzehntelang als „Doyen der deutschen Volks„Big Bang“ hieß der Vorgang wenig später. Bestaunt wurde wirtschaft“ galt. Er war Regierungsberater, Gründungsmitglied damals die aberwitzige Beschleunigung, die der Computerhan- der „Fünf Wirtschaftsweisen“, Direktor des Kieler Instituts für del in die Geschäfte brachte. Und die neue Kaste von jungen, Weltwirtschaft, prägender Lehrbuchschreiber und Ausbilder gierigen Finanzmenschen, wie man sie ein Jahr später auch im mehrerer Generationen von Ökonomen, die heute in Banken, US-Film „Wall Street“ sah. Aber dass dieser Big Bang ein poli- Verbänden, Unternehmen zu finden sind. Einer der führenden tischer war, verstand man nicht: ein entscheidender Schritt zur neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler, wie Thatcher ein Entmachtung des Staats. Hayek-Anhänger, auf den sich ja jede klassische marktliberale, Es gibt Menschen, die das begrüßen: einen geschwächten jede klassisch unternehmerfreundliche Politik beruft. Staat. Margaret Thatcher hat es getan. Unbeirrbar im Glauben, rüher gab es auch noch die anderen: die Keynesianer, die schneidend im Ton: „Die Menschen sind es, die für sich selbst die Beschäftigten und deren Kaufkraft im Blick hatten, sorgen müssen“, so sah sie es. Radikale Marktfreiheit, das war die für anständige Löhne argumentierten und für, falls ihre Mission. Sie wollte nicht nur deregulieren, Steuern senken, notwendig, die Intervention des Staats. Es finden sich fast privatisieren. „Die Ökonomie ist nur das Mittel. Es geht darum, keine mehr. Es gab eine stille Revolution in den Hörsälen, sie das Denken zu verändern“, sagte sie. Es ist ihr geglückt. ging von den USA in den achtziger Jahren aus und wirkte in Es klingt angloamerikanisch, dieses Denken, wie Thatcher Deutschland noch konsequenter als dort. Auf fünf Prozent hat und Ronald Reagan damals und die Tea Party heute, doch es Hans-Werner Sinn, der zur gegnerischen Seite gehört, den An-
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Marktes so deutlich sichtbar geworden sind, da Zweifel laut werden auch bei Menschen, die bisher im zufriedenen Einverständnis mit dieser Marktwirtschaft lebten, machen sich die Gläubigen daran, diese Begleiterscheinungen für nichtig oder unwichtig zu erklären. Befremdet beschreibt Vogl diese „unverwüstliche Überzeugung liberaler Ökonomie, dass das Marktgeschehen ein exemplarischer Schauplatz von Ordnung, Integrationsmechanismen, Ausgleich und somit von gesellschaftlicher Vernunft sei“. Es ist eine seltsame Vernunft, diese Vernunft des Marktes – wären bankrotte Staaten wie Hungrige, die auf Samariter warten, dann wäre die Logik der Märkte für Staatsanleihen diese: Du bist fast tot, sagt der Samariter zum ersten Hungerleider. Wenn ich dir jetzt ein Brot gebe, gibst du es mir, falls du überleben solltest, zehnfach zurück. Du bist schwach, aber du wirst dich erholen können, sagt er zum zweiten. Ich gebe dir ein Brot, du gibst mir später drei. Du hast deine Vesper vergessen, sagt er zum dritten. Ich gebe dir ein Brot. Gib mir morgen ein etwas größeres zurück. So weit die Märkte, aber viel barmherziger sind auch die Helfer von IWF, EU und Europäischer Zentralbank nicht. Sie geben Brot aus, aber vorher verlangen sie vom Hungrigen strengste Diät. Warum es zwingend sei, sich dieser Logik zu unterwerfen – das erklären die gängigen Experten. Sie deuten den Markt wie Priester den Willen des Herrn. Sie loben die Schuldenbremse, geboren aus dem Diktat der leeren Kassen, und empfehlen sie in Winterabend im Glanz nach deutschem Muster europader Philharmonie von Esweit. Sie loben die Agenda 2010, sen, im Alfried-Krupp-Saal, die Wirtschaftsreformen des helles Holz, perfekte Akustik, es sozialdemokratischen Kanzlers spricht ein Herr mit charmantem Gerhard Schröder, empfehlen Schweizer Tonfall vor rund 2000 auch die als Vorbild für Europa. Gästen, Unternehmern, PolitiEine Reformagenda, die auf Prikern, Mittelständlern, Managern. vatisierung, Deregulierung der „Warum“, fragt Josef AckerArbeits- und Finanzmärkte, auf mann, „müssen sich Banker zur Steuersenkung setzte und die Zukunft Europas äußern? Müsverblüffend nah bei den Empfehsen sie sich mit politischen Ratlungen lag, die der marktliberale schlägen nicht besser zurückhalWirtschaftsexperte Giersch in ten? Und zusehen, wie sie ihre den achtziger Jahren niederDemonstrantin beim Wirtschaftsforum in Davos eigene Zukunft bewältigen?“ schrieb: als „Agenda für die deutAckermann, der scheidende Chef sche Wirtschaftspolitik“. Experten verkünden den der Deutschen Bank, AckerUngelobt bleiben die KonzepWillen des Marktes wie Priester mann, der für die Leute draußen, te der Ketzer, die sagen: Lasst die Occupy-Menschen, das Geuns mehr Steuer auf Vermögen, den Willen des Herrn. sicht der Gier und der Krise ist, Erbschaften und Kapitaleinkünfdie Antwort gibt er sich schnell. te erheben, der private Reichtum Weil es „nicht nur erlaubt“, sondern „geradezu geboten“ sei, ist ja in dem Maße gewachsen, wie das Geld den öffentlichen mischt er, als Wirtschaftsführer, sich ein. Was will er? Mehr Kassen fehlt. Oder die auf die Idee kommen, man könne GriePrivatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung. Das Schei- chenland zunächst einmal helfen, wirtschaftlich auf die Beine tern des Marktes soll bekämpft werden mit noch mehr Markt. zu kommen, mit einer Art Marshall-Plan. Die Krise, sie ist auch seine Krise, die Krise der Banken, der „There is no alternative“ war ein Lieblingsspruch von MarBanker, maßgeblich trugen sie zur Finanz- und Schuldenkrise garet Thatcher. „Alternativlos“ ist ein Wort, das Angela Merkel bei, aber das macht nichts, es ist, als ob ihn das vor den anderen gern benutzt, wenn sie sich denn entschieden hat. Sie ist für nur noch größer machte. Er spricht, und der Saal schweigt und die „marktkonforme“ Demokratie. will es hören. Er spricht als Weitgereister, kritische Fragen und Draußen auf der Straße, in den Occupy-Camps und auf den Erschütterndes über Europa höre er „von meinen Gesprächs- Occupy-Demonstrationen, melden sich diejenigen, die geglaubt partnern im asiatisch-pazifischen Raum“, er spricht als Mäch- hatten, mit der Wirtschaftskrise von 2008 würde der Staat vieltiger, als Wissender, als Eingeweihter. leicht zurückkehren, seine Rolle wiederfinden, aber so war es Dass es „Exzesse“ gegeben habe, das gibt auch er gelegent- nicht. Man sagt ihnen, dass Deutschland doch bisher gut durch lich zu. Aber immer ist seine Rede getragen vom Glauben an die Krise gekommen sei. Nimmt man die Exportzahlen als den Markt. Maßstab, dann stimmt das. Nimmt man die Schere zwischen Der Markt wird es richten, wenn man ihn lässt: Von einer „Oi- Armut und Reichtum, dann stimmt es weniger denn je. „Es gibt keine Gesellschaft“, sagte Margaret Thatcher. kodizee“ spricht der Geisteswissenschaftler Joseph Vogl („Das Vielleicht ist es an der Zeit, auf die Ketzer zu hören. Und Gespenst des Kapitals“) – von einer Rechtfertigungslehre der Marktgläubigen, ähnlich der Gottesrechtfertigung in der Theolo- auf die da draußen, die nicht aufhören wollen mit ihrem Glau gie. Nun, da die üblen Begleiterscheinungen des entfesselten ben an die Demokratie.
teil dieser Minderheit geschätzt. Die Vielfalt, sagt auch der Wirtschaftsweise Peter Bofinger, als Keynesianer einer der letzten seiner Art, die gebe es nicht mehr. „Analyse und Therapie“, sagt Bofinger, „werden von einer Schule beherrscht. Steuern senken, Löhne runter, sparen, privatisieren, deregulieren, die Märkte werden es richten.“ Das seien „die gängigen Empfehlungen“, die bekomme, wer die Wissenschaft fragt. Als gäbe es keine andere Wahl. Der Glaube an diese Experten speist sich aus der Hoffnung, dass sie nicht wie Politiker getrieben seien von Machtlust und Parteiräson. Aus der Illusion, dass derjenige, der als Experte auftritt, keine Haltung hätte, keine Interessen, keine Weltanschauung, keine Biografie. Als ob es das gäbe, reines Wissen auf zwei Beinen, ohne menschliche Deutung, ohne menschliche Dimension. Der Experte Mario Monti, Regierungsschef gewordener Wirtschaftsprofessor, der nun Italien retten soll und letztlich auch den Euro und Europa, wurde von der Chefin des Unternehmerverbands mit hohem Lob begrüßt: „Er kennt seit langem die Märkte, ist mit Liberalisierungen, Privatisierungen und der Reduzierung der öffentlichen Ausgaben vertraut.“ In seinem Kabinett der Technokraten sitzen ein Minister aus dem Unternehmerverband und zwei ehemalige Banker, er selbst war lange Berater bei Goldman Sachs. Weil er keiner Partei angehört, wird er in Porträts als „Unabhängiger“ gefeiert, als einer, der „den Grabenkämpfen entrückt ist“. Das ist er aber nicht. Auch ein Experte ist das nie.
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Gesellschaft
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Der Fluch ORTSTERMIN: Das holsteinische Dorf Wewelsfleth fürchtet den Krebs und sucht Trost in der Wissenschaft.
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dass die Kernkraft schuld ist am Krebs. Aber was spricht dagegen? Selbst die Bundesregierung beschloss nach der Katastrophe von Fukushima den Ausstieg aus der Atomenergie, weil sie nicht garantieren kann, dass von der Kernkraft keine Gefahr ausgeht. Brunsbüttel und Stade sind inzwischen vom Netz, müsste man Brokdorf also schneller abschalten? Die Frage ist: Wie viel Ungewissheit kann ein Politiker verantworten? Wie viel Ungewissheit kann der Mensch ertragen? In der Straße, in der Karstens wohnt, kann er zu jedem Haus eine Krankengeschichte erzählen. Aus dem „Warum ich?“, das sich jeder Krebspatient stellt, ist ein „Warum wir?“ geworden. Die Krankheit erscheint nicht länger als Schicksal, sondern als Fluch. Natürlich könnten auch die Wewelsflether aussteigen, aber dazu müssten sie wissen, woraus. Natürlich kann man vorsorglich mit allem aufhören: mit der Kernkraft, dem Rauchen, dem Alkohol, der Werft. Vor ein paar Tagen fuhren sie nach Kiel, in die Landeshauptstadt, und überreichten Unterschriften. Es gab einen Termin im Gesundheitsministerium, erst herrschte Betroffenheit, sagt Karstens, dann Schweigen. Was soll man auch sagen? Sie wünschen sich noch eine Studie, eine über Wewelsfleth, aber Fachleute sagen, für eine Studie, die aussagekräftig wäre, seien 142 Krebsfälle zu wenig. Die Wewelsflether, heißt das, müssen sich an den Gedanken gewöhnen, dass auch eine Häufung letztlich Zufall sein kann. Dass es bei dieser Krankheit keinen Sinn gibt, keine Gerechtigkeit. Karstens beschloss damals, in Wewelsfleth zu bleiben, nach dem Tod seiner Frau. Wer hier aufwuchs, geht nicht einfach weg. Ein paar Jahre später lernte er eine neue Frau kennen. Anfang Dezember 2009 wurde auch bei ihr im Krankenhaus Krebs festgestellt. Er war schon so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr nach Hause entlassen wurde. JÖRG MÜLLER / AGENTUR FOCUS
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r werde keine Ruhe geben, sagt von dort. Ein paar Kilometer weiter elbIngo Karstens, es soll kampfeslustig abwärts liegt das Kernkraftwerk Brunsklingen, aber es hört sich vor allem büttel, das dritte steht in Stade, auf der ratlos an. Er fühle sich mitunter „wie Don anderen Elbseite. Drei Atomkraftwerke Quichotte“, sagt er, die Schultern leicht sind eine klare Antwort auf die Frage eingezogen, es sieht aus, als habe er ein nach dem Warum, könnte man meinen, wenig Angst davor, der Kampf könne ver- aber so war es nicht. Es gibt eine Studie der Universität Lügebens sein. Auf dem Tisch vor Karstens liegt eine beck, die nach Auffälligkeiten suchte, in Karte, darauf ist die Wilstermarsch zu er- der Verteilung zwischen den Altersklaskennen, die brettflache, karge Landschaft sen, zwischen Mann und Frau, wo auch nördlich der Elbe, eingezeichnet sind die immer. Die Studie nennt Speiseröhreneinzelnen Gemeinden, auch die Gemein- krebs, Magenkrebs, Lungenkrebs und ein de Wewelsfleth, deren Bürgermeister paar anderen Krebsarten in Wewelsfleth. Die Experten nahmen sich mögliche UrKarstens ist. Die Farbskala der Karte reicht von Dunkelgrau bis Dunkelrot, Grau heißt: alles in Ordnung; Rot bedeutet: Hier stimmt etwas nicht. Im Osten leuchtet eine große orangerote Fläche, das ist Wewelsfleth. Die Karte zeigt den Krebs. Die Menschen in Wewelsfleth erkranken um fast 50 Prozent häufiger an Krebs als Menschen in anderen Gemeinden Schleswig-Holsteins. 142 Neuerkrankungen sind es, gemeldet von 1998 und 2008. 95 waren nach dem Landesdurchschnitt zu erwarten. Statistiker nennen so etwas „signifikant“. Wewelsfleth ist ein Dorf Friedhof von Wewelsfleth: „Warum wir?“ mit 1500 Einwohnern, einem Supermarkt, einem Blasorchester und dem Alfred-Döblin-Haus, das einigermaßen be- sachen vor, das Atomkraftwerk Brokdorf kannt ist, weil Günter Grass hier jahre- oder die Wewelsflether Schiffswerft, die lang lebte und schrieb. Karstens ist seit früher gefährliche Lacke versprüht haben 14 Jahren Bürgermeister in Wewelsfleth, kann, oder Asbest; die Landwirtschaft zugewandert aus einer Nachbargemeinde, mit ihrer Vorliebe für Pestizide. Oder seit 1967 lebt er im Dorf. Vor zehn Jahren rauchten die Wewelsflether mehr als andere? Die Studie ergab keine Klarheit, starb Karstens’ Frau an Lungenkrebs. Sie wurde nur 61 Jahre alt, und weil keine wahrscheinliche Ursache, nichts. Möglich, dass die Wewelsflether häuKarstens andere Wewelsflether kannte, die ebenfalls früh an Krebs gestorben wa- figer zur Vorsorge gehen, aus Angst vor ren, wandte er sich an die Landesregie- dem Krebs. Das wäre dann der sogenannrung. Er wollte wissen, ob es für den Tod te Screening-Effekt. Aus der Suche nach seiner Frau eine Ursache gab. Der Tod Gewissheit wäre dann eine neue Unist vermutlich leichter zu ertragen, wenn sicherheit entstanden. Karstens öffnet die Tür zu einem kleiman weiß, woran man stirbt. Es gibt drei Atomkraftwerke in un- nen Balkon und tritt hinaus ins Freie. Vor mittelbarer Nähe. In der Nachbargemein- seinem Bürofenster grüne Wiesen, in der de Brokdorf, vier Kilometer gen Westen, Ferne die Kuppel des Kernkraftwerks steht das erste, meist bläst der Wind Brokdorf. Es spricht offenbar nichts dafür,
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Die Deutsche Bank gerät in die Kritik wegen eines Anlagefonds, bei dem auf die Lebenserwartung von Menschen spekuliert wird. „Dies ist mit unserer Wertordnung, insbesondere der in ihrem Mittelpunkt stehenden Unantastbarkeit der menschlichen Würde, kaum in Einklang zu bringen“, schreibt die Ombudsstelle des Bankenverbands an einen Anleger, der sein Geld zurückfordert. Ein Gericht müsse die Frage klären, ob die „Wette auf die Lebensdauer eines ausgewählten Personenkreises nicht gegen sich aus unserer Sittenordnung ergebende Verhaltensverbote verstößt“. Der „db Kom Life 3“ ist der morbideste von drei Lebensversicherungsfonds, für die die Deutsche Bank über 700 Millionen Euro bei Kleinanlegern eingesammelt hat. Normalerweise kaufen solche Fonds Lebensversicherungen auf, um im Todesfall die Versicherungssumme zu kassieren. Beim Kom Life 3 ging die Deutsche Bank weiter: Sie kaufte keine echten Policen mehr. Stattdessen bot sie den Anlegern eine Art Wette auf die Restlebensdauer von rund 500 Personen an, die von einer „Tracking Company“ regelmäßig kontaktiert werden. Das Produkt basiert auf komplexen versicherungsmathematischen Modellen, doch es funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Je früher die sogenannten Referenzpersonen des Fonds sterben, desto höher ist der Gewinn für die Anleger. „Das ist ein makabres Rechenspiel ohne jedes Investitionsobjekt“, sagt der Rechtsanwalt Tilman Langer, der rund 30 Anleger des Fonds vertritt. Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt am Main
IG Metall will 6,5 Prozent mehr Lohn Für die 3,6 Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie soll es nach dem Willen der Gewerkschaft deutlich mehr Lohn geben. Der Bundesvorstand der IG Metall will am Dienstag dieser Woche seinen Tarifkommissionen empfehlen, in den bevorstehenden Verhandlungen eine Erhöhung um 6,5 Prozent zu verlangen. Dies sei ein Wert, der den Erwartungen in den sieben IG-Metall-Bezirken entgegenkomme, heißt es im Vorstand. Er entspricht auch den Vorstellungen von IG-Metall-Chef Berthold Huber. Für Zündstoff dürfte die Frage nach der Laufzeit des neuen Tarifvertrags sorgen. Die Arbeitgeber wollen eine möglichst lange Dauer bis mindestens Herbst nächsten Jahres. Führende Gewerkschaftsfunktionäre hingegen 60
drängen auf eine kürzere Laufzeit, um mögliche Terminkollisionen mit Vorstandswahlen bei der Metallgewerkschaft zu vermeiden. Zudem verlangt die IG Metall die unbefristete Übernahme aller Auszubildenden sowie weitere Tarifregeln bei Zeitarbeit und Werkverträgen. Beides lehnen die Arbeitgeber ab.
LUFTHANSA
Flughelfer planen Streik
ARNE DEDERT / DPA
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Der Lufthansa droht erneut ein Streik einer kleinen, aber einflussreichen Beschäftigtengruppe. Im Mittelpunkt stehen diesmal nicht ihre Piloten, sondern Verkehrsleiter und Flugdienstberater, die für die Vorbereitung und Abwicklung der Flüge zuständig sind. Bislang wurden sie von der Gewerkschaft Ver.di betreut. Weil sie sich dort vernachlässigt fühlten, ist ein Großteil von ihnen zur Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) gewechselt. Diese organisiert bislang vor allem die Fluglotsen und wurde von der Lufthansa kürzlich auf Zahlung von rund 1,7 Millionen Euro Schadensersatz verklagt. Die GdF-Funktionäre wollen für ihre Neumitglieder nun bessere Konditionen durchsetzen. Sollten sie damit scheitern, könnte es laut der GdF schon ab März zu ersten Protestaktionen der Flugmanager kommen.
PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT
Zynisches Investment
Wirtschaft FERNSEHEN
Telekom will BundesligaRechte allein
Offerte abzugeben, um ihm anschließend Rechte abzukaufen, die für die Telekom interessant sind. Das Risiko, mit dieser Strategie leer auszugehen, ist dem Konzern offenbar zu groß. Vielmehr verweisen Telekom-Manager auf gute eigene Beziehungen zur Deutschen Fußball Liga (DFL), der Konzern biete daher selbst. Bekäme die Telekom das derzeit jährlich rund 225 Millionen Euro teure Paket, besäße sie damit aber auch Kabelrechte, an denen sie kein Interesse hat. Hahn könnte helfen, das Bundesliga-Programm an Kabelfirmen weiterzugeben. Sollte wiederum Hahn den Zuschlag von der DFL bekommen, hat die Telekom Interesse bekundet, ihm Satellitenrechte abzunehmen. Es gebe aber weder einen Vertrag noch finanzielle Rückendeckung für Hahn, so Insider.
ENERGIE
Neuer RWE-Chef kündigt drastischen Sparkurs an
sener Energiekonzern soll in den Jahren 2013 und 2014 über die bereits beschlossenen Kürzungen von rund 1,5 Milliarden Euro hinaus einen Betrag von mindestens einer weiteren Milliarde Euro einsparen. Damit soll eine „nachhaltige Ergebnisverbesserung“ erreicht werden, heißt es in einem Bericht, den Terium, designierter Nachfolger von RWE-Chef Jürgen Großmann, vergangene Woche den Arbeitnehmervertretern im Unternehmen vorgelegt hat. In dem „Programm für die Zukunft unseres Konzerns“ skizziert er die künftige Ausrichtung des Stromerzeugers. Konkret geht es um Programme zur Abschaffung von doppelten Konzernstrukturen und um den verstärkten Ausbau bei den erneuerbaren Energien. Endgültige Maßnahmen sollen in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften bis Juni 2012 entwickelt werden. Dabei UTA WAGNER
Der angehende RWE-Chef Peter Terium, 48, stimmt die Beschäftigten auf einen radikalen Sparkurs ein. Der Es-
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Im Rennen um die TV-Rechte an der Fußball-Bundesliga wird sich die Deutsche Telekom mit einer eigenen Offerte um das mit Abstand wichtigste Rechtepaket bewerben: die Live-Übertragung der Spiele im klassischen Bezahlfernsehen. Der Konzern greift damit den Abo-Sender Sky an, der bisher alle Spiele via Kabel und Satellit überträgt. In dieser Woche startet der Bieterkampf um die Rechte für 2013 bis 2017. Die Telekom, die bisher nur Rechte für Internet-TV besitzt, hat es diesmal auch auf Satellitenrechte abgesehen. Anders als kolportiert lässt sich der Konzern dabei aber nicht auf eine enge Partnerschaft mit dem Medienunternehmer Dieter Hahn ein, dem Ziehsohn und unternehmerischen Erben des verstorbenen Leo Kirch. Die Telekom werde keine Bietergemeinschaft mit Hahn oder dessen Firmen eingehen, sagen Manager. Der Konzern will es auch Hahn nicht allein überlassen, eine Bundesliga-Übertragung
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PENSIONEN
Bund weicht Bonitätsregeln auf Die Bundesregierung will bei der milliardenschweren Versorgungsrücklage für ihre Beamten künftig auch solche Wertpapiere behalten, deren Bonität nicht mehr mit der Bestnote bewertet wird. „Vor dem Hintergrund der geänderten finanzpolitischen Rahmenbedingungen hat sich gezeigt, dass die Anlagerichtlinien punktuell einer Anung bedürfen“, heißt es in einem Schreiben von Innenstaatssekretär Christoph Bergner an den CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler. „Dabei geht es vorrangig um die Frage, wie künftig mit den in Portfolios vorhandenen Wertpapieren umzugehen ist, deren Emittenten unter das vorgesehene Rating herabgestuft werden.“ Die Bundesregierung reagiert damit auf die schlechtere Bewertung Frankreichs und anderer Euro-Länder durch die Rating-Agentur Standard & Poors. Die etwa fünf Milliarden Euro große Versorgungsrücklage soll ab 2017 die Pensionszahlungen aus dem Bundeshaushalt ergänzen. Bislang sehen die Regeln von Innen- und Finanzministerium vor, dass herabgestufte Anleihen nach kurzer Frist verkauft werden müssen.
dürfte es auch um weiteren Personalabbau gehen, denn anders sind die geplanten Milliardeneinsparungen nicht zu realisieren. Bei den Betriebsräten scheint die von Großmannn eher selten praktizierte Offenheit anzukommen. Es heißt, die Arbeitnehmervertreter wollten sich Gesprächen nicht verschließen. ZITAT
„Fast wie ein Geschenk“ Bundeskanzlerin Angela Merkel am 20. Juni 2006 zur Gründung der Gemeinschaftsfirma Nokia Siemens Networks. In der vergangenen Woche gab das Unternehmen bekannt, dass rund ein Drittel der Arbeitsplätze in Deutschland gestrichen werden. Der Standort München wird geschlossen. 61
IBM DEUTSCHLAND / DAPD
Wirtschaft
IBM-Managerin Koederitz
JOBS
Frei schwebend in der Wolke Der Software-Konzern IBM plant eine Radikalreform seiner Belegschaft. Ein internes Papier zeichnet die Blaupause für die Arbeitswelt von morgen: Kleine Kernmannschaften dirigieren ein Heer freier Mitarbeiter – weltweit.
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s war eine gute Woche für Deutschlands Arbeitnehmer, aber eine schlechte für die Beschäftigten von IBM. Am vergangenen Dienstag verkündete die Bundesagentur für Arbeit frohe Botschaften: die niedrigste Arbeitslosenquote im Januar seit Jahrzehnten, den höchsten Beschäftigungsstand seit langem. Und, vor allem, der Aufschwung am Arbeitsmarkt geht trotz Krise weiter. Doch nur einen Tag später störte der US-Konzern IBM mit Neuigkeiten, die nicht in das harmonische Bild ten. Bis zu 8000 der 20 000 Arbeitsplätze, meldete das „Handelsblatt“, wolle der Computerspezialist in Deutschland abbauen. Dahinter stecke ein Programm namens „Liquid“, das dem IT-Riesen weltweit eine flexiblere Organisation geben solle. 62
Belegschaft und Gewerkschaften waren beunruhigt. Doch die umgehend geforderten Erklärungen blieb auch IBMDeutschland-Chefin Martina Koederitz schuldig. Der einstige Computer- und heutige Software-Gigant wollte sich weder zu dem möglichen Stellenabbau noch zu der neuen Organisationsreform äußern. Und das wohl aus gutem Grund. Denn was der Konzern hinter verschlossenen Türen plant, ist nicht weniger als eine Revolution in der Arbeitswelt. Es ist eine Abkehr von fast allen bislang geltenden Regeln mit dem Ziel, schneller, effizienter und vor allem profitabler zu sein als Wettbewerber. Auf der Strecke bleiben die Mitarbeiter. Sie werden zu einem Produktionsmittel, das bei Bedarf weltweit angeheuert und genauso schnell wieder abgeschüttelt werden kann. D E R
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Schon in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Arbeitswelt tiefgreifend gewandelt. Die Grenzen zwischen Branchen und Unternehmen verschwimmen, im gleichen Maß verblasste die Linie zwischen Festanstellung und befristeten Jobs, zwischen drinnen und draußen, zwischen Arbeit und arbeitslos. Die Computer- und Kommunikationstechnologien beschleunigen den Trend. Netzwerke und „Cloud Working“, das Arbeiten in einer virtuellen Datenwolke, wird die Arbeitswelt erneut dramatisch verändern. Doch bislang hat kaum jemand die Möglichkeiten so radikal zu Ende gedacht wie IBM. Wie dieses Morgen aussehen soll, ist einer vertraulichen 25-seitigen Präsentation mit dem Titel „Das Beschäftigungsmodell der Zukunft“ zu entnehmen. Der
in Deutschland für Personal zuständige rungsmodell“ erarbeiten. Die Menschen, IBM-Geschäftsführer Dieter Scholz hat die ihre Arbeit auf der Plattform anbieten, würden etwa mit Farben (Blau, Silber sie bereits Anfang Mai 2011 vorgestellt. Es ist die schonungslose Antwort eines oder Gold) gekennzeichnet – je nach Grad global operierenden Großkonzerns auf ihrer Qualifizierung und Befähigung. Arbeitsverträge sollen – anders als heuTrends wie die demografische Entwicklung. Es zeigt, wie künftig weltweit die te – nicht mehr auf regionalen Vereinbabesten Spezialisten zu den günstigsten rungen aufbauen. Im IBM-Modell gibt es stattdessen „globalisierte ArbeitsverträKonditionen zu bekommen sind. Das Papier beschreibt einen Konzern ge“. Auf diesem Weg kann die nationale in Auflösung. Zigtausende feste Beschäf- Arbeitsgesetzgebung umgangen werden, tigungsverhältnisse könnten bei IBM ab- ebenso wie nationale Lohnregelungen gebaut werden. Übrig bleiben soll eine und geltende Tarifverträge. Das Heer in der Talent Cloud wird für Kernbelegschaft, „zur Aufrechterhaltung der Kundenbeziehungen“. Eine möglichst Projekte entlohnt, entweder nach Ergebkleine Truppe von Festangestellten soll nis oder für die investierte Zeit. Wer als das Unternehmen steuern und managen. zertifizierter freier Mitarbeiter für IBM Die meisten Mitarbeiter der Zukunft arbeitet, kann nach diesem Modell auf eisitzen dagegen nicht mehr in den Zen- gene Kosten an Weiterbildungen des Kontralen und Niederlassungen des IT-Spe- zerns teilnehmen – in der Hoffnung auf zialisten. Sie sind von Nigeria über Finn- „größere Chancen beim Wettbewerb um land bis Chile weltweit in einer sogenann- definierte Arbeitseinheiten“. Die Vorteile für Konzerne wie IBM lieten globalen Talent Cloud verstreut und werden in sich verändernden Verbünden gen auf der Hand. Gegenüber den heutifür einige Tage, Wochen, Monate oder gen Strukturen sind die Personalkosten Jahre für bestimmte Projekte angeheuert. deutlich geringer. Zudem entstünde ein Sie sollen, so das Papier, „die Dienstleis- weltweiter Zugriff auf ein sich um Protungen für unsere Kunden erbringen“. jekte bewerbendes Heer von Spezialisten, Anbieten können die Fachkräfte ihre die – je nach Bedarf – angeheuert und Arbeitskraft auf einer Internetplattform wieder entlassen werden können. IBM will sich nicht zu Zahlen und Panach dem Vorbild von Ebay. Dort sollen Firmen aus aller Welt über „virtuelle pieren äußern. „Als innovatives UnterKioske“ Zugriff auf das Personal er- nehmen“, heißt es, sondiere man ständig eine Fülle von Wegen und Vorgehensweihalten. Damit die Auswahl der Arbeitskräfte sen, die Kunden Mehrwert böten. Profunktioniert, will IBM ein „Zertifizie- duktivität zu steigern und Talente zu förD E R
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dern, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, „ist eine entscheidende Komponente in unserem Geschäftsmodell“. Tatsächlich schreibt IBM mit seinem Umbauprogramm nur die Gegenwart konsequent fort. Seit vielen Jahren betreiben die Unternehmen „Human Resources Outsourcing“, wie die Verlagerung von Arbeitsplätzen an externe Dienstleister in der Sprache der Betriebswirtschaftler heißt. Längst sind es nicht nur Wachdienste oder Kantinen, die von Fremdfirmen betrieben werden. Auch Fachabteilungen werden zusehends ausgedünnt. Beinahe jedes Großunternehmen hält heute rund 20 Prozent seiner Belegschaften dauerhaft flexibel, durch Zeitarbeit, Werkverträge, befristete Jobs oder die Vergabe von externen Projekten, die man früher selbst erledigt hat. „Das Normalarbeitsverhältnis, mehr als 30 Wochenstunden und festangestellt bei einem Arbeitgeber, das bis in die achtziger Jahre die Regel war, ist auf dem Rückzug“, sagt Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Nach unveröffentlichten Daten des IAB sank die Zahl der unbefristeten Vollzeitjobs von 1999 bis 2009 um 18,5 Prozent. Nur noch etwas über die Hälfte aller Arbeitnehmer ist so beschäftigt. Zugleich stieg die Zahl der atypischen Erwerbsformen wie Leiharbeit um fast 79 Prozent an. „Ebays für Arbeitskräfte“, wie sie IBM vorschweben, sind ebenfalls schon Reali63
Wirtschaft Zum entscheidenden Faktor für den Erfolg von Arbeitnehmern wird künftig aus Sicht des Konzerns deren sogenannte digitale Reputation. Gemeint ist damit ein System, mit dem Menschen bewertet und gleichzeitig motiviert werden sollen, eine beängstigende Mischung aus Freiheit und totaler Kontrolle. Angelehnt ist das System an das Prinzip sozialer Netzwerke wie Facebook. Nur dass Menschen hier nicht ihren Musikgeschmack, ihre Hobbys und Freunde zur Schau stellen, sondern ihren beruflichen Werdegang, ihre Stärken, Schwächen und Qualifikationen. Denn in das jeweilige Profil sollen Bewertungen durch soziale Netzwerke, von IBM, aber auch von anderen Unternehmen einfließen – also auch solchen, die mit den dort getä-
JIRO OSE / REDUX / LAIF
tät. Das Internet macht es möglich. TopCoder ist mit über 388 000 Mitgliedern die weltweit größte Internetplattform für Software-Entwickler. Jeder Entwickler besitzt ein eigenes Profil für die Kunden, gemeinsam kämpfen sie um deren Ausschreibungen für Aufträge. Innocentive wurde 2001 mit Unterstützung des US-Pharmakonzerns Eli Lilly and Company gegründet. Die Kunden sind Konzerne wie Procter & Gamble oder Roche, die ein Problem haben, aber keine Lösung. Sie veröffentlichen ihr Problem auf Innocentive und loben ein Preisgeld aus. Lösungsvorschläge kann jeder einsenden, die Hausfrau ebenso wie der Professor. Mobile Computer und Smartphones, Internet und digitale Vernetzung krem-
Studenten im Sudan: Zugriff auf die Talente der Zukunft sichern
peln die Arbeitswelt um. In Datenwolken tigten Jobs nichts zu tun haben. So listet können Menschen über Kontinente ver- das IBM-Papier als ein entscheidendes teilt in Echtzeit an einer Aufgabe arbei- Kriterium beispielsweise die „soziale Reten, als säßen sie in einem Büro. Preis- putation“ der Bewerber auf. Darunter wert und schnell. fällt laut IBM-Papier etwa die nicht pünktEs ist eine Arbeitswelt, die zu einer lich bezahlte „Kreditkartenabrechnung“ weiteren Spezialisierung der Firmen und oder soziales Engagement. der Arbeitskräfte führt. Jede Aufgabe Dazu kommen detaillierte Beschreiwird in immer kleinere Teilaufgaben zer- bungen über die Leistung in bestimmten legt. So kann sie auf zunehmend mehr Projekten. Sie reichen von positiven EinSpezialisten innerhalb und außerhalb ei- trägen wie „Sofortbonus“ für besondere nes Unternehmens verteilt werden. Leistung bis hin zu negativen BemerkunDas alles verändert die Beziehungen gen wie etwa „Termin für Projekt x nicht der Arbeitnehmer untereinander und gehalten“ oder „letzte Woche keinen Beizum Arbeitgeber. Kriterien, die heute noch trag geleistet“. All dies soll in einer Art elektronifür die Leistungsbewertung gelten, verlieren ihre Funktion. Und dabei geht es schem Arbeitslebenslauf verankert wernicht um das Schicksal von ein paar Soft- den. Dieser Lebenslauf samt Bewertunware-Spezialisten. 17 Millionen Menschen gen ist die Grundlage für Bewerbungen arbeiten in Deutschland im Büro, weit und kann von freigegebenen Firmen oder Freunden ähnlich wie bei Facebook einmehr als die Hälfte aller Beschäftigten. Wie weit die Konsequenzen reichen gesehen und bewertet werden. Motto: können, lässt das IBM-Papier erahnen. „Gefällt mir.“ 64
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Für Firmen wäre ein solches System paradiesisch. Wer nicht mitmacht, kommt nicht auf die Bewerberliste – oder die Talent Cloud, wie IBM das nennt. Wer sich den Spielregeln unterwirft, ist lückenlos transparent. Bei herausragenden Leistungen erhöht dies die Chancen, neue, lukrative Angebote zu erhalten. Gleichzeitig besteht ein ständiger Druck, seine „digitale Reputation“ zu verbessern oder zumindest auf dem gleichen Level zu halten. Denn jeder Fehltritt führt unweigerlich zu schlechteren Bewertungen und damit zum Abstieg in die Unvermittelbarkeit – weltweit und mit wenig Chancen auf einen Neuanfang. Für Gewerkschafter wie den Ver.diBundesvorstand Lothar Schröder ist das ein Horrorszenario: „Sollte sich auch nur ein Teil dessen bewahrheiten, ist IBM dabei, die Arbeits- und Sozialbeziehungen zum Großteil der eigenen Mitarbeiter in Frage zu stellen, die eigene Know-howBasis aufzugeben, die Freiberuflichkeit zu pervertieren und sich außerhalb dessen aufzustellen, was in dieser Gesellschaft als verantwortungsbewusst gilt.“ Viele Unternehmen, nicht nur IBM, empfinden die klassischen Beschäftigungsstrukturen als zu starr in einer digitalen Arbeitswelt. Deshalb nimmt die Projektarbeit zu. „Die Firmen verlagern zunehmend die unternehmerische Verantwortung auf die Arbeitnehmer“, sagt der Ökonom Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Bonner Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit. Einerseits basiert das IBM-Modell auf einer nüchternen Analyse des Ist-Zustandes und der großen globalen Trends wie des demografischen Wandels. Die klassischen Industriegesellschaften altern und schrumpfen, die Bevölkerung wächst in anderen Regionen. Dabei hat der USKonzern weniger Asien im Blick, er begreift „Afrika als Chance für IBM“. Bereits 2040 wird der Kontinent laut IBM die größte Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter haben und weltweit 20 Prozent der Jugend stellen. Dort wollen sie frühzeitig die besten Fachkräfte binden. Angesichts der technischen Entwicklung ist die Vorstellung, dass IBM „weltweit rund um die Uhr Fachkräfte zur Verfügung stehen“ werden, kein Traum. Andererseits steht hinter dem „Beschäftigungsmodell der Zukunft“ die Vorstellung, dass auch die Firmen der realen Wirtschaft einen Zustand erreichen werden, den die Finanzmärkte längst erreicht haben – sich eines Teils der nationalen Regeln zu entledigen. Die Manager gehen davon aus, dass weitere Handelsbeschränkungen fallen werden, ebenso restriktive Arbeitsgesetzgebungen der Nationalstaaten. An die Stelle staatlicher Vorschriften treten die Spielregeln privater Konzerne. MARKUS DETTMER, FRANK DOHMEN
Wirtschaft Niedersachsen, das gut 20 Prozent der VW-Stammaktien hielt, im Aufsichtsrat KONZE RNE des Autokonzerns. Zusammen mit seinem Wirtschaftschef Middelberg kämpfte er an vielen Fronten, um den Einfluss des Landes auf VW zu wahren. Der Jurist Middelberg war einer seiner wichtigsten Mitstreiter. Er kommt wie Ein interner Vermerk bringt den ehemaligen VW-Aufsichtsrat Wulff aus Osnabrück, die beiden kennen sich noch aus Zeiten, als Wulff Chef der Christian Wulff in Schwierigkeiten. Er hatte Schüler Union war. Middelberg war ebenoffenbar früh Hinweise auf die Übernahmepläne Porsches. so misstrauisch gegenüber den PorscheManagern wie sein Chef. „Die verarschen Porsche war drei Jahre zuvor bei VW uns“, sagte er oft. er Vermerk eines Beamten ist oft Viele Anleger, vor allem große Fonds nicht viel wert, jedenfalls dann, eingestiegen und hatte seine Anteile Stück wenn er vier Jahre alt ist. Eine für Stück erhöht. Doch Porsche-Boss Wen- und Versicherungen, dagegen glaubten ganz spezielle Notiz allerdings, ein paar delin Wiedeking erklärte stets: Man strebe den Beteuerungen von Porsche, man streZeilen lang nur, kann man möglicherwei- nicht danach, 75 Prozent der VW-Aktien be keinen 75-Prozent-Anteil an VW an. zu erwerben, was den Abschluss eines Be- Abenteuerlich erschien die Vorstellung, se in Milliarden Euro aufwiegen. Der interne Vermerk stammt vom 12. herrschungs- und Gewinnabführungsver- dass „die kleinen Blechpatscher aus ZufFebruar 2008. Er könnte jetzt als wichtiges trags ermöglichen würde. Ein solcher fenhausen“, wie Wiedeking die SportwaBeweismittel für Prozesse dienen, in de- Schritt hätte Porsche die volle Kontrolle genfirma ironisch nannte, den Weltkonnen es um Schadensersatzforderungen in über VW verschafft und den Zugang zu zern VW schlucken könnten. Der Aktienkurs von VW schien AnleMilliardenhöhe geht. Er belastet Bundes- den Barreserven der Wolfsburger von gern deshalb sehr hoch. Viele verkauften präsident Christian Wulff, der in seiner rund zehn Milliarden Euro. Wulff traute dem Porsche-Boss nicht. im Jahr 2008 ihre Aktien. Oder sie speZeit als Ministerpräsident Niedersachsens und VW-Aufsichtsrat eine entscheidende Der Ministerpräsident vertrat das Land kulierten auf sinkende VW-Kurse. Sie schlossen sogenannte Leerverkäufe Rolle in der Übernahmeschlacht zwiab. Sie liehen sich VW-Aktien und schen Porsche und VW spielte. 28. Okt. 2008 verkauften sie. Später, bei niedrigeDie Notiz bringt auch den VW- Hoch gepokert 1005 1000 ren Kursen, wollten sie die Aktien Konzern in eine schwierige Lage, VW-Aktienkurs 26. Oktober: billig wieder erwerben und zurückdenn von Wulff können die klagen- 2008, in Euro Porsche erklärt, geben. den Banken, Versicherungen und seinen Anteil auf Als Porsche aber am 26. Oktober Hedgefonds die geforderten Sum75% aufstocken 800 2008 überraschend bekanntgab, das men nicht eintreiben, sondern allenzu wollen. Unternehmen strebe doch einen Anfalls vom Wolfsburger Autoherstel10. März: teil von 75 Prozent bei VW an und ler, dessen Kontrollgremium der 12. Februar 2008: Porsche demenInterner Vermerk an 600 habe bereits Aktien und Optionen Politiker angehörte. tiert die Absicht, für über 74 Prozent beisammen, exDie Mitteilung hat Mathias Mid- Ministerpräsident seinen Anteil an Wulff: „Mittelfristiges plodierte der VW-Kurs. Die Aktie delberg verfasst, einst Chef der WirtVW-Aktien auf stieg zeitweise auf über 1000 Euro, schaftsabteilung in Wulffs hannover- Ziel von Porsche ... 75% zu erhöhen. 400 der VW-Konzern war der wertvollsscher Staatskanzlei, jetzt CDU-Bun- 75%“ der VWte Konzern der Welt. destagsabgeordneter. „Mittelfristiges Stammaktien. Für Anleger, die mit geliehenen Ziel von Porsche ist der Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinn200 Aktien gegen VW gewettet hatten, kam dies einem GAU gleich. Sie abführungsvertrags gemäß Paragraf 151 153 mussten VW-Aktien kaufen, ganz 291 Absatz 1 Aktiengesetz, in der ReQuelle: Thomson Reuters Datastream gleich zu welchem Preis, um sie zugel 75%, hier gegebenenfalls 80%“, Dez. rückzugeben. Banken und Fonds schrieb Middelberg seinem dama- Jan. verloren binnen weniger Tage mehligen Ministerpräsidenten Wulff. rere Milliarden Euro. Es ist ein Satz, der im Jahr 2008 Nun könnte man sagen, die Angeeignet war, viel Geld zu bewegen. leger hätten eben Pech gehabt und Hätte Wulff diese Aussage im Fesich verspekuliert. Wer mitunter bruar 2008 veröffentlicht, dann hätMilliarden gewinnt, kann auch mal ten manche Kapitalanleger ihr Geld Milliarden verlieren. vermutlich anders investiert, dann So einfach aber ist es nicht. Das wären ihnen Milliardenverluste erWertpapierhandelsgesetz will Anspart geblieben, die sie jetzt durch leger auch davor bewahren, ihr Klagen in den USA und Deutschland Geld falsch zu investieren, weil ein ersetzt bekommen wollen. Aber VWbörsennotiertes Unternehmen wichAufsichtsrat Wulff ging mit dieser Intige Informationen verschwiegen formation nicht an die Öffentlichkeit. hat. Das Schweigen des Christian Verfügt ein Unternehmen über Wulff und der Vermerk seines Miteine „konkrete Information“, die arbeiters Middelberg bieten den „geeignet ist, den Börsenpreis erhebklagenden Anlegern neue Munition. lich zu beeinflussen“, muss es diese Die Bedeutung der Notiz erschließt „unverzüglich veröffentlichen“. Als sich allerdings erst, wenn man kurz sogenannte Insiderinformationen zurückblickt ins Jahr 2008. Manager Wiedeking 2010: „Kleine Blechpatscher“
Wulffs Schweigen
CHR. ADOLPH / BRAUERPHOTOS
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DAVID HECKER / DAPD
VW-Aufsichtsrat Wulff*: Anleger fordern Milliarden Euro Schadensersatz
gelten „auch solche, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden“. In seinem internen Vermerk schreibt Middelberg, eine Erhöhung des Aktienanteils am VW-Konzern auf 75 Prozent sei das „mittelfristige Ziel von Porsche“. Middelberg warnte: Ein solcher Vertrag würde „Porsche den unmittelbaren Zugriff auf das untergeordnete Unternehmen VW einräumen, weil der PorscheVorstand dann direkt Weisungen an den VW-Vorstand geben könnte“. Schwerwiegende Konsequenzen drohten auch dem Land Niedersachsen, das im Wolfsburger Kontrollgremium zwei Plätze besetzt: „Der VW-Aufsichtsrat wäre de facto entmachtet.“ Nach Ansicht des Kapitalmarktexperten Oliver Maaß hätte Wulff dem VWAufsichtsrat über seine Information berichten müssen. Dieser hätte dann den VW-Vorstand informieren sollen, der über die Herausgabe einer ad-hoc-Meldung hätte entscheiden müssen. Auf die Frage des SPIEGEL, warum Wulff damals den VW-Aufsichtsrat nicht informiert habe, antwortet dessen Anwalt Christian von Lenthe: Wulff könne dazu keine Stellung nehmen, weil die Fragen einen unmittelbaren Bezug zu laufenden Klage- und Ermittlungsverfahren hätten. * Am VW-Stand auf der Hannover Messe 2009.
Er weist aber darauf hin, dass Wulff gegen die Entmachtung des Landes Niedersachsen gekämpft hatte. Deshalb sei die Behauptung, er habe von einem vorzeitigen Aufstockungswillen von Porsche gewusst und nichts unternommen, abwegig. Für die auf Schadensersatz klagenden Kapitalanleger ist Wulff nun dennoch eine zentrale Figur in ihrer Auseinandersetzung mit Porsche und VW. Anwalt Franz Braun, der 41 Banken, Versicherungen und Hedgefonds vertritt, sagt: „Wulff könnte das Zünglein an der Waage sein.“ Der VW-Konzern und Porsche sagen, dass sie die Klagen für unbegründet halten, und nehmen darüber hinaus keine Stellung, weil es sich um laufende Verfahren handelt. Die Konzerne sehen sich einer ganzen Flut von Schadensersatzklagen ausgesetzt. Vor einem New Yorker Gericht fordern US-Fonds mindestens eine Milliarde Dollar. Vor dem Landgericht Braunschweig sind Klagen gegen Porsche und VW in Höhe von gut zwei Milliarden Euro anhängig. Vor dem Landgericht Stuttgart fordern US-Investoren knapp zwei Milliarden Euro. Und die Erben von Adolf Merckle wollen von Porsche über 200 Millionen Euro erstattet haben, die der Pharmaunternehmer mit VW-Aktienoptionen verloren hatte. Im Kern geht es stets darum, ob Porsche und VW die Anleger während der Übernahmeschlacht korrekt und rechtzeitig informiert haben. D E R
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Bislang gab es nur Hinweise darauf, dass Wulff frühzeitig informiert gewesen sein könnte. Aber sie waren interpretationsbedürftig. Der Vermerk vom 12. Februar 2008 dagegen ist eindeutig. Middelberg hatte über diese und andere Notizen vor längerer Zeit ganz offen gesprochen, als er und Wulff noch stolz darauf waren, wie sie den Angriff von Porsche auf VW abgewehrt hatten. Er hatte sicher nicht geahnt, dass dieser Vermerk möglicherweise einmal eine wichtige Rolle für Schadenersatzklagen spielen könnte. Sonst hätte er geschwiegen. Am vergangenen Freitag wollte er keine Stellungnahme dazu abgeben. Realistisch einschätzen kann die juristische Gefechtslage derzeit wohl niemand. Viele Fragen sind offen. Beispielsweise, ob es dem VW-Konzern anzurechnen ist, dass sein Aufsichtsrat Wulff möglicherweise frühzeitig Hinweise auf die PorschePläne hatte? Ob der Autokonzern dafür haftbar gemacht werden kann, dass er, weil Wulff ihn nicht informierte, keine Meldung herausgegeben hat. Doch in Wolfsburg und Stuttgart ist die Nervosität hoch. Mehr als hundert Millionen Dollar hat Porsche klagenden Anlegern schon geboten, wenn sie ihre juristischen Angriffe einstellen. Die haben abgelehnt, weil sie sich höhere Entschädigungen versprechen. Ihre Neigung zum außergerichtlichen Vergleich dürfte nun noch geringer werden. DIETMAR HAWRANEK
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Wirtschaft
INDUSTRIE
Götterdämmerung Die Chinesen übernehmen den Betonpumpenhersteller Putzmeister und damit erstmals ein deutsches Unternehmen von Weltgeltung. Es dürfte nicht das letzte gewesen sein.
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tor, um gegen den Ausverkauf an die Chinesen zu protestieren. Gründer Schlecht tourte unterdessen auf Einladung der Käufer durch China. In einer Gästevilla in Changsha kümmerte sich ein Butler um ihn, Sany-Boss Liang Wengen stellte dem Deutschen eine seiner vier Maybach-Limousinen samt Chauffeur zur Verfügung. Mit dem Firmenhubschrauber ging es zum Geburtsort des einstigen Diktators Mao Zedong. Für das Entsetzen seiner Mitarbeiter in Aichtal hat Firmenpatriarch Schlecht kein Verständnis. Eine „Riesendummheit“ sei das. „Der Herrgott möge ihnen vergeben.“ Was Konkurrent Sany in China auf die Beine stelle, da ist sich Schlecht nach der Werkstour sicher, „danach kön-
IMAGO
ibt es für einen schwäbischen Unternehmer eine größere Schande als den Vorwurf, bei ihm sei es dreckig? Vielleicht den: Du hast dein Lebenswerk an die Kommunisten verkauft. Seit vorvergangenem Freitag muss Karl Schlecht mit diesem Urteil leben. Schlecht, 79, hat die Putzmeister Gruppe, sein Lebenswerk, an den Rivalen Sany verkauft, einen Baumaschinen-Giganten aus der Stadt Changsha im Süden Chinas. Der heimlich eingefädelte Deal habe am Firmensitz in Aichtal bei Stuttgart eine „Schockstarre“ ausgelöst, berichtet ein Betriebsrat. „Selbst der Aufsichtsrat wurde nicht informiert.“ Am vergangenen Montag versammelten sich 700 Mitarbeiter von Putzmeister vor dem Werk-
Manager Liang, Gründer Schlecht: „Sie sind mein Lehrer“
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nen wir uns nur die Finger lecken“. Etwas Besseres als die Übernahme habe Putzmeister nicht ieren können. Auch aus schwäbischer Perspektive war Schlecht restlos angetan: „Blitzsauber sah es da aus, wie geschleckt.“ Zu Hause in Aichtal ist man skeptischer. Der Verkauf so einer Marke sei „industriepolitisch eine Katastrophe, eine Götterdämmerung“, sagt Sieghard Bender, Leiter des IG-Metall-Büros in Esslingen. Tatsächlich markiert der Verkauf des Betonpumpenherstellers eine Zäsur. Die Chinesen greifen nicht mehr nach pleitebedrohten Hi-Fi-Herstellern oder zweitklassigen Solarunternehmen, sondern nach den „Hidden Champions“, den heimlichen Weltmarktführern, wie sie für die deutsche Industrie typisch sind. Allerdings hatte Putzmeister die Weltmarktführerschaft in den vergangenen Jahren verloren: an Sany. Der von den kommunistischen Machthabern entfachte Bauboom spülte Milliarden in die Kassen der Firma, die 1989 als kleine Schweißmaterialfabrik begann und heute weltweit 70 000 Mitarbeiter beschäftigt. Das chinesische Unternehmen hat eine ganze Palette von Maschinen im Angebot, die deutschen Herstellern den Angstschweiß auf die Stirn treiben – neuerdings etwa Tunnelbohrmaschinen, bisher eine Domäne des deutschen Mittelständlers Herrenknecht aus dem badischen Schwanau. Dessen Gründer Martin Herrenknecht verfolgt eine andere Strategie als der Unternehmer Schlecht: Er baute in China eine Fertigung auf, um die Nachfrage im Land zu bedienen. Am Freitag vergangener Woche besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit Ministerpräsident Wen Jiabao Herrenknechts Werk in der südchinesischen Stadt Guangzhou. Noch sind Sanys Verkaufsschlager allerdings Betonpumpen – auf Lkw montierte Gelenkmasten, durch deren Innenrohre das Zementgemisch auch 50 Meter hohe Stockwerke erreicht. Zusammengeklappt wirken die Teleskopstangen wie Zollstöcke, ausgefahren wie die Beine einer Riesenspinne. Fast 5000 Stück verkauft das Unternehmen davon im Jahr, allerdings fast nur in China. Im Rest der Welt liegt Putzmeister vorn – doch die Kopisten aus China setzten den Erfindern aus Aichtal mehr und mehr zu. „Die haben ihre Pumpen ja sogar in derselben Farbe lackiert wie wir“, sagt ein Betriebsrat. Weltbekannt wurden die Geräte als Katastrophenhelfer am strahlenden Reaktorrest in Fukushima; durch die Rohre konnte Wasser in die Gefahrenzone gepumpt werden. Doch bereits in Fukushima waren nicht nur Putzmeistergeräte vor Ort. Auch Sany hatte den Japanern eine Pumpe geschickt. Anders als der chinesische Boom-Betrieb, der 2010 sogar eine Fabrik bei Köln
KSM Castings Autozulieferer Citic
Chinesischer Einfluss
Direktinvestitionen in Deutschland in Mio. Euro
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Medion Computer Lenovo
Quelle: Chinesisches Handelsministerium
Dt. Firma Branche Chin. Firma
ABA Z&B Schleifmaschinen Hangzhou
Vensys Windkraftanlagen Goldwind
2007
Ermag Werkzeugmaschinen Jiangsu Jinsheng
Saargummi Autodichtungen CQLT
Assyst Bullmer Schneidemaschinen New Jack Sewing Machine
KHD Humboldt Wedag Zementanlagen AVIC
Preh Autosteuerungselemente Joyson Investment
2009
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2011
Beteiligungen im deutschen Mittelstand Quelle: Börsen-Zeitung
KSL Kuttler Automation Fotovoltaik Suntech Power
2008
GETTY IMAGES
2006
Flugplatz Parchim Logistik Jonathan Pang
Sany-Fabrik in Changsha: „Pumpen in derselben Farbe lackiert wie wir“
baute, hat Putzmeister schwere Zeiten bracht. Sein Vermögen wird auf über hinter sich. 2008 kollabierte der Markt, sieben Milliarden Euro geschätzt. Er gilt der Umsatz brach von einer Milliarde als Prototyp des neuen Kader-KapitalisEuro auf 440 Millionen ein. „Eine derar- ten, der zeigen soll, dass Macht und Geld tige Vollbremsung wie hier habe ich sel- in China längst Hand in Hand gehen: Im ten erlebt“, sagt Geschäftsführer Norbert Herbst soll er ins Zentralkomitee der Scheuch. Er kam 2009 auf Druck der Ban- Kommunistischen Partei einziehen. Dem verblüfften Schlecht überreichte ken als Sanierer. „Wir saßen auf Maschinenbestand im Wert von fast 500 Millio- Liang beim ersten Kennenlernen in Deutschland gleich dessen Porträt in Öl. nen Euro.“ Inzwischen sieht es wieder deutlich bes- „Sie sind mein Lehrer“, schmeichelte ihm ser aus, geschwächt blieb der schwäbische der Chinese. Mit dem Kaufvertrag hatte Mittelständler dennoch. Zudem, so Liang es dann ziemlich eilig: Die übliche Scheuch, könnten die meisten der Tele- Due-Diligence-Prüfung hielt er nicht für skop-Pumpen nachgebaut werden, „ohne nötig, für eine Betriebsbesichtigung hatte er keine Zeit. Am Ende stimmte für Patente zu verletzen“. Aus Sicht des Managers brauchte Putz- Schlecht vor allem das Geld: 525 Milliomeister einen starken Partner, Scheuch nen Euro (inklusive rund 165 Millionen bot die Firma deshalb quasi unter der Bankschulden) wird Liang die ÜbernahHand zum Kauf an. Im Dezember fiel sei- me kosten. „Das übertraf alles, was wir ne Wahl auf Sany. Gründer Schlecht, der erhofft hatten“, sagt Schlecht. Die Übernahme von Putzmeister könnzuvor noch skeptisch war, wurde von Sany-Boss Liang, 55, bereits in der zwei- te zur Blaupause der politischen Strategie ten Januarwoche ins noble Schlosshotel werden, die Billigfabrik China mit deutschem Know-how zum Hightech-Labor Kronberg im Taunus bestellt. Liang, einst ein sozialistischer Muster- umzurüsten. Genau darauf nämlich arbeiter in einer Waffenfabrik, hat es zu drängte Premier Wen, als er im verganeinem der reichsten Männer Chinas ge- genen Jahr forderte, die technologische D E R
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Stärke deutscher Firmen mit den Wettbewerbsvorteilen des chinesischen Arbeitsmarkts zu koppeln. Mit Putzmeister gelang jetzt der Durchbruch. Die bisherigen Bemühungen der Chinesen wirkten dagegen vergleichsweise hilflos. Zuerst bauten sie stillgelegte Kraftwerke ab und verschifften die Teile nach China, um sie dort wiederaufzubauen. Dann setzten sie auf Schnäppchenkäufe ehemals namhafter Pleitekandidaten – und mussten etwa beim Hi-Fi-Hersteller Schneider und dem Regionaljet-Hersteller Fairchild Dornier viel Lehrgeld bezahlen. Inzwischen konzentrieren sich die asiatischen Investoren auf einzelne Branchen wie die Solarindustrie, wo sie hierzulande inzwischen durch Beteiligungen und Zulieferverträge starken Einfluss haben. Dank der Übernahme von Putzmeister gerät nun der Markt für Betonpumpen in chinesische Hand: Am Putzmeister-Konkurrenten Schwing (Herne) sind sie stark interessiert, Cifa (Mailand) gehört ihnen bereits. Da es in den zukünftigen Wachstumsmärkten Asien, Afrika und Südamerika aber nicht unbedingt auf Technologieführerschaft, sondern günstige Geräte ankommt, könnten Putzmeister und Sany sogar gut zusammenen. „Wenn auch die Manager harmonieren, könnte daraus die erste chinesisch-deutsche Erfolgsstory entstehen“, sagt der Bonner Strategieexperte Hermann Simon. Technologisch, das gibt auch der Gewerkschafter Bender zu, ergebe die Übernahme Sinn. Er fordert von den Chinesen allerdings eine Arbeitsplatzgarantie bis 2020 und vom Gründer, seine Beschäftigten am Erlös zu beteiligen. Da viele Unternehmen aus Angst vor Rufschädigung eine chinesische Beteiligung verschweigen, kann nur geschätzt werden, wie viel chinesisches Geld hierzulande in den Unternehmen steckt (siehe Grafik). Verglichen mit den 20 Milliarden Euro an deutschen Investitionen in China sind die Summen noch bescheiden. Das gängige Muster „kopieren und liquidieren“ scheint inzwischen allerdings überholt. Im Gegenteil: Neuerdings setzen Manager aus China verstärkt auf den Standort Deutschland. Chinesisches Geld rettete etwa Arbeitsplätze beim Autozulieferer Saargummi, sogar Forschungszentren werden aufgebaut. Sany-Präsident Xiang Wenbo, Liangs rechte Hand, sagt: „Wir lassen Putzmeister, wie es ist.“ Xiang weiß, dass die Faszination für chinesische Maschinen nicht überall so groß ist wie in seiner Heimat. Vergangene Woche saßen bereits besorgte Vertreter eines arabischen Baumaschinenhändlers in der Putzmeister-Zentrale. „China“, beruhigt Sany-Präsident Xiang, „ist kein Monster.“ Aber auch die Deutschen müssten sich an einen „neuen chinesischen Stil“ gewöhnen. NILS KLAWITTER, WIELAND WAGNER
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Wirtschaft German Centre in Moskau
YEVGENY KONDAKOV / DER SPIEGEL
Mahnende Stimmen ignoriert
Moskauer Märchen Gut 100 Millionen Euro zahlte die Stuttgarter LBBW für ein Bürohaus in der russischen Hauptstadt, 30 Millionen landeten auf dubiosen Konten.
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roße Namen, großer Glamour, große Versprechen: Das war der Stoff, der in der Vergangenheit immer wieder öffentlich-rechtliche Banken aus der deutschen Provinz in die weite Welt lockte. Auch die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Die Schwaben zog es nach Moskau, in der Hoffnung auf das große Geld – und darauf, endlich das biedere Sparkassenimage loszuwerden. Die Moskwa-Halbinsel Nagatino, acht Kilometer südlich des Kreml, war so ein Ort der großen Versprechungen. Hier sollte nach einem Entwurf des britischen Stararchitekten Norman Foster eines der größten Business-und-Shopping-Zentren der Welt gebaut werden. Ein 450 Meter hohes, in Zeltform konzipiertes Gebäude, vier Milliarden Dollar teuer. Gleich nebenan wurde auf 120 Hektar eine 100 Millionen Dollar teure Formel70
1-Rennstrecke geplant, die erste Russlands. Es herrschte Goldgräberstimmung – auch bei den Stuttgarter Bankern der LBBW. Sie träumten von einer Heimstätte für die 3000 deutschen Firmen der Stadt. Von all den schönen Visionen blieb nicht viel. Fosters Mega-Projekt „Crystal Island“ kam nie über die Planungsphase hinaus. Und auch aus dem Moskauer Formel-1-Zirkus wurde nichts. Nur die schwäbischen Landesbanker verwirklichten im Jahr 2008 ihre hochfliegenden Pläne. Doch der elfstöckige Bürokomplex steht in weiten Teilen leer. Statt wie geplant 120 Mieter sind bislang nur 16 Firmen eingezogen, darunter die LBBW selbst. Potentielle Mieter meiden das Haus, weil es nur schwer zu erreichen ist. Zwar gibt es dort eine Schnellbahnlinie, allerdings keine Haltestelle. Man sei mit weiteren Interessenten im Gespräch, heißt es dazu aus der Bank.
SASCHA SCHUERMANN / DAPD
IMMOBILIEN
LBBW-Chef Vetter
Schleppende Prüfung D E R
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Die Anlaufverluste seien niedriger als geplant. Doch zu allem Überfluss muss jetzt, nur zwei Jahre nach Fertigstellung, auch noch die Fassade ersetzt werden, weil Feuchtigkeit ins Innere dringt. Pfusch am Bau aber ist noch das kleinste Übel eines Projekts, das der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger bei der Eröffnung Ende Mai 2009 als „Erfolgsmodell deutscher Außenwirtschaftspolitik“ gepriesen hatte. Viel schwerer wiegt, dass die LBBW offenbar fast ein Drittel der Kaufsumme des gut 100 Millionen Euro teuren Gebäudes an eine Firma in einer karibischen Steueroase überwies, deren wirtschaftlich Berechtigte sie bis heute nicht kennt. Steckt die Bank also im Moskauer Korruptionssumpf? Oder haben sich unbedarfte Banker aus dem Ländle von dubiosen Geschäftspartnern über den Tisch ziehen lassen? Die LBBW hatte sich zunächst damit schwergetan, ein geeignetes Grundstück für den Bürobau zu finden. „Entweder waren die Erstehungskosten zu hoch, die Lage war nicht geeignet, oder die sonstigen Risiken waren zu hoch“, heißt es in einem internen Papier des Instituts. Daher wandte sich der damalige LBBW-Chef Siegfried Jaschinski im August 2007 an Moskaus Oberbürgermeister Jurij Luschkow. Der Politiker, der wie kein anderer für die Korruption in Putins Riesenreich stand, wusste Rat. Es gebe da einen Projektentwickler, der habe zufällig gerade genau so ein Bürogebäude im Bau, wie es die LBBW brauche. Zum Fixpreis von 107 Millionen Euro, 2009 bezugsfähig, Probleme bei Plaung und Genehmigung seien nicht zu erwarten, das liege alles vor. So zumindest wurde das Projekt intern verkauft. Also gründete die LBBW zunächst eine Projektgesellschaft in Luxemburg unter dem Namen German Centre Moscow S.a.r.l., an der zu 20 Prozent eine „Ergomash Development Ltd“ beteiligt ist. Für die Firma trat ein gewisser Jurij Saikin auf. Saikin berate die Bank seit längerem im Immobiliengeschäft in Russland, hieß es bei der LBBW. Der Mann sollte angeblich eine große Nummer im russischen Energiegeschäft sein. Eigenartig nur, dass der Name Jurij Saikin dort weitgehend unbekannt ist. Das aber schien bei der Landesbank niemanden zu stören. Ebenso wenig wie die ungewöhnlichen Forderungen des Verkäufers. „Für den Kauf des Bürogebäudes in Moskau ist vom Verkäufer eine Zweiteilung des Geschäfts vorgesehen“, heißt es in dem internen Dokument. Für rund 30 Millionen Euro, also rund ein Drittel des Gesamtpreises, sollte die LBBW eine Projektgesellschaft namens „Flantir Ltd“ auf
Zypern kaufen. Verkäufer: eine Firma namens „Jacintha Ltd“ mit Sitz im OffshoreParadies British Virgin Islands. Wer hinter der Firma steckt, danach fragte in Stuttgart seinerzeit wohl niemand. Nur die Firma auf Zypern wurde von externen Anwälten der Bank überprüft. Bis heute weiß die LBBW nicht, wer wirtschaftlich von Jacintha und damit den LBBW-Millionen profitierte. „Das stank ganz gewaltig nach Korruption“, sagt heute einer aus der Bank, der zwischenzeitlich mit dem Projekt betraut war. „Das ist doch ein Moskauer Märchen zu glauben, man könne in Russland so ein Geschäft machen, ohne zu schmieren.“ Dabei riet die Immobilienabteilung der Bank zur Vorsicht. In einem neun Seiten umfassenden Papier zur Bewertung des Projekts erkannten die Verfasser durchaus das Risiko, „da der Ankauf der zypriotischen Objektgesellschaft von einer ,British Virgin Island‘-Gesellschaft erfolgt, welche auch unter Compliance-Gesichtspunkten zu hinterfragen ist“. Die mahnenden Stimmen fanden offensichtlich kein Gehör. „Die zähe Haltung des Verkäufers, in wesentlichen Vertragspunkten kein Entgegenkommen zu zeigen, aber auch die Verträge sehr einseitig zu überarbeiten, hatte uns bewogen, dieses Projekt nicht durchzuführen“, heißt es in einem Antrag für den Gesellschafterausschuss. Die politische Unterstützung durch die Moskauer Regierung habe aber letztlich zu einer positiven Entscheidung geführt. Seit Juni 2009 führt Hans-Jörg Vetter die Bank. Er war als Sanierer von der Landesbank Berlin geholt worden, nachdem die LBBW im Zuge der Finanzkrise von ihren Eigentümern, dem Land Baden-Württemberg, der Stadt Stuttgart und den Sparkassen, mit Milliarden gestützt werden musste. Vetter ließ das Moskau-Projekt untersuchen, zunächst von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Seit 2010 liegt der Fall zur Haftungsprüfung bei der Anwaltskanzlei White & Case. Mehr als zwei Jahre schleppt sich die Prüfung hin. Erst jetzt kommt wieder Fahrt in die Angelegenheit, denn plötzlich interessierte sich die neue Landesregierung für die Vorgänge rund um das German Centre. Das Wirtschaftsministerium bohrte bei der LBBW nach. Jetzt soll am 23. Februar im Aufsichtsrat ein Abschlussbericht präsentiert werden. Ob bis dahin geklärt ist, wer die 30 Millionen Euro erhalten hat, ist eher unwahrscheinlich. Ein renommierter Wirtschaftsjurist sieht daher in dem Vorgang einen Fall für den Staatsanwalt. „Wenn die Bank nicht belegen kann, dass die von ihr gekaufte Projektgesellschaft all die Millionen wert ist, ist es Untreue oder Korruption – wahrscheinlich beides.“ MARTIN HESSE, MATTHIAS SCHEPP, JÖRG SCHMITT
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THOMAS LOHNES / DAPD
Wirtschaft
BÖRSEN
Emir sei Dank Die Deutsche Börse ist mit ihren Fusionsplänen gescheitert. Doch um ihre Zukunft muss sie nicht bangen: Es winken dicke Geschäfte in bisher unregulierten Märkten.
N
ur mühsam wahrte Reto Francioni die Contenance. „Dies ist ein schwarzer Tag für Europa“, sagte der wütende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Börse am vergangenen Mittwoch. Der EU-Wettbewerbskommissar hatte gerade die Fusion seines Unternehmens mit der New York Stock Exchange untersagt, für die Francioni schon seit vielen Jahren kämpft. Es war vor allem ein schwarzer Tag für Francioni, der gern als Verwaltungsratsvorsitzender der Megabörse über den Niederungen des Alltags schweben wollte. Doch für die Deutsche Börse ist die Absage ein Segen. Denn über die Geschicke des Konzerns wäre in Zukunft eher an der Wall Street als am Unternehmenssitz in Eschborn vor den Toren von Frankfurt entschieden worden. Auch ohne die ungleiche Liaison mit den Amerikanern bieten sich glänzende D E R
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Geschäftsaussichten für das Unternehmen, das immer noch Gewinnmargen von 50 Prozent erzielt. Europas Gesetzgeber sind dabei, dem unregulierten Finanzmarkt endlich erste Fesseln anzulegen. Viele Geschäfte sollen nicht mehr in den Hinterzimmern gedealt, sondern auf das Börsenparkett gezwungen werden. Der natürliche Profiteur dieser Entwicklung ist die Deutsche Börse AG, die in Europa viele Marktbereiche dominiert. In ganzseitigen Anzeigen hatte Francioni vor der Entscheidung Stimmung gegen EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia gemacht. Mehr als 80 Prozent der Umsätze im wichtigen Derivategeschäft würden außerhalb der offiziellen Börsen gemacht. Deshalb läge der Marktanteil der beiden Fusionskandidaten bei diesen Geschäften nicht, wie von der Kommission verkündet, bei 90, sondern eher bei 15 Prozent.
Börsenchef Francioni
Gewinnmargen von 50 Prozent
Doch der Spanier ließ sich nicht beirren: „Wäre die Fusion erlaubt worden, hätte das zu einem Quasi-Monopol geführt, mit negativen Konsequenzen für den Markt.“ Und der Wettbewerb wäre noch mehr eingeschränkt worden, wenn erst mal die neuen Regeln über den Handel mit Derivaten in Kraft getreten sind, die demnächst in Brüssel beschlossen werden. Der Wert von Derivaten leitet sich ab von der künftigen Preisentwicklung bei Rohstoffen, Aktien, Zinsen, Devisen oder auch Staatspapieren. Es geht manchmal um wirkliche Sicherungsgeschäfte, wenn sich beispielsweise Siemens gegen eine Erhöhung des Dollarkurses in der Zukunft absichern will. Aber oft wird auch nur gewettet, auf das Wetter von morgen, den Brotpreis von übermorgen oder die Existenz des Euro im nächsten Jahr. Zurzeit sind außerbörsliche Derivate mit einem Nominalwert von 700 Billionen Dollar im Umlauf. Das ist eine Zahl mit 14 Nullen, es entspricht dem Zehnfachen aller auf der Welt geschaffenen Güter und Dienstleistungen. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr französischer Kollege Nicolas Sarkozy einmal wissen wollten, wie viele Wetten eigentlich gegen einzelne EuroLänder laufen, konnte ihnen in Europa niemand helfen. Die Aufsichtsbehörden tappten im Dunkeln. Nur die Amerikaner, die nach der Finanzkrise einige Melde-
pflichten eingeführt hatten, lieferten irgendwann Zahlen. Dank Emir soll es solche Peinlichkeiten in Zukunft nicht mehr geben. So heißt die Verordnung der EU, die möglichst noch in diesem Monat durch das EU-Parlament verabschiedet werden soll. Zurzeit geht es in einem sogenannten Trilog zwischen Kommission, Parlament und den EU-Regierungen nur noch um das Detail, welche Rolle die nationalen Aufseher und die europäische Börsenaufsicht ESMA spielen sollen. Deutsche und Briten kämpfen dafür, dass die Macht der ESMA nicht zu groß wird. „Alle Derivate müssen künftig registriert werden“, sagt der CDU-Abgeordnete Werner Langen, der für Emir zuständige Berichterstatter des EU-Parlaments. Damit erhalten die Aufsichtsbehörden ab Anfang 2013 erstmals standardisierte Daten über den Umfang und die Art der Geschäfte. So sollen exzessive Risiken, die Banken oder andere Marktteilnehmer eingehen, künftig früher sichtbar werden. „Dies ermöglicht eine mikro- und makroprudenzielle Bewertung der Positionen einzelner Akteure“, heißt es bei der deutschen Finanzaufsichtsbehörde BaFin. Gleichzeitig soll die Abwicklung der außerbörslichen Geschäfte nicht mehr in den Hinterzimmern der Banken, sondern über eine zentrale Gegenpartei bei offiziell zugelassenen Abwicklungsgesellschaften erfolgen. Wenn ein großer Marktteilnehmer wie 2008 die US-Bank Lehman umkippt, soll nicht mehr die ganze Finanzwelt Richtung Abgrund trudeln,
Derivate Ausstehender Nominalwert außerbörslich gehandelter Verträge nach Typ, in Billionen Dollar insgesamt
707,6
Zinsen
553,9 Devisen 64,7 Kreditausfallversicherungen 32,4 Aktien 6,8 Rohstoffe 3,2 Sonstige 46,6 Quelle: BIZ; Stand: Juni 2011
Derivate sind Termingeschäfte, die zur Absicherung von Risiken genutzt werden können – wegen des geringen Kapitaleinsatzes aber auch zu riskanten Spekulationsgeschäften. D E R
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weil keiner mehr für die Geschäfte der Bank einsteht. Nun sollen die Kontrakte des Pleitekandidaten bei sogenannten Clearinghän abgewickelt werden, die dafür je nach Risiko ein Pfand verlangen. „Wir konnten nach der Lehman-Pleite ganz schnell alle Positionen sicher abwickeln“, sagt Stefan Mai von der Deutschen Börse. Über ihre Tochtergesellschaften ist die Deutsche Börse der größte Abwickler in Europa. Wenn nun auch die außerbörslichen Geschäfte dazukommen, wird der Umsatz deutlich steigen. „Wir versuchen, nicht zu euphorisch zu sein, sind aber durchaus optimistisch“, sagt Mai. Nur die Unternehmen, die reale Geschäfte absichern wollen, brauchen künftig keinen offiziellen Abwickler. Auch Volksbanken und Sparkassen können sich der Kontrolle entziehen. Bis Ende 2012 soll auch der außerbörsliche Handel aller standardisierten Derivate an offiziell registrierten Börsen erfolgen. Das haben die Regierungschefs der G-20-Länder schon 2009 bei ihrem Gipfel in Pittsburgh entschieden. Wer nicht zentral abwickelt, soll unter anderem mit höheren Kapitalanforderungen bestraft werden. Auch wenn hier die Details noch in einer weiteren Brüsseler Verordnung geregelt werden müssen, kann die Frankfurter Börse ebenfalls zu den Hauptprofiteuren dieser Entwicklung zählen. In diesem Jahr will sie die Abwicklung sogenannter Zins- und später Aktienswaps anbieten, mit denen man auf die Zins- und Börsenentwicklung der Zukunft wetten kann. Allerdings sind die Konkurrenten hellwach, nicht zuletzt deshalb, weil die Deutsche Börse im Zuge des Genehmigungsverfahrens für das Fusionsvorhaben ihre Profitmargen offenbaren musste. Amerikanische Wettbewerber haben sich in London positioniert. Zudem hat die Börse in den großen Investmentbanken mächtige Gegenspieler. Sie werden alles daransetzen, ihre außerbörsliche Spielwiese möglichst groß zu halten. Hunderte Lobbyisten in Brüssel, London und Berlin sind äußerst rührig. Ob Francioni die Zukunft der Deutschen Börse noch mitgestalten kann, ist vorerst unklar. Am 13. Februar ist die nächste Aufsichtsratssitzung. Dort will Aufsichtsrat Johannes Witt „eine gründliche und ergebnisoffene Diskussion über die Konsequenzen aus dem Fusionsdesaster“ fordern. Zumindest die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wollen auf der Sitzung die „Fehleinschätzungen“ Francionis thematisieren. Sein Vertrag läuft noch bis Ende 2013. Im Mai muss der Aufsichtsratsvorsitzende Manfred Gentz aus Altersgründen ausscheiden, der Francioni bisher immer gestützt hat. CHRISTOPH PAULY
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Wirtschaft
Legendär logisch Die Finanzmärkte überschütten die Bundesrepublik mit Geld, die Zinsen liegen niedriger denn je. Ist Deutschland der heimliche Profiteur der Euro-Krise?
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ario Monti ist ein grundsolider Italiener; der römische Ministerpräsident fühlt sich der deutschen Stabilitätskultur eng verbunden. Trotzdem stichelt er seit Wochen gegen Berlin, auch weil er in Finanzminister Wolfgang Schäuble einen heimlichen Nutznießer der Euro-Krise sieht. Deutschland, sagt Monti, profitiere mehr vom Euro als andere. Auch deutsche Experten sind überzeugt, dass die Bundesrepublik an der Währungsmisere verdient, während andere verlieren. Weil das Land auf dem Dauerkrisen-Kontinent als sicherer Hafen gilt, schütten Investoren die Bundesrepublik derzeit mit Milliarden zu. Das drückt die Zinsen für Bundesanleihen auf historische Tiefstände. „Deutschland lebt derzeit auf Kosten der anderen Euro-Länder“, sagt Theodor Weimer, Vorstandschef der HypoVereinsbank. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat den Profit der Mini-Zinsen sogar berechnet. Mittelfristig spare der Finanzminister 45 Milliarden Euro. Entsprechend wächst der Druck auf die Bundesregierung, noch mehr Geld für die Euro-Rettung lockerzumachen. Deutschland, so das Argument, kann nicht gleichzeitig Krisengewinnler und knaig sein. Die vermeintliche Logik verbreitet sich derzeit überall in Europa. Sie hat nur einen Haken: Sie ist eine Legende. Wer untersucht, welche Folgen die Euro-Misere für die deutschen Staatsfinanzen hat, stellt rasch fest, dass ihre Kosten die Vorteile bei weitem übersteigen. „Andere sind vielleicht noch härter getroffen, aber Deutschland ist ein eindeutiger Verlierer der Schuldenkrise“, sagt Clemens Fuest, künftiger Chef des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen ist kein Land so hohe Verpflichtungen eingegangen wie die Bundesrepublik, um die Gemeinschaftswährung zu stabilisieren. Zum anderen sind die Krisengewinne geringer als gedacht. So hält das Finanzministerium die Zahlen des IW für fragwürdig. Die Projektion basiere auf einer Momentaufnahme. Daraus ließen sich jedoch keine belastbaren 76
langfristigen Schätzungen über die Zinsersparnis ableiten. Nur der bisherige Vorteil, so die Beamten, sei seriös bezifferbar. Das Ergebnis: Seit 2009 sind nur ein paar Milliarden Euro zusammengekommen. Diesem Gewinn stehen absehbare Verluste und potentielle Risiken entgegen. Allein dem überschuldeten Griechenland haben die Staaten der Währungsunion mehr als 50 Milliarden Euro geliehen. Mit 15 Milliarden Euro kommt der größte Teil dieser bilateralen Kredite aus Deutschland. Dass der Finanzminister dieses Geld in vollem Umfang wiedersieht, glauben höchstens noch notorische Optimisten.
Steigende Schulden – sinkende Lasten Veränderung gegenüber 1993, in Prozent
150
Quelle: Bundesfinanzministerium
100
Schulden des Bundes 50
Zinsausgaben des Bundes geschätzt 0 93 1995
2000
2005
2011
FRANCOIS LENOIR / REUTERS
S TA AT S F I N A N Z E N
Finanzminister Schäuble
Deutsche Schulden zur Rettung Europas D E R
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Griechenland ist so heillos verschuldet, dass der Verzicht der privaten Gläubiger den Staat nicht retten wird. Entsprechend wächst die Erkenntnis, dass früher oder später auch die öffentlichen Geldgeber auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten müssen. Bei einem Schuldenschnitt in Höhe von 50 Prozent wären für den deutschen Finanzminister fast acht Milliarden Euro verloren – und der Zinsgewinn der vergangenen Jahre bereits mehr als aufgezehrt. Bei diesem Verlust wird es kaum bleiben: Auch die Europäische Zentralbank steht massiv unter Druck, Athen einen Teil der Schulden zu erlassen. Käme es so weit, müsste Deutschland als einer der Haupteigentümer der Bank die entstehenden Defizite am Ende ausgleichen. Im Fall der Fälle würde dafür ebenfalls ein Milliardenbetrag fällig. Griechenland ist das offensichtlichste Risiko für den Bundeshaushalt, aber es ist nicht das einzige. Im Rahmen des temporären Rettungsschirms EFSF, der über ein Gesamtvolumen von mehr als 700 Milliarden Euro verfügt, bürgt die Bundesrepublik für 211 Milliarden Euro. Allein Portugal bekommt fast 30 Milliarden Euro direkt aus dem Rettungsfonds. Und die Märkte haben sich in den vergangenen Tagen mehr denn je auf das Land eingeschossen. Viele Ökonomen halten es für unvermeidlich, dass auch Portugal entschuldet werden muss. Dann drohen Schäuble weitere Verluste. Bereits im Juli soll der dauerhafte Rettungsfonds ESM seine Arbeit aufnehmen, der nicht nur mit Garantien ausgestattet wird, sondern zusätzlich mit einer Bareinlage in Höhe von 80 Milliarden Euro. Es fließt also echtes Geld, allein aus Deutschland rund 22 Milliarden Euro. Ursprünglich sollte der Betrag in fünf Tranchen eingezahlt werden. Doch angesichts der noch immer ungelösten Schuldenkrise zeichnet sich ab, dass die EuroMitglieder bereits früher mehr Geld fließen lassen. Denkbar ist im Extremfall sogar, dass die Bundesrepublik ihren Kapitalanteil schon 2012 voll einzahlt. Der Finanzminister kann den MultiMilliardenbetrag allerdings nicht aus dem laufenden Etat begleichen, er muss einen Nachtragshaushalt beantragen und zur Rettung Europas zusätzliche Schulden aufnehmen. Selbst bei den aktuellen Mini-Zinsen kostet ihn die Bareinlage im Zweifel dann einige hundert Millionen Euro pro Jahr. Und das dauerhaft. Angesichts all dieser Belastungen ist der deutsche Finanzminister bereits jetzt alles andere als ein Krisengewinner. Und schon bald kann er zum großen Verlierer des Schuldendesasters werden. „Dass Deutschland am Ende mit einem Plus aus der Krise hervorgeht“, sagt Euro-Experte Fuest, „wäre ein großes Wunder.“ SVEN BÖLL
Trends
Medien D I G I TA L -T V
ZDFkultur macht auf jung OLIVER BERG / DPA
Der Digitalkanal ZDFkultur will sich verjüngen. „Wir wollen uns noch stärker den 20- bis 30-Jährigen zuwenden“, sagt Programmchef Daniel Fiedler. Neben Popkonzerten sollen künftig Übertragungen von ComputerspielWettbewerben sowie Fun-Sportarten vom BMX-Fahren bis zum Surfen feste Bestandteile des Programms sein. Mit der neudefinierten Zielgruppe will sich der Kanal stärker vom Schwestersender ZDFneo absetzen, der sich an Zuschauer bis 49 Jahre richtet – und sich so eine größere Daseinsberechtigung schaffen. Eine Umbenennung von ZDFkultur ist laut Programmchef Fiedler zurzeit jedoch kein Thema.
ARD-Vorsitzende Piel
Internetangebot der „Tagesschau“ MEDIENPOLITIK
ZDF KULTUR
Online-Kompromiss spaltet ARD Die Online-Verantwortlichen der ARD gehend verzichten. Die RKO fürchtet wehren sich gegen das Vorgehen mehre- „weitreichende negative Auswirkungen rer ARD-Intendanten, die den Zeitungs- und Eingriffe in den Bestand und die verlegern im Streit um Grenzen des öf- Entwicklung“ der ARD-Online-Angebofentlich-rechtlichen Rundfunks im Inter- te. SWR-Intendant Peter Boudgoust hatnet weitreichende Zugeständnisse ma- te die Stellungnahme erbeten. Er ist in chen wollen. Die Redaktionskonferenz der ARD für Online zuständig, war aber Online (RKO) lehnt in einem „fachlichen nicht an den Gesprächen mit den VerleVotum“ den Entwurf einer gemein- gern beteiligt, die unter Federführung samen Erklärung von Öffentlich-Recht- der ARD-Vorsitzenden Monika Piel stattlichen und Zeitungsverlegern ungewöhn- fanden. Auch die Redakteursausschüsse lich deutlich ab. Nach dem Entwurf wür- von ARD und ZDF warnten Piel vor eiden ARD und ZDF online auf eine ei- nem Kompromiss, „der die Zukunft von genständige Text-Berichterstattung weit- ARD und ZDF im Internet gefährdet“.
Konzertübertragung
NIGGEMEIERS MEDIENLEXIKON
Shit|storm der: Empörungswelle im Netz, häufig pawlowsch
Wolf Schneider (Bild) wird reflexartig „Sprachpapst“ genannt, würde den Titel aber sicher selbst als Untertreibung ablehnen. Er ist Deutschlands bekanntester Journalistenausbilder und ein Vertreter der ganz alten Schule, wenn nicht sogar ihr Direktor. Er ist also das perfekte Ziel für einen Shitstorm. Schneider würde natürlich nicht von einem „Shitstorm“ sprechen. Von einem Empörungssturm, vielleicht, und im konkreten Fall auch nur im virtuellen Wasserglas. Schneider hat zusammen mit Paul-Josef Raue eine Neuauflage seines Journalistenhandbuchs geschrieben, das der Verlag ein „Standardwerk“ nennt. „Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus“
heißt es, was ungefähr so sinnvoll ist wie eine „Rezeptsammlung für Kochen und Kochen in Töpfen“. Es finden sich tatsächlich in den einschlägigen Kapiteln genügend Ungenauigkeiten und Missverständnisse, um mit etwas bösem Willen das Vorurteil vom alten Papiertiger zu bestätigen, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, sie anderen aber deuten will. Und so schwoll in Blogs ein erwartbares Getöse an. Niemand musste das Buch gelesen haben, um mitzureden; jeder konnte ansatzlos mitschimpfen auf diese Leute, die so unverschämt sind zu behaupten, dass im Internet Leute über Dinge reden, die sie gar nicht kennen. Dass Schneider und Raue das Internet keineswegs so verteufeln, wie ihnen ihre Kritiker vorwerfen – das ging im Getümmel unter. Klassischerweise enden Shitstorms damit, dass ihr D E R
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Auslöser angesichts der Menge an Kotflug überzeugt oder wenigstens beeindruckt ist. Doch zunehmend gibt es einen Effekt, bei dem die Reaktionen der sich provoziert fühlenden Internetnutzer so berechenbar sind, dass sie den Provokateur bestärken. Als der CDUBundestagsabgeordnete Ansgar Heveling vorige Woche der „Netzgemeinde“ in einem wirren Pamphlet Vorwürfe machte und ihr zurief: „Ihr werdet den Kampf verlieren“, wirkte er nur so lange als Depp, bis die „Netzgemeinde“ in ihrer vollen kindischen Wucht reagiert hatte, Twitter-Witzkaskaden und Hacken der Homepage inklusive. Der ungewollte Effekt eines solchen Shitstorm: Diejenigen, die sich über einen Vorwurf empören, bestätigen diesen durch ihre Empörung. Man möchte es „self-fulfilling provocy“ nennen, schon weil es Wolf Schneider nicht gefiele. 77
Neue Arena von Baku (Computersimulation)
FERNSEHSHOWS
„Wir sind die Guten“ GMP
Der Schlager-Grand-Prix als Politikum: Aserbaidschan will den Eurovision Song Contest nutzen, um sich als modernes Land darzustellen. Bürgerrechtler hoffen, die Aufmerksamkeit auf die Menschenrechtsverletzungen lenken zu können.
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en besten Blick auf die Eurovisions-Arena hat man aus dem neunten Stock des Wohnhauses in der Agil-Gulijew-Straße 5. Links liegt das Stadtzentrum von Baku mit seinen renovierten Altstadtmauern und den glitzernden neuen Wolkenkratzern. Daneben breitet sich bis zum Horizont das Kaspische Meer aus. Direkt vor dem Haus beginnt der Nationale Flaggenplatz, auf dem an einem 162-Meter-Mast eine gewaltige Fahne Aserbaidschans weht. Und dahinter, am Ende einer Landzunge, entsteht die neue „Kristall-Halle“. Niemand genießt diese Aussicht. Es stürmt. Baku ist die Stadt der Winde. Im neunten Stock des Hauses hat jemand alle Fenster aus den Wänden geschlagen. Überall liegt Schutt. In den Ecken haben sich kleine Schneewehen gebildet. Hier haben vor kurzem noch Familien gewohnt, aber die Etage ist inzwischen leer. 78
Neben dem Haus wartet schon ein Kran Das Wohnhaus in der Agil-Gulijewauf Arbeit. Vermutlich werden sie bald Straße 5 ist zu einem Symbol geworden. das Dach abreißen. Dann regnet es durch, Zu einem Symbol für die Rücksichtsloin die Wohnungen der Menschen, die in sigkeit, mit der die Stadt sich im Ölden unteren Etagen leben. Rausch zu einer prachtvollen Metropole Wenn sie jetzt das Treppenhaus hoch- nach dem Vorbild des Westens – oder Dusteigen, kommen ihnen feixende junge bais – umbaut. Für die Willkür eines korLeute mit Sägen und Bohrern entgegen. rupten Staates, in dem Rechte oft nur auf Dann fehlt vielleicht wieder irgendwo ein dem Papier existieren. Und für die zwieWasserrohr. Ein Stromkabel hängt offen spältige Rolle, die ein Ereignis wie der im Flur. Eine Wand ist aufgebrochen. Schlager-Grand-Prix spielt, wenn es unter Oder das Gas ist weg. Die jungen Leute, diesen Voraussetzungen stattfindet. sagen die Bewohner, sind von der Stadt. Die European Broadcasting Union Es ist lebensgefährlich, hier noch zu le- (EBU) veranstaltet den Song Contest. Sie ben, und das hat System. Die restlichen sagt, sie sei nicht verantwortlich für das, Bewohner sollen ausziehen. Es wird Zeit: was mit dem Haus iert. Sie habe In dreieinhalb Monaten werden Tausende niemanden aufgefordert, neue Hallen zu Besucher zum Eurovision Song Contest bauen oder alte Hä abzureißen. Sie (ESC) erwartet. Eine große Durchgangs- habe überhaupt jetzt erst die Kristallstraße und ein feiner Boulevard am Meer Halle als Veranstaltungsort genehmigt. werden dann zur Kristall-Halle führen. Dort sei vorher nur Ödland gewesen. Das Haus ist das letzte, das hier noch steht. Und die Stadt habe ihnen gezeigt, dass D E R
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Medien
NIGEL TREBLIN / DAPD
LUMMA / THOMAS & THOMAS
die Umbaupläne, denen die Hä wei- habe den Termindruck und die Misshand- Modernität nicht nur westlichen Städtechen müssen, schon gemacht wurden, be- lungen der Menschen noch verschärft, bau und Konsum versteht, sondern auch vor Aserbaidschan den Wettbewerb im sagt Rachel Denber von der Menschen- das Recht auf freie Meinungsäußerung vergangenen Mai gewann und damit das rechtsorganisation Human Rights Watch. oder Versammlungsfreiheit. Die Organisation „Reporter ohne GrenRecht, ihn nun im eigenen Land aus- „Die EBU müsste offen mit den Vorwürzutragen. fen umgehen und Garantien von der aser- zen“ führt Aserbaidschan in ihrer RangFür die europäischen Veranstalter baidschanischen Regierung verlangen, liste der Pressefreiheit nur noch auf Platz spricht Sietse Bakker, ein 27-jähriger nie- dass alle Zwangsräumungen so lange ge- 162 – von 179. Aktivisten und unabhängiderländischer Jungunternehmer und Au- stoppt werden, bis sichergestellt ist, dass ge Journalisten sind Repressionen austor eines Motivationsbuchs. Er redet mit sie fair und transparent und nach dem gesetzt. Sender wie BBC und Radio Liberty mussten vor drei Jahren ihre Raroutinierter Gelassenheit, distanziert sich Gesetz durchgeführt werden.“ Jörg Grabosch, der Chef der deutschen diofrequenzen abgeben. Im Frühjahr 2011 von allem – und wird schließlich doch zu einer Art Sprecher der Regierung: Die Firma Brainpool, die die gigantische Fern- ging die Regierung massiv gegen DeZwangsgeräumten würden ordentlich ent- sehshow für die Aseri produzieren wird, monstranten vor. Human Rights Watch schwärmt von dem Tempo, in dem die urteilt, dass sich die Menschenrechtslage schädigt. Werden sie? Die Menschen, die noch Veranstaltungshalle gebaut wird. „Um die im vergangenen Jahr verschlechtert habe im Haus wohnen, sagen, sie kämpften Hä ist es nicht schade“, sagt er ange- – trotz der Bemühungen um internationales Prestige. nicht darum, dort wohnen bleiben zu kön- sichts der grauen Mauern. Es war Aserbaidschan wichtig, den Leila Junus ist eine Institution im Land. nen. „Wir wollen nur die Entschädigung, die uns nach dem Gesetz zusteht“, sagt Grand-Prix zu gewinnen. Unterstützt von Sie kämpft hier schon seit den Zeiten der Sadir Gulamirow, ein pensionierter der Frau des Präsidenten Ilcham Alijew Sowjetunion für Bürgerrechte. „Es wird Hauptmann der Armee. „Für das Geld, ging das Land professionell daran, Bei- immer schlimmer“, lautet ihr schlichtes das sie uns bieten, können wir keine Woh- träge zu produzieren, die in Europa ge- Urteil. „Es gibt keinen Respekt vor dem nung finden, in der wir leben können“, fielen. Für das autoritäre Regime – Op- Gesetz und keinen Respekt vor der Mopositionelle sprechen von einer „Mafia“, ral.“ Junus ist eine kleine, resolut wirkensagt seine Frau Kadija. Die Bewohner haben Dokumente ko- die das Land regiert – ist es ein Erfolg, de Frau, aber unter ihren Augen liegt ein piert, um ihre Rechte zu belegen. Sie er- der bei der Bevölkerung Eindruck macht feuchter Schimmer. Sie habe mit Depresklären, wie die Grundstücksgröße falsch und zum Stolz der erst seit 20 Jahren wie- sionen zu kämpfen, sagt sie, seit die Beberechnet worden sei. Sie erzählen auf- der unabhängigen Nation beiträgt. hörden im vergangenen Jahr ihr Büro abDas ehemalige Regierungsmitglied Mi- gerissen haben. Sie selbst war nicht da. gebracht und teils unter Tränen von vergeblichen Eingaben, Briefen, Klagen – chail Dschabbarow, ein Berater des staats- Alles wurde zerstört – vor allem die und der Weigerung von Polizei und Justiz, nahen Fernsehsenders Ictimai, der den Kampfmoral. „Viele Leute haben hinteretwas zu tun. Song Contest in diesem Jahr ausrichtet, her über mich gesagt: Was können wir Zwangsräumungen unter dubiosen Um- beschreibt das Bild, das Aserbaidschan von ihr erwarten, wenn sie nicht einmal ständen seien kein Phänomen, das erst der Welt von sich vermitteln möchte, so: ihre eigenen Räume schützen kann?“ mit dem Eurovision Song Contest nach „Ein modernes, säkulares Land, das stolz Einschüchterung und Angst – darauf Baku gekommen ist. Aber das Ereignis ist auf seine Wurzeln.“ stützt sich nach Ansicht örtlicher BürgerDas Urteil darüber hängt wesentlich rechtler die Macht der Regierung. Emin * Alina Süggeler, Thomas D und Stefan Raab. davon ab, in welchem Maße man unter Husseinow vom Institute for Reporters
Aserbaidschanisches Sieger-Duo beim Song Contest 2011, Jury der Casting-Show „Unser Star für Baku“*: „Wandel durch Annäherung“ D E R
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MARKUS BRANDT / DPA
Medien
Hauptstadt Baku: Zwangsräumungen unter Termindruck
Freedom and Safety zögert deshalb auch, beauftragte versucht, mit Hilfe des ESC in der Freilassung einer Reihe inhaftierter Aufmerksamkeit für sein Amt zu geJournalisten in der jüngeren Zeit einen winnen.“ Immerhin hat Löning es geschafft, die Beweis dafür zu sehen, dass die Regierung deren Rechte ernster nehme: Viele Aufmerksamkeit der regierungsfreundJournalisten hätten die Lektion gelernt lichen Presse in Aserbaidschan zu gewinund übten sich in Selbstzensur. „Es gibt nen. Die Zeitung „SES“ nannte ihn vorzwar eine Oppositionszeitung, die den vergangene Woche einen „Besoffenen“, Präsidenten einen Diktator nennen darf. stellte ihn als Marionette des Erzfeindes Aber das ist ungefährlich für die Regie- Armenien da und unterstellte ihm ein rung. Gefährlich wäre es, wenn Journa- Verhältnis mit Leila Junus. Einen Tag später fand im Baku Busilisten anfingen, die betrügerischen wirtschaftlichen Verwicklungen seiner Fami- ness Center eine denkwürdige Pressekonlie zu recherchieren.“ Für die Regierung ferenz der aserbaidschanischen und insei der ESC ein „teures Spielzeug, um ihr ternationalen Verantwortlichen für den ESC statt. Offen fragten Journalisten nach Image zu verbessern“. Die Bürgerrechtler fordern dennoch den Rechten von Homosexuellen und pokeinen Boykott. Sie versuchen eine Stra- litischen Gefangenen. Andere einheimitegie, die das Ereignis umarmt – auch um sche Journalisten reagierten darauf emdie Bevölkerung nicht gegen sich aufzu- pört und machten den Fragestellern Vorbringen, die sich auf das Spektakel freut. würfe. Eine Frau fragte die EBU-Leute, „Sing for Democracy“ heißt ihre Kampa- was sie denn beabsichtige, gegen die gne. Sie will die internationale Aufmerk- „Black-PR“ zu tun, die vermeintliche samkeit nutzen und auf die Abgründe Schmutzkampagne, die etwa die BBC gegen Aserbaidschan fahre. hinter der schönen Fassade hinweisen. Jon Ola Sand, der Generalsekretär des Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, hat im ESC, wies vom Podium fast pädagogisch Januar Briefe an die Teilnehmer des deut- darauf hin, dass „jeder Kommentar und schen Vorentscheids geschrieben und an jede Frage hier willkommen sind, denn die Jury um Stefan Raab, in dem er sie das ist die Rolle der freien Presse“. Die EBU versucht eine Gratwandebittet, öffentlich für Menschenrechte in Aserbaidschan einzutreten. „Wenn Stefan rung. Sie betont, der Song Contest sei Raab das täte, hätte das Gewicht und eine „unpolitische Veranstaltung“ und würde ganz andere Leute erreichen“, sagt verweigert jede offene Kritik an der Reer. „Es gibt jetzt ein politisches Zeit- gierung. In einer Presseerklärung weist fenster, das man nutzen muss.“ Tho- sie auf ihre „Werte“ und ihr grundsätzlimas Schreiber, der Unterhaltungskoordi- ches Eintreten für Meinungsfreiheit hin nator der ARD und so etwas wie der deut- und betont gleichzeitig, dass der Grand sche Grand-Prix-Chef, kommentiert das Prix auch 1969 in Spanien unter Franco eher abschätzig: „Der Menschenrechts- stattgefunden habe. 80
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Die Logik ist schlicht: „Wir sind eine positive Veranstaltung und glauben, dass wir eine positive Wirkung haben.“ Sand sagt: „Wir sind die Guten“ – und wirkt fassungslos, wenn er damit konfrontiert wird, dass der ESC in einem Land wie Aserbaidschan nicht nur ein Teil der Lösung, sondern des Problems sein könnte. Auch ARD-Mann Schreiber glaubt an eine positive Wirkung und beruft sich auf Egon Bahrs Wort vom „Wandel durch Annäherung“: „Natürlich hat Aserbaidschan auch das Ziel, neben einer guten Show das Image des Landes zu verbessern. Doch Aufmerksamkeit von Journalisten ist nicht steuerbar; sie werden nicht nur über den ESC berichten, sondern auch über Kritisches.“ Tatsächlich hat sich die EBU von der Regierung die Freiheit der Berichterstattung garantieren lassen – für Eurovisions-Gäste. Was vom Grand-Prix für die Einheimischen bleibt, ist eine andere Frage. Schreiber glaubt, dass die Menschen sich Freiheiten wie offene Pressekonferenzen, wie sie im Rahmen des ESC erleben können, hinterher ungern wieder nehmen lassen wollen. Bürgerrechtler Husseinow kann sich aber auch vorstellen, dass die Regierung danach „sehr wütend“ sein wird über die Kritik und „Rache suchen“ könnte. Die Regierung wird sich nicht ändern, fürchtet er. Seine Hoffnung ist, dass die Gesellschaft lernt, besser gegen die Willkür zu kämpfen. Aber dort, wo jetzt das Haus in der Agil-Gulijew-Straße 5 steht, wird während des ESC wohl ein Blumenbeet sein. Und dann, später vielleicht, ein weiteres Hotel entstehen. Der Ausblick wird phantastisch sein. STEFAN NIGGEMEIER
Panorama HAITI
Rückkehr der Armee
SWOAN PARKER / REUTERS
ARIS MESSINIS / AFP
Präsident Michel Martelly will die UnoSoldaten, die seit 2004 in der Inselrepublik für Sicherheit und Stabilität sorgen sollten, durch eigene Streitkräfte ersetzen. Viele Haitianer empfinden die Blauhelme als Besatzungsmacht. Den Soldaten werden sexuelle Übergriffe und Körperverletzung vorgeworfen. Nepalesische Einheiten sollen zudem für den Ausbruch der Cholera nach dem Erdbeben vor zwei Jahren verantwortlich gewesen sein. Tatsächlich lässt sich belegen, dass der Erreger aus Nepal eingeschleppt wurde. Mit der Gründung einer eigenen Armee
Theodorakis
Brasilianische Blauhelme in Port-au-Prince
will Martelly ein Wahlkampfversprechen erfüllen. In den Slums der Hauptstadt Port-au-Prince trainieren bereits junge Männer für den Wehrdienst. Haitis umstrittener Ex-Präsident Jean-Bertrand Aristide löste das Militär nach seiner Rückkehr an die Macht 1995 auf, weil es einige Jahre zuvor gegen ihn geputscht hatte. Die Diktatoren der Duvalier-Familie („Papa Doc“ und „Baby Doc“) hingegen konnten zwischen 1957 und 1987 nur mit Hilfe des Militärs überleben. Private Milizen mit engen Verbindungen zu den Streitkräften folterten und ermordeten in dieser Zeit Tausende Regimegegner. Trotzdem sehnen sich viele Haitianer nach einer eigenen Armee zurück und verklären sie als Hüter von Recht und Ordnung. Die internationale Gemeinschaft, die seit dem Erdbeben für den Wiederaufbau des Landes verantwortlich ist, verweigert aufgrund der historischen Erfahrungen aber eine finanzielle Beteiligung. 82
GRIECHENLAND
Aufruf zum Widerstand Mikis Theodorakis, Komponist, Polit-Akti- richtet Theodorakis seinen Widerstand vist und Volksheld, ist wiederauferstanden. gegen die „Besatzer“ und die rigiden Spar„Wir erleben heute eine nationale Tragö- auflagen: „Durch Verelendung der Geselldie“, rief der 86-Jährige vergangene Woche schaft will die Troika die griechische Namit zittriger Stimme begeisterten Athenern tion und den Staat Schritt für Schritt aufzu. „Ohne Grund“ seien die Griechen an lösen.“ Eine neue Partei zu der im April „den Rand des Abgrunds manövriert wor- geplanten Parlamentswahl will er, zuminden“. Der Musiker, der in den sechziger dest vorerst, nicht gründen, obwohl ihn Jahren die Melodien zum Kultfilm „Alexis viele dazu drängen. Der Komponist ist ein Sorbas“ schrieb, kann sich kaum noch be- Wanderer zwischen den politischen Welwegen, aber sein Kampfeswille ist der alte. ten: Er saß bereits für die Kommunisten, „Einheitlicher volksdemokratischer Wider- für verschiedene linke Gruppierungen, stand“ heißt seine neue Bewegung, die er aber auch für die konservative Nea Dimovergangenen Mittwoch öffentlich vorstellte, kratia (ND) im Parlament. ND-Premier abgekürzt „El.la.da“, das heißt in einem Konstantinos Mitsotakis machte TheodoWort gelesen „Griechenland“. Während rakis 1990 sogar zum Sonderminister, Übergangspremier Loukas Papademos mit „ohne Portfolio“. Vorerst droht El.la.da leden privaten Gläubigern um eine Lösung diglich damit, „die Ausländer, Kollaborafür den geforderten Schuldenschnitt ringt, teure und Verräter ins Meer“ zu werfen. D E R
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Ausland Wachleute zu protestieren. „Dies ist kein Hotel und keine Ferienanlage, die sollen ihre Strafe absitzen“, kommentierte Gefängnischef Mars Schusupbekow. Die stumme Rebellion zeigt, wie Die Haftanstalten des Landes sind norsteinig Kirgisiens Weg zur Demokratie malerweise überfüllt, stickig und vor ist, seit sich das Land 1991 aus dem allem laut, doch zuletzt schwiegen die Sowjet-Imperium löste. Vor knapp Gefangenen: Rund 400 Insassen des zwei Jahren musste Staatspräsident Untersuchungsgefängnisses Kurmanbek Bakijew, der Nr. 1 in Bischkek nähten sich und seinen Clan hemsich mit Schnüren oder mungslos bereichert hatte, Drähten den Mund zu, so nach gewalttätigen Protesdass sie nur noch Getränke ten das Land verlassen. zu sich nehmen konnten. Ihm folgte die ehemalige „Wir leiden für GerechtigAußenministerin Rosa keit“, nuschelte der 22-jähOtunbajewa mit einem rige Jewgenij in einem Reformprogramm. Die Interview. An die 1000 Gefängnisrevolte offenHäftlinge in anderen Anbart nun einen Rückfall in stalten folgten ihrem Beirepressive Zeiten: Erste spiel, weitere 6000 traten Proteste wurden von in Hungerstreik, um gegen Wachmannschaften blutig schlechte Haftbedingunniedergeschlagen, ein Häftling in Bischkek gen und Übergriffe der Mann starb. KIRGISIEN
IGOR KOVALENKO / DPA
Stumme Rebellion
SPIEGEL: Die Protestaktionen werden gewaltsamer, es gab Tote. Barro: Leider hat Präsident Wade keine andere Antwort als Gewalt und Terror. Aber wir hören nicht auf, wir sind beFadel Barro, 34, Journalist und Grünreit, uns den Kugeln zu stellen! „Y’en der der Bewegung „Y’en a marre!“ a marre!“ ist ein Aufschrei, die Jugend („Jetzt reicht’s!“), über den Protest geSenegals will nicht mehr so regiert gen Präsident Abdoulaye Wade, 85, werden wie die vergangenen 40 Jahre. der am 26. Februar entgegen der VerDie Korruption, das Klientelsystem fassung zum dritten Mal in das höchsmüssen ein Ende haben. SPIEGEL: Der Pop-Sänger Youssou te Staatsamt gewählt werden will N’Dour gilt als Symbolfigur des ProSPIEGEL: Die Opposition will das Land tests. Welche Rolle spielt er nun, nachunregierbar machen, wenn der Präsidem seine Kandidatur bei der Präsident an seinem Plan festhält, obwohl dentschaftswahl abgelehnt wurde? Barro: Er ist erst seit kurzem dabei. die fünf Richter des Verfassungsrats Trotzdem dachte man in Europa ihm zustimmten. Zählt das nicht? Barro: Das war eine politische Entscheischon, er würde der nächste Präsident, dung, gegen die wir nichts tun können, dabei hätte er vielleicht fünf Prozent als auf die Straße zu gehen. Wir werder Stimmen geholt. Seine Kandiden unseren Kampf weiterführen! datur half vor allem, die Aufmerksamkeit auf den Senegal zu lenken. SPIEGEL: Welche Probleme müssen zuerst angepackt werden? Barro: Der neue Präsident muss ein Senegal schaffen, in dem die politische Klasse ehrlicher wird, der Staat soll wieder funktionieren. Wade ist dabei das eigentliche Problem. In Dakar hat er viel Neues bauen lassen, die Stadt sieht aus wie aus einem Werbeprospekt. Aber gehen Sie mal in die Vororte. Dort fehlt es an Essen und Arbeit. Für viele Proteste in Dakar Junge ist der Drogenhandel die einzige Perspektive. SENEGAL
REUTERS
„Wir hören nicht auf“
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Ausland
Demonstrierende Assad-Gegner, übergelaufene Soldaten auf ihrem landesweiten Vormarsch, Kampf um die Hauptstadt: „Alle haben Angst – wir
SYRIEN
Rauchsäulen über Damaskus Aus der Rebellion ist ein Bürgerkrieg geworden, mit Brutalität versucht Baschar al-Assad, sich an der Macht zu halten. Trotz ihrer Unterlegenheit erzielen die Aufständischen Fortschritte. Augenzeugen berichten aus einem geschundenen Land.
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s ist ein Irrtum zu glauben, dass Tote nicht sprechen. In Syrien reden sie pausenlos, jedenfalls am Telefon. „Das ist der letzte Gruß unserer Märtyrer“, sagt einer der jungen Organisatoren des Widerstands in einem Vorort von Damaskus, während um ihn herum Kämpfe und Frontverläufe besprochen werden ohne jede Angst vor mithörenden Geheimdienstlern. Denn in den Telefonen der Aufständischen stecken die SIMKarten von Toten. Die, konstatiert der 84
Mann nüchtern, könne man ja nicht mehr umbringen. Was vor knapp elf Monaten als friedlicher Protest für Demokratie und Reformen begann, ist zu einem Krieg des Regimes gegen weite Teile des eigenen Volkes geworden. Monat um Monat ließen sich die Protestler niederknüppeln, zusammenschießen, wurden Tausende umgebracht und verschwanden Zehntausende spurlos, bis die Rebellen ihrerseits im Herbst begonnen haben zurückzuschieD E R
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ßen. Internationale Appelle und Embargomaßnahmen haben das Regime um Baschar al-Assad nicht davon abhalten können, auf immer mehr Gewalt als Antwort zu setzen. China und allen voran Russland blockierten – bis zum Freitag voriger Woche – jede Uno-Resolution gegen Syrien. Nicht einmal die Anwesenheit einer Beobachtermission der Arabischen Liga hielt das Regime zurück, stattdessen hat es seit dem Abbruch des Einsatzes am 28. Januar die Brutalität noch einmal drama-
tisch gesteigert. Elitetruppen vor allem der 4. Division unter dem Kommando des Präsidentenbruders Mahir al-Assad schießen nicht mehr nur mit Gewehren auf Einzelne, sondern mit Panzern und Granatwerfern aus der Distanz auf rebellische Stadtteile. Es ist ein ungleicher Kampf zwischen den schwerbewaffneten Truppen des Regimes und den karg gerüsteten Rebellen der Freien Syrischen Armee, der FSA, auf der anderen Seite. Und doch gewinnen die Rebellen an Boden. In den vergangenen Wochen hat der SPIEGEL von Hamburg aus und dank der Hilfe eines Mitarbeiters vor Ort noch einmal jene Gewährsleute kontaktiert, die bei vergangenen Recherchen den Zugang zu den Rebellen ermöglicht hatten. Auf diese Weise erhielt die Redaktion Augenzeugenberichte aus den Zentren des Aufstands – aus den Vororten von Damaskus, der umkämpften Stadt Homs und aus Sabadani, das seit zwei Wochen in der Hand der Assad-Gegner ist. Erstmals waren in diesen Tagen Detonationen von Granateinschlägen im Zentrum von Damaskus zu hören, standen
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wasserversorgung der Hauptstadt gespeist wird. Es gibt einen brüchigen Waffenstillstand mit der Armee, doch kaum noch Nahrungsmittel und nur ein paar hundert Verteidiger. „900 Euro sind heute aus Deutschland gekommen“, sagt ein örtlicher Aktivist, geschickt von „Adopt a revolution“, einer Berliner Initiative von Deutschen und Syrern. Das sei sehr wenig, „aber sonst bekommen wir gar nichts von außen. Wir brauchen Essen, Satellitentelefone, Medikamente!“ Am Freitag vergangener Woche verhandelten die Führer des Militärrats der Aufständischen in Sabadani immer noch mit Offizieren der Regierungstruppen über eine Fortsetzung des Waffenstillstands. „Die fürchten wohl tatsächlich,
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REUTERS (O. M. + U. M.); DEREK HENRY FLOOD / POLARIS / STUDIO X (U. R.)
vor denen, die vor uns“
Rauchsäulen über dem Nordosten der Stadt. Binnen Tagen hatten Einheiten der FSA die Kontrolle über Harasta, Irbin, Duma übernommen – jene Vorstädte, in denen es seit vergangenem Frühjahr wiederholt Demonstrationen gegeben hatte. Nun sind es offene Kämpfe. Erst nach Tagen gelang den Eliteeinheiten der 4. Division die Rückeroberung. „Letzten Dienstag kamen Mahirs Soldaten auf 800 Meter an uns heran, Mittwoch auf 500, Donnerstag waren sie im Zentrum“, so schildert es einer der Verantwortlichen des Lokalkomitees von Irbin, der sich Abu Said nennt. Der einstige Vorort, längst mit Damaskus verwachsen, liegt sechs Kilometer vom Zentrum entfernt. „Wenn ich aufs Dach steigen würde, könnte ich den Präsidentenpalast sehen“, sagt Said, „aber dann würde ich vermutlich erschossen.“ Bis vor einem Monat habe niemand daran gedacht, mit Waffen zu kämpfen: „Aber bis dahin waren schon 26 Menschen bei Demonstrationen erschossen worden. 150 sind verschleppt und verschwunden. Assads Truppen haben nicht nur auf Demonstranten geschossen, sondern sogar die Beerdigungszüge unter Feuer genommen.“ Das kann Said nicht mehr verstehen: „Selbst wenn jemand mein Feind ist, muss man doch wenigstens die Toten respektieren.“ Um die Vorstadt mit 50 000 Einwohnern zurückzuerobern, setzten Assads Truppen Panzer ein, kappten die Wasserund Stromversorgung sowie die Telefonnetze, bis sich die FSA nach drei Kampftagen zurückzog. Eine Granate durchschlug das Dach der örtlichen Moschee, fünf Zivilisten starben beim Beschuss, darunter eine alte Frau beim Kochen und ein dreijähriges Mädchen. „Dann kamen die Soldaten, um die Hä nach Kämpfern zu durchsuchen“, erinnert sich Abu Said. „Aber die Männer von der 4. Division und die von den Sicherheitsdiensten blieben auf der Straße stehen, schickten die Rekruten normaler Einheiten vor. Alle hatten Angst – wir vor denen und die vor uns.“ Doch bereits am Donnerstagmittag seien die Eliteeinheiten schon wieder abgerückt, hätten nur ein paar reguläre Truppen in Irbin zurückgelassen. „Die werden alle verlegt nach Sabadani“, meldeten die Beobachtungsposten. Sabadani, der eigentlich idyllische Ausflugsort in den Bergen 50 Kilometer nordwestlich, wo viele reiche Damaszener ihre Sommerhä haben, ist die erste Stadt in der Hand der Aufständischen. Das bergige, bewaldete Terrain ist kein gutes Gelände für Panzer. Außerdem haben die Aufständischen ein Gebiet besetzt, dessen Bedeutung dem Regime wohl erst klarwurde, als es schon verloren war: das Areal mit den Quellen, aus denen ein großer Teil der Trink-
Staatschef Assad bei Verwundeten-Besuch
„Was ist das Ziel? Gibt es eins?“
dass wir Damaskus von der Wasserversorgung abschneiden würden“, wundert sich der Sprecher. Dabei würden sie so etwas nicht tun. Was den Eingeschlossenen Hoffnung macht, sind die Truppenbewegungen der anderen Seite: Assad lasse seine wichtigsten Eliteeinheiten fortwährend von Ort zu Ort verlegen. Gegen sie kann die FSA nirgendwo militärisch bestehen – aber kaum sind sie fort, geht der Aufstand weiter. Die restlichen Divisionen der nominell noch bis zu 300 000 Mann starken Armee werden nicht nur vom wachsenden Unwillen der Soldaten zermürbt, auf ihre eigenen Landsleute zu schießen – sondern wandeln sich zu einer Gefahr für das Regime. Inzwischen wechseln ganze Gruppen samt ihren Waffen die Seiten, wie vor einer Woche am Rand des Viertels Chalidija in Homs. Tagelang hatte das knappe Dutzend Soldaten, verbarrikadiert hinter Sandsäcken, das Viertel beschossen – schwer bedroht von Männern des Luftwaffengeheimdiensts. Wer nicht schoss, lief Gefahr, selbst erschossen zu werden. Bis die 85
AP / DDP IMAGES
Regimegegner in der Provinz Homs: Eigene Polizei, eigenes Gefängnis
Männer einen unbeobachteten Moment nutzten und geschlossen überliefen, begeistert empfangen von den Bewohnern, auf die sie gerade noch anlegen mussten. Die Vernehmlichkeit der Kämpfe rund um Damaskus ist für Assads Regime gefährlich, weil es das Propagandakonstrukt einer ausländischen Verschwörung der Lächerlichkeit preisgibt. Hatte der Propagandakanal Dunya TV im September noch vermeldet, der Nachrichtensender al-Dschasira habe „riesige Filmkulissen syrischer Städte mit Hilfe französischer und amerikanischer Regisseure gebaut“, um darin den fiktiven Aufstand in Syrien zu inszenieren, so ist die Realität des Aufstands nun auch in der Hauptstadt hörund sichtbar. Doch die entscheidenden Kämpfe, die sich längst zu einem Bürgerkrieg ausgeweitet haben, finden in Zentralsyrien statt: In Hama, wo das Regime selbst die Bäckereien hat schließen lassen und die abgeriegelte Stadt aushungern will; in Orten wie Rastan und Hula, die das Regime mit Panzern beschießen lässt, weil niemand mehr wagt, Truppen in die Innenstädte zu schicken – und in Homs, dem Zentrum der Rebellion, wo allein über 2000 Menschen gestorben sind. Seit November halten hier ein paar hundert Kämpfer der FSA das südwestliche Viertel Bab Amr. Die längst verlassenen, halbzerschossenen Hä an der Frontlinie sind über Hunderte Meter im Innern über Mauerdurchbrüche miteinander verbunden. Ohne überhaupt noch die Straßen betreten zu müssen, kommen die Männer in ihre Stellungen. An einigen Plätzen haben sie Minen verlegt, um den Vormarsch aufhalten zu können. Minen, die sie Soldaten der Armee abgekauft haben. Es herrscht eine seltsame Stimmung zwischen Trotz und Apokalypse. „Kommen Sie zu uns, hier finden Sie das sicherste Krankenhaus von ganz Homs“, 86
frotzelte schon im Dezember einer der Ärzte im Untergrundkrankenhaus und Suleiman al-Hamad, der Leichenwäscher und Rettungssanitäter. „Hier“, sagten sie und zeigten sarkastisch über das improvisierte Innenleben des hergerichteten Schuppens, „werden Sie behandelt! Ins staatliche Krankenhaus gehen Sie mit einer Beinverletzung rein und kommen mit einem Kopfschuss wieder raus.“ Dort werden Verletzte im Zweifelsfall schon an der Rezeption verschleppt und umgebracht. Ärzte, Apotheker, Sanitäter sind ermordet worden, und dass Suleimans echter Name genannt werden kann, liegt daran, dass er Tage nach der Vorstellung seines Krankenhauses erschossen wurde beim Versuch, einen Verletzten zu bergen. Ende Januar gibt es bereits drei Untergrundkliniken allein in Bab Amr, eine TÜRKEI Mittelmeer
Aleppo Idlib
Latakia
Hama Rastan Homs
Tartus
Deir al-Sor
SYRIEN
Sabadani Damaskus Daraa
Hasakah
JORDANIEN
IRAK
Proteste Quellen: dpa, Unosat
200 km
Duma
Kämpfe
Harasta Irbin
Präsidentenpalast
Damaskus
Militärflughafen
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ausschließlich für Schwerverletzte, vor deren Tor ein Polizist für vier Dollar am Tag dafür sorgt, dass die Einfahrt nie zugeparkt wird. „Schussverletzungen in Beinen und Armen können wir mittlerweile gut operieren“, so schildert ein Arzt die Lage, „für Lungenschüsse haben wir Plastikschläuche aus Toiletten genommen und sterilisiert, Brüche schienen wir mit Holz. Aber seit zwei Monaten schießen die gezielt auf den Kopf, da können wir nichts tun. Wir schauen zu, wie diese Menschen sterben.“ Unter Lebensgefahr zweigen Ärzte Material aus den staatlichen Krankenhän ab, der Rest wird mit Maultieren, Motorrädern und in Rucksäcken über die verschneiten Grenzen geschmuggelt, selbst Apparate zum Sterilisieren der Mullverbände oder für Bluttests. Inmitten der wuselnden Freiwilligen, die blutdurchtränkte Laken heraustragen und versuchen, den Sterilisator in Gang zu bringen, entbrennt eine gespenstische Debatte: ob den Leichen ohne Augen, die morgens an den Straßen liegen, nun die Augäpfel herausgetrennt wurden, um Hornhäute für Transplantationen zu verkaufen – oder ob die Folterer ihren Opfern die Augen bloß so ausgestochen haben. In Homs geschehen viele Dinge früher als andernorts im Land. Hier spiegelte sich, im Zuständigkeitswechsel der Befehlshaber, schon früh die Ratlosigkeit des Regimes, wie die nicht abreißenden Massenproteste niederzuschlagen seien: Erst war der „Politische Sicherheitsdienst“ für Homs verantwortlich, dann die „Militärsicherheit“, bis im Herbst der für seine Brutalität bekannte Luftwaffengeheimdienst unter Führung von General Dschamil Hassan die Verantwortung für Homs bekam. Die eigentliche Armeeführung ist zweitrangig, das wirkliche Kommando haben die Führer der Dienste. Bab Amr, aber zunehmend auch weitere sunnitische Viertel in Homs sind zu Vorbildern für andere Städte geworden. In Bab Amr hat der revolutionäre Stadtrat grüne Lebensmittelkarten drucken lassen mit lauter kleinen Feldern, die wöchentlich abgestempelt werden. Dafür gibt es einen Sack mit Reis, Babynahrung, Zucker, Öl, genug für eine Familie, um eine Woche lang zu überleben. Es gibt eine eigene Polizei und sogar ein winziges Gefängnis, in das Plünderer verlassener Hä gesteckt werden. Evakuierungspläne für den Fall von Flächenbombardements wurden erstellt und Keller mit Vorräten gefüllt. „Unsere Informanten im Militär haben gemeldet, dass die 4. Division Scud-Raketen aus Damaskus an den Rand von Homs bringen lässt“, erklärt Omar Schakir, der kahlhäuptige Sprecher des Stadtrats, der auch nicht wirklich so heißt. Über Homs sind Maschinen der Luftaufklärung zu hören, vor der Stadt ist
ein Bataillon der 4. Division in Stellung gegangen. „Assad wartet noch, ob der Weltsicherheitsrat eine Resolution beschließt“, vermutet Schakir, aber danach müsse man mit allem rechnen. Manchmal frage er sich, erzählt der Mann, der im zivilen Leben Manager war, was das Regime eigentlich noch erreichen wolle: „Assad kann das doch gar nicht überstehen“, die Herrschaft des Clans über das ganze Land sei unwiderruflich dahin. „Was also ist das Ziel? Gibt es überhaupt eines?“ Größere Sorge als um den Untergang des Hauses Assad macht er sich heute schon um die Zeit danach: „Viele hier wollen Blutrache!“ In der vom Nebeneinander der Glaubensrichtungen geprägten Stadt Homs, wo zwar die Mehrheit Sunniten sind, aber auch viele Mitglieder der alawitischen Minderheit der Herrscherfamilie leben, kommt es immer häufiger zu Morden aus Vergeltung. „Wie sollen wir die Menschen zurückhalten?“, Ex-Hotelier Rusesabagina fragt sich Schakir, „Homs wird zur Bürgerkriegszone, wenn niemand das Regime stoppt.“ R UA N DA Doch das, so scheint es im Moment, wird von außen jedenfalls weiterhin nicht geschehen. Kein Staat will oder wagt eine militärische Einmischung. Russland, das mit Tartus seinen einzigen Marinestützpunkt im Mittelmeer hält und Waffen im Wert von Milliarden Euro an Syrien ver- Jahrelang galt ein Hotelmanager aus Kigali als Menschenretter im kaufte, will den letzten Verbündeten in Chaos des großen Massakers, dann wurde er als Geschäfteder Region nicht verlieren. macher angegriffen. Jetzt wehrt er sich gegen die Vorwürfe. Für Iran würde der Sturz des AssadRegimes nicht nur den Verlust eines, sondern zweier Verbündeter bedeuten: Denn aul Rusesabagina ist Held von Be- nos gekommen, an dessen Entstehung Ruüber Syrien läuft Irans Nachschub für die ruf, und Helden sind gefragt. Bis zu sesabagina beteiligt war. Das Werk, sagt Hisbollah, die stärkste politische und mi300-mal im Jahr hält der aus Ruan- er, sei ein wenig aufgehübscht nach Hollylitärische Kraft im Libanon und Israels da stammende Mann seinen Vortrag, er wood-Manier, im Kern aber gebe es seine Feind im Norden. erzählt seine Geschichte in Japan, Eu- Geschichte so wieder, wie sie sich ereigIm Irak, wo sich nach dem Sturz von ropa, den USA. Regelmäßig rührt er net habe, „nur mit viel weniger Gewalt“. Saddam Hussein die Bevölkerungsmehr- Menschen zu Tränen. Doch jetzt, bald 18 Jahre nach den Erheit der Schiiten durchsetzte, fürchtet Wie er sich „mit nichts als Worten“ eignissen, werden erneut Zweifel laut an man eine Herrschaft der sunnitischen den Massenmördern und Milizen von der der wahren Rolle des mit Preisen überMehrheit in Syrien und eine Rebellion Volksgruppe der Hutu entgegenstellt, die häuften Helden. Die „Süddeutsche Zeider Glaubensbrüder in den eigenen West- 1994 innerhalb von 100 Tagen etwa tung“ druckte vergangene Woche den Beprovinzen. 800 000 Menschen niedermetzeln, vor richt eines schwedischen Journalisten, der Und selbst in der Türkei, die schon ver- allem Angehörige der Tutsi-Minderheit. kürzlich Kigali besucht hatte. Der damagleichsweise früh mit dem Regime Assad Wie er das luxuriöse Hôtel des Mille Col- lige Hotelmanager erscheint darin als „zygebrochen hat, überwiegt inzwischen wie- lines in der Hauptstadt Kigali, dessen Ma- nischer Geschäftemacher, der aus dem Geder Zurückhaltung. Drastischen Drohun- nager er war, in eine Festung der Mensch- nozid sein Kapital schlug“, als einer, der gen des Außenministers im Juni folgte lichkeit und des Überlebens verwandelt. beim Völkermord vor allem gut verdienen noch eine Verschärfung der Sanktionen Wie er, ein afrikanischer Oskar Schindler, wollte, der Flüchtlinge systematisch um im November, nachdem die vom syri- 1268 Hotelgäste in seiner Obhut, größ- „Geld, Autos und Hä“ brachte. schen Regime unterstützte kurdische Se- tenteils Flüchtlinge, vor der Ermordung „Wie kann man einen solchen Menparatistenorganisation PKK in der bewahrt. schen als Helden bezeichnen?“, fragt eischwersten Offensive seit Jahren DutzenViele haben Rusesabagina gebannt ner der Protagonisten aus Kigali in dem de Soldaten im Südosten der Türkei um- zugehört, darunter Barack Obama, Mu- Münchner Blatt. gebracht hatte. Seither hält sich Ankara hammad Ali, Jesse Jackson, Condoleezza Paul Rusesabagina, 57, ein Hutu, bedeckt. Rice. Aus der Hand von Präsident George wohnt mit seiner Frau Tatiana, einer Tut„Wir werden wohl allein weiter- W. Bush erhielt er 2005 im Weißen Haus si, in einem Reihenhaus in einem Vorort kämpfen müssen“, ahnt Omar Schakir in die Freiheitsmedaille, die höchste zivile von Brüssel. Ein weiteres Haus besitzt Homs. „Aber wir werden nicht auf- Auszeichnung der USA. Im Jahr zuvor er im texanischen San Antonio, wo das geben“, sagt er, und dann, etwas leiser: war der für drei Oscars nominierte Film Paar jetzt die meiste Zeit verbringt. Seit „Natürlich wäre es schöner, wenn wir „Hotel Ruanda“ des irisch-amerikani- bald zwei Jahren muss er kürzertreten überleben.“ schen Regisseurs Terry George in die Ki- wegen einer Krebserkrankung. Er macht
Drinks für die Mörder
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ADAM SCOTTI / AP
EZEQUIEL SCAGNETTI (L.); UNITED ARCHIVES / MAURITIUS IMAGES (R.)
damals nichts über Vorwürfe gegen ihn, obwohl sie ebenfalls zahlreiche Überlebende aus dem Hotel interviewen konnten. Wo immer er jetzt auftrete, sagt Rusesabagina, informiere er vorab die Veranstalter, dass mit Störern zu rechnen sei. Als er vor einigen Tagen im niederländischen Wassenaar sprach, verschickten ruandische Gruppen einschließlich der Botschafterin im Vorfeld Protestbriefe. Vor dem Gebäude fanden sich Demonstranten ein. Sie werfen dem Ex-Hotelmanager unter anderem vor, den Genozid zu leugnen – ein bizarrer Vorwurf gegen einen Mann, der dafür berühmt ist, dass er seit Jahren die Schrecken des Genozids beschreibt. Rusesabagina sieht sich als Zielscheibe einer Kampagne, die aus Kigali gesteuert werde. Präsident Paul Kagame – der früher regelmäßig zum Tennisspielen in sein Hotel kam – sehe in ihm wegen seiner Prominenz einen Widersacher. „Ich habe damals im Hotel nicht geschwiegen. Ich schweige auch jetzt nicht. Ich nenne die Szene aus dem Kinofilm „Hotel Ruanda“: „Ich habe zu viel gesehen“ Menschenrechtsverletzungen der Kagaes sich bequem auf seinem weißen Le- Tutsi-Flüchtlinge im Hotel Unterschlupf me-Regierung beim Namen.“ Viele Oppositionelle sitzen in Ruanda dersofa; über dem Kamin das Bild, das finden konnten. „Das kann schon sein“, ihn mit George W. Bush zeigt, beide gibt Rusesabagina zu. Dafür seien all die- in Haft. Wahlen sind noch immer nicht se Leute aber auch über rund zweieinhalb frei. Kagame hat Ruanda wirtschaftlich strahlen. Auf der Anrichte stapeln sich Exem- Monate lang von ihm unter schwierigen in ein Wunderland verwandelt, politisch plare seiner Autobiografie „Ein gewöhn- Umständen verpflegt worden. Das macht aber in eine straff geführte Autokratie. licher Mann“. Sie ist in zahlreiche Spra- gut 20 Cent pro Person und Tag. „Das Eine Aufarbeitung des Völkermords finchen übersetzt worden. Im Vorwort be- deckte die Kosten nicht“, sagt Rusesaba- det nicht länger statt. In dem berühmten Hotel, das seither schreibt er, mit welcher Chuzpe er damals gina. Und die Autos? Die Hä? Da lacht mehrfach renoviert wurde, erinnert auf die Mörder eingewirkt habe: „Als die Milizen und die Armee mit dem Befehl er nur. Das sei ein absurder Gedanke. Wie nichts mehr an den Manager von 1994, kamen, meine Gäste zu töten, lud ich sie solle denn das Überschreiben von Autos kein Bild, kein Schild – nichts. Als ob es ein in mein Büro, empfing sie wie Freun- und Hän möglich sein in einem Land die dramatischen Tage nie gegeben hätte. So richtig mag sich in Rude, bot ihnen Bier und Cognac an und im Blutrausch? Er habe einen anda aber auch kaum jemand überredete sie, ihren Auftrag für diesen Geländewagen besessen, der über Rusesabagina erregen – Tag zu vergessen. Als sie wiederkamen, sei ihm gegen Ende des Moraußer den immer Empörten dens aber gestohlen worden. gab ich ihnen mehr Drinks.“ von Ibuka, dem DachverAls er im September 1996 77 Tage lang sei das so gegangen. Er band der Genozid-Überlehabe sich dabei keineswegs als Held ge- nach Belgien auswanderte, benden, der als verlängerter fühlt – sondern als Todgeweihter, der das kam er dort jedenfalls ohne Arm der Regierung Kagame Ende nur immer wieder aufschieben Reichtümer an. „Ich bin Taxi agiert. „Der Film ,Hotel Rugefahren“, sagt er. In Ruanda konnte. anda‘ sagt nicht die WahrHat er Geld genommen von den Gäs- fühlte er sich nicht länger siheit“, zürnt Ibuka-Chef Janten und Flüchtlingen, die im April 1994 cher. „Ich habe zu viel gesevier Forongo. im Mille Collines, dem Hotel der tausend hen und kannte zu viele NaIm ausländischen Exil, in Hügel, Zuflucht suchten? „Am Anfang men.“ Präsident Kagame dem sich viele Ruander über Für Rusesabagina sind die Kampagne aus Kigali habe ich die Übernachtungen abgerechdas Kagame-Regime tief zernet“, sagt er. Damit habe er aber aufge- heftigen Vorwürfe gegen ihn hört – sobald seine Gäste kein Geld mehr nicht neu. „Sie werden erhoben, seit ich stritten haben, finden sich dennoch viele hatten („Geldautomaten gab es nicht“) die Freiheitsmedaille bekommen habe.“ Verteidiger. In der belgischen Stadt Naund als offenbar geworden sei, dass das Nach der Evakuierung des Hotels im mur arbeitet Julia Mahoro, 37, als KranMille Collines kein Luxushotel mit 113 Juni 1994 und in den Jahren danach habe kenschwester. Mit ihrem damals vier MoZimmern mehr gewesen sei, sondern ein ihm hingegen keiner der Gäste aus dem nate alten Sohn hat sie sich vor knapp Flüchtlingslager. „In meiner Suite, die aus Mille Collines irgendetwas vorgeworfen, 18 Jahren in das Mille Collines geflüchtet. zwei Zimmern bestand, lebten auf einmal eine Aussage, die Regisseur George be- Sie sagt: „Wir hatten kein Geld, und er 40 Leute.“ Nie habe er jemanden des stätigt. Der hatte vor Beginn der Dreh- hat auch nie danach gefragt.“ Für sie ist arbeiten viele Überlebende getroffen, und bleibt Rusesabagina ein Held, es emHauses verwiesen. Nahe Toronto in Kanada lebt Victor keiner habe der Geschichtsversion des pöre sie, wenn er nun als Lügner dargeMunyarugerero, 62, der damals Menschen Hotelmanagers widersprochen. Auch stellt werde. „Er gab uns alles, was er im Hotel half. Er wirft dem Helden von Journalisten, die nach dem Genozid das hatte.“ Kigali vor, von ihm umgerechnet 21 000 Land bereisten und die Geschichte des MARCO EVERS, HORAND KNAUP, Euro kassiert zu haben – dafür, dass 220 Mille Collines erzählten, berichteten YOLETTA NYONGE, GREGOR PETER SCHMITZ D E R
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IRAN
„Noch ist der Krieg vermeidbar“ Dennis Ross, Berater von US-Präsident Barack Obama, warnt vor den Folgen einer Atombombe für Teheran und drängt auf eine weitere Verschärfung der Sanktionen.
NORBERT MICHALKE / DER SPIEGEL
Ross, 63, hat drei US-Präsidenten gedient und war in den vergangenen Jahren an nahezu jeder Nahost-Friedensinitiative beteiligt, die von Washington ausging. Präsident Obama ernannte ihn 2009 zum Sonderberater, zuständig vor allem für Iran. Vorigen Freitag war Ross, der aus privaten Gründen im November 2011 seine offizielle Funktion aufgegeben hat, zu vertraulichen Gesprächen im Berliner Außenministerium und im Kanzleramt. Nahost-Experte Ross
Israelischer Verteidigungsminister Barak (3. v. l.),
materialien in geschützten Anlagen zu horten. Kann ein Angriff das Atomprogramm überhaupt noch stoppen? Ross: Ich bin kein Freund eines militärischen Eingreifens, das kann nur das allerletzte Mittel sein. Dennoch bleibt richtig, dass die Iraner bei einem Angriff sehr viel zu verlieren haben. Er dürfte sie um etliche Jahre zurückwerfen. Die Iraner müssen sich fragen, ob sie dieses Risiko eingehen, diesen Preis zahlen wollen. SPIEGEL: Teheran hat im Fall eines Luftschlags gedroht, die Region in ein Inferno zu verwandeln. Ein realistisches Szenario? Ross: Die Iraner werden nervös. Sie wissen, dass sie sich selbst schaden, wenn sie die Region in Flammen setzen. Natürlich haben sie aber dennoch Optionen: Die Gotteskrieger der Hisbollah, ihre hochgerüsteten Verbündeten im Libanon, sind durch die Ereignisse in Syrien geschwächt, aber sie haben nach wie vor das Potential, Israel zu schaden. SPIEGEL: Nehmen Sie die Drohung Irans ernst, die Straße von Hormus zu blockieren und so praktisch den gesamten Erdölexport aus der Region zu stoppen? Ross: Wir müssen jede Drohung aus Iran ernst nehmen, aber das Regime in Teheran handelt nicht irrational, nicht selbstmörderisch. Es weiß, dass es mit einem solchen Eingriff in internationale Gewässer mehr an Einnahmen verlieren würde als alle anderen. Die Nachbarstaaten würden so endgültig gegen Iran aufgebracht, schon jetzt sind die Beziehungen zu Saudi-Arabien und den Emiraten sehr angespannt. Und US-Verteidigungsminister
Panetta hat öffentlich erklärt, damit werde eine rote Linie überschritten. SPIEGEL: Geht es der US-Regierung wirklich nur darum, die Bombe zu verhindern? Will das Weiße Haus nicht in Wahrheit einen Regimewechsel in Teheran herbeiführen? Ross: Nein, es geht darum, das inakzeptable und unverantwortliche Verhalten der iranischen Regierung zu ändern. So sieht es auch die überwältigende Mehrheit der internationalen Gemeinschaft. In der Uno ist Teheran isoliert. Als es um die letzte Abstimmung zu den Sanktionen ging, fiel das Ergebnis dramatisch eindeutig zu Ungunsten Irans aus. Auch die islamisch geprägten Staaten stehen Teheran wegen des Atomprogramms letztlich skeptisch gegenüber. Aber den Regime Change überlassen wir dem iranischen Volk. SPIEGEL: Selbst Oppositionskräfte in Teheran sagen, nichts würde das Volk so zur Solidarität mit den Regierenden bewegen wie ein Angriff auf die Atomanlagen. Ross: Ich bin mir da nicht so sicher. SPIEGEL: Bereits viermal hat der Weltsicherheitsrat Sanktionen gegen Iran wegen seines Atomprogramms beschlossen. Bislang hat das keine erkennbare Wirkung gezeigt. Ross: Das mag für die ersten Sanktionsrunden gegolten haben. Jetzt, da die USA die Teheraner Zentralbank weitgehend vom Finanzmarkt ausgeschlossen haben und die EU ab dem 1. Juli kein iranisches Öl mehr importieren will, wird es schmerzhaft. Die iranische Währung ist in den letzten Monaten gegenüber dem
SPIEGEL: Botschafter Ross, der israelische
Premier Benjamin Netanjahu scheint entschlossen, Irans Atomanlagen zu bombardieren. Auch Präsident Obama droht den Iranern, dass diese „Option“ auf dem Tisch liege. Rechnen Sie mit einem baldigen Angriff? Ross: Noch steht der Krieg nicht unmittelbar bevor, noch ist er vermeidbar. Die diplomatischen Möglichkeiten sind noch nicht ausgeschöpft. Ich setze auf Verhandlungen, auf eine diplomatische Lösung. SPIEGEL: Sie halten die Drohgebärden für einen Bluff? Ross: Nein, das ist mehr als Rhetorik, das ist eine starke Botschaft. Die Iraner müssen lernen, dass sie für ihre militärischen nuklearen Aktivitäten ein großes Risiko eingehen und auch einen hohen Preis bezahlen, wenn sie so weitermachen. SPIEGEL: Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak sagt, es sei „Zeit, das Problem jetzt anzupacken“, sein amerikanischer Kollege Leon Panetta wird damit zitiert, er rechne mit einer Attacke aus Tel Aviv vielleicht schon im April. Ross: Richtig ist, dass sich das Zeitfenster schließt. Die Israelis gehen davon aus, dass die Iraner vielleicht schon im Herbst immun sind gegen Militärschläge, weil sie ihr Atomprogramm dann so weit vorangetrieben haben, dass ein Angriff sie nicht mehr entscheidend zurückwerfen könnte. Die Israelis werden es nicht zulassen, dass Iran eine existentielle Bedrohung für sie wird – da ist immer die Furcht vor einem neuen Holocaust. SPIEGEL: Das iranische Regime hat die vergangenen Jahre genutzt, seine Nuklearanlagen in Bunkern zu sichern und Atom90
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IDF / CHAMELEONS EYE / NEWSCOM / SIPA
Premier Netanjahu (4. v. l.) auf der Luftwaffenbasis Hatzerim, iranischer Präsident Ahmadinedschad: „Wir müssen jede Drohung ernst nehmen“
Dollar um weit mehr als die Hälfte gefallen. Jetzt beginnt sich die Stimmung zu drehen. Und die Menschen machen nicht das Ausland, sondern das Regime für die Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse verantwortlich. SPIEGEL: Selbst wenn das stimmen sollte: Revolutionsführer Ali Chamenei und Präsident Mahmud Ahmadinedschad ist es gelungen, das Nuklearprogramm zu einer Frage des Nationalstolzes zu erheben. Im SPIEGEL-Gespräch hat sich sogar der inzwischen unter Hausarrest stehende Oppositionsführer Hussein Mussawi, einer der Anführer der erst einmal gescheiterten „Grünen Bewegung“, in diesem Punkt solidarisch erklärt. Ross: Es gibt diesen Konsens. Aber vergessen Sie nicht, offiziell spricht die Führung in Teheran nur von dem Recht auf friedliche Nutzung der Atomkraft. Was die Weltgemeinschaft besorgt, ist die militärische Dimension des Programms. Zu welchen Konzessionen die iranischen Machthaber in diesem Konflikt bereit sind, müssen wir ausloten. SPIEGEL: Aber hat der Krieg gegen Iran nicht schon längst begonnen? Computerviren legen iranische Nuklearanlagen lahm, vermutlich vom israelischen Geheimdienst losgeschickte Killerkommandos schalten iranische Atomwissenschaftler aus. Ross: Viele Aktionen kann man rechtfertigen, Cyber-Angriffe können genutzt werden, um ein Atomprogramm zu verzögern. Fragt sich nur, was angemessen ist. SPIEGEL: Halten Sie denn die Liquidierung von Wissenschaftlern für legitim?
Ross: Nein, das hat auch das Weiße Haus klar gesagt. SPIEGEL: Sie setzen unverdrossen auf Diplomatie? Ross: Ich rechne spätestens nach den iranischen Parlamentswahlen im März mit einer Fortsetzung der unterbrochenen Verhandlungen. Wahrscheinlich werden diese Gespräche in Istanbul stattfinden. Die Türkei kann zwar nicht inhaltlich vermitteln, aber sie kann logistisch helfen. SPIEGEL: Bislang waren die Fünf-plus-einsGespräche eine Farce und dienten Iran dazu, Zeit zu gewinnen. Warum sollten sich die permanenten Mitglieder des UnoSicherheitsrats und Deutschland auf eine neue Runde einlassen? Ross: Ich kann die Frustration der westlichen Verhandlungsführer gut verstehen. Aber es gibt Hinweise darauf, dass die Iraner inzwischen verhandlungsbereiter sind. Ihre Kosten-Nutzen-Rechnung hat sich verändert. SPIEGEL: Sie glauben wirklich, dass die Iraner durch Druck kompromissbereit geworden sind? Ross: Zumindest in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass Teheran durchaus wusste, wann es Zeit zum Einlenken war. Staatsgründer Ajatollah Chomeini hat nach acht Jahren Krieg mit dem Irak zum „Giftbecher“ eines Waffenstillstands gegriffen. In den achtziger Jahren haben glaubhaft angedrohte Sanktionen des Westens dazu geführt, dass das Regime die Liquidierung im Ausland lebender Regimegegner einstellte. SPIEGEL: Welchen Einfluss wird ein möglicher Sturz des syrischen Präsidenten D E R
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Baschar al-Assad auf Teheran haben? Wird er Irans Kompromissbereitschaft erhöhen? Ross: Assads Sturz ist nicht mehr aufzuhalten. Wann es allerdings so weit ist, vermag niemand zu sagen. Kein Regime, das auf Unterdrückung und Überwachung basiert, kann sich langfristig halten: Assads Mannschaft ist eine Killermaschine gegen das eigene Volk. Sein Ende ist ein schwerer strategischer Schlag für Teherans Herrscher … SPIEGEL: … die im Interesse des Machterhalts umso mehr auf die Kernwaffe setzen könnten. Müssen wir uns nicht doch darauf einstellen, mit der iranischen Bombe zu leben? Ross: Dann würden die Nachbarn Irans, allen voran Saudi-Arabien, gleichfalls nach Nuklearwaffen greifen … SPIEGEL: … die Israel schon längst hat. Könnte für den Nahen Osten nicht gelten, was im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion funktioniert hat: das Gleichgewicht des Schreckens? Ross: Nein, Moskau und Washington haben sich damals trotz aller ideologischen Differenzen miteinander ausgetauscht. Zwischen Israel und Iran gibt es diese Kommunikation nicht, die Situation ist viel unberechenbarer. Teherans Regierende könnten auch versucht sein, ihre Waffe weiterzugeben. Eine Atommacht Iran – das ist die gefährlichste aller Aussichten. SPIEGEL: Gefährlicher als eine Bombardierung der iranischen Atomanlagen? Ross: Ja, sogar das. INTERVIEW: DIETER BEDNARZ, ERICH FOLLATH
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MOHAMED ABD EL GHANY / REUTERS
Ausland
Straßenkämpfe in Kairo: „Es gibt keine Sicherheit mehr“
Die Ultras von al-Ahly aber sind viel mehr als das, sie sind Helden. Als Kamelreiter und andere Schergen des alten Mubarak-Regimes vor einem Jahr versuchten, Demonstranten vom TahrirPlatz zu verjagen, stellten sich ihnen die Ahly-Ultras entgegen. Seitdem gelten sie als Beschützer der Revolution. Über die Ultras von al-Masry sagt Raid, dass sie eher unpolitisch seien. Deswegen Nach dem Blutbad gegen armeekritische Fußballfans kommt hatte er an diesem Mittwoch mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass vor seidas Land nicht zur Ruhe. Der nen Augen Menschen zertrampelt, erstoherrschende Militärrat profitiert chen und erschlagen würden. von der Verunsicherung. Gegen 19 Uhr, kurz nach Spielende, liefen plötzlich Tausende Menschen auf das ie Flaschen, die ihm entgegenflo- Spielfeld. Die Sicherheitskräfte, sagt Raid, gen am Bahnhof von Port Said, hätten die Tore geöffnet und sich zurückauch die Beschimpfungen, all das gezogen. „Die Menschen, die auf uns zufand Mohab Raid, 18, Anhänger des Kai- rannten, waren aber keine Fans mit Triroer Fußballvereins al-Ahly, noch normal. kots, sondern Leute von außerhalb mit Es war das übliche Ritual bei einem Aus- schmutziger Alltagskleidung. Sie kletterwärtsspiel seiner Mannschaft. Die Fans ten die Tribüne hoch und machten Jagd der Gegner von al-Masry, dem Erstliga- auf uns, mit Messern, Schwertern, KnüpVerein von Port Said, wollten sich mit peln, Eisenstangen.“ Während sich die Spieler von al-Ahly den angereisten Anhängern eine Prügelei liefern. „Eine rein sportliche Angelegen- und einige ihrer Fans noch in die Kabinen retten konnten, wurden andere an die heit“, sagt Raid. Aber irgendetwas stimmte dieses Mal Wand gedrängt und zu Boden geworfen. nicht, etwas war anders als sonst. Das Die hinteren Tore blieben verschlossen, spürte Raid, als er gegen 16 Uhr das Sta- das Stadion geriet zur Todesfalle. Auch dion betrat. „Es waren viel weniger Ord- Raid rannte um sein Leben, er lief über nungskräfte als sonst da. Ich habe mich Menschenkörper, vorbei an einem Toten ernsthaft gefragt, wie die uns schützen mit weit aufgeschlitztem Hals, „ein Bild wie aus einem Horrorfilm“, sagt er. sollen.“ Mit 74 Toten und über 1000 VerwunRaid ist nicht ängstlich, er ist Mitglied einer eingeschworenen Fangemeinschaft, deten steht Port Said für eine der blutigsder sogenannten Ultras. Ultras gibt es in ten Gewalttaten in der jüngeren Fußballfast jedem größeren ägyptischen Club, geschichte. Und Ägypten, dieses Land, sie sind rauflustig und nahkampferprobt. das gerade zum ersten Mal seit JahrzehnÄGYPTEN
Jagd auf die Helden
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ten eine freie Parlamentswahl abhielt, das nur mühsam erste Schritte in Richtung Demokratie geht, sorgt sich erneut um seine Zukunft. Nur wenige Stunden nach der Katastrophe lieferten sich Jugendliche in Kairo wieder Straßenschlachten mit der Staatsmacht, die viele als Drahtzieher des Massakers ansehen. In der Nacht zum Freitag gab es erste Unruhen auch in anderen Städten, seither ist die Lage in Ägypten wieder so bedrohlich, dass der Innenminister forderte, den erst kürzlich aufgehobenen Ausnahmezustand erneut auszurufen. Das spricht für die These, dass die Ausschreitungen von langer Hand geplant waren und der Militärrat inmitten der allgemeinen Verunsicherung seine eigene Position konsolidieren möchte. Denn niemand profitiert so sehr von der Eskalation wie die Militärjunta. Viele Ägypter sehnen sich derzeit nur noch nach Ruhe, aufgeschreckt durch Entführungen, Banküberfälle und Sabotageaktionen, die sich seit kurzem wieder häufen. Sie rufen nach der Armee, die endlich für Sicherheit sorgen soll. Zur These der inszenierten Gewalt en auch die Aussagen zahlreicher Augenzeugen. Sie bestätigen, dass die Sicherheitskräfte im Stadion bis zuletzt untätig zuschauten. Ganze Busladungen voller ortsfremder Schlägertypen seien herangekarrt worden. Merkwürdig auch, dass ausgerechnet der Gouverneur und der Polizeichef dem Spiel fernblieben. Sollten also die greisen Generäle um Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi die Order zum Angriff erteilt haben? Regierungsfreundliche Medien schrieben umgehend gegen die Gerüchte an: Weder das Innenministerium noch die Armeespitze seien für das „Fehlverhalten“ verantwortlich, „lokale Offiziere“ hätten eigenmächtig gehandelt. Unbestritten ist: Die Revolutionsbewegung, an deren vorderster Front Ultras der Kairoer Fußballclubs al-Ahly und alZamalek standen, ist den Generälen verhasst. Die Militärs befürchten, dass es eine Umkehr der Verhältnisse geben könnte und sie ihre Macht verlieren – so vergeht kein Moment, an dem sie die Jugend vom Tahrir-Platz nicht zu diskreditieren versuchen. „Der Militärrat will sich als Retter der Revolution verstanden wissen. Dabei verabscheut er insgeheim alles, was den Status quo verändert“, sagt ein Kenner der Armee. So überzeugte es auch niemanden, dass Feldmarschall Tantawi nach dem Massaker Militärflugzeuge nach Port Said schickte, den Verletzten Trost aussprach und von gerechter Strafe sprach. „Dieser Mann will uns verhöhnen“, sagt Mohab Raid, der Ahly-Anhänger, „sein Auftritt hat uns nur eines gezeigt: In Ägypten gibt es keine Sicherheit mehr.“ DANIEL STEINVORTH, VOLKHARD WINDFUHR
gehandelt hätten“. Der Monarch fügte hin- tiere kein Protokoll über diese „private zu, er werde versuchen, auf Regierung Unterhaltung“. Doch der Spitzendiplound Militärgerichte einzuwirken, damit mat galt unter Kollegen als verlässlich, den Putschisten „nicht allzu viel geschehe, sein Fernschreiben liegt im Politischen die ja doch nur das Beste gewollt hätten“. Archiv des Auswärtigen Amts. Die BunWar Juan Carlos insgeheim noch der desregierung hat es jetzt freigegeben**. Reaktionär, zu dem ihn Diktator Franco Die öffentliche Haltung des Königs erzogen hatte? Der Generalissimus hatte gegenüber den aufständischen Militärs ihn früh nach Spanien geholt und später ist bekannt: In jener Nacht, als die Guarzu seinem Nachfolger bestimmt. dia Civil unter Oberstleutnant Antonio Ein Dokument enthüllt Lahns Fernschreiben Nummer 524 sei Tejero im Parlament Regierung und Aberstaunliche Sympathien „außerordentlich wichtig“, sagt Julián geordnete zu Geiseln genommen hatte, des spanischen Königs Casanova, einer der führenden Zeitge- war es Juan Carlos, der mit den entscheifür die Putschisten von 1981. schichtler des Landes von der Universität denden Generälen telefonierte. So machZaragoza. Er selbst hatte sich bislang te er klar, dass die Aktion nicht von ihm n normalen Jahren ist der 23. Februar vergebens darum bemüht, etwa Prozess- als Oberbefehlshaber gedeckt war, wie ein guter Tag für den König. Dann akten der verhinderten Putschisten einzu- die Putschisten damals behaupteten. In gedenken die Spanier des Putschver- sehen. Alle Dokumente über den Schick- einer Fernsehansprache bekräftigte er die suchs von 1981 und feiern ihren Monar- salstag der spanischen Demokratie unter- „verfassungsmäßige Ordnung“. Umso erstaunlicher erscheinen chen als Retter der damals noch nun seine verständnisvollen Äujungen Demokratie. General Franßerungen. Offenkundig fiel es dem cisco Franco war erst seit gut fünf König schwerer als bislang beJahren tot, seine treuen Gefolgskannt, das Erbe der Diktatur abzuleute in hohen Rängen des Miliwerfen. Der in verschiedenen Waftärs wollten das Land in einen Kafengattungen ausgebildete Juan sernenhof zurückverwandeln. Das Carlos kannte die hohen Militärs hat Juan Carlos I. verhindert. sehr gut. General Alfonso Armada, Doch 2012 ist kein normales einer der Putschführer, war 17 JahJahr. Kurz vor dem Gedenktag gere lang sein Sekretär gewesen. Elf langt ein Dokument an die ÖffentTage vor dem Staatsstreich hatte lichkeit, das einen Schatten auf ihn der König zum stellvertredie Glanzgestalt des lupenreinen tenden Generalstabschef des HeeDemokraten unter der spanischen res ernannt. Diese Nähe hatte Krone wirft. Armada genutzt, um den MitverLothar Lahn hat es verfasst, schwörern vorzuspiegeln, er hanzwischen 1977 und 1982 deutscher dele im höchsten Auftrag. Dessen Botschafter in Madrid und von Haltung, sagte der König zu Lahn, Juan Carlos geschätzt. Am Abend habe ihn enttäuscht. Vor die andes 26. März 1981 empfing der deren militärischen Verschwörer damals 43-jährige Monarch den stellte er sich schützend in typi16 Jahre älteren Diplomaten zum schem Korpsgeist. Vier-Augen-Gespräch im Zarzuela-Palast. Juan Carlos offenbarte Doch warum öffnete sich der seinem Besucher, wie er über den Monarch ausgerechnet einem ausPutschversuch dachte: überraländischen Diplomaten? Redete schend positiv. er sich seinen Ärger von der SeeDer König „ließ weder Abscheu le und setzte auf Vertraulichkeit? noch Empörung gegenüber den Oder wollte er das Geschehene Akteuren erkennen, zeigte vielherunterspielen aus Sorge um das mehr Verständnis, wenn nicht gar König Juan Carlos, Botschafter Lahn, Putschist Tejero* Ansehen seines Landes? Sympathie“, berichtete Lahn nach „Disziplin, Ordnung, Sicherheit und Ruhe“ Schließlich war die BundesreBonn. Juan Carlos habe „fast entpublik der wichtigste Fürsprecher schuldigend“ erklärt, dass „die Aufrührer liegen 50 Jahre lang der Geheimhaltung. Spaniens, das in die Europäische Gemeinlediglich nur das gewollt hätten, was wir Noch nie habe es eine so klare Bestäti- schaft und in die Nato strebte. Man solle alle erstrebten, nämlich Wiederherstel- gung dafür gegeben, dass der junge König den 23. Februar „möglichst bald wieder lung von Disziplin, Ordnung, Sicherheit „nicht derselbe Demokrat war, der er heu- vergessen“, sagte Juan Carlos zu Lahn, te ist“, so der namhafte Franquismus-For- er sei zuversichtlich, dass es keine Wieund Ruhe“. Ernsthaft behauptete der Bourbone ge- scher. derholung geben werde. An der Authentizität der von Lahn genüber Lahn, nicht etwa die Putschisten, Zum Glück für den König versickerte sondern der demokratisch gewählte ehe- überlieferten Äußerungen des Königs gibt Lahns Bericht in der Bonner Bürokratie. malige Ministerpräsident Adolfo Suárez es wohl keinen Zweifel. Lahn kann man Kanzler Helmut Schmidt kannte nur die trage die Verantwortung für den versuch- zwar nicht mehr fragen, er starb 1994. helle Seite des Spaniers. Der König spiele ten Staatsstreich. Denn der Reformer aus Das spanische Königshaus will sich zum eine „hervorragende Rolle“, schwärmte dem alten Regime, den Juan Carlos 1976 Inhalt des Gesprächs nicht äußern. In den er Wochen nach Lahns Besuch im Palast. an die Schaltstelle der Macht gebracht offiziellen Archiven, so ein Sprecher, exisEin Jahr später lud der Bundeskanzler hatte, habe „das Militär verachtet“. Er, das Königspaar in sein Haus nach Hambei Lahns Antrittsbesuch 1978; unten: 1981. der König, habe Suárez öfter vergeblich ***Oben: burg-Langenhorn ein. Es gab Aal, KrabInstitut für Zeitgeschichte (Hg.): „Akten zur Auswärgeraten, „auf die Vorstellungen der Mili- tigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1981“. ben und Rote Grütze. tärs einzugehen, bis diese nun selbständig Oldenbourg Verlag, München; 2250 Seiten; 158 Euro. KLAUS WIEGREFE, HELENE ZUBER ZEITGESCHICHTE
Abscheu? Empörung?
CIFRA GRAFICA FOR UPI (O.); ULLSTEIN BILD / AP (U.)
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RUSSLAND
Putins ungezogene Kinder Russlands Jugend wächst so frei auf wie noch nie. 20 Jahre nach dem Ende des Kommunismus verändert die erste postsowjetische Generation das Land – ob es dem ehemaligen und künftigen Staatschef t oder nicht.
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evor der Morgen über dem Kreml bestellt gewesen, auch deshalb studiert graut, macht sich Marat Dupri dar- er nun Rechtswissenschaften. Marat setzt sich auf die bronzenen an, Peter den Großen zu bezwingen. Marat, 20 Jahre alt, braune Locken, Schultern von Peter und wartet auf den trägt eine grünkarierte Jacke und blaue Sonnenaufgang. Es ist einer dieser MoHandschuhe gegen den eisigen Wind. Er mente, in denen er sich fühlt „wie der steht am Ufer der Moskwa, vor ihm ragt freieste Mensch auf der Welt“, wird er das Denkmal in den Nachthimmel, mit hinterher sagen. Zu seinen Füßen leuchdem Moskau Zar Peter I. ehrt, ein 98 Me- ten die roten Sterne der Kreml-Türme, Erinnerungen an das vergangene komter hoher Koloss aus dunklem Stahl. Marat und drei Gefährten schleichen munistische Weltreich. Seit den Zaren gilt in diesem Reich eine sich an Videokameras und Wachleuten vorbei. Sie sind sogenannte Roofer, sie ungeschriebene Regel, sie lautet: Russsuchen den besten Ausblick und den land wird von oben reformiert. Stalin vergrößten Nervenkitzel, deswegen erklim- kaufte die Ernte der Bauern, um Geld für men sie Moskaus schwerbewachte Dä- Fabriken und die Industrialisierung zu cher und Türme. Marat klettert die rosti- haben, und ließ allein in der Ukraine 3,5 gen Sprossen am Rücken des Denkmals Millionen Menschen verhungern. Gorbatschows Perestroika gab dem Land eine empor. Die Russen nennen Peter I. „den Gro- Freiheit, mit der es nichts anzufangen verßen“, weil dieser sein Land veränderte wie mochte. Zumindest damals noch nicht. Wladimir Putin entmachtete die Oliwenige andere. Er wollte Russland ein europäisches Antlitz geben, tat dies aber garchen und verordnete den Russen den mit rücksichtsloser Brutalität und ließ Staatskapitalismus, wofür sie ihm zuAufstände hungernder Bauern brutal nie- nächst dankbar waren, denn er brachte derschlagen. Beim Bau seiner neuen bescheidenen Wohlstand, wenn auch keiHauptstadt St. Petersburg starben Zehn- ne politische Mitbestimmung. Marat und seine Altersgenossen waren tausende Zwangsarbeiter. Marat Dupri, geboren am 25. Oktober keine zehn Jahre alt, als Putin Ende 1999 1991, ist ein Kind des Umbruchs. Er kam Präsident wurde. An Vorgänger Boris Jelauf die Welt, als das Land seiner Eltern zin können sie sich kaum erinnern. Sie starb. Sie haben ihm von damals erzählt, sind Kinder des Systems Putin. Nie zuvor ist eine Generation Russen von Lebensmittelkarten und Hunger. Vom Wasser, das durch die Decke des so frei aufgewachsen wie diese. Den SoMoskauer Krankenhauses tropfte, in dem zialismus kennt sie nur aus Schulbüchern. seine Mutter entband. Gerade einmal Massenkult und Obrigkeitshörigkeit der zwei Monate war es da her, dass Panzer Kommunisten sind ihr fremd. Als Boris Jelzin 1993 Panzer auf das durch Moskau gerollt waren, dass Hardliner der Kommunistischen Partei und aus Parlament feuern und eine neue Verfasden Reihen des Geheimdienstes KGB ge- sung verabschieden ließ, die dem Präsigen den Reformer Michail Gorbatschow denten nahezu uneingeschränkte Macht gewährte, da trugen Putins ungezogene geputscht hatten. Als 2003 der Oligarch Michail Chodor- Kinder noch Windeln. Als ihre Eltern in kowski verhaftet wurde, war Marat zwölf der Krise 1998 ihr Erspartes verloren, waJahre alt. Heute bewundert er Chodor- ren sie gerade eingeschult worden. Sie sind mit „South Park“ und den kowski, weil der „für seine Überzeugung ins Gefängnis ging“. Die Justiz sei nicht „Simpsons“ groß geworden, anarchischen unabhängig, sagt Marat, die Urteile seien Zeichentrickserien aus den USA. Sie nut94
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Putin-Mädchen Lena, Dachkletterer Marat: Sie
ANNA SKLANN / DER SPIEGEL
zen iPads, sie lieben Smartphones, sie sind täglich im Internet unterwegs. Mit Gleichaltrigen in Europa und Amerika haben die meisten mehr gemein als mit den eigenen Eltern. Die Grenzen zwischen Ost und West verschwimmen. Viele von Putins Kindern sind 2012 der Armut entwachsen und gehören zur neuen Mittelschicht. Ihre Erinnerungen an die Entbehrungen früherer Jahre sind verblasst wie andere Eindrücke aus Kindertagen. Im Staats-TV müht sich die Kreml-Propaganda noch, den Russen Dankbarkeit für die Stabilität unter Putin einzuhämmern. Russlands Jugend aber schaut kaum noch fern, sie bewegt sich in den freien Welten des Internets, sie informiert und organisiert sich über Blogs, Facebook und Twitter. Zum ersten Mal seit Generationen kann sie der Propaganda entkommen; große Teile ihres Lebens entziehen sich der Kontrolle des Kreml. Das ist neu und hat schon jetzt zu einem Wertewandel und einem neuen Gesellschaftsbild geführt. Putins Kinder haben keine Angst mehr, so unterschiedlich sie sein mögen. Sie stehen zu ihren Idealen. Sie träumen von Demokratie und freier Presse. Von einer Karriere als Politikerin oder Modejournalistin. Oder von einem nationalistischen Russland. Aber hat die Generation Putin auch die Kraft, mit dem seit den Zaren geltenden Paradigma zu brechen – und das Land von unten zu verändern?
ANNA SKLANN / DER SPIEGEL
Die Dissidentin
lieben Smartphones, nutzen iPads und sind täglich im Internet unterwegs D E R
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Wera Kitschanowa, 20, hat ihren in einen neuen Einband geschlagen, er verbirgt den doppelköpfigen Zarenadler. Zwei Hände sind auf der Hülle abgebildet, sie sprengen eine Kette. Das Mädchen mit dem Pagenschopf will verhindern, dass Putin zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt wird. Wera sitzt im Eat & Talk, einem Café in Kreml-Nähe, Treffpunkt von Oppositionellen und Journalisten. Es gibt Internet, billigen Wein und Bleistifte, um Pläne auf die Tischdecken aus Papier zu kritzeln. Wera tippt in ihren Laptop. Mit 14 Jahren hat sie für ein Lokalblatt geschrieben, inzwischen arbeitet sie für die Kremlkritische Zeitung „Nowaja gaseta“. Ein paar hundert Meter südlich des Eat & Talk erschoss ein nationalistischer Killer im Januar 2009 Anastassija Baburowa, eine Mitarbeiterin der „Nowaja gaseta“. Seit diesem Tag wollte Wera für die Zeitung schreiben. An der Journalismusfakultät der Moskauer Lomonossow-Universität, die Wera besucht, hat Anna Politkowskaja studiert, die russische Starreporterin, die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien enthüllte und 2006 ermordet wurde. Die „Jourfak“ bildet seit über 60 Jahren Journalisten aus, ein Hort der Pressefrei95
heit aber ist sie nie geworden. Stattdessen dient das klassizistische Gebäude der Staatsmacht immer noch als Bühne für die Inszenierungen der Macht. Als Präsident Dmitrij Medwedew hier im Oktober die Treppen des säulenbestandenen Atriums hinaufging, brandete Jubel auf für den Kreml-Chef, der im Netz gerade verspottet wurde, weil er zugunsten Putins auf eine zweite Amtszeit verzichtet hatte. Selig lächelnd winkte Medwedew und lobte die besondere Energie des Ortes. Die hatte der Kreml organisiert. Im Publikum saßen handverlesene Aktivisten loyaler Jugendgruppen, ein TV- gab Regieanweisungen: „Ihr müsst lächeln und nach jeder Antwort klatschen.“ Männer des Geheimdienstes stoppten Jourfak-Studenten am Eingang. Und Wera Kitschanowa wurde festgenommen. „Sie ist eine mittelmäßige Studentin mit einer Vorliebe für Krawall“, sagte Fakultätspräsident Jassen Sassurski später. Er steht der Jourfak seit 1965 vor. Er ist 82. Wera nimmt regelmäßig an den Protestdemonstrationen in Moskau teil, abends organisiert sie Debattierzirkel für die nicht registrierte Freiheitliche Partei. Sie träumt von einem Land, in dem „betrunkene Polizisten nicht mehr auf Bürger losgehen“. Die Rebellion gegen Putin, die mit Massendemonstrationen gegen die gefälschte Parlamentswahl im Dezember begann, ist auch ein Konflikt der Generationen. Auf der einen Seite steht eine weltgewandte Jugend, auf der anderen stehen ihre Eltern und Großeltern, Krisen und Kriege haben sie müde gemacht. Sie schätzen die Stabilität der Putin-Jahre, sie mieden bislang die Politik. Manchmal fragt Wera daheim: „Wo wart ihr, als sich der Präsident 2000 den Fernsehsender NTW unter den Nagel riss?“ Putin ließ den damals von Oligarchen kontrollierten Oppositionskanal durch Gazprom übernehmen. Seitdem sendet NTW die Propaganda des Kreml. Nach Medwedews Besuch an der Jourfak wurde Wera von NTW-Leuten interviewt, ausgestrahlt aber wurden ihre Worte nie. Wenn sie nachts spät nach Hause kommt, weil die Polizei sie wieder einmal nach einer Demonstration verhört hat, verschont sie ihre Mutter mit der Wahrheit und sagt: „Ich war tanzen.“
Das Putin-Mädchen 370 Kilometer westlich von Moskau quält Lena Sanizkaja ihre Stöckelschuhe durch den Matsch der Lenin-Straße. Die 20-Jährige hat ihr Mathematikstudium fast beendet, sie führt die Ortsgruppe der Putin-Jugend an, der Jungen Garde in Smolensk, einer Provinzstadt an der Grenze zu Weißrussland. Lena hofft, dass Putin niemals stürzen wird. Mag der Kreml den Kampf um die Herzen junger Leute wie Wera in Moskau 96
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Ausland
Kriegskind Taissa: „Manchmal denke ich ans Auswandern“
auch verloren haben, die 300 000 Mitglie- „Nüchtern betrachtet“, sagt sie, „kann irder kremltreuer Jugendgruppen bilden gendein dahergelaufener Dörfler kandieine landesweit gut vernetzte Kampfre- dieren. Ist das richtig? Eine Region zu reserve. Wenn Lena an ihrem Schreibtisch gieren ist eine Herausforderung. Unser mit Beamten und Politikern telefoniert, Präsident aber kann Gouverneure ernenschaut ihr Wladimir Putin über die Schul- nen, die dieser Aufgabe gewachsen sind.“ ter, als lebensgroßer Pappkamerad. „Pu- Sie fremdelt mit der Demokratie. Lena wurde am 20. März 1991 in einer tin, unser Held“ hat jemand auf die PappGarnisonsstadt am Amur geboren, dem figur geschrieben. Putin sei ein „Vorbild, an dem sich un- Grenzfluss zu China. 6000 Kilometer östsere Jugend messen kann“, sagt Lena. Mit lich von Moskau diente ihr Vater als Solihm habe ein neuer, patriotischer Geist dat. Woran sie sich erinnert? „An das moEinzug gehalten. „Früher liefen viele Leu- natelange Warten auf seinen Sold. An te in T-Shirts mit US-Fahne herum. Heute meine Mutter, die kein Geld zum Einkausind sie stolz auf unser Land und tragen fen hatte“, sagt Lena. Putin habe mit Russlands Fahne auf der Brust oder ein solchen Missständen aufgeräumt, heute bekomme jeder pünktlich sein Geld. Bild von Putin.“ Doch die Kader von Putins Partei EiniLena trägt Netzstrümpfe und Ohrringe mit pinkfarbenen Teddybärchen. Sie ges Russland sind inzwischen als „Gauner wohnt noch bei ihren Eltern, träumt aber und Diebe“ verschrien, die es verstehen, von einer Politikerkarriere in Moskau: sich Privilegien zu sichern. Als sie Putin Am liebsten würde sie im Weißen Haus im September zum Kandidaten kürten, an der Moskwa arbeiten, dem Sitz der saß auch Lena im Publikum. Der Kreml Regierung. In der Gebietsverwaltung von hatte sie wie Tausende Jungaktivisten Smolensk hat sie ein Praktikum gemacht nach Moskau gekarrt. Sie ist gern nach und erreicht, worauf alle Aktivisten der Moskau gefahren, aber wenn sie an der Kreml-Jugend hoffen: Die Staatsmacht Universität gefragt wird, warum sie für ist aufmerksam auf sie geworden. Wenn Einiges Russland kämpfe, fallen ihr keine sie durch Smolensk läuft, stoppt schon Antworten ein, außer dieser einen: „Es mal ein Land Rover neben ihr. Der Gou- gibt keine Alternative.“ verneur kurbelt dann die Scheibe herunter und fragt, ob er sie ein Stück mitneh- Das Kriegskind men dürfe. Taissa Dschemalajewa, 20, zupft züchtig Putin hatte 2004 die Direktwahlen für ein Stück Stoff über ihr Haar. Sie trägt die Provinzgouverneure abgeschafft, der Kopftuch, aber eines von Louis Vuitton. Kreml ernennt sie seither. Unter dem Die junge Muslimin aus Tschetscheniens Druck der jüngsten Proteste will er die Hauptstadt Grosny würde am liebsten Wahlen nun wieder einführen. Aber Le- Karriere als Modejournalistin machen. na zweifelt, ob ihr Land dafür bereit ist. Neben dem Studium schreibt sie für „SluD E R
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Faschist Swetoslaw: „Das Ziel ist die Ergreifung der Macht“
chi chodjat – Rumors“, ein Lifestyle-Ma- mistische Rebellen vorgeht, die im Nordgazin für Tschetscheniens archaische Ge- kaukasus für einen Gottesstaat kämpfen. sellschaft, in dem Frauen Tipps für sittsa- Zwei Kriege hat Russland um Tschetscheme Kopfbedeckungen finden und Männer nien ausgefochten. Dank Kadyrow müssen Moskaus Soldaten nun nicht mehr Testberichte über Pistolen. An keinem anderen Ort hat Putins Haus um Haus erobern. Stattdessen führt jetzt Taissa Tag für Herrschaft so tiefe Spuren hinterlassen. 1999/2000 ließ er die Hauptstadt der isla- Tag einen zähen Abwehrkampf, sie misch geprägten Republik sturmreif schie- kämpft um jeden Zentimeter Haut. Die ßen, 2004 befahl er den Wiederaufbau. Ärmel hat sie gerade so weit über die ElNun aber droht das säkulare Russland lenbogen gezogen, wie es die Sittenwächhier den Kampf gegen einen erstarken- ter noch durchgehen lassen. Mit bloßem Haupt und ohne langen Rock aber darf den radikalen Islam zu verlieren. Zwei Monate vor Taissas Geburt am sie keine Vorlesung an der Universität 11. November 1991 hatte sich Tschetsche- mehr besuchen. Moskaus Statthalter setzt nien für unabhängig erklärt. Drei Jahre auf einen strammen Islamisierungskurs. Taissa würde gern leben wie junge später schickte Moskau seine Truppen in die Republik; 25 000 Menschen starben Frauen in Moskau und im Westen: modeallein bei der Eroberung Grosnys. Ver- und selbstbewusst, schön möchte sie sein. „Manchmal denke ich ans Auswanwandte brachten Taissa damals ins benachbarte Dagestan. Sie erinnert sich dern“, sagt sie. Ab und an drückt sie auf noch heute an die Flucht und an die Lei- dem Handy versehentlich die 911, die Notchen an den Wegrändern. Es gibt keine rufnummer, die sie aus US-Filmen kennt. Kinderfotos von ihr. „Niemand posiert Der Faschist vor Ruinen“, sagt Taissa. Taissa geht durch eine Einkaufsage Swetoslaw Wolkow hat breite Schultern auf Grosnys Flaniermeile, die heute Pu- und ein Faible für Deutschland. Ein tin-Prospekt heißt. Wie im hedonistischen schwarzer Pullover des Brandenburger Moskau werden hier Burberry und Car- Neonazi-Labels Thor Steinar bedeckt sein din verkauft, an den Wänden aber mah- Tattoo: „Meine Ehre heißt Treue“ hat er nen Koran-Zitate und fromme Verse zu sich in den Unterarm stechen lassen, den Gehorsam: „Und jeder, dem Allah den Wahlspruch von Hitlers SS. Glauben schenkte, muss Könige und SulDer 20-Jährige wuchs auf, wo Russland tane lieben und sich ihren Befehlen un- „in den neunziger Jahren am kriminellsterwerfen“. ten war“, sagt er. Ljuberzy ist eine geMoskaus örtlicher Sultan heißt Ramsan sichtslose Plattenbausiedlung hinter der Kadyrow. Menschenrechtler beschuldigen Stadtgrenze Moskaus. Die Mafia verübte ihn der Folter und des Mordes. Der Kreml dort Raubüberfälle, kontrollierte Nachtaber schätzt ihn, weil er hart gegen isla- clubs und ganze Fabriken. Vor seinem D E R
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Haus erinnert eine Tafel an das Opfer eines Attentats. Swetoslaw war drei, als er mit seiner Mutter vom Spielplatz verfolgte, wie die Mörder abdrückten. Swetoslaw trinkt und raucht nicht und treibt viel Sport. „Straight Edge“ heißt die Philosophie, der er folgt, übersetzt „gerade Kante“. Er gehört zu einer neuen Generation von Neonazis in Russland, weniger auffällig als die Skinheads von früher und rhetorisch gewandter. Sie predigen den bewaffneten Kampf gegen den Staat; ihr Hauptfeind, sagt Swetoslaw, sei die Russische Föderation. „Das Ziel ist die Ergreifung der Macht.“ In einem Wald vor Moskau übt er dafür mit Gleichgesinnten im Kampfanzug das Schießen mit einem Jagdkarabiner. Sie träumen von einem anderen Russland: national, slawisch und ohne den seit 1864 dazugehörigen Kaukasus. „Trennung der Existenzen“ nennt Swetoslaw das. Im Internet schürt er den Hass auf Muslime und verbreitet ein brutales Video. Es zeigt einen Tschetschenen, der einer Russin die Kehle durchschneidet. „Den Toleranten und Geduldigen gewidmet“, hat Swetoslaw darüber geschrieben. Bei den Protesten in Moskau flattert zwar nur vereinzelt die schwarz-gelb-weiße Fahne der Nationalisten neben den Bannern der liberalen Opposition. Landesweit aber würden bei freien Wahlen wohl die rechten Nationalisten siegen und nicht die im Westen favorisierten Demokraten.
Der Dachkletterer Marat, der Roofer, sitzt am Rand eines Dachs an der Moskwa. Am anderen Ufer flattert Russlands Fahne über dem Weißen Haus, dem Sitz der Regierung. Im vierten Stock hat Putin ein Büro. Mal sagt Marat, der Premier sei der „redlichste unter den Kandidaten“ bei der Präsidentschaftswahl. Dann wieder schimpft er über die „durch und durch korrupte Staatsmacht“, deren Schöpfer Putin sei. Mal träumt er von einem Leben in der Schweiz, weil „alles dort so übersichtlich und geordnet ist“. Dann wieder erzählt er von der Schwermut, die ihn überfällt, wenn er Moskau verlässt. Hin- und hergerissen ist er, zwischen Auswandern und Bleiben, zwischen so unterschiedlichen politischen Vorbildern wie dem inhaftierten Ex-Oligarchen Chodorkowski und Premier Putin. Sich nicht sofort entscheiden zu müssen, auch das ist neu in der Generation Putin. „Wir leben nicht mehr unter der Knute der Sowjetunion, die jedem Bürger ihren Standpunkt aufzwang, heute haben wir die freie Wahl“, sagt Marat. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass er sich das Recht, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, von niemandem nehmen lassen will. BENJAMIN BIDDER
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TEL AVIV
Frieden an Apfelstrudel Die Küchenchefs von Kanzleramt, Elysée, Kreml und Weißem Haus kochen für die Völkerverständigung.
GLOBAL VILLAGE:
U
AMIT SHABI / LAIF
lrich Kerz hält einen Teller in der mal wollen sie nicht nur kochen und gute Frage, aber Ulrich Kerz umschifft sie eleHand, darauf liegen: Apfelravioli, Laune verbreiten, sondern auch ein biss- gant. „Frau Merkel schätzt die leichte, reApfelstrudel und Apfel-Joghurt- chen Politik machen, auf ihre Weise: mit gionale Küche, mit viel frischem Gemüse Schnitte an Apfelgelee. Der Apfel ist sein der Kraft des guten Essens. Denn am Ess- und Fisch aus der Ostsee.“ Es ist nicht immer einfach, Deutschland tisch schließen Politiker Verträge, schmieBeitrag zum Frieden in Nahost. Kerz würde jetzt gern etwas endes den Friedenspläne, begraben Feindschaf- kulinarisch in der Welt zu vertreten. Es sagen, aber das ist nicht so einfach. „Die ten. Hat nicht schon der berühmte fran- gibt keine Austern, keine Trüffel, keinen Sprache ist der Knackpunkt. Man will ja zösische Diplomat Charles-Maurice de Kaviar, dafür Kartoffeln, Kohl und nichts Falsches sagen oder irgendwas, was Talleyrand gesagt: „Bringt mir gute Kö- Schwein. Auch sonst ist es für den Deutschen schwer, mit seinen Kollegen mitjemanden stören könnte“, sagt Kerz. Er che, und ich mache gute Verträge“? An diesem Morgen sitzen die fünf Kü- zuhalten. In Washington stehen gleich 9 kann jetzt besser verstehen, wie seine Chefin Angela Merkel sich oft fühlen chendiplomaten im Hotel Herods an der Köche am Herd, in Paris 18, in Moskau muss. Weil er sich nicht sicher ist, was Strandpromenade von Tel Aviv. Vor ih- 80, dazu testet dort noch ein Labor alle gerade die offizielle deutsche Haltung nen aufgereiht stehen sechs Teller. Ihr Lebensmittel auf mögliche Gifte. Kerz ist der einzige Koch. Kuzum israelisch-palästinenlinarisch betrachtet liegt sischen Konflikt ist, sagt Deutschland weit abgeer: „Wir wollen gemeinschlagen hinter Monaco, sam die Message rübervier Köche, wo Fürst Albringen, dass wir den Friebert II. täglich mit seinem den unterstützen.“ Küchenchef die Menüfolge Ulrich Kerz, 53, ist der Küchenchef des Kanzlerdiskutiert und Fürstin Charamts, ein freundlicher lène gern mal mitkocht. Rheinländer mit praktiIndes hat Deutschland schem Kurzhaarschnitt. Er jetzt politisch die Fühist früher als Koch zur See rungsrolle in Europa, da gefahren, zuletzt auf der müssen die anderen sich MS „Deutschland“. „Eianen. Wenn Nicolas gentlich wollte ich mir ein Sarkozy in Berlin ist, dann schönes Plätzchen in der kocht Kerz für ihn, was er Südsee oder in Australien auch sonst so kocht: Bouilsuchen“, sagt er. Stattlon, Roulade und zum dessen landete er im KanzNachtisch eine schöne leramt. Er kochte für Quarkspeise mit Früchten. Gerhard Schröder, jetzt „Und Herr Sarkozy schätzt Küchenchef Kerz (3. v. r.), Kollegen: Bouillon, Roulade, Quark kocht er für Angela Merdas deutsche Essen sehr.“ kel: Frühstück, MittagesDas deutsch-französische sen, Abendessen, StaatsSonderverhältnis, es gilt banketts und Galadiners. In letzter Zeit Friedensplan sieht so aus: Salat von Jeru- auch in der Küche. Merkels Küchenchef ist viel zu tun, Politiker aus der ganzen salemer Artischocken an schwarzem Trüf- und sein französischer Kollege Bernard Welt pilgern nach Berlin. Angela Merkel fel, Rotbarbe mit Rucola-Pesto, Mangold- Vaussion tauschen Rezepte und Lieblingsrettet dann meistens den Euro und Kerz salat an Paprikasauce, Borschtsch mit gerichte ihrer Chefs aus, man lernt die Stimmung, beides nicht unwichtig. Crème fraîche, Wolfsbarsch mit Zucchini- voneinander, vor allem lernt Deutschland Kerz sagt: „Gutes Essen soll dazu beitra- blüten. Zum Dessert: Symphonie vom von Frankreich. „Die Franzosen sind gen, hartnäckige Probleme zu lösen und Apfel. Das Rezept aus dem Kanzleramt. Perfektionisten“, sagt Kerz. Sie ordnen Das Essen wird kalt, aber das macht das Essen auf Platten an, sortiert nach Flair reinzubringen.“ Auch in Israel gibt es hartnäckige Pro- nichts. Sie werden das Menü am Abend Form und Farbe. „Aber am Ende ist eine bleme. Ulrich Kerz würde gern mithelfen, noch mal kochen, für 200 Galagäste, zu- Karotte auch in Frankreich nur eine Kasie zu lösen, deswegen ist er hier, zusam- sammen mit israelischen und palästinen- rotte.“ men mit den Küchenchefs des Elysée- sischen Köchen. Der Erlös geht an das Auch Deutschland und Frankreich waPalasts und des Kreml, des Weißen Hau- Schimon-Peres-Friedenszentrum, das Is- ren mal Feinde. Vielleicht kann die Trüfses und des Fürstentums Monaco, der raelis und Palästinenser zusammenbringt. feldiplomatie ja genauso in Israel und PaKerz ist zum ersten Mal in Israel und lästina Frieden stiften. „Die Bundeskanzkulinarischen Supermächte der Welt. Die Köche treffen sich jedes Jahr, sie würde gern über seine Eindrücke reden, lerin unterstützt unser Projekt auf jeden sind Mitglieder im „Club des chefs des aber da schwenkt schon eine Reporterin Fall sehr“, sagt der deutsche Küchenchef. chefs“, dem Club der Köche von Königen vom russischen Fernsehen auf ihn zu. Sie „Ist ja auch mal Zeit, dass hier jemand und Staatsoberhäuptern. Sie waren schon fragt: „Hat Frau Merkel schon mal eine was macht.“ in Peking, Kairo und Moskau. Aber dies- Diät gemacht?“ Das ist eine schwierige JULIANE VON MITTELSTAEDT 98
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Szene FOTOGRAFIE
Mantel der Geschichte
V&A IMAGES
Das Model war schon 42, hatte vier Kinder zur Welt gebracht und einen anstrengenden Beruf. Zudem war es weltberühmt und schon Tausende Male in Berufskleidung aufgenommen worden. Der Fotograf wollte etwas Neues ausprobieren, kein weiteres Bild mit Diadem und Brokatkleid. Er schlug vorsichtig vor, die Dame in einen blauen Umhang zu hüllen, wie ihn damals irale auf den Schiffen der Royal Navy noch gelegentlich trugen. Das Kleidungsstück wurde beschafft, und so entstand 1968 eines der einprägsamsten und schönsten Fotos von Queen Elizabeth II. Fotografiert hat es Cecil Beaton (1904 bis 1980), der über Jahrzehnte mit seinen Aufnahmen das Image der Royals mitbestimmte. Und weil die Königin in diesem Jahr ihr 60. Thronjubiläum begeht, zeigt das Londoner Victoria and Albert Museum die schönsten Beaton-Fotos in einer prächtigen Ausstellung (8. Februar bis 22. April). Die Sitzung im iralsmantel war die letzte, die Beaton bei der Queen gewährt wurde. Danach ließ sie andere berühmte Lichtbildner vor, unter anderen ihren Schwager Lord Snowdon, Annie Leibovitz und jetzt auch, im vergangenen Jahr, den Deutschen Thomas Struth. Beaton-Foto von Elizabeth II., 1968
gungslose Liebe noch vor dem ersten Kuss. Er schickt Rosen und überreicht ihr einen Ring, er nimmt Judiths Freunde und ihre Mutter durch Eloquenz und Freundlichkeit für sich ein. Mit ihrem wachsenden Unbehagen angesichts Auch auf der Bühne ein Hit: Derzeit der erdrückenden Liebesschwüre von läuft in Berlin en suite die TheaterfasHannes stößt Judith bei anderen auf sung des Bestsellers „Gut gegen NordUnverständnis. Als sie sich von ihm wind“. Daniel Glattauers großartiger trennt, steht sie allein da. Nur das LehrE-Mail-Roman, 2006 publiziert, wird in mädchen aus ihrem Lampengeschäft, der Komödie am Kurfürstendamm von sonst nicht gerade auf ihrer WellenlänTanja Wedhorn und dem „Tatort“ge, hilft ihr. Denn Hannes denkt nicht Kommissar Oliver Mommsen kongenial dran, die Trennung zu akzepumgesetzt. Das Buch machte tieren. Er verstärkt seine Lieden Autor – zusammen mit der besattacken, bis sie bedrohlich Fortsetzung „Alle sieben Welwerden. Er entwickelt sich zum len“ (2009) – zum Auflagenheimtückischen Stalker. Alpmillionär. In dieser Woche erträume und Ängste führen Juscheint nun der neue Roman: dith direkt in die Psychiatrie. „Ewig Dein“. Kein leichtes Das alles ist so weit nicht uninSpiel für Glattauer, 51, der teressant, auch wenn Glattauer nicht noch einmal auf das Ermit der Ich-Perspektive besser folgsrezept des Mail-Dialogs zurechtkommt, als wenn er – setzen konnte. Der Titel führt, wie hier – in der dritten PerGott sei Dank, in die Irre. Was Daniel son erzählt. Und leider hat er zunächst aussieht wie das perGlattauer dieses Mal für seine Geschichte fekte Liebesglück für Judith, Ewig Dein so gar keinen überzeugenden entpuppt sich schnell als Wahn Deuticke Verlag, Schluss gefunden – auch wenn eines nach außen hin perfekten Wien; 208 Seiten; Judith am Ende gegen den StalArchitekten. Hannes erklärt 17,90 Euro. ker siegreich bleibt. der jungen Frau seine bedinL I T E R AT U R
ALAMODEFILM
KINO IN KÜRZE
Szene aus „Der Junge mit dem Fahrrad“
„Der Junge mit dem Fahrrad“
erzählt von einem zwölfjährigen Streuner (Thomas Doret), der Tag für Tag durch die Stadt Lüttich radelt. Sein Vater hat ihn in einem Kinderheim abgegeben, seine Freunde sind kriminell, sein Schicksal scheint besiegelt, bis sich eine Friseurin (Cécile de ) seiner annimmt. Die belgischen RegieBrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, die für diesen Film auf dem Festival von Cannes ausgezeichnet wurden, bringen das Sozialdrama auf Touren, indem sie sich ihrem Helden an die Pedale heften. Ein warmherziger, witziger Film, der den Zuschauer daran teilhaben lässt, wie Freundschaft, Vertrauen und Liebe entstehen. 100
Außen perfekt
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Kultur siker wurde ich dort nicht ernst genommen. So ging das zwei Jahre, bis eine Sachbearbeiterin mir sagte, ich solle mich doch selbständig machen. Also bin ich in ein Existenzgründerseminar gegangen und habe angekündigt, mit einem Unternehmensberater einen Geschäftsplan zu erstellen. Jetzt glauben sie, ich würde riesige Mengen Geld verdienen.
MUSIKER
„Ich habe kein Konto“ Der Rapper Leonard Kroppach alias Tapete, 28, über seinen Konflikt mit dem Jobcenter Berlin-Mitte SPIEGEL: Herr Kroppach, das Jobcenter
Szene aus „Le voyage dans la lune“
POP
Männer im Mond Sie hatten es schon immer mit dem Mond. „Moon Safari“ hieß das Album, mit dem das französische Duo Air 1998 berühmt wurde, eine Platte, die mit luxuriösen Retro-Klängen Phantasien ausmalte wie die, in einem alten VWBus zum Mond zu schweben. Eine D E R
Kroppach
SPIEGEL: Ist das so? Kroppach: Nein! Ich wurde sogar
gefragt, ob ich für Interviews Geld bekomme. Dabei bin ich bisher ohne Gagen aufgetreten. Meine Fernsehshow ist im Offenen Kanal. SPIEGEL: In HipHop-Videos geht es oft um Reichtum. Kroppach: In meinen aber nicht. Wenn meine Videos angeklickt werden, habe ich Aufmerksamkeit. Klicks zu haben bedeutet nicht, Geld zu verdienen.
künstlerische Höhe, in die sich Nicolas Godin und Jean-Benoît Dunckel nie wieder aufschwingen konnten. Bis jetzt. „Le voyage dans la lune“ heißt ihr neues Album, elf Stücke, die aus ihrer Vertonung des gleichnamigen 14-minütigen Stummfilms von Georges Méliès hervorgegangen sind (siehe Seite 118). Vergangenes Jahr wurde der restaurierte Film mit Airs Musik beim Festival in Cannes aufgeführt. „Le voyage dans la lune“ ist von 1902 und gilt als der erste Science-FictionFilm, ein Meisterwerk, das von der Reise einer Gruppe Wissenschaftler zum Mond erzählt: Das Bild von der Raumkapsel, die ins Mondgesicht kracht, wurde berühmt. 1993 war die einzige handkolorierte Kopie aufgetaucht, es brauchte Jahre, sie wiederherzustellen. Und egal ob für den Filmsoundtrack oder für die bilderlose Programmmusik (der Film liegt einem Teil der CD-Auflage bei) – für „Le voyage dans la lune“ haben Air ihre wunderbare Leichtigkeit wiedergefunden. QUELLE: VIMEO
Berlin-Mitte hat Ihnen den Entzug der Unterstützung angedroht. Sie haben das im Internet veröffentlicht. Warum? Kroppach: Die Behörde schrieb mir, ich würde alle meine Ansprüche auf Hartz IV verlieren, wenn ich nicht nachweisen könne, für rund 200 Auftritte kein Geld bekommen zu haben. Außerdem sollte ich zu den Zeilen „Ich bedank mich jeden Tag bei Vater Staat dafür, dass ich hier auf seine Kosten leben darf“ aus meinem Song „Autogramm“ Stellung beziehen. Das Stück handelt davon, dass ich kein Konto habe und jeden Monat bei der Postbank meinen Scheck vom Amt unterschreiben muss. SPIEGEL: Sie rappen über Ihre Sozialhilfe, und das Amt möchte wissen, wie viel Sie damit verdienen. Ist das nicht verständlich? Kroppach: Überhaupt nicht. Erst wurde ich lange Zeit von einem Sachbearbeiter zum nächsten transferiert. Als Mu-
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Kultur
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Eigentlich weiß ich nichts“ Die Schauspielerin Angelina Jolie über ihr Regiedebüt „In the Land of Blood and Honey“, ihr Engagement als Uno-Sonderbotschafterin und ihr seltsames Leben als Hollywood-Star
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ie soll wieder schwanger sein. Neulich erst hieß es, die Trennung von Brad Pitt stehe kurz bevor, dann plötzlich Gerüchte über die längst fällige Hochzeit. Zu seinem Geburtstag hat sie ihm angeblich ein Grundstück mit Wasserfall gekauft. Kürzlich meldete ein Internetdienst, sie sei in psychiatrischer Behandlung. Es muss eigenartig sein, diese Nachrichten über sich zu lesen, erst recht, wenn die meisten davon nicht wahr sind. Googelt man Angelina Jolie, kommen in 0,75 Sekunden mehr als 292 Millionen Treffer. Im Hotel L’Ermitage in Beverly Hills hängen unten in der Writer’s Bar die Originaldrehbücher von „Der weiße Hai“, „Der Pate“ und „Getaway“ hinter Glas an der Wand. Oben in einer Suite hat Angelina Jolie auf dem Sofa Platz genommen. Sie trägt schwarze Highheels und ein schwarzes Cocktailkleid mit Jacke, die sie bald auszieht. Draußen sind es auch im Januar schon mehr als 20 Grad. Auf ihrem linken Arm, sehr dünn, viele Adern, zwei Tattoos. Sie ist ein Kind Hollywoods. Ihr Vater ist der Schauspieler Jon Voight, ihren ersten Film drehte sie 1982, da war sie gerade sieben Jahre alt. Sie sei später, sagt sie, ein Punk-Mädchen gewesen, das sich die Arme aufritzte. Sie litt unter Depressionen und nahm, auch das hat sie selbst gesagt, alle Drogen, die vorstellbar sind. Nach Rollen in Filmen wie „Lara Croft“, „Mr. & Mrs. Smith“ und „Salt“ hat sie nun im Alter von 36 Jahren ihren ersten eigenen Film gedreht, den sie am 11. Februar auf der Berlinale zeigen wird und der zwei Wochen später in den Kinos anläuft. Der Film „In the Land of Blood and Honey“ spielt während des Bürgerkriegs in Bosnien-Herzegowina. Eine junge muslimische Frau (Zana Marjanović) verliebt sich in einen jungen serbischstämmigen Polizisten (Goran Kostić). Doch bevor die Romanze wirklich beginnt, trennt der ausbrechende Krieg die beiden. Sie treffen sich wieder in einem serbischen VergeDas Gespräch führten die Redakteure Lars-Olav Beier und Lothar Gorris.
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Die 62. Berlinale
beginnt an diesem Donnerstag mit dem MarieAntoinette-Drama „Leb wohl, meine Königin“. Zu den Höhepunkten zählen „The Flowers of War“ von Chinas Regiestar Zhang Yimou (siehe Seite 107) sowie „Die Eiserne Lady“ mit Meryl Streep als Margaret Thatcher. Erwartet werden auch die Schauspieler Juliette Binoche, Michael Fassbender, Shah Rukh Khan, Robert Pattinson und Uma Thurman. 395 Filme laufen im offiziellen Festivalprogramm, 18 konkurrieren um den Goldenen Bären, darunter neue Werke der deutschen Regisseure Matthias Glasner, Christian Petzold und Hans-Christian Schmid. Größter Star der Berlinale ist Angelina Jolie, die ihr Regiedebüt „In the Land of Blood and Honey“ präsentiert und am 13. Februar Gast der „Cinema for Peace“-Gala ist.
waltigungslager. Der junge Serbe, inzwischen als Soldat an der Front, rettet sie und nimmt sie in seinen Gewahrsam. Jolie, die auch das Drehbuch schrieb, hat einen fast dokumentarisch und europäisch anmutenden Film über die Liebe und den Krieg gedreht und darüber, was beides aus Menschen macht. Die Schauspieler kommen aus Kroatien, Bosnien und Serbien, in den USA wurde er in serbokroatischer Sprache mit englischen Untertiteln gezeigt. „In the Land of Blood and Honey“, 13 Millionen Dollar teuer, ist ein erstaunlich guter Film geworden. SPIEGEL: Frau Jolie, Sie erzählen in Ihrem
Film eine ziemlich riskante Liebesgeschichte zwischen einem Opfer und einem Täter in einem Bürgerkrieg. So etwas kann ganz fürchterlich schiefgehen. Jolie: Das kann es. Ich habe schon vor längerer Zeit angefangen, über die Dinge zu schreiben, die mich beschäftigen. Dabei entstand die Idee für diesen Film. Ich bin ja viel gereist in den vergangenen Jahren und habe Krisengebiete besucht. Es ist D E R
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ziemlich frustrierend, was man dort erlebt und hört. Die Gewalt gegen Frauen, die Ohnmacht der Menschen, auch weil niemand kommt, um ihnen zu helfen. Die Idee war, über diesen Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina eine Geschichte von Menschen zu erzählen, die auf ein Leben in Normalität hoffen, die sich verlieben, Familien gründen und Babys bekommen wollen. Und dann beginnt der Krieg und verändert alles. Plötzlich bringen Nachbarn sich gegenseitig um, vergewaltigen Männer Frauen, die sie früher auf der Straße hätten treffen können. Nein, mir war immer klar, wie riskant es ist, so eine Geschichte in einer Gegend der Welt zu erzählen, die so roh, so hochemotional, so voller Verletzungen ist. Ich war sehr vorsichtig, wir alle waren sehr vorsichtig. SPIEGEL: Die beiden lernen sich in einer Bar kennen, der serbische Polizist und die muslimische Künstlerin, irgendwann an diesem Abend geht eine Bombe hoch, und der Krieg beginnt. Jolie: Es ist eine Romanze, und der Krieg zerstört sie. Der Film erzählt eigentlich die Geschichte einer unmöglichen Liebe, und was ihn, glaube ich, so traurig macht, ist, dass fast bis zum Schluss diese Liebe immer wieder aufscheint. SPIEGEL: Irgendwann hofft man, dass die beiden ihr Land verlassen und diesen verdammten Krieg. Jolie: Genau. Geht weg. Haut ab. Oder man hofft, dass endlich jemand eingreift, um diesen Krieg zu beenden. Oder dass die Menschen die Kraft haben, nicht mitzumachen. Aber es geht nicht. Da ist der Vater des Polizisten, der von der schmachvollen Geschichte Serbiens erzählt und von ihrem Nationalstolz. Da sind die Gräuel, die die Menschen erleben, und irgendwann verlieren sich alle. Sie sind gefangen in diesem Irrsinn, sie tun sich Dinge an, von denen man sich kaum erholen kann. SPIEGEL: Sie haben den Film zum Teil in Bosnien gedreht mit Schauspielern aus dieser Gegend. Haben die sich erholt? Das Ende des Kriegs liegt 16 Jahre zurück. Jolie: Interessant, nicht wahr, aber die meisten Schauspieler hatten bis zum Be-
PETER LUEDERS
Hollywood-Star Jolie: „Ich hatte keine Ahnung und landete mitten in einem Krisengebiet“ D E R
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Kultur
KEN REGAN / GK FILMS
ginn des Drehs nie darüber gesprochen. Eine der Schauspielerinnen lebte damals in Sarajevo, und wenn sie zum Schauspielunterricht wollte, musste sie die Sniper Alley überqueren, wo von oben auf den Hügeln die Serben auf sie schossen. Sie wurde damals mehrfach verwundet und erzählte mir, ihr sei erst beim Lesen des Drehbuchs aufgefallen, dass sie nie wieder über diese Zeit damals nachgedacht habe. Das ist wohl ein Instinkt: Menschen machen einfach weiter, sie lassen diese Gefühle und Erinnerungen nicht zu, weil es keinen Platz für sie gibt. Und meine Hoffnung ist, dass der Film das, was er bei den Schauspielern ausgelöst hat, auch mit denen macht, die ihn sich anschauen. SPIEGEL: Vielleicht braucht es mehr Zeit, bis sie darüber reden, was der Krieg mit ihnen macht? Jolie: Genau das haben auch die Schauspieler gesagt. Es Regisseurin Jolie bei den Dreharbeiten: „War das so? Ist das stimmig?“ war wichtig, die Schauspieler und alle anderen immer wieder zu fra- Jolie: Natürlich. Aber es stimmte ja nicht. SPIEGEL: Wann haben Sie eigentlich begen: War das so? Ist das stimmig? Wird Die Frau, die sich im Kino erbrach, war gonnen, für das Flüchtlingshilfswerk der hier jemand verletzt? Und als der Film genau diejenige, die vorher diese ganze Vereinten Nationen zu arbeiten? endlich fertig war, haben wir ihn elf Debatte losgetreten hatte. Als sie den Jolie: Vor ungefähr zehn Jahren. Ich habe Leuten gezeigt, die alle Opfer dieses Film gesehen hatte, begriff sie, dass mir inzwischen mehr als 40 Reisen gemacht. Kriegs sind. dieser Film eine echte Herzensangele- Ich lebe in einer Welt und in einer Stadt, SPIEGEL: Wie haben Sie diese Leute ge- genheit ist. Es ist ein Film ohne Hass, ein die manchmal den Blick verliert für das Film, der sich nicht auf eine Seite stellt. große Ganze. Irgendwann war mir klarfunden? Jolie: Das sind Leute, die selbst in den KZ SPIEGEL: Warum genau wollten Sie diesen geworden, dass ich zu wenig weiß von dieser Welt. Die Uno kümmert sich tägoder in den Vergewaltigungslagern gefan- Film unbedingt machen? gen gehalten worden waren. Ich war wirk- Jolie: Bestimmt nicht, weil ich glaubte, nun lich um mehr als 20 Millionen Flüchtlinge, lich sehr nervös, nicht nur weil ich Angst eine Karriere als Regisseurin zu beginnen. diese Zahl hat mich schockiert. Meine hatte vor einer negativen Reaktion, son- Ich habe diesen Film gemacht, weil ich erste Reise führte mich nach Sierra Leodern weil ich mich schlecht dabei fühlte, glaube, dass er wichtig ist. Er spricht zu ne und Tansania. Ich wusste nicht, was sie zurückzubringen in die Vergangenheit, diesen Menschen, er handelt von politi- mich da erwartet. Ich hatte keine Ahnung an die Orte ihrer schlimmsten Verletzun- schen Dingen, die heute ziemlich aktuell und landete mitten in einem Krisengegen. Eine der Frauen erbrach sich wäh- sind. Ich war mir auch lange unsicher, ob biet, sehr brutal, ganz fürchterlich. In rend der Vorführung, sie konnte gar nicht man so einen Film überhaupt finanzieren Tansania besuchte ich ein Flüchtlingsaufhören zu weinen. kann – ohne bekannte Schauspieler, in camp, in dem eine halbe Million MenSPIEGEL: Der bosnische Kulturminister hat- einer fremden Sprache, über einen Krieg, schen lebten, Menschen ohne ein Zuhaute die Dreharbeiten zwischenzeitlich ver- von dem niemand mehr etwas wissen will. se, abhängig von fremder Hilfe, ohne zu boten, weil eine Frauenorganisation be- SPIEGEL: Es ist auch ein Film mit fast do- wissen, was aus ihnen werden soll. Die hauptete, der Film erzähle die Liebesge- kumentarisch genauer Brutalität und mit Geschichten, die diese Überlebenden erschichte zwischen einem Vergewaltiger Sexszenen, die in Hollywood eher unüb- zählten, haben mich sehr erschüttert, weil sie das Leben ganz anders sehen. und seinem Opfer. lich sind. Jolie: Ja, es gab viele Gerüchte damals. Jolie: So ein Projekt will natürlich kein Das sind starke, außergewöhnliche Menschen. Es sind übrigens genau diejenigen, Das zeigt auch, was eine verantwortungs- Produzent auf seinem Schreibtisch. lose Medienpropaganda so alles anrichten SPIEGEL: Ohne Ihren Namen wäre der Film die die Kraft haben, ein Land wieder aufzubauen. kann. Die Frauen waren besorgt, und das, nicht zustande gekommen? was sie von dem Film hörten, steigerte Jolie: Das Skript wurde ohne meinen Na- SPIEGEL: Flüchtlingslager sind auch eine ihre Besorgnis. men verschickt. Ich wollte, dass jeder Brutstätte für Terrorismus. SPIEGEL: Menschen, die Schreckliches er- sagen kann, er hasst es. Jolie: Zwei Wochen vor 9/11 war ich in lebt haben, glauben zu Recht, dass sie die SPIEGEL: Wahrscheinlich würde niemand Pakistan. Dort lebten damals vier Millioeinzigen sind, die beurteilen können, was in Hollywood zu Angelina Jolie sagen, nen Flüchtlinge aus Afghanistan. Das ihnen iert ist. Und dann kommt ein dass das Blödsinn ist, was sie da vorhat. State Department hatte vor meiner Reise Star aus Hollywood und will ihnen ihre Jolie: Natürlich habe ich Einfluss in Holly- eine Warnung herausgegeben, dass es in Geschichte wegnehmen. Das kann man wood, das kann helfen, aber auch Ableh- der Grenzregion einen Mann namens verstehen, oder? Osama Bin Laden gibt. Ich hatte noch nie nung produzieren. 104
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BEHRING-CHISHOLM / UNCHR / SIPA / DDP IMAGES
SPIEGEL: Sie befürworten militärische Interventionen? Ihr Film jedenfalls legt das nahe. Jolie: Die erste Antwort heißt natürlich: Solche Konflikte müssen vorher verhindert werden. Erst recht, weil man ja weiß, was ieren wird. SPIEGEL: Trotzdem können militärische Interventionen richtig, weil notwendig sein? Jolie: In Libyen ganz bestimmt. SPIEGEL: Sie waren auch in Syrien. Jolie: Aber da stellt sich die Frage, welche Art von Intervention richtig ist. Es gibt ja mehr als nur die Alternative Bodentruppen oder Verhandlungen. Ich glaube, die USA sollten vorsichtig sein in dieser Region. SPIEGEL: Weil es schiefgehen könnte. Jolie: Weil es fürchterlich schiefgehen könnte. Diese Aufgabe sollten die Staaten aus der Region übernehmen. Syrien hatte ja während des Irak-Kriegs viele irakische Flüchtlinge aufgenommen, also die Opfer eines von Amerika angezettelten Kriegs. Diese Menschen waren Flüchtlinge, weil wir den Irak angegriffen hatten, und nun leben sie im Chaos. SPIEGEL: Frau Jolie, ist es nicht ein wenig seltsam, Angelina Jolie zu sein? Einerseits sprechen Sie jetzt hier über die Flüchtlingsprobleme in Syrien und Libyen, über den Angriff der USA auf den Irak, andererseits sind Sie die berühmteste Schauspielerin Hollywoods und damit Teil einer Glamour-Industrie, die davon lebt, dass ständig Gerüchte produziert werden, Gerüchte über eine Trennung, eine Hochzeit und darüber, ob Sie nicht schon wieder schwanger sind. Jolie: Neulich hat mir jemand gratuliert. Ich wusste gar nicht, warum, bis mir dann klarwurde, dass das wieder eine dieser Lügen war. Ja, das ist bizarr. Aber wissen Sie, in Wahrheit hat das alles damit zu tun, dass ich erwachsen geworden bin, als Frau, als Mensch, der sich weiterentwickelt und sich bildet. Und wenn ich morgens wach werde, bin ich kein HollywoodStar, sondern eine Mutter, die nur das liest, was ihr wichtig ist. Ich will Teil der Wirklichkeit sein, aktiv sein, mich engagieren. Natürlich liebe ich es, Schauspielerin zu sein, das macht Spaß. Manchmal dreht man Filme, die einem mehr bedeuten, und manchmal Filme, die einfach nur unterhalten. SPIEGEL: Mit denen man aber viel Geld verdienen kann. Jolie: Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist ein wundervoller Job, und ich bin sehr dankbar für den Erfolg und für all die Dinge, die ich mir deswegen leisten
Uno-Sonderbotschafterin Jolie in Tansania 2003: „Was macht so jemand mit seiner Wut?“
von ihm gehört. Wissen Sie: Ein Kind kommt dort im Alter von 2 Jahren an, und wenn es 20 ist, lebt es dort noch immer. So ein Mensch hat keine Identität, er darf nicht arbeiten. Er ist verzweifelt, er ist arm, er sitzt sein ganzes Leben lang in diesem Camp herum. Was macht so jemand mit seiner Wut? SPIEGEL: Sollte man diese Lager nicht schließen? Jolie: Natürlich. Aber das geht nicht immer, weil diese Leute nicht zurückkönnen. Also muss man ihnen dort helfen: die Kinder zur Schule schicken, die Eltern über Verhütung aufklären, den Vätern etwas davon erzählen, wie sie anders mit ihren Frauen umgehen, ihnen Jobs und Aufgaben geben. Wenn diese Männer nur herumsitzen und nichts tun, bringt sie das um. Aber je länger ein Lager existiert, umso weniger Geld fließt dorthin. Das ist ein Grundfehler: Anstatt in Menschen zu investieren, investieren wir das Zweihundertfache in einen Krieg. SPIEGEL: Es heißt, Sie hätten damals selbst Kontakt mit dem Flüchtlingshilfswerk der Uno aufgenommen. Jolie: Das stimmt. Ich war damals in Kambodscha gewesen und hatte dort „Lara Croft“ gedreht. Seltsam, wie die Dinge manchmal zusammenkommen. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich fuhr. Man erzählte mir, dass das der erste ausländische Film sei, der dort gedreht würde in diesem vom Krieg verwüsteten Land. Ich war ein wenig besorgt. Vor einer Szene sagte man mir, dass ich auf keinen Fall den Weg verlassen solle, weil da mögli-
cherweise Minen liegen würden. Ich dachte: Wovon redet ihr da? Das ist doch nur ein Film. SPIEGEL: Heute besitzen Sie dort ein Haus. Jolie: Ein kleines Pfahlhaus, wir nutzen es für ein gemeinsames Projekt mit einer NGO. Wir haben, als wir es kauften, 48 Landminen auf dem Grundstück gefunden. In der Nähe gab es sogar Bunker der Roten Khmer, die dort einen wichtigen Stützpunkt hatten. Eine der letzten Schlachten gegen Vietnam fand in dieser Gegend statt. Brad hat später gesagt, Liebling, von jetzt an entscheide ich, was wir für ein Haus kaufen. SPIEGEL: Sie waren auch Ende des vergangenen Jahres in Misrata in Libyen. Jolie: Zwei Wochen, bevor sie Gaddafi fanden. Die Kämpfe waren noch im Gange. SPIEGEL: Was genau haben Sie da gemacht? Jolie: Ich war nicht mit der Uno dort, sondern privat. In Ländern wie Libyen oder Irak, die lange von Diktatoren beherrscht wurden, ist die Situation nach dem Umsturz immer sehr kompliziert. Zwar gibt es viel internationale Hilfe, aber weil sich niemand klar darüber ist, dass so ein Land bei null anfängt, gibt es Frustrationen bei den Helfern und bei denjenigen, denen geholfen werden soll, weil nichts funktioniert, weil es keine Strukturen gibt. Ich habe versucht, behilflich zu sein, und habe mit vielen gesprochen, mit Leuten von der Regierung, mit Leuten auf der Straße, ich war in Krankenhän, habe mich mit Kämpfern auf beiden Seiten getroffen. Sie alle wollen die Freiheit, aber sie wissen nicht, wie. D E R
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Kultur Mutter anrief: Ich weinte, als hätte man mich verprügelt. Irgendetwas brach aus mir heraus. SPIEGEL: Es fühlt sich dennoch seltsam an, wenn sich Hollywood-Stars engagieren. Das hat immer etwas von Imagepflege. Jolie: Das kann ich nachvollziehen. Ich glaube, die Leute, die sich engagieren, müssen sich ihren Respekt erst verdienen. Es reicht nicht, als Celebrity einmal eine Reise zu machen, um dann wie ein Experte aufzutreten. Das ist ein Fehler. Und das ist auch Desinformation, weil so jemand nichts weiß. Ich bin damals zwei Jahre lang durch die Welt gereist, ohne jemals öffentlich über Flüchtlinge zu sprechen. Und auch heute weiß ich, dass ich viel zu wenig weiß. Eigentlich weiß ich nichts. Was mich übrigens auch verändert hat: Ich bin Mutter geworden. SPIEGEL: Die Feministin Naomi Wolf feiert Sie als Vorbild für eine neue Generation von Frauen, die alles wollen und alles schaffen: Schönheit, Reichtum, Familie, Karriere, Bewusstsein, Engagement, und nun sind Sie auch noch Re-
DEAN SEMLER
kann. Aber es kommt eine Zeit im Leben, wo das nicht reicht, weil es einen nicht ausfüllt. Es reicht mir einfach nicht, nur in einem neuen Action-Film zu spielen und damit glücklich zu sein. Ich war nie glücklicher als auf dem Set zu meinem eigenen Film, trotz der ganzen Probleme. Und es bedeutet mir auch viel mehr, über diesen Film zu sprechen als über irgendeinen anderen, wo es dann nur darum geht, was für Klamotten ich da trage und all diese Dinge, die mich eigentlich nicht interessieren. SPIEGEL: War also das Engagement für das Uno-Flüchtlingshilfswerk ein erster Fluchtversuch? Jolie: Na ja, es war mehr als nur der Versuch, dieser Celebrity-Hollywood-Welt zu entkommen. Ich war damals Mitte zwanzig. Sie erinnern sich vielleicht, wie Sie selbst damals waren. Jeder fragt sich in diesem Alter, wofür er da ist auf dieser Welt, wie er hineint und wie er ein sinnvolles Leben führen kann. Es hat ja keinen Sinn, ein Leben ohne Substanz zu führen. Man hat das Gefühl, etwas ist
„In the Land of Blood and Honey“-Darsteller Marjanović, Kostić: „Geht weg, haut ab“
grundsätzlich falsch, wenn man keinerlei Verbindung zu dem hat, was wirklich wichtig ist. SPIEGEL: Sie waren damals ein ziemlich wildes Mädchen. Jolie: Ich war wild, aber nicht nur das: Ich hatte mich verloren. Ich war eine junge Frau, die mit dem Kopf gegen die Wand schlug und sich fragte: Ist es das jetzt? Ist das alles? Um mich herum diese Menschen, die sich den merkwürdigsten Dingen hingaben, und alle sagten: Hey, you should be happy. Aber diese Dinge damals haben mich nicht glücklich gemacht, die machen niemanden glücklich. Ich weiß noch, wie ich von meiner ersten Reise für das Flüchtlingshilfswerk zurückkam und vom Flughafen in Genf meine 106
gisseurin. Was für eine Frau wollen Sie sein? Jolie: Was ich sein will? Eine großartige Mutter. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass meine Kinder großartige Menschen werden, voller Liebe und Glück. Und ich möchte Brad eine großartige Frau sein, eine gute Partnerin. Und doch: Am Ende meines Lebens möchte ich das Gefühl haben, dass die Welt ein klein wenig besser geworden ist, weil ich versucht habe, Lösungen zu finden. Weil ich das Falsche bekämpft und mich für mehr Gerechtigkeit eingesetzt habe. SPIEGEL: Ist das alles nicht fürchterlich anstrengend, allein die Logistik Ihres Alltags? Sechs Kinder, Ihr Ruhm, Ihre Arbeit als Sonderbotschafterin der Uno? D E R
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Jolie: Logistik? Ein lustiger Begriff. Das
wäre übrigens schon nur mit sechs Kindern alles ziemlich anstrengend. Brad und ich machen manchmal Witze darüber, wenn wir auf eine Premiere gehen: Wir brauchen dann zwei Leibwächter, die uns auf dem roten Teppich abschirmen, und dann gibt es noch zwei weitere, die im Publikum sind und dort auf uns aufen. In Misrata war ich ganz allein. Es ist seltsam, aber in den Krisengebieten habe ich mehr Freiheit als zu Hause in Los Angeles. SPIEGEL: Werden Sie noch als Schauspielerin arbeiten? Jolie: Noch ein bisschen, ein paar Jahre vielleicht. In meinem nächsten Film werde ich die Fee Malefiz aus dem Dornröschen-Märchen spielen. Zum ersten Mal einen Bösewicht. Meine Kinder lieben diese Figur. SPIEGEL: Würden Sie Hollywood und den Ruhm vermissen? Jolie: Wenn ich morgen all das verlieren würde, aber weiterhin meine Familie hätte und mich nützlich fühlen würde, wäre alles fein. SPIEGEL: Ärgert es Sie, dass Ihr Film in den USA in gerade mal 18 Kinos zu sehen war? Jolie: Das war ja klar. Zumal er in einigen Kinos kurz vor Weihnachten anlief. Weihnachten! Verrückt. Ich fand es eher erstaunlich, dass die Kinos trotzdem halbvoll waren. So etwas funktioniert nur in New York oder in Washington. Das muss man auch verstehen. In diesen Zeiten haben die Leute ein Bedürfnis nach Eskapismus. Der Film gehört nach Europa. SPIEGEL: Ihr erster eigener Film ist also der Beginn eines Abschieds? Jolie: Nein, so würde ich das nicht sagen. Dieser Film hat mehr mit meinem Leben zu tun, als viele denken. In den Filmen, in denen ich spiele, spreche ich die Worte anderer, bin ich abhängig von der Arbeit des Regisseurs. Dieser Film aber, das sind meine Worte. Das ist das, was ich denke und wie ich das Leben sehe. Es ist bisher der einzige, der mich zeigt, wie ich wirklich bin. SPIEGEL: Das Ende Ihres Films ist ganz fürchterlich. Sie verrät ihn. Liebe ist auch nur ein Krieg, man weiß nie, warum sie beginnt und wie sie endet. Jolie: Exakt. SPIEGEL: Das ist beängstigend. Jolie: Absolut. SPIEGEL: Wir glauben ja immer, dass wir alles rational erfassen können. Jolie: Aber das können wir nicht. In Washington wurde der Film zur Premiere im Holocaust Memorial Museum gezeigt. Man sieht dort die Geschichte an den Wänden, und es macht einen fassungslos. Eigentlich müssten wir doch alles längst besser wissen. SPIEGEL: Frau Jolie, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Hollywood, made in China Der Regisseur Zhang Yimou galt lange als Regimekritiker. Mit seinem neuen Film „The Flowers of War“ will sich Peking jetzt auch als kulturelle Weltmacht etablieren.
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hang Yimou hat einen einzigen deutschen Film gesehen, als Raubkopie auf DVD, „diesen Abhör-Film“. Er legt seine Hände über die Ohren wie Kopfhörer, er imitiert den Schauspieler Ulrich Mühe in seiner berühmtesten Rolle, als Mann von der Staatssicherheit in „Das Leben der Anderen“. „Viele Chinesen mögen diesen Film“, sagt Zhang und lächelt. Was er nicht sagt: „Das Leben der Anderen“ ist das Porträt einer Diktatur, die ihre besten Künstler verfolgt und korrumpiert. Der Regisseur, 60 Jahre alt, führt durch seine Büroräume in einem Hochhaus im Süden von Peking. Draußen versinkt die Stadt im Smog; drinnen steht, neben einem Ikea-Sofa, ein Luftreinigungsgerät, das neue Statussymbol wohlhabender Großstadt-Chinesen. Auf dem Konferenztisch liegt die chinesische Ausgabe der Steve-Jobs-Biografie. Die Wände sind geschmückt mit Plakaten seiner Filme, darunter „Rote Laterne“, „Hero“, „House of Flying Daggers“. Seit 25 Jahren dreht Zhang Yimou Kinofilme, im Westen ist er der bekannteste Regisseur Chinas, in seiner Heimat ein Star. Zhangs Werdegang kann als Sinn-
bild gelten für den Aufstieg Chinas zur Weltmacht, aber auch als Beispiel für den Tribut, den dieser Aufstieg fordert. 1988 gewann Zhang für sein Regiedebüt „Rotes Kornfeld“ einen Goldenen Bären bei den Berliner Filmfestspielen. In den Jahren darauf wurden einige seiner Filme in seiner Heimat verboten, 2008 inszenierte er die Eröffnungs- und die Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Peking. Eine einzigartige Karriere, selbst nach chinesischen Maßstäben. In dieser Woche reist Zhang wieder einmal nach Berlin. Sein neuer Film „The Flowers of War“ läuft im Wettbewerb der Berlinale, diesmal außer Konkurrenz, also ohne Aussicht auf Festival-Bären. In erster Linie soll der Film in alle Welt verkauft werden; eine Agentur aus Los Angeles kümmert sich um die Vermarktung. Die Präsentation auf der Berlinale ist der Höhepunkt eines globalen Werbefeldzugs. China fordert Hollywood heraus. „The Flowers of War“ ist der teuerste chinesische Film aller Zeiten, Produktionskosten 94 Millionen Dollar. Die Hauptrolle besetzte Zhang mit einem Hollywood-Star, dem britischen OscarPreisträger Christian Bale, beD E R
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rühmt geworden als „Batman“. Auch Bale wird in Berlin erwartet. In „The Flowers of War“ spielt er einen fiktiven Amerikaner, der in eine reale Tragödie verwickelt wird, in das Massaker von Nanjing, eines der schlimmsten Kriegsverbrechen des 20. Jahrhunderts. 1937 hatten japanische Truppen in Nanjing, damals die Hauptstadt Chinas, Hunderttausende Chinesen ermordet oder vergewaltigt. Bis heute belasten diese Verbrechen das Verhältnis zwischen China und Japan. „Die junge Generation in China weiß nur wenig über die Ereignisse in Nanjing“, sagt Zhang, das habe er bei der Arbeit an diesem Film gemerkt. „Aber fast jeder hier kennt ,Schindlers Liste‘. Hollywood-Filme haben einen großen Einfluss auf uns Chinesen. Jetzt geht es darum, unsere eigene Filmindustrie weiterzuentwickeln. Wir müssen Filme produzieren, die Chinesen sehen wollen – und ausländische Zuschauer natürlich auch.“ Kino ist in China ein Politikum. Niemand verkörpert diese Erkenntnis besser als Zhang selbst, Jahrgang 1951, nur zwei Jahre jünger als die Volksrepublik. Sein Vater hatte als Soldat für die Kuomintang-Armee gekämpft, also gegen Mao Zedongs Kommunisten. Der Sohn durfte zunächst nicht studieren; jahrelang musste er in der Landwirtschaft und in einer Textilfabrik arbeiten. Erst 1978, als nach dem Ende der Kulturrevolution eine vorsichtige Liberalisierung Chinas begann, wurde er an der Universität in Peking zugelassen. Einer von Zhangs Kommilitonen war Ai Weiwei, „aber wir haben in verschiedenen Abteilungen studiert“, sagt Zhang, „er bei der Malerei, ich beim Film“. 1987 führte Zhang zum ersten Mal Regie: „Rotes Kornfeld“ war die Geschichte 107
KATHARINA HESSE / LAIF / DER SPIEGEL
Filmemacher Zhang in seinem Pekinger Büro
Kultur
COURTESY OF NEW PICTURES FILM
einer jungen Frau, die in der Provinz der Auf dieser Linie blieb Zhang, bis heute. ckerer wird.“ Grundsätzlich, sagt Zhang, dreißiger Jahre ihre Würde behauptet, Seine neueren Filme wie „House of Fly- sei es erheblich einfacher, eine Genehbis japanische Soldaten Tod und Zerstö- ing Daggers“ oder „Der Fluch der golde- migung zu bekommen, wenn die Gerung bringen. Bei der Berlinale 1988 galt nen Blume“ wurden opulent, sie spielten schichten in der Vergangenheit spielten. „The Flowers of War“, Zhangs neuer „Rotes Kornfeld“ als Sensation: Zhang jetzt nicht mehr unter einfachen Chinezeigte ein China, das man im Westen so sen, sondern bei Hofe, in längst vergan- Film, beruht auf „Die 13 Blumen von Nannoch nie gesehen hatte, eigensinnig, vital, genen Dynastien. Aufwendig choreogra- jing“, einem Roman über das Massaker. kreativ, er feierte die Stärke des Indivi- fierte Massen- und Kampfszenen wurden Mehr als 20 junge Chinesinnen verstecken sich auf dem Gelände einer katholischen duums. Und er schenkte dem Weltkino wichtiger als Psychologie. einen neuen Star, die Schauspielerin Höhepunkt dieser Entwicklung war Kirche in Nanjing vor den japanischen Gong Li, bald auch Zhangs Lebensge- Zhangs Inszenierung der Eröffnungsfeier Soldaten: Klosterschülerinnen sowie, als fährtin, für die er seine Ehefrau verließ. der Olympischen Spiele in Peking 2008. ungebetene Gäste, ein Dutzend EdelnutDer Goldene Bär, der erste Festival- Der Regisseur ließ Tausende Statisten an- ten in engen Seidenkleidern. Ein amerierfolg im Westen für China überhaupt, treten, sie formten geometrisch-majestä- kanischer Leichenbestatter namens John war einigen Kulturbürokraten in Peking tische Muster, der Triumph der Masse Miller (Christian Bale), der während der nicht geheuer. Nachdem die Panzer des über das Individuum. Der „New Yorker“ Kämpfe ebenfalls in der Kirche gestrandet ist, wird wider Willen zu ihrem BeschütRegimes auf dem Platz des Himmlischen verglich Zhang mit Leni Riefenstahl. Friedens 1989 die Studentenproteste plattDer Vorwurf, er sei vom Regimegegner zer. „Dies ist kein Film, den die Regierung gewalzt hatten, machte die Zensur Zhang zum Propagandaregisseur mutiert, kränkt normalerweise ohne weiteres genehmigen das Leben schwer. Man vermutete, nicht ihn. „Viele denken, ich gehöre zu den Ver- würde“, sagt Zhang. „Ausländer, Religion, ganz zu Unrecht, subtile Regimekritik. trauten der Regierung“, sagt Zhang. „Das der Zweite Weltkrieg, das sind alles schwierige Themen. Aber es ist „Rote Laterne“ von 1991 zum auch ein Film über HilfsbereitBeispiel, Zhangs vielleicht besschaft. Deshalb hat die Regieter Film, ist eine als Ehedrama rung ihn unterstützt.“ getarnte Studie über ein GeTatsächlich war das Massawaltsystem, über Anung, ker von Nanjing in China lange Widerstand und die Folgen: Am ein Tabuthema, zumal damals Ende wird die Heldin wahnvor Ort die Kuomintang regiert sinnig. hatte. Wenn Zhang also jetzt Zhang produzierte seine Filzeigt, in Zeitlupe und voller me mittlerweile meist mit Hilfe Theatralik, wie mutige Chinevon Investoren aus Hongkong sen beim Angriff auf einen oder Japan. Die Filme wurden japanischen Panzer sterben, zwar in China gedreht, das dient das vor allem der VersöhFilmmaterial aber wurde oft nung mit Chinas eigener Vererst im Ausland entwickelt und gangenheit. Ansonsten folgt geschnitten und so dem Zugriff Zhang der offiziellen Geder chinesischen Behörden entschichtsschreibung, indem er zogen. Die Bürokraten revan- Star Bale (l.) in „The Flowers of War“: Fiktiver Held, echter Krieg nur zwei Arten von Japanern chierten sich auf ihre Weise: „Rote Laterne“ und andere Werke durf- ist nicht wahr. Im Gegenteil, weil ich in zu kennen scheint: die bösen und die ten in China nicht in die Kinos kommen. China so bekannt bin, gucken die Be- ganz bösen. Klare Feindbilder, keine Scheu vor KliDie Verbote „sind nie offiziell aufgeho- hörden bei mir besonders genau hin.“ Herr Zhang, sind Sie Mitglied der Kom- schees, großes Pathos, ein bisschen Sex, ben worden“, sagt Zhang. Populär wurdas hat Zhangs Werk mit vielen westliden seine Filme in der Heimat über den munistischen Partei? Der Regisseur lacht schallend. „Nein. chen Kriegsfilmen gemeinsam. „The FloSchwarzmarkt, als Videos. Als Zhang 1994 beim Festival von Der große Fortschritt in diesem Land wers of War“ ist seine endgültige Abkehr Cannes einen Preis entgegennehmen soll- besteht darin“, sagt er, „dass ich diese vom Kunstfilm für ein Nischenpublikum. In China war Zhangs Film die erfolgte, bekam er keine Ausreisegenehmigung. Frage überhaupt beantworte und erzähMan untersagte ihm Interviews mit west- len kann, dass mein Vater in der Kuo- reichste einheimische Produktion des lichen Journalisten oder legte ihm nahe, mintang war. Vor 20 Jahren wäre das Jahres, übertrumpft nur von US-Importen wie „Transformers 3“. sich zu bestimmten Themen nicht öffent- nicht möglich gewesen.“ „In China gibt es seit vielen Jahren die Die Frage bleibt, wer sich stärker verlich zu äußern. Um die Jahrtausendwende herum ändert hat seit seinen Anfängen als Re- Parole, dass wir in die Welt hinausgehen, in der Wirtschaft, im Sport, in der Kulkommt es zu einem radikalen Wandel in gisseur, China oder er selbst. „Ich glaube, ich bin mir treu geblieben. tur“, sagt Zhang. „Das ist ein Wunsch der Zhangs Werk. „Hero“, 2003 für einen Oscar nominiert, war ein Actionfilm, der ei- Unter unterschiedlichen Umständen habe gesamten Nation. Filme bilden da keine nen Despoten feierte, den König von Qin, ich unterschiedliche Filme gedreht. Das Ausnahme.“ Chinas Präsident Hu Jintao hat kürzGründervater des ersten chinesischen darf man nicht mit politischen Ansichten Reichs vor gut 2200 Jahren. Er war verant- verwechseln“, sagt Zhang. Bei der Wahl lich in einem Partei-Magazin einen Aufwortlich für den Ausbau der Chinesischen seiner Stoffe sei er immer abhängig von satz veröffentlicht, in dem er über „inMauer, aber auch für den Wandel Chinas Investoren. „Die Produzenten verhan- ternationale feindliche Kräfte“ klagt, „die zum Polizeistaat sowie für die Ermordung deln mit der Filmbehörde über die Ge- China verwestlichen und auseinanderunzähliger politischer Gegner. Mao Ze- nehmigung. Ich selbst darf nicht mit der bringen wollen“. China müsse verstärkt dong berief sich später gern auf ihn, um Behörde in Kontakt treten. Niemand eigene „kulturelle Produkte entwickeln“. seinen eigenen Größenwahn zu rechtfer- kann vorhersagen, ob die Zensur in 20 Es gebe einen „ernsthaften ideologischen tigen. Man kann aus „Hero“ Verständnis oder 50 Jahren abgeschafft wird. Das Kampf“, zurzeit sei „die Kultur des Wesherauslesen für die harte Hand, mit der weiß niemand, wir träumen auch nicht tens stark, wir sind schwach“. Chinas aktuelle Führung das Land regiert. davon. Wir hoffen nur, dass sie etwas loMARTIN WOLF 108
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Kultur Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
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SIMON WHEATLEY (L.); TOPHAM PICTUREPOINT (R.)
Kultur
Jugendliche in London heute, Kinder um 1860: Es geht nicht mehr um Taschendiebstähle, sondern um Drogen AU TO R E N
Auf der Suche nach Oliver Twist Glanz und Elend auf der Insel: Wie die Briten den 200. Geburtstag ihres größten Romanciers Charles Dickens feiern und wie es seinen Romanfiguren im heutigen London geht. Von Matthias Matussek
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uf seinen späten Fotos ist Charles Dickens eine dieser bärtigen und melancholischen Portalsfiguren des Kapitalismus, die fest mit beiden Beinen im Elend der Zeit stehen. Er und Karl Marx sind sich nie begegnet, obwohl sie zur gleichen Zeit in London lebten. Marx hat Dickens bewundert, aber er sah, dass ihre Ziele unterschiedlich waren. Marx wollte die Ordnung stürzen, Dickens die Herzen erweichen. Marx ist widerlegt, und auch Dickens, der Sozialkritiker, ist veraltet, doch als Moralist und Zauberer ist er aktueller denn je. Marx prophezeite den Tod der Kapitalisten, aber wer heute durch London fährt, dieses viktorianische Freilichtmuseum mit Glasgurke und Riesenrad an der Themse, stellt verwundert fest: Nicht der Kapitalist fehlt, sondern die Arbeiterklas112
se. Was bleibt, ist die stets offene Frage von Gut und Böse, und darauf verstand sich Dickens wie kein Zweiter. Ohne Verlegenheiten gehen diese Feiern zu seinem 200. Geburtstag nicht ab, denn die Nation ist zerrissen und auf der Suche nach Tugenden, die tragfähig sind. Sicher, Charles Dickens hatte Witz, aber vor allem hatte er Herz. Er ist geradezu der Dichter der Großherzigkeit. Könnte er vielleicht das herstellen, was Premier David Cameron als „big society“ beschwört, in diesem Schlamassel aus Rezession und Staatsschulden, aus Abhörskandalen und Straßenaufständen? Hm. Memo an den Stab: Dickens-Reden vorbereiten! (Herz betonen!) Kapitalismus-Protestler müssen weg, wg. Olympia und Thronjubiläum Queen. Gute Idee, Zerstörer Richtung Falklands zu schicken, D E R
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hebt die Moral der Nation, hat vor 30 Jahren schon mal funktioniert. London lesen, mit Dickens’ Augen. Ihm wären sicher nicht die roten Doppeldeckerbusse mit diesem Kinoplakat entgangen, die ein Gesicht im Straßengewirr vorbeihuschen lassen wie einen Spuk aus der Vergangenheit. Es ist das Gesicht Maggie Thatchers, der „Eisernen Lady“, von der viele glauben, sie habe es gestohlen, das Herz, damals, in den achtziger Jahren. Allerdings ist das Gesicht geradezu märchenhaft schön, denn es ist das von Meryl Streep, die die Thatcher spielt. Dickens hätte in den Mob-Rasereien vom letzten August keine Hungeraufstände gesehen. Eher wohl eine aus dem Ruder gelaufene Schnäppchenjagd mit Brandstiftung und einem Gesamtschaden
Jedes Mädchen soll ein Vier-Zeilen-Geder Idylle zur öffentlichen Hinrichtung, dicht schreiben. Das von Indy ist schön: von Elendsquartieren ins Glück. Er hypnotisierte die kleinen Leute, in- „Zwischen Southwark Bridge / die aus dem er ihnen ihre eigene Geschichte er- Eisen ist / und London Bridge / die ist zählte, ja, ihnen überhaupt die Würde aus Stein.“ Genau das war Dickens’ Welt, einer eigenen Geschichte gab, in allen sei- hier geisterte er nachts durchs enge Stranen Romanen. Er fesselte auch die Größ- ßengewirr, meilenweit, er war mit Schlaften: Dostojewski hat ihn in der Haft gele- losigkeit geschlagen, hier im Mondlicht sen, Tolstoi nannte seine Figuren „Freun- begegnete er den Zerlumpten aus den de der ganzen Menschheit“. Für Shaw Slums, hinter dem Parlament tauchten war er ein letzter Romantiker gegen das sie unvermutet aus Schatten auf, all die Zeitalter der Zwecke, der Mann der Wie- Elenden, die er dann in seinen Romanderverzauberung gegen den zunehmen- märchen in Schreckensgestalten verwandelte oder in Götter. den Fatalismus der Wissenschaften. Auf diesen Nachtmärschen entwickelte Er war rührselig, sicher, doch immer auch grausam und komisch und kindlich. er sein Figurengespinst, das auf dem beOscar Wilde hatte recht, als er in einem rühmten Gemälde von Robert William seiner schönsten Paradoxe schrieb, man Buss, „Dickens’ Traum“, in einer Wolke müsse schon ein Herz von Stein haben, über seinem Schlaf schwebt und hier im um über Little Nells Tod nicht zu lachen. Museum zur Animation wird. Der Dichter nickt in seinem Armstuhl Nach 15 Romanen und zehn Kindern und einer unglücklichen Ehe hatte er sich ein, und seine Figuren umtanzen ihn, der bereits mit 58 Jahren erschöpft. Als er heitere Mr. Pickwick und sein Diener starb, trauerte die Welt. Tausende defilier- Sam Weller, der düstere Uriah Heep und ten in der Westminster Abbey, und auf Zwerg Quilp, die Waisen Oliver Twist, sein offenes Grab, gleich neben dem von Nicholas Nickleby, David Copperfield Shakespeare, fielen auch Bouquets, die und Pip aus „Große Erwartungen“, und aus frischgerissenen Feldblumen bestan- klar ist da Fagin aus „Oliver Twist“. Obwohl man Fotos betrachten kann den und von Lumpenfetzen zusammenund eine rostige Zellentür aus dem Newgebunden waren. gate-Gefängnis, ist Oliver Twist nicht zu uchen wir nach Oliver Twist. Was finden. Vielleicht oben? Guter Tipp: Über schwierig ist, denn die Kinderarbeit den Köpfen der Kinder hängt ein Schneeist abgeschafft, und die Waisenhä ver- gestöber aus weißen Buchstaben, das fügen über Heizung und fließend Wasser, man auch als Werbung für eine verscholwas nicht zuletzt dem Kapitalismus zu lene Kulturtechnik sehen kann. Da sind sie schon eher, das Glück und verdanken ist. Also erst mal ins Museum of London. die Kindlichkeit und die tiefe Angst und Betreten wir den Dickens-Kosmos ge- der Zauber des jungen Oliver. Wer Dimeinsam mit diesen Mädchen in ihren ckens liest, braucht Zeit, und er selber Schuluniformen, die kichernd und neu- legt die Zeit still. Dickens’ Figuren, schrieb gierig durch die abgedunkelten Räume sein Bewunderer Chesterton, „leben stader Dickens-Ausstellung hopsen, bewaff- tisch, in einem ständigen Sommerzustand, net mit Bleistift und dem Fragebogen aus und sind damit ganz sie selbst“. Jeder kennt die Geschichte von Oliver dem Unterricht. Ihre Eltern stammen aus dem East End, Twist. Unschuldig steht er da in der Weltdoch mehr noch aus Jamaika, aus Bangla- literatur, ein Kind rätselhafter Herkunft, desch, und nun sollen sie forschen wie das heranwächst im Waisenhaus, das zur nach einem lang vergessenen, gemeinsa- Arbeit geschickt wird bei einem Sargtischler, das ausbüxt in den Londoner Dschunmen Ur-Ur-Ur-Großvater. Kanon-Wissen: Welche Dickens-Figur gel, in die Fänge des finsteren Fagin und arbeitete in einer Flaschen-Abfüllanlage seiner Diebesbande gerät und letztlich im Alter von zehn? Eifriges Getuschel. gerettet und Erbe eines großen Vermögens wird. Viel wichtiger David Copperfield? Und noch: Er kommt zu freundwas sagt uns das Elendsgelichen Menschen. mälde „Bewerber für GeleUnd das ist die berühmgenheitsarbeit“ von 1877? teste Szene: Die Jungs im Indy, 12, schreibt: „Die Waisenhaus haben ihn durch Kinder hatten kein Geld.“ Los ausgewählt, nach mehr Und was sagt es der GesellSuppe zu fragen. Mit weischaft? „Sie hatten nicht so chen Knien marschiert Oliviel Zeug wie heute.“ Präziver nach vorn und sagt: ser kann man es in all dieser „Ich bitte, Herr, ich möchUngenauigkeit nicht sagen, te noch etwas haben.“ keine Playstation, keine Im Klartext: Ich will mehr. Nike-Schuhe, kein PlasmaDer Koch weiß, dass dieTV, eben nichts von dem se Forderung ein paar Jahr„Zeug“, das mittlerweile Mi- Literat Dickens um 1860 nimum ist. Bereits mit 58 Jahren tot zehnte zuvor die Französi-
von umgerechnet mindestens 120 Millionen Euro. Da hat sich ein anderer Mangel ausgetobt. Aber begreift die Gesellschaft, was die trieb? Begreifen sie es selber? Oder guckt keiner mehr hin?
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an muss sich Dickens als zukunftsfrohen Mittzwanziger vorstellen, die schweren Jugendjahre mit Fabrikarbeit liegen hinter ihm, er ist verliebt in bunte Kleidung und Aufmerksamkeit, ein junger Reporter, gerade weltberühmt geworden durch „Oliver Twist“. Wir schreiben das Jahr 1838, kurz zuvor hat Königin Victoria den Thron bestiegen. Er war in das hineingeboren, was er den „Sommeranbruch der Geschichte“ nannte, er erlebte die großen Innovationen wie Eisenbahn und Telegraf und Penny Post und Fotografie. Lauter Beschleunigungen. Die Moderne nahm an Fahrt auf, und mit ihr wuchs die Macht der Presse, die Massenkultur. Ja, Dickens’ Kunst zeigt die Geburt des Romans aus dem Geist der Zeitungen, für die er schrieb, als Parlaments- oder Gerichtsreporter, als Feuilletonist oder engagierter Leitartikler. Da seine Romane in Serienfolgen erschienen, gibt es jede Menge Cliffhanger, galt das Motto: Nur nicht langweilen. Keine langen Reflexionen, sondern Handlung, Handlung, Handlung, und die springt von
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Kultur sche Revolution ausgelöst und die Welt verändert hat. Es verschlägt ihm die Sprache. Oliver bekommt mit dem Löffel eins auf den Kopf, der Kirchendiener Bumble erstattet den Vorständen schwer atmend Bericht, und das Folgende ist der satirische Sound des „Unnachahmlichen“: „Mehr?“, rief Mr. Limbkins. „Kommen Sie zu sich, Bumble. Antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht? Er hat mehr gefordert als die ihm von der Vorstandschaft festgesetzte Ration?“ „Jawohl, Sir.“ „Der Bursche kommt noch an den Galgen“, ächzte der Gentleman mit der weißen Weste. „Denken Sie an mich, der Bursche kommt noch an den Galgen.“ Dickens’ Figuren wollen mehr vom Leben, als ihnen die Gesellschaft zuteilen möchte, das ist der Motor, der sie treibt, das ist der Optimismus, der sie beflügelt. Die Dickens-Waisen – vom frühen Oliver Twist bis zum späten Pip in „Große Erwartungen“ –, sie sind revolutionärer als jede Gewerkschaft. Sie sind lebenshungrige Anarchisten, unschuldig wie nur Kinder, und in eine Welt geworfen, die ihnen auf den ersten Blick alle Chancen verwehrt, und deshalb sind sie universell. Sie sagen: Ich will mehr.
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uf alle Fälle will Bianca mehr, hier in Hackney, wo der Mob tobte. Al- Rapper Merky Ace (hinten), Londoner Straßenszene um 1900: „Ich stand vor dem Haus und dachte: lerdings blieb dieses Naturkost-Café verschont, da ging es mehr um Handys und Schuss eines Polizisten auf Mark Duggan, bedeuteten die Monate, die er nicht zur Schule durfte, sondern als Zwölfjähriger Tennisschuhe. Bianca könnte Nancy sein, einen Schwarzen. „Das war so ’n Herdending“, sagt Bian- in einer Schuhwichsfabrik arbeitete, als die Oliver Twist hilft und dafür ihr Leben riskiert. In diesen Tagen bereitet sie sich ca, „es ging um Macht, sie wollten was der Vater im Schuldgefängnis einsaß, ein zeigen, was genau, wussten sie wahr- traumatisches Erlebnis. auf ihr Highschool-Examen vor. „Mein ganzes Wesen war erfüllt von Eine Dickens-Geschichte, bescheidene scheinlich selber nicht.“ Doch dann, und Herkunft, zerbrochene Familie, ihr Vater, wieder gehen ihre Wangen auseinander, Kummer und Schmach …“, schrieb Dider prügelnde Scheißkerl, hat sich aus „gab es diese Dickens-Momente, wo eine ckens seinem Freund Forster. Chesterton dem Staub gemacht, „Gott sei Dank“, Mutter ihrem Sohn in einem gestürmten entdeckte eine fast religiöse Dimension in dieser Verzweiflung, es war die Versagt sie, ihre Mutter geht putzen und er- Laden Turnschuhe anprobiert“. Dickens’ Stärke, meint Bianca, war sei- dammnis, so wie Kinder jedes Unglück nährt die Familie redlich. Dickens würde schildern, wie sie ihrer ne Unbestechlichkeit, er habe die Krimi- als ewig empfinden. Bianca will raus aus der Verdammnis Mutter hilft und sich um die drei jünge- nellen gezeigt, wie sie sind, nämlich selbstren Geschwister kümmert, gelegentlich süchtig. „Aber er hat auch gezeigt, wie im East End, sie spürt, dass das Leben für den „Guardian“ schreibt. Bianca ver- schwer es ist, gut zu sein in einer schlech- für sie mehr bereithält. Für Bianca gilt der Spruch „Trau keisucht, wie es in dem berühmten ersten ten Welt.“ Tatsächlich wartet in Dickens’ Roma- nem Autor über 25“. So alt war Dickens, Satz des „Copperfield“ heißt, zum „Helnen eine lange nicht gemachte Lese-Er- als er „Oliver Twist“ schrieb. Und er war den des eigenen Lebens“ zu werden. Besonders aber wäre Dickens, der Men- fahrung: Sie moralisieren. Sie kennen Gut so dicht am Milieu wie die Macher von schenbeobachter, fasziniert von der ent- und Böse in grandioser Eindeutigkeit, das „The Wire“, der großen Serie aus den Drozückenden Lücke zwischen ihren Vorder- macht sie gleichzeitig altmodisch und genghettos von Baltimore. zähnen, denn die verändert die ganze zum Allerneuesten. Mehr als um rechts Bianca, ständig. Offenbar hält sie sie selber oder links geht es ja tatsächlich wieder ickens schrieb ihn in einer komforfür eine groteske Entstellung, weshalb sie um Gut und Böse, in der Wirtschaft und tablen dreigeschossigen Stadtvilla in versucht, mit geschlossenem Mund zu la- auf der Straße, sowohl bei Dickens als der Doughty Street, die er von 1837 bis chen. Dann erscheinen Grübchen in ihren auch bei Bianca, und das ist eine der auf- 1839 bewohnte. Mittlerweile hatte er zwei Wangen. Sie lacht viel und gern. Manch- fälligsten Achsenverschiebungen im kri- Kinder, er schrieb in einem kleinen Raum tischen Diskurs der letzten Zeit. mal fährt auch die Hand vor den Mund. zur Hofseite, wo er durchs Fenster die „Wir zu Hause haben den Unterschied Kutsche sehen konnte und die Gärten daSo entsteht ein fröhliches Gefuchtel, ein ständiger Wetterwechsel auf ihrem immer gekannt, so, wie ihn Oliver Twist hinter, und wenn er Gelächter aus dem Gesicht, wenn sie über ihre Zukunft redet oder die Kleine Dorrit kannten.“ Wohnzimmer hörte, packte er den Tisch Sie hat nichts gegen das Putzen, aber und stellte ihn mitten hinein. und die Welt hier im East End, und die Tage des Mobs zwischen dem 6. und sie fühlt die Erniedrigung, die darin liegt, Was für ein Volldampf-Mensch, so beneidem 10. August. Anlass war der tödliche sie weiß, dass sie mehr kann – für Dickens denswert einverstanden mit sich, dass er
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halb Todeskleid, schauerromantisch das alles, insbesondere, weil die Ausstellungsmacher ein Kulissenteil gegenübergestellt haben, ein sturmgepeitschtes Meer unter dräuendem Himmel. Immer wieder werden in seinen Büchern Porträts von Mary auftauchen, von einer jungen Unschuld, zum frühen Sterben verblüht, am ergreifendsten in der kleinen Nell aus dem „Kuriositätenladen“. Weltweit fieberte das Publikum mit. Englische Schiffsreisende, die in New York anlegten, wurden bang gefragt: „Ist Nell schon tot?“
SIMON WHEATLEY / DER SPIEGEL (L.); THE ART ARCHIVE (R.)
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,Guten Morgen, Freiheit, willkommen, Anarchie‘“
sich „unnachahmlich“ nannte. Er liebte Geselligkeit, ging oft ins Theater, spielte sogar einmal vor der Königin. Tatsächlich wollte er Schauspieler werden, ein Schnupfen hinderte ihn am Vorsprechen, so stand er später oft vor einem Spiegel und spielte sich seine Charaktere vor, das Lispeln, die Zahnlücken und das „nothink“ der Straße. Er engagierte sich in Komitees, schrieb kämpferische Kolumnen („An die Arbeiter“), aber auch Briefe, die der interessanten Frage nachgehen, was Austernöffner in der Nachsaison tun: „Begehen sie Selbstmord? Knacken sie Schubladen auf, um in Übung zu bleiben? Arbeiten sie als Zahnärzte? Wer weiß?“ Er gab zwei Zeitungen heraus, er war tatsächlich der Schriftsteller als Unternehmer, doch seine Kreativität arbeitete in all dem Wirbel zuverlässig und ausdauernd wie eine Dampflokomotive. Noch während er den heiteren „Pickwickiern“ schrieb, arbeitete er bereits am „Oliver Twist“. Oft war er nur zwei Folgen voraus, aber er hatte nie Sorge, dass er nicht liefern könnte! Und er ließ nie aus den Augen, was ihm das einbrachte: „Pickwick 40 000!“ Es wimmelt von solchen Einträgen. War vielleicht das Einverständnis mit den rührseligen Seiten des Lesers auch von Geschäftssinn geleitet? Im Klartext: Hat Dickens auf die Tränendrüse gedrückt, um Kasse zu machen?
Die Antwort ist so simpel wie beherzigenswert für jeden Autor: Er hat geschrieben, was er selber gern lesen würde. Er konnte mit Kinderaugen auf die Welt schauen. Von den „Großen Erwartungen“ gab es zwei Schlüsse, er entschied sich dann für die Happy-End-Variante. In der Romanfigur der eiskalten schönen Estella, die zum Rachewerkzeug einer verbitterten Frau wird, lässt sich die große Enttäuschung seines Lebens dechiffrieren: Er war als junger Mann von einem Mädchen nach jahrelangem Werben abserviert worden. Spät im Leben stürzte er sich in eine Romanze mit einer Schauspielerin und ließ seine Familie darüber zerbrechen. Auf dem polierten Kirschholztisch im Haus in der Doughty Street liegen Hefte des „Nicholas Nickleby“, tatsächlich – Groschenhefte. Mit Anzeigen wie jener für „Howquas Mixture of 40 Rare Black Teas“ oder „Napoleon fürs Volk“ oder die Broschüre „Länger leben“. Doch das Haus war nicht nur Schauplatz von frühen Triumphen und Kinderglück, sondern auch einer lebensüberschattenden Tragödie. Das schmale Zimmer im obersten Stock gehörte Mary, der jüngeren Schwester seiner Frau. Sie starb hier mit 17 Jahren in seinen Armen, ganz plötzlich nach einem Theaterbesuch war sie zusammengebrochen. Über die grüne Chaiselongue ist ein weißes Kleid hingebreitet, halb Braut-, D E R
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m West End läuft „Die Eiserne Lady“ vor leeren Rängen. Im West End ist sowieso wenig los an einem Montagabend. Vereinzelt stöckeln blaugefrorene blonde Mädchen in Clubs, nackt bis auf das schwarze Kleidchen von H & M, begleitet von dickvermummten Verbrecherfiguren in der gerade aktuellen Verbrechermode. Meryl Streep ist so rührend als demente Maggie Thatcher, dass selbst die hartgesottensten Gewerkschafter sie im Nachhinein barmherzig umarmen müssten, was natürlich wiederum der größtmögliche Affront ist. Diese Maggie Thatcher ist so kompromisslos stark unter all den Männern, dass sie die Errungenschaften Alice Schwarzers zur Frauenemanzipation in der Pfeife rauchen könnte. Und sie sagt lauter Dinge, die jeder unterschreiben kann, auch Schwarzer, zum Beispiel: „Heute will jeder immer nur etwas sein, statt etwas zu tun.“ Ihre düstere Dickens-Vorgängerin ist womöglich Miss Murdstone, die schwarze Spinne, die den hellen Lebensmut von David Copperfield erdrosselt. Wenn sie zum ersten Mal auftritt, tut sie das so: „Um den Kutscher zu bezahlen, holte sie ihr Geld aus einer harten, stählernen Börse. Sie trug die Börse in einem wahren Kerker von Strickbeutel, der ihr an einer schweren Kette am Arm hing und wie ein Gebiss schloss.“ Und fertig ist sie, die Eiserne Lady samt Handtasche, im satirischen Pinselschwung. Doch da der Mensch natürlich nicht so ist, auch in der Londoner Klassengesellschaft nicht, gibt er, was er an Münzen hat, an Andrew weiter, der vor einem Theater in Soho auf das Ende der Vorstellung wartet. Andrew, könnte man sagen, gehörte mal zu denen, die nichts tun, sondern eher etwas sein wollten, weshalb er früh die Schule schmiss und sich als Model versuchte. Jetzt gibt er die Weisheit der Straße weiter, die ihre eigenen Kunstregeln kennt. „Du musst in die Leute reingehen, hier oder an U-Bahn-Ausgängen, du musst unerschrocken mitten in die Stampede hinein und dir einen aussuchen.“ Es ist die Philosophie der jugendlichen Diebe aus „Oliver Twist“: von draußen 115
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Kultur
Gemälde „Dickens’ Traum“, 1875*: Einen ganzen Kosmos von Figuren erschaffen
rein und dann wieder raus. Nur: Die waren fingerfertige Künstler, Andrew dagegen ist ein erloschener Schmarotzer. Er verdient gut. „Das geht bis an die 200 Pfund pro Nacht.“ Die braucht er auch, denn alles geht für Drogen drauf. Er schläft in einem Jugend-Shelter nahe der Victoria Station, und er verdient mehr als ein Polizist oder ein Lehrer. „Die haben es alle nicht kapiert“, sagt er und grinst geringschätzig, und nun müssen wir doch an den Artful Dodger denken, den jungen Meisterdieb, der den kleinen Oliver Twist einfängt und dem alten Fagin vorführt. Der Mann, der sich Complex nennt und der sich seinen Weg durch diesen Pub an der U-Bahn-Station Lewisham bahnt, ist nicht Fagin, aber auch er hat bis vor kurzem eine Gang von Jugendlichen befehligt. Mittlerweile ist er ausgestiegen, sein Kampfname ist geblieben. Und seine Kampfuniform für den Großstadtdschungel, das Yankees-Cap, der Anorak und der Rucksack, was nicht unkomisch ist, denn er sieht durchaus untrainiert aus. Er hat vier Kinder von zwei Frauen, seine Mutter ist auf Crack – und er schüttelt den Kopf über die schweinischen Musikvideos von Lady Gaga, die es schon nachmittags zu sehen gibt. „Keine Werte mehr außer Sex und Geld, heutzutage.“ Was macht man mit einem Gangster, der sich nicht rollengerecht äußert? Anders als zu Dickens’ Zeiten geht es heute nicht mehr um Taschendiebstähle, * Von Robert W. Buss (1804 bis 1875).
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sondern um Drogen, doch Complex ist ausgestiegen, nachdem auf ihn geschossen wurde. Drogen sind wohl die Kriegserfahrung in Friedenszeiten und die eigentliche Elendsfalle, da können noch so viele Arbeitsprogramme aufgelegt werden. Einige kommen durch damit. Sie haben die Schlachten geschlagen und überlebt, um davon zu erzählen, und manche werden damit so unermesslich reich wie der Rapper 50 Cent. Complex will es jetzt legal versuchen. Er ist ins Musikgeschäft eingestiegen. Er muss sich kümmern, weil es das ist, was ein Erwachsener zu tun hat. Der Dschungel hier in Lewisham sieht überraschend bieder aus, kleine Geschäfte, ein Tesco-Supermarkt, eine Tankstelle. Oben auf dem Hügel wohnt sein jüngstes Talent, Merky Ace. Complex wird das neue Video vorführen. Ein sauberes viergeschossiges Council House. In der Eingangstür verabschiedet ein Pensionär in Strickjacke spießernett ein kleines Mädchen, er sieht aus wie Pauls Onkel aus dem Beatles-Film „A Hard Day’s Night“ von 1964. Zwei Stockwerke drüber ist die britische Bronx. Von der Idylle in den Polizeibericht – Dickens hätte diesen Schnitt geliebt. Atemlos hämmernder Beat, als der 19jährige Merky die Tür öffnet, Fäuste berühren sich, Marihuanaschwaden stehen im Flur und ein Stapel von Bauplatten noch in Plastikverpackung, der so aussieht, als hätte man längst vergessen, wozu er einmal angeschafft wurde. Comic-Hefte, Videospiele, der Ego-Shooter „Call of Duty“. D E R
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Auf Merkys Bett, gleichgültig beglotzt von einer Aschenbecherschildkröte, sitzt TM mit Yankees-Cap. Neben ihm Stranded in Trainingshosen und Lakers-Shirt, schlank und still lächelnd wie Snoop Dogg. Er bastelt an einem t herum. Hello-Grinsen, Fäuste-Klopfen und Rufe wie „Shit“ und „Wassup“, Zeichensysteme, denen Dickens fasziniert gefolgt wäre. Im Fernsehen läuft eine Kindersendung tatsächlich mit viktorianischen Kostümen, aber es ist eine Welt, der der Ton abgedreht wurde. Doch nun wird sowieso Merkys Video begutachtet, und es ist Grime, die britische Antwort auf den amerikanischen Rap. Er ist roher und schneller, man denkt nicht an Bling und Cadillacs, sondern an einen ausgelaufenen Säurebottich in einer stillgelegten Fabrik und an die Wut der Punks, ja, die Musik ist ein einziger Überlebenskampf. Der Song erzählt „Oliver Twist“ in hektischen vier Minuten, allerdings mit den genretypischen Macho-Abweichungen, „they didn’t want to take me in, so I had to take them out“, schnellschnell, man hat heutzutage schließlich nicht ewig Zeit. Die Story: Complex spielt den Dealer, er will Merky anheuern, der aber geht nur zum Schein darauf ein, stiehlt ihm stattdessen seine Plastiktüte mit den Pfundnoten unter der Matratze weg und hinterlegt dafür seine neue CD. Auf die drischt Complex ein, als er sie findet, und Merky in seiner Wohnung windet sich unter den Schlägen. Grime-Voodoo. Es endet düster mit einer Sequenz, in der Spaten ein Grab ausheben. Was für ein schauriges Dickens-Ende. „Sick“, sagt der Bursche, der sich TM nennt, bewundernd und pendelt mit dem Oberkörper, Merky bemüht sich, Fassung zu bewahren, strotzend vor Stolz, Stranded reicht den t weiter, Complex winkt ab, dann läuft das Video noch mal, und später erzählt Merky, wie irrsinnig wohl er sich am Tag der Riots gefühlt hat, schließlich hat das Fernsehen pausenlos berichtet, das war wie eine stehende Einladung zum Tanz. „Ich stand vorm Haus, schaute runter zur U-Bahn-Station, atmete tief und dachte: ‚Mann, guten Morgen, Freiheit, willkommen, Anarchie.‘“ Der erste Tag, sagt Merky, sei an Tottenham gegangen. „Aber der nächste Tag gehörte uns.“ Er selber habe sich nicht bedient, schließlich hat er eine Karriere vor sich, aber er hat eine Menge guter Bekannter unter den Plünderern gesehen, und alle hatten sie diesen Blick: Ich will mehr! Auf dem Weg zurück zur U-Bahn steigt uns ein zehnjähriger Junge entgegen, ein fröhliches Gesicht mit Schulpullover, Rucksack und Pingpongschläger. Es ist Merkys kleiner Bruder Alan, der nach Hause zurückkehrt in der Abenddämmerung. Dort wird er, Fotograf Simon kennt
ihn, mit den Großen abhängen in Merkys Zimmer, bis sie ihn rausschmeißen. Und schlagartig wird klar, dass Oliver Twist 2012 chancenlos ist und dass das Elend nicht im Mangel an Nahrung besteht, sondern im Mangel an Hoffnung. Und das hat der geniale Charles Dickens besser begriffen als jeder andere. Oliver Twists Elend 2012: ein schwarzes Loch und Hammerschläge auf die Seele, 150 Beats per Minute.
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nderntags geht es im Unterhaus in der „Fragestunde des Premierministers“ um die Jugend, also um Oliver Twist 2012. Oppositionsführer Ed Miliband hat das Wort. Die Abgeordneten sitzen sich in Schlachtordnung gegenüber auf ihren grünen Lederbänken, sie springen wechselweise auf, um ihre Redner zu unterstützen, Gejohle, „yeah“ und „nay“, eine Art kultivierter Kneipenlärm, das englische Ritual der hitzigen Parlamentsdebatte. Und wenn sie den Gegner mit „Right Honourable“ adressieren, tun sie es mit dem größtmöglichen Hohn. Der Oppositionsführer Miliband ruft: „Kann der Premierminister“ (der im Übrigen ein herzloser, schielender Ignorant ist) „bestätigen, dass wir heute 147 000 junge Menschen haben, die über sechs Monate ohne Arbeit sind? Warum hat er das zugelassen?“ Cameron springt auf: „Die Regierung dieses sehr ehrenwerten Gentleman“ (der im Übrigen ein Vollpfosten ist) „hat jene jungen Leute nicht zu den Arbeitslosen gezählt, die Arbeitsförderung oder ähnliche Beihilfen erhielten.“ Er meint natürlich die Blair-Regierung, deren Scherbenhaufen er auffegen muss. So wird die verlorene Jugend hin- und hergespielt, ein wenig ratlos, denn klar gibt es Stützungsprogramme, aber ebenso klar ist, dass gespart werden muss, die britischen Staatsschulden haben mittlerweile die Eine-Billion-Pfund-Grenze durchbrochen, aber müssen ausgerechnet Organisationen wie „Youth Reach“, die sich um jugendliche Ausreißer kümmern, dichtgemacht werden? Ed Miliband beschwört noch einmal warnend den Spuk aus einer jüngeren Vergangenheit: „Diese Regierung ist bereits zurück in den achtziger Jahren.“ Die Nation, die den Kapitalismus erfunden hat und nun seine moralische Abenddämmerung erlebt, möchte gerade jetzt nicht gestört werden. Sie will ihren großen Dichter feiern und mit ihm das Gute im Menschen. Auf dem Weg zum Flughafen fragt der Taxifahrer: „Wohin fliegen Sie? Nach Europa?“ Video: Matthias Matussek über den modernen Oliver Twist Für Smartphone-Benutzer: Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“. D E R
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Alles auf Anfang FILMKRITIK: In seinem für elf Oscars nominierten 3-D-Film „Hugo Cabret“ feiert Martin Scorsese die Pioniere des Kinos.
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JAAP BUITENDIJK / 2011 GK FILMS
s begann auf einem Bahnhof. Im In einer Zeit, in der Computeranima- ter aus den anderen Kindern beim SpieJahr 1895 filmten die Brüder Louis tionen jeden Bildwunsch Wirklichkeit len zusehen. Wenn er seinen Helden Huund Auguste Lumière in der süd- werden lassen, besinnt sich das Kino auf go zeigt, wie der aus dem Verborgenen französischen Hafenstadt La Ciotat mit die kindliche Begeisterung seiner Grün- das Treiben auf dem Bahnhof beobachtet, ihrer selbstgebauten Kamera die Ankunft derväter, aus deren Manufakturen sich blickt er auch auf sich selbst zurück. Wie der junge Cineast Scorsese frisst eines Zuges. Als sie die Szene, in der die die Traumfabrik entwickelte. Lokomotive auf die Kamera zu kommt, „Es sei gewesen, als ob er mitten am Hugo alles über das Kino in sich hinein, später in Paris zeigten, sollen Zuschauer Tag seine Träume gesehen hätte.“ So be- was er finden kann. In einer Bibliothek panisch geflohen sein – aus Angst, über- schreibt Selznick in seinem Buch den Mo- entdeckt er ein Buch mit dem Titel „Die fahren zu werden. Die Illusionsmaschine ment, als Hugos Vater Méliès’ „Reise zum Erfindung der Träume – Eine GeschichKino war geboren. Mond“ zum ersten Mal sah. Regisseur te der allerersten Filme“. Während er es Es hat also einen Grund, dass Martin Scorsese will nun das Gefühl erzeugen, liest, fangen die Bilder, von denen es Scorseses Film „Hugo Cabret“, der die das Kino mit neuen Augen zu sehen, es handelt, vor seinem geistigen Auge an zu laufen. Scorseses „HuPioniere des Kinos feiert, go Cabret“ handelt letztauf einem französischen lich von der Geburt eines Bahnhof spielt. Die Kamera Regisseurs, es ist ein Selbstfliegt über die Dächer von porträt. Paris, hinein in den Gare de Er füllt den Bahnhof, Montparnasse, sie saust an den Selznick in seinem einem einfahrenden Zug Buch als seelenlose Kaentlang, auf die Bahnhofsthedrale der Moderne beuhr zu – alles in 3-D. Seht schreibt, mit schillernden her, sagt Scorsese stolz, was Charakteren. Es scheint, die Zeit aus der Illusionsals würde der Blick des maschine gemacht hat. Jungen diesen Ort erst in Scorseses Film beruht auf einen Kinoschauplatz verdem 2007 erschienenen Kinwandeln. Da gibt es Roderbuch „Die Entdeckung manzen, Verfolgungsjagdes Hugo Cabret“ von Briden, gefährliche Doberan Selznick. Es handelt von männer und grimmige Stadem Waisen Hugo (im Film tionsvorsteher. gespielt von Asa ButterDie vielen kleinen Epifield), der Anfang der dreisoden, die Scorsese auf ßiger Jahre auf dem Gare dem Bahnhof erzählt, wirde Montparnasse lebt. HuDarsteller Butterfield in „Hugo Cabret“ ken wie eine Tour de Force gos Vormund, sein Onkel, durch den Genre-Kanon war dafür zuständig, die 27 des Kinos, ein bisschen Bahnhofsuhren zu stellen und zu warten. Seitdem der Onkel ver- ein zweites Mal zu entdecken. Es geht Actionfilm hier, ein bisschen Liebesfilm schwunden ist, erledigt Hugo diesen Job. ihm um die Kraft der Bilder, die Zuschau- dort, alles ganz charmant, doch beim In seinem Verschlag in den Gewölben er in andere Welten zu versetzen, und Versuch, Slapstick-Komödie zu spielen, des Bahnhofs bastelt er an einer mecha- um die Mühe, diese Bilder herzustellen. die Scorsese noch nie beherrschte, stellt nischen Puppe herum, die ihm sein Vater Während Hugo jeden Tag zusehen sich der Regisseur dann selbst ein Bein. hinterlassen hat. Als Hugo sie wieder in muss, wie Tausende Menschen an ihm „Hugo Cabret“ ist auch eine 170 Gang setzt, malt sie einen Mond mit Na- vorbeieilen, wie sie in den Zug steigen Millionen Dollar teure akademische se, Mund und Augen. Im rechten Auge und hinausfahren in die weite Welt, Schrulle. Liebevoll rekonstruiert Scorsese, der steckt eine Rakete. Es ist das berühmteste taucht er immer mehr ein in das Schaffen Kinobild des Filmpioniers Georges Méliès, des ersten und vielleicht größten Reise- sich wie kaum ein anderer Regisseur für es stammt aus seinem Klassiker „Die Rei- filmers der Kinogeschichte. Méliès’ Filme den Erhalt des Filmerbes eingesetzt hat, se zum Mond“ von 1902. Hugo macht sich erzählen von Reisen zum Nordpol, zum in „Hugo Cabret“ auch die Einfahrt des auf die Suche nach Méliès. Meeresgrund oder zur Sonne, von Män- Zuges in den Bahnhof von La Ciotat. Elfmal ist „Hugo“ für die Oscars nomi- nern, die eine ganze Wohnungseinrich- Louis Lumière selbst hatte in den dreißiger Jahren ein Remake seines Klassikers niert, einmal mehr als der Stummfilm tung aus einem Koffer zaubern. „The Artist“. Damit führen zwei ProdukDass die aufregendsten Reisen in der im damaligen, armseligen 3-D-Verfahren tionen über die Frühzeit des Films die Phantasie stattfinden können, weiß kaum gedreht. Der Zug kommt an, die Reise Liste der Nominierten an. ein Regisseur so gut wie Scorsese. Als geht los, es ist auch heute noch ein erheKind war er Asthmatiker, er durfte selten bender Moment. Kinostart: 9. Februar. das Haus verlassen und musste vom FensLARS-OLAV BEIER 118
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DENNIS HAVEL / NEWSTEAM / SIPA
Schuss durch den Tropfen Die erstaunliche Aufnahme zeigt ein Projektil, das einen Wassertropfen durchschlägt. Die Präzisionsarbeit gelang dem New Yorker Ex-Polizisten Dennis Havel: „Es kam auf einige 20 000stel Sekunden an.“
Anstößiges Kreuz Im irischen Wicklow könnte demnächst eine ungewöhnliche Ausgrabung starten. Gesucht wird ein keltisches Kreuz, das seit den späten fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts verschollen ist. Bis dahin stand es noch vor der Saint Patrick’s Church – wie ein Foto belegt, das die FacebookGruppe „Wicklow Past“ auf ihrer Seite veröffentlichte. Seit langem wird gerätselt, wohin das Steinmal über Nacht verschwunden ist. Unter Verdacht steht der damalige Priester Matthew Blake. Er soll das Kreuz beseitigt haben, weil darauf unzüchtige Darstellungen eingraviert waren – vielleicht eine „SheelaSaint Patrick’s Church 120
na-Gig“: Gemeint sind damit in Irland und Großbritannien verbreitete Steinreliefs, auf denen weibliche Figuren ihre Vulva zur Schau stellen. Offenbar war Blake jedoch nicht der Einzige, dem das Kreuz unheimlich war: Kirchgänger berichteten einst, dass sie Geister oder Feen bei dem Kreuz gesehen hätten. Die Ausgräber hoffen, das verschwundene Steinmal jetzt unter dem Kirchengelände zu finden.
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Kolben kosten Kraft
FORTEAN / TOPFOTO
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„Sheela-na-Gig“-Skulptur D E R
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Autos könnten deutlich weniger Benzin oder Diesel verbrauchen – wenn in Motor und Getriebe nicht so viel Energie verlorenginge. Finnische und amerikanische Forscher haben jetzt errechnet, dass von einem Liter Kraftstoff nur gut ein Fünftel den Wagen vorantreibt. Der Rest geht unter anderem als Wärme und Reibung verloren – wobei Kolben und Zahnräder mehr schlucken als die Reifen auf dem Asphalt: 35 Prozent der durch Reibung verlorenen Kraftstoffenergie verpuffen im Motorblock, noch einmal 15 Prozent gehen im Getriebe verloren. Die Reibung der Reifen schlägt mit weiteren 35 Prozent zu Buche. Durch neuartige Oberflächenbeschichtungen oder hauchfeine Strukturen zur Leitung von Schmiermitteln, so die Wissenschaftler, ließe sich der Energieverlust stark verringern. Würden die Ingenieure Techniken entwickeln, um den Energieverlust zu verringern, könnten weltweit jährlich bis zu 576 Milliarden Euro eingespart werden.
Wissenschaft · Technik MEDIZIN
PSYCHOLOGI E
„Nachoperieren, bis alles stimmt“
Wie riechen Töne?
Arabischer Frühling für Elfenbeinschmuggler
mittlern, dass manche chinesische Touristengruppe während einer Einkaufstour umgerechnet 36 000 Euro für Elfenbeinschnitzereien ausgibt. Damit bleibt Ägypten eines der wichtigsten afrikanischen Länder für diesen Handel, was die Aktivisten damit erklären, dass die Behörden praktisch nicht kontrollieren. Dabei ist der Verkauf von Stoßzahn-Objekten ohne Genehmigung in Ägypten verboten.
Während am Tahrir-Platz die Revolution losbrach, wurde auf Kairos Märkten unverdrossen weiter mit illegalem Elfenbein gehandelt. Kontrolleure der Tierhandels-Überwachungsorganisation Traffic stießen im Frühjahr 2011 auf ein großes Angebot: 8343 Schnitzereien aus Elefantenzahn. „Der ermutigende Rückgang des illegalen Elfenbeinmarktes in Ägypten hat all seinen Schwung verloren“, klagt Tom Milliken von Traffic. Waren bislang Touristen aus Europa und Amerika die Hauptkunden, sind es mittlerweile Chinesen. Ein Händler gestand den Traffic-ErAuslage mit illegalen Elfenbeinschnitzereien in Kairo D E R
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PASCAL GUYOT / AFP
ARTENSCHUTZ
Musik kann überraschende Empfindungen hervorzaubern: Laute Töne kommen vielen Hörern „heller“ vor als gedämpfte, tiefe Töne „größer“ als hohe. Manche Menschen sehen sogar Farben, wenn sie Klänge hören; die Fachwelt spricht von Synästhesie. Eine Studie an der Oxford University ging nun der Idee nach, ob Klänge vielleicht auch mit bestimmten Düften harmonieren. Die Teilnehmer schnüffelten ausgiebig an 20 Aromen – darunter Apfel, Veilchen und Holzrauch – aus einem handelsüblichen Fläschchensortiment, mit dem sonst Weinfreunde das Verkosten trainieren. Danach hörten sich die Probanden 52 Töne verschiedener Höhe an, gespielt von Holz- oder Blechbläsern, Streichern oder einem Klavier. Sie sollten jeweils den Ton wählen, der am besten zum Geruch t. Das Ergebnis: Süßliche und säuerliche Düfte gehörten eher
erhaltung ist es für eine gute Prognose unerlässlich, dass an den Rändern des herausgeschnittenen Brustgewebes keine Tumorzellen mehr festzustellen sind. Kann der Pathologe hinterher doch noch solche Zellen finden oder ist der Sicherheitsabstand zu klein, muss nachoperiert werden – bis alles stimmt. Vielen Frauen ist das aber lieber, als ihre Brust bei der OP zu verlieren. SPIEGEL: Die US-Studie kritisiert auch, dass viele grundlegende Fragen bis heute ungeklärt seien, etwa die des richtigen Sicherheitsabstands. Stimmt das? Beckmann: Es gibt wahrscheinlich nicht den einen Brustkrebs, sondern fünf oder zehn verschiedene Brustkrebsarten. Und wahrscheinlich müsste dieser Sicherheitsabstand bei einigen dieser Arten größer sein, weil die Tumore verschwommener, netzförmiger wachsen. Über diese Unterschiede müssten wir in der Tat noch viel mehr herausfinden.
Weinprobe
LUCY VIGNE
SPIEGEL: Eine aktuelle Studie im medizinischen Fachblatt „Jama“ hat ergeben, dass in der Brustkrebschirurgie dramatische Qualitätsunterschiede zwischen US-Kliniken bestehen. Gibt es in Deutschland ein ähnliches Gefälle? Beckmann: An einem überprüften USKrankenhaus wurde bei fast jeder vierten Patientin eine unbedingt nötige zweite Operation nicht durchgeführt. Das ist inakzeptabel und kommt in Deutschland – zumindest an einem zertifizierten Brustzentrum – nicht vor; andernfalls würde dieses Zentrum bei der jährlichen Überprüfung sofort seine Zertifizierung verlieren. SPIEGEL: Warum ist eine zweite oder sogar dritte Operation überhaupt erforderlich?
Beckmann: Bei einer Brust-
GLASOW
Matthias Beckmann, 51, Direktor der Frauenklinik am Universitätsklinikum Erlangen, über die richtige Behandlung bei Brustkrebs
zur hohen Tonlage, die rauchigen und holzigen eher zur tiefen. Bei manchen Düften empfanden die Versuchsteilnehmer sogar eine deutliche Verwandtschaft mit einem Instrument: Brombeere und Himbeere ordneten sie dem Klavier zu, Vanille lag irgendwo zwischen Klavier und Holzbläsern. Moschus wiederum war eindeutig Blech. Das Gehirn verknüpft offenbar beständig seine Wahrnehmungen aus diversen Kanälen miteinander, um sich ein Bild von der Welt zu machen. Damit ist auch die oft verspottete Lyrik der Weinverkoster ein wenig rehabilitiert, die so gern von Duftnoten säuseln. 121
Titel
Schwermut ohne Scham In Deutschland steigt die Zahl der Diagnosen seelischer Krankheiten. Viele Menschen fühlen sich überfordert. Doch während die einen unter Depressionen leiden, sind die anderen nur gestresst. Wo verläuft die Grenze zwischen krank und gesund?
STEFAN THOMAS KROEGER / DER SPIEGEL
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ie Reise stromabwärts setzte sich Morgen für Morgen um fünf Uhr fort. Die 43-jährige Frau sprang aus dem Bett, machte die Wäsche, deckte den Frühstückstisch, brachte die zwei kleinen Töchter zur Schule und ging ins Büro. Als Volljuristin leitete sie eine städtische Behörde, die sie aus Kostengründen mit einer anderen fusionieren sollte. Ihre Energie verschwand in dem Job wie in einem schwarzen Loch. Abends kam sie mit Akten unterm Arm nach Hause, schrieb noch E-Mails an den Schulelternbeirat, bügelte eine Bluse für den nächsten Tag, ehe sie sich um zwei Uhr nachts schlafen legte. Ihren Mann, der in dieser Phase arbeitslos geworden war, versuchte sie aufzubauen. Ein Jahr lang sei das so gegangen. „Ich wusste genau, das ist eine Fahrt auf einem reißenden Strom“, erzählt die Juristin. „Ich fragte mich nur, wie es ist, wenn der Absturz kommt.“ An Allerheiligen im vorvergangenen Jahr erlebte sie es. Die Juristin verstand die Bedienung der Waschmaschine nicht mehr – und sank weinend zusammen. Ihr Hausarzt rief Klaus Lieb an, den Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. Er werde eine Patientin mit Burnout überweisen. „Ich fand das sogar noch schick“, sagt die Juristin. „Weil Burnout ja etwas Positives ist, gesellschaftlich anerkannt: Du hast dich zu Tode gearbeitet, also musst du keine Schuldgefühle haben.“ Klaus Lieb, 46, ein bedächtiger Schwabe, redete lange mit ihr. Dann war ihm klar, woran die Juristin erkrankt war: an einer schweren Depression. Die Patientin bekam sofort Medikamente und eine Psychotherapie. Bald ging es ihr viel besser, dann erlitt sie einen Rückfall. Klaus Lieb hat die Juristin deshalb im Oktober in seine Klinik eingewiesen. Jetzt töpfert sie tagsüber, malt Stillleben und macht Therapien, abends schläft sie in einem Zweibettzimmer mit grün-weißen Wänden. „Hierherzukommen, das war mir total unheimlich“, sagt sie. „Ich habe gedacht: Das willst du nicht, das bist du nicht, da gehörst du nicht dazu.“ Psychiatern ist die Geschichte vertraut: Menschen kommen mit Verdacht auf Burnout in ihre Praxis – und dort zeigt sich, dass sie unter einer Depression leiden. Der Immobilienmakler Javier Sayes Gomez, 37, etwa sah im Fernsehen einen Bericht über Patienten mit Burnout und dachte: Mensch, das bin ja ich!
Psychiatrie ohne Mauern Die „Rote Tür“ im Park des Klinikums Wahrendorff in Niedersachsen ist nie verschlossen. Menschen mit seelischen Störungen und Gesunde sollen nicht getrennt voneinander leben. Bürger sind eingeladen, den Park zu betreten. D E R
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Diese eskalierende Anforderung im Job, die irgendwann in tiefer Erschöpfung mündet; diese Antriebslosigkeit, die das Einkaufen im Supermarkt zum Kraftakt macht; dieses Gefühl, von Termin zu Termin hetzen zu müssen. „Ich wollte immer der Beste sein“, sagt Sayes Gomez, und der rechte Fuß wippt dabei im Takt seiner Worte. Der Sohn spanischer Gastarbeiter holte das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach und studierte Wirtschaftsingenieurwesen in Köln. Nach dem Bachelor jobbte er als Dachdecker, ging für ein Jahr ins Callcenter von Lego in London, wurde Verkäufer von Filteranlagen im Rheinland, wechselte in die Immobilienbranche nach Berlin und nahm parallel dazu noch ein Zweitstudium auf. „Immer Vollgas“, sagt Sayes Gomez – und kommt auf die andere Seite zu sprechen: die innere Unruhe, das Gefühl, kaputt und nicht glücklich zu sein. Fünf Jahre lang sei das so gegangen, bis er den Burnout-Bericht im Fernsehen sah. Nach der Sendung begab sich Sayes Gomez zur Behandlung in die Berliner Charité und erfuhr, nach einer eingehenden Untersuchung durch den Psychiater Mazda Adli, 42, dass er sich seine Beschwerden mitnichten eingebildet hatte. Er hatte eine handfeste Depression. Dass viele Patienten über den Umweg Burnout den Gang zum Arzt wagen, begrüßen Lieb, Adli und auch Mathias Berger, Direktor der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. „Der Begriff öffnet Schleusen, über psychische Erkrankungen zu reden, ohne sich zu schämen“, sagt Berger, 64. „Das ist schon einmal ein unglaublicher Fortschritt.“ Ähnlich sieht es der Psychiater und Autor Asmus Finzen, 71. „Wenn dadurch das Stigma weggeht, ist das gut. Ich bin überzeugt davon, dass das Etikett Burnout vielen Menschen mit Depressionen erstmals erlaubt, Hilfe zu suchen.“ Und auch Ulrich Hegerl, 58, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig, findet, dass das B-Wort hilft, „die große Bedeutung psychischer Erkrankungen deutlich zu machen“. Die neue Offenheit im Umgang mit seelischen Störungen spiegelt sich in den Statistiken wider. So ist die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage durch psychische Erkrankungen in Bayern seit dem Jahr 2000 um fast 54 Prozent gestiegen, meldet die dortige AOK. Neun Prozent aller Ausfalltage gehen inzwischen auf seelische Leiden zurück. Unter den Versicherten der Barmer GEK schält sich der gleiche Trend heraus. Demnach sind psychische Störungen zum häufigsten Grund für Behandlungen im Krankenhaus geworden – vor Herzinfarkt, Schlaganfall und Rückenschmerz. Die Zahlen der Deutschen Rentenversiche123
SIBYLLE FENDT / DER SPIEGEL
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Immobilienmakler Sayes Gomez beim Joggen: „Ich wollte immer der Beste sein“
rung bestätigen es. Psychische Störungen sind zum häufigsten Grund für Erwerbsminderungsrenten geworden: Binnen zehn Jahren ist der Anteil von 24,2 auf 39,3 Prozent gestiegen. Nach einer Anfang Dezember veröffentlichten OECDStudie leiden in Industriestaaten angeblich sogar 20 Prozent der Arbeitnehmer an psychischen Erkrankungen. All diese Zahlen beziehen sich zwar auf eine große Gruppe psychischer Leiden, zu denen auch Psychosen, Demenz, Suchtkrankheiten, Schizophrenie oder die Aufmerksamkeitsstörung ADHS gehören. Eine Aufschlüsselung der Barmer GEK zeigt jedoch, dass depressive Störungen mit knapp 40 Prozent den Löwenanteil ausmachen. Mehr Deutsche als je zuvor lassen sich im Krankenhaus wegen Depressionen behandeln – laut Barmer GEK betrug der Zuwachs in den vergangenen zehn Jahren 117 Prozent. Die Ursache dieses dramatischen Anstiegs ist unbekannt. Doch vermutlich haben auch die wachsenden Anforderungen im Job ihren Anteil daran. Zwar lässt sich das wahre Ausmaß von Stress am Arbeitsplatz nur schwer messen und über die Jahre vergleichen, aber eine Langzeitstudie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Baua) in Dortmund deutet darauf hin, dass die Einführung von E-Mail und BlackBerry, die ständige Erreichbarkeit sowie die seit 124
Jahren steigende Arbeitsverdichtung den Menschen aufs Gemüt geschlagen haben. Alle fünf Jahre befragen Baua-Mitarbeiter 20 000 erwerbstätige Bundesbürger zu ihrem Arbeitsplatz und zu gesundheitlichen Beschwerden. Demnach fühlten sich die Arbeitnehmer im Befragungszeit-
Problemfall Psyche
+ 100
Entwicklung der Arbeitsunfähigkeitsfälle* gegenüber 2000, in Prozent
+ 90 + 80
Quelle: BGF
+ 70 + 60 + 50
Psychische Störungen
+ 40 + 30
zum Vergleich:
+ 20
Herz-KreislaufErkrankungen
+ 10 0
MuskelSkelett-Erkrankungen
– 10 – 20
* je 100 AOK-Versichertenjahre
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raum 2005/06 wesentlich gestresster als fünf Jahre zuvor. Der Anteil jener, die sich im Job „eher überfordert“ fühlten, stieg von 4,6 auf 17,4 Prozent. Knapp die Hälfte der Befragten gab an, beim Arbeiten ständig gestört und unterbrochen zu werden. Und auch das Multitasking („verschiedenartige Arbeiten gleichzeitig erledigen“) raubte ihnen zunehmend den Nerv: Waren es einst 42 Prozent, die sich dieser Belastung ausgesetzt fühlten, so stieg der Anteil zuletzt auf 59 Prozent. Nicht nur der Leidensdruck wächst, sondern auch die Bereitschaft, sich damit an einen Arzt zu wenden. Psychiater Berger hat das Bild eines Eisbergs gezeichnet. An dessen Spitze hat er geschrieben „diagnostizierte Patienten“; an den großen Klumpen unter der Wasseroberfläche: „unerkannte Patienten mit depressiven Störungen“. Gegenwärtig sinke das Wasser gleichsam, so Berger: „Dadurch kommt mehr zum Vorschein, und das ist auch gut so.“ Trotzdem verfolgt Berger mit Sorge, welch ein Eigenleben der Begriff Burnout jetzt entwickelt. Um die Modediagnose herum ist eine eigene Seelenindustrie entstanden. Nicht nur Ärzte und Psychologen, sondern auch Heilpraktiker, Wellness-Hoteliers und Urschrei-Therapeuten spezialisieren sich auf die neue Klientel. Und all das, obwohl Burnout im medizinischen Sinne gar keine Diagnose ist, sondern allenfalls ein anderes Wort für
EVA HAEBERLE / DER SPIEGEL
Psychiater Adli (vorn), Mitglieder des Chors The Singing Shrinks an der Berliner Charité: Singen gegen den Stress
Depression. Der Volksmund aber interpretiert das völlig anders und versteht darunter eine scheinbar neue und eigenständige Krankheit, charakterisiert durch pathologische Erschöpfung im Beruf. Eine Kostprobe liefert der NAV-Virchow-Bund, der niedergelassene Ärzte in Deutschland vertritt. Ungefähr 80 Prozent der Vertragsärzte, steht in seinem Jahresbericht, wiesen „Teilaspekte eines Burnouts auf“, 5 bis 10 Prozent seien gar vom „Vollbild“ betroffen. Gemeint waren damit aber nicht etwa Krankheitsfälle, wie eine Nachfrage beim Soziologen Klaus Gebuhr ergibt, der die age formuliert hat. „Das ist keineswegs als diagnostisches Statement gemeint“, sagt er. Die befragten Ärzte seien in Wahrheit seelisch gesund. Er habe nur zum Ausdruck bringen wollen, dass sich etliche von ihnen gestresst fühlen. Gebuhr sagt: „Den Begriff Burnout habe ich bewusst gewählt, weil die Leute da erst einmal hellhörig sind.“ Ähnlich publikumsbewusst gehen auch Mitarbeiter von Krankenkassen mit dem Modebegriff um. Weil es so viele Anfragen von Journalisten zu Burnout gab, sagt Manuela Stallauke vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (Wido), seien sie und ihre Mitarbeiter vor einiger Zeit auf die Idee gekommen, dem Phänomen nachzuspüren. Zwar handle es sich hier nicht um eine medizinische Diagnose, aber Ärzte
können als zusätzliche Information auf einer Krankschreibung das Kürzel „Z73“ vermerken. Dahinter verbergen sich „Probleme bei der Lebensbewältigung“ wie „Einschränkung von Aktivitäten durch Behinderung“, „sozialer Rollenkonflikt“, „unzulängliche soziale Fähigkeiten“ oder, als einer von neun Punkten, eben auch „Ausgebranntsein (Burnout)“. Die Wido-Mitarbeiter haben nun auf zehn Millionen Krankmeldungen nach dem Kürzel Z73 gesucht. Und tatsächlich:
Krach in der Familie, Ärger im Beruf – durch ständigen Stress stumpft das Gehirn ab. Es taucht immer öfter auf. Die absolute Zahl allerdings ist gering. Noch immer findet sich auf nicht einmal 0,4 Prozent aller Krankschreibungen der Vermerk Z73. In ihrer Pressemitteilung jedoch bauschten die Wido-Leute ihren Befund auf, als hätten sie ein neues Volksleiden entdeckt: „Burnout auf dem Vormarsch“. Solche irreführenden Meldungen sind es, an denen sich führende Experten wie Hegerl und Isabella He, 58, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin, stoßen. BurnD E R
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out sei ein medizinisch sinnloser Begriff; denn ein behandlungswürdiger Burnout und eine Depression seien ein und dasselbe. Das Gefühl tiefer Erschöpftheit, wie es jetzt als typisch für die neue Modekrankheit gilt, habe schon immer zu den für die Diagnose einer Depression nötigen Krankheitszeichen gehört. Neue Befunde der Neurobiologie bestätigen dieses Bild. Keine Frage: Ständiger Stress stumpft das Gehirn ab und kann depressiv machen. Ob der Stress vom Job oder der Familie, von Überlastung oder Unterforderung herrührt, ist dabei ganz unerheblich. Doch würden die Erkrankung und das Überforderungsphänomen in der öffentlichen Debatte ständig vermischt, klagt Berger. „Das ist gefährlich, weil dadurch alle pathologisiert werden.“ Gemeinsam mit acht Kollegen von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde hat Berger jetzt eine Taskforce gebildet. Ihre Aufgabe: die Verwirrung um den Begriff Burnout möglichst schnell aufzuklären. Die Eile der Experten ist verständlich. Wenn die Grenze zwischen normal und psychisch krank nicht klar gezogen ist, können die Folgen fatal sein: Auf der einen Seite stehen dann seelisch Kranke, die fehldiagnostiziert und folglich falsch oder gar nicht behandelt werden. Das andere Extrem sind Menschen mit harm125
Titel rungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung“ („DSM“). Es ist ein Verzeichnis aller Seelenleiden, die Nervenärzte für behandlungswürdig erachten. Das auch in Deutschland einflussreiche Werk schreibt vor, welche Symptome ein Mensch zeigen muss, um eine bestimme Diagnose zu bekommen. Schon kleine Veränderungen der Diagnosekriterien können Millionen Menschen in Patienten verwandeln – und damit auch für den Pharmamarkt von großer Bedeutung sein. Für die kommende Ausgabe „DSM-V“ haben sich die zuständigen Mediziner und Psychologen eine Premiere ausge-
men“, prophezeit der US-Psychiater Allen s. Das ist schon heute schwer, weil in der Psychiatrie am Ende alles eine Frage der Definition ist. Geschickt konstruieren Ärzte und Mitarbeiter von Pharmafirmen Störungen, die bloße Varianten weitverbreiteter Verhaltensweisen sind. Aus Eigenbrötlerei wird die „schizoide Persönlichkeit“, aus Schüchternheit die „soziale Phobie“. Im Dunstkreis der anhaltend schlechten Laune wollen die Experten einen Zustand ausgemacht haben, den sie „Dysthymie“ nennen. Auch die normale Trauer hat bereits Eingang in die Psychiatrie gefunden: als „Anungsstörung“. Manche der neuen Leiden sind offenbar nur deshalb verborgen geblieben, weil man sie eigentlich gar nicht erkennen kann. Die Marketingabteilung der Firma SmithKline Beecham etwa hat einst das „Sisi-Syndrom“ erschaffen: angeblich eine versteckte Form der Niedergeschlagenheit, an der schon die österreidacht: Erstmals soll der Katalog auch Kri- chische Kaiserin Elisabeth („Sisi“) gelitterien für den Schweregrad der einzelnen ten, die sie aber mit ihrer fröhlichen Art Symptome umfassen. So wollen die Ver- geschickt zu überspielen gewusst habe. Den im Süden überwinternden Pensiofasser seelische Leiden differenzierter als nären geht es nicht viel besser. Ihnen bisher erfassen. Das neue System würde es allerdings macht die „Paradies-Depression“ zu auch erlauben, Diagnosen zu stellen, schaffen, die einem in Spanien praktizieobwohl noch gar keine Krankheitssym- renden Psychotherapeuten aus Deutschptome zu finden sind: das „Psychose- land auffiel. Ähnlich riskant erscheint die risikosyndrom“ etwa für Personen, die „Freizeit-Krankheit“, eine Unfähigkeit gar keine Psychose haben; oder die zum Müßiggang, an der angeblich drei „leichte kognitive Störung“ für Erwach- Prozent aller Menschen leiden. Die „generalisierte Heiterkeitsstörung“ sene, die nur schusselig sind. Mehr als 7000 Mediziner haben bisher (GHKS) wiederum beschreibt dem Fachin einer Petition gegen eine solche Aus- blatt „Forum der Psychoanalyse“ zufolge weitung der Diagnosen protestiert. „Es einen persistierenden fröhlichen Gemütsist ja heute kaum noch möglich, ohne zustand. Selbst wenn die Betroffenen mit geistige Störung durchs Leben zu kom- abgründigen Erfahrungen konfrontiert würden, könnten sie sich „von ihrem Zustand der Heiterkeit nicht distanzieren oder diesen verändern“. Etliche Leser haben sich beim Autor, dem Psychiater Ulrich Streeck, nach weiterführender Literatur erkundigt – und erst so erfahren, dass der Beitrag über die GHKS eine Satire war. Manche Kollegen nähmen ihm das bis heute übel, erzählt Scherzbold Streeck – wer weiß, vielleicht sind die Genarrten ja an der „posttraumatischen Verbitterungsstörung“ erkrankt, einer wiederum ernstgemeinten Krankheit, die ein Berliner Seelendoktor entdeckt haben will? Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kannte das „DSM“ lediglich 26 anerkannte seelische Störungen. Die derzeit gültige vierte Ausgabe des psychiatrischen Krankheitskatalogs „DSM-IV“ dagegen listet 395 Krankheiten auf. Addiert man ihre angeblichen Verbreitungen zusammen, dann hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung eine psychische Störung.
„Es ist ja heute kaum noch möglich, ohne geistige Störung durchs Leben zu kommen.“
SIBYLLE FENDT / DER SPIEGEL
losen Befindlichkeiten, die überflüssige oder gar schädliche Therapien erhalten. Der Leipziger Psychiater Hegerl, der auch der Stiftung Deutsche Depressionshilfe vorsteht, befürchtet, dass beides längst iert. „Selbsternannte ,BurnoutKliniken‘ springen auf den Zug auf und hoffen auf eine Klientel von Managern mit Privatversicherung“, sagt er. Womöglich bekämen die Patienten den Rat, sich mal freizunehmen, länger zu schlafen, Urlaub zu machen – alles Tipps, die ihre seelischen Probleme sogar noch verschärfen können. Hegerl: „Menschen mit depressiven Erkrankungen reagieren auf längeren Schlaf und eine längere Bettzeit oft mit einer Zunahme der Erschöpftheit, und ihre Stimmung verschlechtert sich.“ Zum anderen bedürfe nicht jeder, der sich ausgebrannt fühle, einer Therapie: „Stress und gelegentliche Überforderung sind Teil des Lebens und müssen nicht medizinisch behandelt werden.“ Doch gerade auf die harmlosen Fälle stürzten sich Therapeuten gern – während die wahrhaft Bedürftigen keinen Therapieplatz mehr bekommen. Dass diese Furcht nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt die Entwicklung der Psychiatrie in den vergangenen Jahrzehnten. Ärzte und Pharmamitarbeiter sind zunehmend der Verlockung erlegen, sich auch um Menschen zu kümmern, denen eigentlich nichts fehlt. Um ihren Therapien und Pillen neue Märkte zu erschließen, deuten sie Wechselfälle des Lebens um in behandlungswürdige Zustände. Im Frühjahr 2013 wird die schleichende Abschaffung der seelischen Gesundheit wieder Thema sein. Dann erscheint die fünfte Ausgabe des „Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Stö-
Psycho Schramm bei Kernspinuntersuchung*: Psychotherapie verändert das Gehirn
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* Am Universitätsklinikum Freiburg im Breisgau.
ihn, dass zunehmend Kinder und Puber- versucht, zappeligen und unkonzentriertierende ins Visier der Branche geraten. ten Grundschülern ein Hirnleiden anzuDie „DSM-V“-Version, warnt s, hängen. Diese Kinder hätten mit den Folwerde „die bereits bestehende Inflation gen einer Gehirnentzündung zu kämpfen, der Diagnosen weiter aufblähen und den hieß es, und litten am sogenannten postschon heute exzessiven Konsum von enzephalitischen Syndrom. Dieser Begriff nicht angebrachten und potentiell gefähr- konnte sich allerdings nicht durchsetzen lichen Medikamenten unter Kindern ver- – viele der angeblich betroffenen Kinder hatten niemals eine Enzephalitis gehabt. schlimmern“. In den sechziger Jahren war es dann Die Karriere der heute wohl bekanntesten aller seelischen Kinderkrankheiten der US-Psychiater Leon Eisenberg, der begann 1935: Damals hatten Ärzte in den dem Krankheitsbild, unter neuem Namen, USA erstmals zum Durchbruch verhalf. Abends spielte der Arzt zu Hause mit seinen eigenen Kindern; tagsüber kümmerte er sich um schwierige Schüler – und probierte Psychopharmaka an ihnen aus. Anfangs experimentierte er mit Dextroamphetamin, später verschrieb er Methylphenidat zum Pausenbrot. Und siehe da: Die Mittel veränderten das Verhalten; temperamentvolle Kinder wurden gefügig. 1 2 Auf einem Seminar der Hippocampus Präfrontaler WeltgesundheitsorganisaKortex tion kämpften Leonberg und sein Kollege Mike 3 Rutter 1967 darum, die Amygdala angebliche Hirnstörung als eigenständige Krankheit in den Katalog der psychiatrischen Leiden aufzunehmen. Den eher psychosomatisch geNeuronale Veränderungen prägten Ärzten in der durch chronischen Stress Runde ging das zu weit, In Teilen des Gehirns entstehen doch Eisenberg und Rutter jeden Tag aus neuralen Stammzellen ließen nicht locker – und setzten neue Nervenzellen (adulte Neurogenese). sich durch. Chronischer Stress verändert die Morphologie und Anzahl Im „Diagnostischen und Statistider Neuronen und ihrer Fortsätze. Im Hippocampus und schen Manual“ ist die „hyperkinepräfrontalen Kortex verkümmern sie – in der Amygdala tische Reaktion des Kindesalters“ anno vergrößern sie sich. 1968 aufgetaucht und hat darin bis heute Das führt zu Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, Angst und Depression. ihren Platz, und zwar unter dem inzwischen gebräuchlichen Namen ADHS. Damit war eine Erkrankung in der 1 2 3 Welt, die es vielen recht machte. Die VorPräfrontaler Hippocampus Amygdala Kortex stellung, ADHS habe genetische Ursachen und sei damit angeboren, entlastete die Eltern. An der Erziehung könne es Stress Stress Stress nicht liegen, wenn das eigene Kind nicht funktioniere wie gewünscht. Und so gibt es in Deutschland in jeder Grundschulklasse inzwischen statistisch ein Kind mit Reduktion Reduktion Vergrößerung der Diagnose ADHS. Damit Tobemarie und Zappelphilipp ruhiger werden, erhalten sie Mittel wie Medikinet und Ritalin. Neubildung von Therapie: Auslöser: Das freut die Industrie: Der Verbrauch Nervenzellen sozialer Stress, Medikamente, des darin enthaltenen Betäubungsmittels und deren Wirkung Krankheit, körperliche Bewegung, Methylphenidat erreicht jedes Jahr neue auf die Stimmung Drogenkonsum Meditation Rekorde. Wurden 1993 noch 34 Kilogramm in Apotheken umgeschlagen, waren es im vorigen Jahr 1760 Kilogramm. Depression Ein Blick in die USA zeigt, dass durchNeurogenese unter kritischem Schwellenwert aus noch Luft nach oben ist. Von den zehnjährigen Jungen schluckt mittlerweile beverminderte vermehrte reits jeder zehnte ein ADHS-Medikament Neubildung Neubildung – und das jeden Tag. Doch ausgerechnet VASILIY YAKO BCHUK
Es ist demnach also schon heute normal, psychisch krank zu sein. Die geplante „DSM-V“-Version des Psycho-Katalogs wird noch umfänglicher ausfallen – die Liste umfasst etwa die „hypersexuelle Störung“, die „Launenfehlregulationsstörung“ oder die „Fressanfallstörung“. Dann, befürchten kritische Psychiater, dürfe bald niemand mehr seelisch gesund sein. Angeführt wird der Protestzug vom US-Psychiater s. Der Mann kennt sich aus – am „DSM-IV“ hat er noch maßgeblich mitgestrickt. Nun aber zieht er die Reißleine. Besonders beunruhigt
Unter Druck
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zur Sorge. In den Vereinigten Staaten und anderen Industrienationen wächst eine Generation von Menschen heran, die bereits Psychopillen nahmen, als ihr Erinnerungsvermögen einsetzte, und mit der täglichen Tablette so selbstverständlich leben wie mit dem Glas Milch zum Frühstück. Was der ständige Einfluss der Medikamente in den sich noch entwickelnden
Diagnose Depression nach der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten der WHO (ICD-10) Der Patient leidet seit mindestens zwei Wochen unter mindestens zwei der folgenden Hauptsymptome: ‣ depressive Stimmung ‣ erhöhte Ermüdbarkeit ‣ Verlust von Interesse oder Freude
Außerdem treten mindestens zwei der folgenden Symptome auf: ‣ verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit ‣ vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen ‣ verminderter Appetit ‣ Schlafstörungen ‣ Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit ‣ Suizidgedanken oder -handlungen, Selbstverletzungen ‣ Zukunftsängste
SUEDDEUTSCHER VERLAG
der wissenschaftliche Vater von ADHS hat die Explosion der Verschreibungen mit wachsendem Entsetzen verfolgt. Leon Eisenberg übernahm später die Leitung der Psychiatrie am renommierten Massachusetts General Hospital in Boston und wurde zu einem der bekanntesten Nervenärzte der Welt. In seinem letzten Interview, sieben Monate vor seinem Tod an Prostatakrebs im Alter von 87 Jahren, distanzierte er sich von seiner Jugendsünde. Ein großer, hagerer Mann mit Brille und Hosenträgern öffnete 2009 die Tür zu seiner Wohnung am Harvard Square, lud an den Küchentisch und schenkte Kaffee aus. Niemals hätte er gedacht, erzählte er, dass seine Erfindung einmal derart populär würde. „ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung“, sagte Eisenberg. „Die genetische Veranlagung für ADHS wird vollkommen überschätzt.“ Stattdessen sollten Kinderpsychiater viel gründlicher die psychosozialen Gründe ermitteln, die zu Verhaltensauffälligkeiten führen können, sagte Eisenberg. Gibt es Kämpfe mit den Eltern, leben Mutter und Vater zusammen, gibt es Probleme in der Familie? Solche Fragen seien wichtig, aber sie nähmen viel Zeit in Anspruch, sagte Eisenberg und fügte seufzend hinzu: „Eine Pille verschreibt sich dagegen ganz schnell.“ Den ADHS-Geist, den er gerufen hatte, wurde Eisenberg nicht mehr los. Im Gegenteil, schon greift die nächste vermeintliche Kinderkrankheit um sich. Die bipolare Störung oder manisch-depressive Erkrankung war noch bis in die neunziger Jahre hinein bei Kindern so gut wie unbekannt; inzwischen gehört sie in den USA zu den häufigsten Diagnosen in der Kinderpsychiatrie. Die Zahl der Arztbesuche wegen dieser Störung hat sich in knapp zehn Jahren um das 40fache erhöht; viele der Patienten sind gerade erst zwei, drei Jahre alt. Die Krankheit lanciert zu haben ist das Lebenswerk des US-Nervenarztes Joseph Biederman. Er hat Studien angefertigt, Vorträge gehalten – und ordentlich die Hand aufgehalten. Satte 1,6 Millionen Dollar erhielt Biederman allein zwischen 2000 und 2007 von pharmazeutischen Firmen, weil er sie beriet und für sie als Meinungsbildner (Branchenspott: „Mietmaul“) auftrat. Viele seiner Sponsoren aus der Industrie stellen Neuroleptika her – also just jene Medikamente, die Kinder mit der Diagnose bipolare Störung konsumieren sollen. Diese Mittel dämpfen nicht nur das Seelenleben der jungen Patienten, sondern sie haben auch eine schwere Nebenwirkung: Viele der kleinen Konsumenten nehmen nach einigen Wochen mehr als fünf Kilogramm zu. Und die Mast mit Medikamenten ist vermutlich nicht einmal der größte Grund
Psychiater Eisenberg 1986
„ADHS ist eine fabrizierte Erkrankung“
Gehirnen anstellt, weiß niemand. Wird hier die Saat für lebenslängliches Tablettenschlucken gelegt? Kritiker Allen s zuckt die Schultern und sagt: „Es ist ein Experiment außer Kontrolle.“ Doch nicht nur Jugendliche nehmen sie in Massen, auch Bewohner von Seniorenheimen erhalten mehr und mehr Neuroleptika. Sie sind mittlerweile die pharmazeutische Wirkstoffklasse mit dem größten Umsatz: mehr als 14 Milliarden Dollar allein in den USA – pro Jahr. D E R
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Im Land des unbegrenzten Pillenmarketings beherrschen neben den Neuroleptika Mittel gegen Depression den Markt. Für beinahe neun Prozent der USBürger gehört die Einnahme von Antidepressiva zum Alltag. In Deutschland werden sie von fünf Prozent der Bevölkerung genommen, bei steigender Tendenz. Im vorvergangenen Jahr wurden hierzulande 1174 Millionen Tagesdosen verkauft – im Jahr 1990 waren es nur 251 Millionen. Vor allem die „selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer“ (SSRI), von denen Prozac das erste und bekannteste Beispiel ist, sind zu Modedrogen gegen Schwermut, Traurigsein und Ängste aller Art geworden. Die grünen und weißen Prozac-Kapseln (in Deutschland unter anderem als Fluctin auf dem Markt) erhöhen die Menge des Serotonins an den Nervenendigungen. Zwar haben die SSRI Nebenwirkungen wie sexuelle Unlust und – in seltenen Fällen – offenbar ein erhöhtes Risiko für Gewalt und Suizid. Doch viele Menschen, die SSRI einnehmen, finden, die Substanz mache sie klarer im Kopf, selbstbewusster und extrovertierter. Deshalb waren die Glückspillen Wegbereiter einer „kosmetischen Psychiatrie“, wie es der amerikanische Nervenarzt und Autor Peter Kramer in seinem Bestseller „Listening to Prozac“ formuliert hat. Menschen, die gar nicht krank waren, nahmen Prozac, „um sich besser als gut“ zu fühlen. Längst floriert eine regelrechte Gesundheitsindustrie des Seelenglücks. Oft reicht dabei eine überzeugende Inszenierung, um einer Seuche zum Ausbruch zu verhelfen. Der französische Neurologe Jean-Martin Charcot (1825 bis 1893) hat das schon früh bewiesen. Er betrieb Medizin wie ein Hypnotiseur, und seine Bühne stand im Pariser Krankenhaus Salpêtrière: Er konnte Frauen offenbar nach Belieben in hysterische Anfälle treiben und sie ohnmächtig darniedersinken lassen. Mediziner aus ganz Europa wohnten diesen Vorführungen bei. Die Presse berichtete, und prompt breitete sich die Hysterie wie ein Virus unter Europas Frauen aus. Mit Charcots Ableben jedoch erstarb der Zauber. Die Hysterie hat zwar bis heute überlebt (als „Konversionsstörung“), aber sie wird nur noch selten diagnostiziert. Ein ähnlich großer Wurf gelang 1869 dem Elektrotherapeuten George Beard aus New York. In einer führenden Wochenschrift legte er eine Abhandlung über die „Neurasthenie oder nervöse Erschöpfung“ vor. Typisches Merkmal des Leidens sei demnach mangelnde Nervenkraft. „Nach meiner Ansicht“, schrieb er, „wird das Zentralnervensystem entphosphort, oder es büßt möglicherweise etwas von seinen festen Bestandteilen
ERICH LESSING / AKG
Neurologe Charcot bei der Vorführung einer Hysterie-Patientin im Pariser Krankenhaus Salpêtrière*: Anfälle auf der Bühne
ein.“ Die Folgen: Müdigkeit, Verstopfung, unruhiger Schlaf und rheumatische Schmerzen. Die neue Krankheit erwies sich als äußerst ansteckend. Von Amerika aus fand sie rasch den Weg nach Europa, wie ein Schweizer Psychotherapeut 1904 notierte: „Die Neurasthenie ist in aller Munde. Sie ist die neue Modekrankheit.“ Jetzt hat die Neurasthenie im Burnout einen Nachfolger gefunden, der perfekt in die heutige Zeit mit ihren Umbrüchen in der Arbeitswelt zu en scheint. „Ständige Erreichbarkeit über E-Mail oder Handy auch außerhalb der Dienstzeit oder im Urlaub führt zur ,Entgrenzung‘ der Arbeit“, wie es Jürgen Hölzinger von der Ärztekammer Berlin ausdrückt. „Konkurrenz, Leistungsdruck und drohender Arbeitsplatzverlust sorgen für eine neue Art von Selbstausbeutung.“ Solche Sätze haben sich im deutschsprachigen Raum zur Auffassung verdichtet, Burnout sei eine eigene Krankheit, und zwar der Leistungsträger; jener, die sich für ihre Firma aufopfern. Der Münchner Psychiater Werner Kissling hat Hunderte Manager und Führungskräfte gesprochen, die sich erschöpft fühlen. „Dass er Depressionen habe, sagt keiner von ihnen“, so Kissling. „Aber Burnout haben sie gern. Das tragen viele von ihnen wie ein stolzes Abzeichen vor sich her.“
Als Ralf Rangnick, 53, im September seinen Trainerjob beim Fußballverein Schalke 04 hinwarf und das mit einem „Burnout“ erklärte, war ihm der Respekt der ganzen Branche sicher. Der Spieler Andreas Biermann, 31, vom FC St. Pauli dagegen gab sich als Mensch mit „Depression“ zu erkennen – und mit seiner Zukunft im bezahlten Fußball war es aus. Jetzt kickt Biermann, dem es heute viel besser geht, nur noch zum Spaß, beim FC Spandau 06 in der siebten Liga.
„Einen Burnout haben Manager gern. Viele tragen das wie ein stolzes Abzeichen vor sich her.“ Auch um die Depression von ihrem Stigma zu befreien, würden viele Ärzte den Burnout gern aus dem Vokabular streichen. Der Leipziger Psychiater Hegerl etwa plädiert dafür, „eine Depression auch Depression zu nennen“. In den angelsächsischen Ländern (wo Patienten und Ärzte den aus ihrer Sprache entlehnten Begriff Burnout interessanterweise gar nicht kennen) gehe man viel offener und unerschrockener damit um, sagt Hegerls Berliner Kollegin He. „Ich würde mich freuen, wenn sich prominente D E R
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Menschen, anstatt im Fernsehen über Burnout-Erfahrungen zu erzählen, zu ihrer Depression bekennen. Das könnte helfen, das falsche Bild dieser Erkrankung aus der Welt zu schaffen.“ Dazu gehört auch eine saubere Diagnose. Entscheidend ist, einen erfahrenen Hausarzt oder Psychiater zu finden, der das offizielle System zur Diagnose seelischer Krankheiten (ICD-10) richtig anwenden kann. Dann gelingt es recht genau, die Grenze zwischen gesund und krank zu ziehen (siehe Grafik). Nichts anderes hat Klaus Lieb gemacht, als er die 43-jährige Juristin aus Mainz untersuchte, die sich für einen BurnoutFall hielt. Als sie von ihrer gedrückten Stimmung und ihrer ausgeprägten Müdigkeit berichtete; als sie erzählte, dass sie oft schon morgens um vier aufwache und dann nicht mehr einschlafen könne, waren dies erste Hinweise. Lieb begann, genauer nachzufragen. „Es gibt drei Hauptsymptome der Depression: die niedergeschlagene Stimmung, den Verlust von Freude und Interessen und die erhöhte Erschöpfbarkeit mit mangelndem Antrieb – von ihnen müssen mindestens zwei vorhanden sein“, erklärt Lieb. Dann fragte er nach den Nebensymptomen (Konzentrationsstörungen, schlechter Schlaf, Appetitverlust, * Gemälde von André Brouillet, 1887.
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Titel pessimistische Zukunftsgedanken, Schuldgefühle, verringertes Selbstgefühl und Suizidgedanken). Von ihnen müssen mindestens zwei vorliegen. „Wenn diese Symptomatik über zwei Wochen besteht, praktisch jeden Tag mit ausgeprägter und deutlicher Schwere, spricht man von Depression“, sagt Lieb. Bei der Juristin waren die Krankheitsanzeichen unverkennbar, sie erzählte Lieb sogar von ihren Phantasien, sich vor die Straßenbahn zu werfen. Und wie viele Menschen, die sich selbst als Burnout-Opfer sehen, sind tatsächlich krank? Nach Liebs Erfahrung erweisen sich 20 bis 30 Prozent von ihnen als leichtere Fälle, in denen er keine Diagnose stellt. Bei den anderen jedoch ergibt die eingehende Untersuchung einen klaren Befund, und zwar stets denselben: eine Depression. Bei der Abgrenzung depressiver Erkrankungen von bloßen Befindlichkeitsstörungen ist es hilfreich, dass die Neurobiologen inzwischen recht gut verstehen, was im Gehirn der Erkrankten geschieht. Immer klarer wird: Für das reibungslose Funktionieren des komplexen Netzwerks unter der Schädeldecke ist es entscheidend, dass die Nervenzellen formbar oder plastisch sind. Doch ständiger Stress stört das Gefüge. Er erhöht den Spiegel von Stresshormonen im Körper und verändert die Aktivität bestimmter Gene im Gehirn. Als Folge davon verkümmern Zellen, oder es werden keine neuen gebildet. Dadurch sinkt der Stoffwechsel in bestimmten Arealen; das Gehirn stumpft ab. Dieser Vorgang sei eine natürliche Reaktion des Menschen, vermutet der Psychiater Christoph Nissen, 38, vom Universitätsklinikum Freiburg. „Die veränderte Plastizität führt dazu, dass die Nervenzellen nicht mehr richtig miteinander sprechen können“, sagt er. Das Gedächtnis lässt nach, die Neugier erlischt – der Mensch gleitet ab in die Schwermut. Im Kernspin können Forscher diese Veränderungen zeigen: Zum einen ist der fürs planende Denken zuständige präfrontale Kortex bei Menschen mit Depression geschrumpft. Die Nervenzellen sind verkleinert, viele Gliazellen, die das wichtige Stützgewebe bilden, fehlen. Zum anderen ist der Hippocampus, der fürs Lernen von Bedeutung ist, bei Menschen mit Depressionen kleiner als bei Gesunden. Im Normalfall entstehen in diesem Areal jeden Tag Tausende frische Nervenzellen; der Mensch braucht sie, um neue Eindrücke ins Gedächtnis ablegen zu können. Bei Depressiven dagegen bringen die Stresshormone die Vermehrung der Nervenzellen zum Erliegen. All das spiegelt sich im Verhalten der Patienten wider: Am Ende einer Buchseite haben sie oftmals bereits vergessen, was sie gelesen haben. Eine Patientin, die in zwölf Jahren drei depressive Phasen durchlitten hat, scheiterte an den ein130
fachsten Kreuzworträtseln: „Während meiner Krankheit hatte ich Zweifel, ob ich jemals wieder intellektuell in der Lage sein würde, meinen Job auszuüben“, sagt die Juristin. Und auch Gomez erklärt: „Ich habe eigentlich ein fotografisches Gedächtnis. Aber an meinen schlechten Tagen war es wie weggeblasen.“ Oft gehen auch Ängste mit der Depression einher. Das haben Christoph Nissen und sein Kollege Claus Normann kürzlich in einer Studie untersucht. Für ihre Experimente führten sie 23 Menschen mit schwerer Depression und 35 gesunde Vergleichspersonen in einen Kellerraum ihres Instituts. Dort stand ein Bildschirm, auf dem die Probanden Bilder betrachten sollten. Bei bestimmten Motiven bekamen sie dabei einen unangenehmen Stromschlag versetzt. Sie schraken zusammen und schwitzten stärker, was die Forscher mit Elektroden maßen. Anschließend bekamen die Testpersonen die Motive erneut zu sehen, allerdings ohne Stromschlag. Dennoch brachen die depressiven Patienten verstärkt in Schweiß aus – sie waren stärker auf die Furcht konditioniert. Menschen mit Depression, so Nissens Deutung, schätzen bestimmte Situationen als bedrohlicher ein, als Gesunde dies tun. Neurobiologische Befunde legen nahe, dass bei Depressiven die Amygdala verstärkt aktiviert ist, jene Hirnstruktur, in der Ängste verarbeitet werden. Das klingt nicht gut, und doch haben die Neurowissenschaftler auch erbauliche Nachrichten: Die Spuren im Gehirn sind nicht unveränderlich. Ein wunderbares Beispiel, wie sich der Niedergang der Plastizität umkehren lässt, gibt der Feldhamster ab. Während des Winterschlafs schaltet er sein Gehirn auf Ruhestellung. Die Nervenzellen bilden ihre Fortsätze zurück, die Hirnleistung sackt ab. Diese Art der Winterdepression ermöglicht es dem Hamster, Energie zu sparen. Doch wenn er im Frühjahr das Nest verlässt, fährt er das Gehirn binnen weniger Stunden wieder hoch. Die Nerven wachsen wieder, sagt der Göttinger Neurobiologe Eberhard Fuchs: „Es ist, als schlügen Triebe aus.“ Wie aber lässt sich ein depressiver Mensch aus seinem seelischen Winterschlaf aufwecken? Antidepressiva sind dazu ein durchaus taugliches Mittel. Sie scheinen die Plastizität zu stärken und sogar das Wachstum neuer Nervenzellen anzukurbeln. Ihre Wirkung setzt nämlich meistens erst nach drei bis sechs Wochen ein – genauso lange dauert es, bis im Hippocampus frische Nervenzellen heranwachsen. Allerdings braucht es nicht immer pharmakologische Hilfe, um die Produktion neuer Nervenzellen, die Neurogenese, auf Touren zu bringen – dazu genügt bereits körperliche Bewegung. In einer Studie haben 60 Menschen im Alter zwiD E R
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schen 55 und 80 Jahren zwölf Monate lang regelmäßig Aerobic gemacht. Im Durchschnitt führte diese Ertüchtigung dazu, dass der Hippocampus anschließend um zwei Prozent größer war als vorher. Generell gilt: Regelmäßige Ertüchtigung – mindestens dreimal wöchentlich je eine halbe Stunde – wirkt genauso gut gegen mittelschwere Depressionen wie gängige Medikamente. Auch Meditation und kognitive Aktivität scheinen wie Balsam auf das Gehirn zu wirken, weil sie dessen Plastizität stärken. Der Effekt lasse sich natürlich auch
Offenstehende „Rote Tür“ im Park des Klinikums
troden ins Gehirn der Patienten einzupflanzen. Wie eine Art Schrittmacher senden diese Nadeln elektrische Impulse in bestimmte Regionen des Denkorgans. Mit dieser sogenannten tiefen Hirnstimulation hat die Gruppe um Thomas Schläpfer vom Universitätsklinikum Bonn in einer Studie 13 Menschen mit behandlungsresistenter Depression behandelt. Immerhin sechs von ihnen sprachen auf das Verfahren an. Ein Patient allerdings beging Selbstmord. Aber nicht nur Chemie, Bewegung und Strom, sondern auch Psychotherapien
STEFAN THOMAS KROEGER / DER SPIEGEL
zur Vorbeugung nutzen, sagt der Psychiater Mazda Adli, der es selbst vormacht. Mit anderen Ärzten und Kollegen hat er den Chor The Singing Shrinks gegründet: Seelenklempner (englisch: shrinks) singen, um ihren Stress abzubauen. Allerdings gibt es Patienten, die weder auf Bewegung, Meditieren, Musiktherapie noch auf Pillen richtig ansprechen. Forscher versuchen deshalb, ihr Gehirn mit anderen Mitteln zu stimulieren. Neben der umstrittenen Elektrokrampftherapie für schwer Depressive beginnen Ärzte neuerdings damit, hauchfeine Elek-
Wahrendorff: Das falsche Bild von der Depression aus der Welt schaffen D E R
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hinterlassen Spuren in den grauen Zellen. Menschen mit Depressionen können sich die Formbarkeit des Hirns, unter Anleitung eines guten Therapeuten, zunutze machen. Indem sie Gedankengänge gezielt einüben, stimulieren sie bestimmte Hirnregionen und normalisieren auf diese Weise das gestörte Netzwerk. Dieses Schauspiel wollen deutsche Forscher jetzt im Kernspintomografen sichtbar machen. Am Universitätsklinikum Freiburg wählten sie 60 Teilnehmer für eine Studie aus. Es handelt sich um Menschen mit schweren chronischen Depressionen, bei vielen kommen noch frühkindliche Traumata oder Persönlichkeitsstörungen hinzu. Den bisher kaum behandelbaren Menschen zu helfen, hat sich die Psycho Elisabeth Schramm zum Ziel gesetzt. Vielleicht, so Schramm, könnten sie ja doch lernen, „die Hilflosigkeit zu besiegen“. Um die Wirkung der Behandlung genau zu erfassen, teilten die Forscher die Patienten in zwei Gruppen: Die eine Hälfte bekam ein Antidepressivum, die andere erhielt eine neue Form der Psychotherapie. Ziel ist es dabei, den Patienten die Konsequenzen ihres eigenen Verhaltens klarzumachen. Auch sollen sie lernen, sich besser in andere Menschen hineinzuversetzen. Die Ergebnisse der Studie sind zwar noch nicht veröffentlicht; aber das, was Schramm schon verraten darf, klingt ermutigend. Viele Patienten sprächen auf die Therapie an – und die Gehirnscans bestätigten es. Schramm: „Wir sehen spezifische Veränderungen im Gehirn.“ Studien wie diese tragen dazu bei, dass Ärzte und Psychologen sich einander vorsichtig annähern. Bisher standen sich Gesprächstherapeuten einerseits und pharmakologisch ausgerichtete Nervenärzte andererseits oftmals unversöhnlich gegenüber. Nun jedoch erkennen sie, dass Pillen und Gespräche auf das gleiche System im Gehirn wirken. „Wir können die Grabenkämpfe beenden“, sagt der Bonner Psychiater Schläpfer. „Beides wirkt – und am besten zusammen.“ Javier Sayes Gomez, der Fernsehzuschauer, der nach einem Burnout-Bericht zum Arzt ging, kann es bestätigen. Gegen seine Depression bekam er Medikamente, sprach auf der Couch mit einer Therapeutin und begann Halbmarathon zu laufen. Heute verkauft Sayes Gomez wieder Hä und redet offen über seine Erkrankung. Die 43-jährige Juristin aus Mainz ist noch nicht so weit. In diesem Herbst mussten ihre beiden Töchter auf Station 7 der Klinik für Psychiatrie kommen, wenn sie ihre Mama sehen wollten. Bei ihrer Arbeit darf das niemand wissen. In der Behörde heißt es, die Chefin fehle – weil sie einen Burnout habe. JÖRG BLECH
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UNIVERSAL STUDIOS
Filmszene aus „Inglourious Basterds“, 2009: Als die Bilder laufen lernten, musste es ihnen das Publikum oft gleichtun
Die Außenwände des Filmlagers geben im archivs. „Im Ausland ist die Lagerung Ernstfall leicht nach, um den Überdruck von Nitrofilm selbstverständlich; die früabzuführen. Vor dem Gebäude ist sicher- heste erhaltene Materialgeneration wird dort als das Kostbarste angesehen, was heitshalber ein Erdwall aufgeschüttet. Meisterwerke wie die ersten Filme der man von einem Film haben kann.“ Obwohl man im Bundesarchiv peniBrüder Skladanowsky (1895) oder Fritz Langs „Metropolis“ (1927) lagern hier un- belst arbeitet, bedeutet doch jede Kopie ter Bedingungen, die vom Sprengstoffge- eine leichte Verfälschung von Farbton, setz vorgeschrieben werden. Als die Bil- Kontrastumfang, Belichtung. Das Bundesder laufen lernten, musste das Publikum archiv betreibe „planmäßig und systemaVernichten oder archivieren? es ihnen oft gleichtun. Schon 1897, nur tisch die Vernichtung seiner NitratbestänHistorische Filme aus der wenige Jahre nach der Erfindung des neu- de“, beschwerten sich schon 2007 drei Gründerzeit des Kinos sind so en Mediums, kam es während der Pariser Professoren in einem Brandbrief. Unerexplosiv, dass sie wie Weltausstellung zu einem Kinobrand – setzliche Nitratkopien seien zerstört worSprengstoff behandelt werden. den, darunter ein Film mit der dänischen 140 Zuschauer kamen um. Erst von den dreißiger Jahren an wurde Starschauspielerin Asta Nielsen von 1911. „Das Filmsterben hat eine fast philoie wertvollsten Schätze der deut- die explosive Nitrocellulose nach und schen Filmgeschichte lagern in ei- nach durch Sicherheitsfilm aus Acetat ver- sophische Dimension“, sagt der Berliner nem Bunker bei Berlin. Die di- drängt. Weil die alten Filme als potentiel- Jurist Winfried Bullinger. „Filme sind ein cken Betonwände sollen nicht vor Bom- le Sprengsätze gelten, sieht sich das Ber- Teil des kulturellen Gedächtnisses, Filmben von außen schützen. Die Gefahr geht liner Archiv gezwungen, sie auf neuen emulsion besteht wesentlich aus tieriAcetatfilm umzukopieren und die Origi- schem Eiweiß und muss daher irgendvon den Filmdosen aus. „Historische Nitrofilme sind hochexplo- nale dann teils zu vernichten. Vor allem wann sterben wie wir Menschen auch.“ Mit Hilfe von Gutachten kämpft Bulsiv“, warnt Egbert Koppe, Spezialist für Massenware wie Wochenschauen aus den Filmrestaurierung am Bundesarchiv in dreißiger und vierziger Jahren werden linger darum, Nitrofilme aus dem Sprengzum Entsorgen weggegeben an Firmen, stoffgesetz herauszulösen und sie eher im Hoppegarten, einem Vorort von Berlin. Nebenan befand sich einst die Verschlüs- die sonst mit Minenräumung befasst sind. Sinne des Denkmalschutzrechts zu beselungszentrale der Stasi. Der Archivar Nur wertvolle Werke kommen nach dem handeln: „Möglicherweise hat man in 30 Jahren viel bessere Möglichkeiten, eine öffnet eine alte Blechdose, in der sich ein Kopieren zurück ins Lager. Doch darf man Kulturgut vernichten, digitale Kopie zu erstellen; dann wäre es vergilbt wirkender Film schlängelt. Koppes Atem dampft, die Lagerräume sind auf als handelte es sich um Landminen? Oder schade, wenn die Originale zerstört sind.“ Die Ära des physischen Films geht zu sechs Grad Celsius heruntergekühlt. 40 Be- sollte man auch jeden noch so banalen tonkammern reihen sich aneinander, mit Filmschnipsel für die Ewigkeit erhalten? Ende, nur hin und wieder gibt es feierStahltüren voneinander getrennt, um im Darum ist ein erbitterter Streit entbrannt. liche Abschiedsfeuerwerke. In der Taran„Die Vernichtung von Nitrofilmen tino-Satire „Inglourious Basterds“, vor Notfall einen Brand zu begrenzen. Das Problem: Von 1890 bis in die fünf- ohne Not halten wir nicht für richtig“, drei Jahren in Babelsberg gedreht, ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts kritisiert Martin Koerber, Mitarbeiter der kommt Adolf Hitler in einem Pariser hinein wurden die meisten Filme auf Deutschen Kinemathek, die Vernich- Kino um, das Partisanen mit Nitrofilm in Nitrocellulose gedreht, die wie auch TNT tungsaktionen des zuständigen Bundes- ein reinigendes Höllenfeuer verwandeln. „Wir haben die entsprechenden Filmauf Stickstoffverbindungen beruht. Ihre rollen für ‚Inglourious Basterds‘ zur VerSprengkraft liegt weit über der von fügung gestellt“, erzählt Egbert Koppe Schwarzpulver. Um zu brennen, braucht mit wohligem Gruseln. Er sitzt in einem alter Film nicht einmal Sauerstoff; er entder blauen Sessel im hauseigenen Filmzündet sich schon durch Schläge oder zu archiv-Kino, dessen Vorführraum mit feuhohe Temperaturen. „Wenn ein Film sich erfestem Panzerglas abgetrennt ist. auflöst, fängt er zunächst an zu kleben, Starregisseur Quentin Tarantino wollte wird dann spröde und löst sich schließlich eigentlich Original-Nitrofilme bekomzu Staub auf“, sagt Koppe. Alter, brösemen – alte Wochenschauen beispielsweise. liger Film kann sich spontan entzünden – „Aber das konnten wir nicht verantwordoch wann es brenzlig wird, lässt sich ten“, sagt Koppe. „Die Brenneigenschafkaum vorhersagen. Ein schwelender Film ten sind unberechenbar.“ könnte dann benachbarte Filmrollen in Archivar Koppe Brand stecken – bis alles in die Luft fliegt. Vorführraum mit Panzerglas HILMAR SCHMUNDT GESCHICHTE
Feuerwerk im Archiv
AMIN AKHTAR / DER SPIEGEL
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SPI EGEL-GESPRÄCH
„Wir werden hinters Licht geführt“ Der RWE-Manager Fritz Vahrenholt (SPD) widerspricht den Vorhersagen des Weltklimarats. Der streitbare Umweltexperte behauptet: Weil die Sonne schwächele, werde es in den nächsten Jahrzehnten sogar kühler werden.
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er redegewandte Strommanager ist nervös zu Beginn des Gesprächs. Er sucht nach Worten. Das kommt selten bei ihm vor, dem geübten Provokateur. Der Chemiker Fritz Vahrenholt, 62, ist sein Leben lang ein Rebell gewesen: „Vielleicht steckt das einfach so drin in meiner Generation“, sagt er. Er ist ein typischer Alt-68er, in den siebziger Jahren kämpfte er gegen die giftigen Fabriken der chemischen Industrie. Seine Partei, die SPD, kürte ihn zum Hamburger Umweltsenator. Indem er Müllverbrennungsanlagen durchsetzte, legte „Feuerfritze“ sich mit der Ökolobby an. Dann ging er in die Industrie, erst zum Öl-Multi Shell, anschließend baute er den Windradhersteller RePower auf. Nun, als scheidender Chef des Ökostromkonzerns RWE Innogy, zieht er in seine nächste große Schlacht: „Ich werde mir in allen Lagern Feinde machen.“ Er will ein Tabu brechen. „Die Klimakatastrophe findet nicht statt“, schreibt er in seinem Buch „Die kalte Sonne“ (Hoffmann und Campe Verlag, 416 Seiten, 24,99 Euro), das in der kommenden Woche erscheint. Nur einem Klimaforscher, dem Direktor des Hamburger Max-Planck-Instituts für Meteorologie Jochem Marotzke, hat Das Gespräch führten die Redakteure Olaf Stampf und Gerald Traufetter.
Strommanager Vahrenholt
er das Buch vorab zum Lesen gegeben. Wurden Sie zum Rücktritt genötigt, weil Dessen Urteil ist eindeutig: Vahrenholt Ihre Thesen dem neuen grünen Image vertrete die Standpunkte der Klimaskep- von RWE schaden? tiker. „Eine Reihe der Hypothesen im Vahrenholt: Nein, mein Vertrag wäre ohneBuch sind längst widerlegt“, behauptet hin Ende des Jahres ausgelaufen. AußerMarotzke – wendet aber selbstkritisch dem bleibe ich dem Unternehmen noch ein: Seine Zunft habe es versäumt zu er- für drei Jahre im Aufsichtsrat erhalten. klären, dass die globale Temperatur nicht SPIEGEL: Wie finden denn Ihre Managerautomatisch weiter steigen werde; viel- kollegen Ihre provozierende Prognose, mehr könne es auch Phasen der Stagna- nach der es in den kommenden Jahrzehntion, sogar eines leichten Temperatur- ten kälter werden wird statt wärmer? rückgangs geben. Marotzke: „Damit ha- Vahrenholt: Dies ist ja kein RWE-Buch. Außer dem Vorstandsvorsitzenden Jürgen ben wir eine Angriffsfläche geboten.“ Während die Werke von Klimaketzern Großmann habe ich es auch noch niemanmeist wenig Aufmerksamkeit bekommen, dem im Unternehmen zum Lesen gegekönnte der Fall bei Vahrenholt anders lie- ben. Großmann zumindest fand die Lekgen. „Seine Bekanntheit wird dafür sor- türe so spannend, dass er das Buch in eigen“, glaubt Marotzke, „dass es eine De- ner Nacht verschlungen hat. SPIEGEL: Dennoch erinnert Ihr überstürzbatte darum geben wird.“ Unbehagen löst das Buch in Vahrenholts ter Rückzug aus dem RWE-Management Partei aus. Niemand aus der SPD-Führung an den Skandal um einen prominenten will sich zu den Thesen des prominenten Bundesbanker, der wegen seiner umstritGenossen äußern, weder der frühere Um- tenen Thesen zur Einwanderung zurückweltminister und heutige Parteichef Sig- treten musste … mar Gabriel noch Fraktionschef Frank- Vahrenholt: Das ist kein überstürzter RückWalter Steinmeier, der das Buch vorab le- zug. Außerdem brauche ich Thilo Sarrazin nicht als Vorbild. Ein Vorbild brauchte sen durfte. Ein Vahrenholt-Vortrag an der Uni Os- ich auch nicht, als ich 1978 mit dem Buch „Seveso ist überall“ auf die Risiken der nabrück wurde kurzfristig abgesetzt. Chemieindustrie aufmerksam machte. SPIEGEL: Herr Vahrenholt, vorvergange- Heute will ich, dass neue wissenschaftline Woche traten Sie überraschend als che Erkenntnisse in der Klimadebatte Ökostromchef bei RWE zurück. Und jetzt auch berücksichtigt werden. Und wer das erscheint Ihr Buch „Die kalte Sonne“, in tut, kann nur zu einem Schluss kommen: dem Sie die Klimakatastrophe absagen. Die einfache Gleichung, nach der fast aus-
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Schwankung der Solaraktivität (abgelesen an der Zahl der Sonnenflecken) Quellen: Hoyt/Schatten; SIDC
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Vahrenholt: Ich betreibe ja keine eigene
Gasausbruch auf der Sonne: „Die kosmischen Teilchen prasseln heftig auf uns nieder“
schließlich CO und die anderen men² schengemachten Treibhausgase für die Klimaveränderung verantwortlich sein sollen, lässt sich nicht aufrechterhalten. Seit fast 14 Jahren ist es auf diesem Planeten nicht mehr wärmer geworden – trotz weiter steigender CO -Emissionen. ² Darauf muss die etablierte Klimawissenschaft eine Antwort liefern. SPIEGEL: Von Haus aus sind Sie Strommanager. Wie kommen Sie dazu, sich in die Klimaforschung einzumischen? Vahrenholt: Als Energieexperte habe ich selbst die Erfahrung gemacht, dass der Weltklimarat IPCC eher ein politisches als ein wissenschaftliches Gremium ist. Als Berichterstatter für erneuerbare Energien musste ich miterleben, auf welch
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dünner Faktenlage dort Vorhersagen erstellt werden. In einem Fall wurde kritiklos die absurde Behauptung eines Greenpeace-Aktivisten übernommen, wonach bald 80 Prozent der weltweiten Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen gewonnen werden könnten. Das hat mich dazu gebracht, mich genauer mit dem IPCC-Bericht zu befassen. SPIEGEL: Und zu welchem Ergebnis sind Sie gelangt? Vahrenholt: In der Langfassung des IPCCBerichts tauchen durchaus noch natürliche Ursachen des Klimawandels wie die Sonne oder oszillierende Meeresströmungen auf. Doch in der Zusammenfassung für die Politiker kommen diese nicht mehr vor, sie werden einfach ausgeblendet. Bis heute wissen viele der Entscheidungsträger nicht, dass die Dominanz des CO durch neue Studien massiv in Frage ² gestellt ist. CO allein wird niemals eine ² Erwärmung um über zwei Grad bis Ende des Jahrhunderts bringen. Nur unter Zuhilfenahme angeblicher Verstärkungseffekte, insbesondere des Wasserdampfs, errechnen die Computer eine drastische Temperaturerhöhung. Ich sage: Die globale Erwärmung wird bis Ende des Jahrhunderts unter zwei Grad Celsius bleiben – das ist eine eminent politische, aber auch gute Botschaft. SPIEGEL: Sie machen konkrete Aussagen, welchen Anteil am Klimageschehen der Mensch hat und welchen natürliche Faktoren haben. Warum veröffentlichen Sie Ihre Prognosen nicht in einem Fachmagazin? D E R
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Klimaforschung. Ich habe auch keinen Supercomputer im Keller stehen. Im Wesentlichen fasse ich mit meinem Co-Autor, dem Geologen Sebastian Lüning, nur zusammen, was Wissenschaftler in Fachjournalen veröffentlicht haben – so wie es der Weltklimarat auch tut. Das Buch ist zugleich eine Plattform für Forscher, die mit guten Argumenten von der Meinung des IPCC abweichen. Denn die etablierten Klimamodelle haben auf ganzer Linie versagt, weil sie die ausbleibende Erwärmung nicht stichhaltig erklären können. SPIEGEL: Sie behaupten, der Stillstand hänge mit der Sonne zusammen. Was macht Sie da so sicher? Vahrenholt: Wir sehen seit 7000 Jahren ein zyklisches Auf und Ab beim Klima – lange bevor der Mensch begonnen hat, CO ² in die Atmosphäre auszustoßen. So gab es alle 1000 Jahre eine Wärmephase, die römische, die mittelalterliche und die heutige Wärmezeit. All diese Wärmezeiten fielen stets mit einer starken Sonnenaktivität zusammen. Neben dieser großen Aktivitätsschwankung gibt es zudem einen 210-jährigen und einen 87-jährigen natürlichen Zyklus der Sonne. Diese auszublenden, wäre ein schwerer Fehler … SPIEGEL: … wobei die Solarforscher noch darüber streiten, ob es die von Ihnen genannten Zyklen wirklich gibt. Was bedeutet das aus Ihrer Sicht für die Zukunft? Vahrenholt: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Sonne so aktiv wie seit über 2000 Jahren nicht mehr. Dieses „Große Solare Maximum“, wie es Astronomen nennen, hat mindestens ebenso stark zur Erwärmung beigetragen wie das Treibhausgas CO . Doch seit 2005 schwä² chelt die Sonne und wird das auch die nächsten Jahrzehnte tun. Folglich haben wir von der Sonne erst einmal nur noch Abkühlung zu erwarten. SPIEGEL: Es ist unstrittig, dass Schwankungen der Sonnenaktivität das Klima beeinflussen können. So gehen die meisten Experten davon aus, dass ein ungewöhnlich langes Sonnenminimum, abzulesen an der damals verschwindend geringen Zahl an Sonnenflecken, ab 1645 zur „Kleinen Eiszeit“ führte. Zu jener Zeit gab es viele strenge Winter, die Flüsse froren zu. Allerdings wissen die Astrophysiker bis heute nicht, um wie viel Grad Celsius genau die Sonnenschwankungen tatsächlich zu Buche schlagen. Vahrenholt: Viele Wissenschaftler gehen von mehr als 1 Grad Celsius für den 1000jährigen Zyklus und von bis zu 0,7 Grad Celsius für die kleineren Zyklen aus. Hier müsste die Klimaforschung doch mit Hochdruck daran arbeiten, die Wirkung der Sonne aufs Klima genauer zu bestimmen. Für den Weltklimarat und die von ihm beeinflusste Politik gibt es praktisch nur das CO . Die Bedeutung der Sonne ² fürs Klima wird systematisch unterschätzt 135
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SPIEGEL: Sie verschweigen dabei: Noch ist keinesfalls bewiesen, dass die kosmische Strahlung, die von der Sonne mal mehr, mal weniger gut von uns ferngehalten wird, auf der Erde wirklich zu mehr kühlenden Wolken führt. Bislang ist das nur eine Hypothese. Vahrenholt: Es ist mehr als das. Seit dem Jahr 2006 findet am Teilchenforschungszentrum Cern bei Genf unter Leitung des Physikers Jasper Kirkby das CloudExperiment statt. In einer Messkammer, in der die Erdatmosphäre simuliert wurde, zeigte sich als erstes Zwischenergebnis, dass kosmische Teilchen tatsächlich
Sonnenflecken voraus. Tatsächlich kehrten diese schon 2010 zurück. In Wahrheit erleben wir derzeit eine recht normale Solaraktivität. Vahrenholt: Der Sonnenzyklus ist alles andere als normal. Nasa-Forscher prophezeien, dass dies voraussichtlich der schwächste der vergangenen 80 Jahre werden wird. Er hat nicht nur zwei Jahre zu spät angefangen, sondern ist noch sehr schwach. Sie dürfen auch nicht nur die Sonnenflecken zählen. Die kosmischen Teilchen prasseln weiterhin heftig auf uns nieder, weil uns das Sonnenmagnetfeld kaum abschirmt.
Schutzschild gegen Weltraumstrahlung Wie sich die schwankende Solaraktivität auf das Erdklima auswirken könnte 1
In Zeiten geringer Sonnenaktivität fällt das Magnetfeld der Sonne, das die Erde gegen die kosmische Strahlung abschirmt, schwächer aus.
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kosmische Strahlung
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In diesem Fall können elektrisch geladene kosmische Teilchen vermehrt in die Erdatmosphäre eindringen und führen dort zur Bildung von Aerosolen.
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Die Aerosole könnten als Kondensationskeime für Wassertropfen dienen. Das führt zu Wolkenbildung, und es kommt zur Abkühlung.
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In Zeiten hoher Sonnenaktivität läuft es genau umgekehrt: Die Teilchenstrahlung wird ferngehalten, weniger Wolken entstehen, und es wird wärmer.
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und die Bedeutung des CO systematisch ² überschätzt. Somit basieren alle Klimavorhersagen auf falschen Grundlagen. SPIEGEL: Sie machen doch genau das, was Sie den Klimaforschern vorhalten: Sie setzen auf dünner Datenbasis exakte Vorhersagen in die Welt. In Ihrem Buch beziffern Sie auf 0,1 Grad genau den Einfluss der Sonne aufs Klima. Das vermag kein Mensch. Vahrenholt: Ich behaupte doch gar nicht, ich wüsste ganz präzise, ob die Sonne 40, 50 oder 60 Prozent Anteil an der globalen Erwärmung hat. Aber es ist Unsinn, wenn der Klimarat behauptet, die Sonne habe gar nichts damit zu tun. SPIEGEL: Unterm Strich sagen Sie bis ins Jahr 2035 eine globale Abkühlung um 0,2 bis 0,3 Grad Celsius voraus. Warum hängen Sie sich so weit aus dem Fenster? Vahrenholt: Wer die festgefahrene Debatte beleben will, muss schon den Mut haben, auch eine Zahl zu nennen. Und diese Zahl leiten wir ab aus wissenschaftlichen Untersuchungen über die bisherige Klimageschichte. SPIEGEL: Ihre Entwarnung ist also nur eine Provokation? Vahrenholt: Nein, ich meine es sehr ernst und weiß mich mit Dutzenden Solarforschern einig. Mir ist wohl bewusst, welche persönlichen Diffamierungen ich mir in nächster Zeit anhören muss. Die Klimadebatte hat ja mitunter inquisitorische Züge. Ich bin gespannt, welches Wahrheitsministerium jetzt ein Verfahren gegen mich eröffnet – vielleicht ja das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung mit dem Kanzlerinnenberater Schellnhuber an der Spitze. SPIEGEL: Sie behaupten, der Stillstand bei der Erwärmung seit 2000 sei maßgeblich durch einen gleichzeitigen Rückgang der Sonnenaktivität verursacht worden. Doch in Wahrheit verhielt sich die Sonne bis Mitte des Jahrzehnts recht normal. Erst danach wurde sie auffallend ruhiger. Wie t das zusammen? Vahrenholt: Es gibt zwei Effekte: die zurückgehende Sonnenaktivität, aber auch die Schwankungen bei den Meeresströmungen, etwa die 60-jährige pazifische Oszillation, die sich von 1977 bis 2000 in einer positiven warmen Phase befand und seit 2000 durch ihren Abstieg für Abkühlung sorgte. Auch deren Anteil an der Temperaturveränderung ist fälschlicherweise dem CO zugeschrieben worden. Vor allem ² aber war schon der letzte Sonnenfleckenzyklus schwächer als die vorangegangenen. Und daher schwächt sich das Magnetfeld der Sonne seit dem Jahr 2000 weiter ab. Folglich schirmt uns dieses Magnetfeld weniger gut gegen kosmische Strahlung ab – die wiederum zur stärkeren Wolkenbildung und damit zur Abkühlung führt. Was muss eigentlich noch ieren, bis der IPCC diese Zusammenhänge in seinen Berichten wenigstens erwähnt?
Aerosolpartikel für Wolken entstehen lassen. SPIEGEL: Die im Cloud-Experiment nachgewiesenen Aerosole sind aber viel zu klein. Sie müssten erst anwachsen, um tatsächlich als Kondensationskeime für Wolken dienen zu können. Ob das in der Natur geschieht, ist noch eine offene Frage. Sie stellen das als Tatsache hin. Vahrenholt: Sie finden im Buch zahlreiche Korrelationen zwischen Wolkenbedeckung und kosmischen Strahlen. Ich frage mich, warum der Weltklimarat diesen Mechanismus nicht gründlich untersucht. Meine Vermutung: Die Antwort auf diese Frage würde das gesamte Fundament der IPCC-Vorhersagen ins Wanken bringen. SPIEGEL: Dennoch sollten Sie mit Prognosen über die zukünftige Sonnenaktivität besser vorsichtiger sein. 2009 sagten USForscher ein jahrelanges Ausbleiben der D E R
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SPIEGEL: Richtig ist, dass es irgendwann in
den kommenden 500 Jahren wieder ein Großes Solares Minimum geben wird. Aber keiner weiß, wann genau. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies in den nächsten 40 Jahren eintreten wird, liegt unter zehn Prozent. Sie aber sagen in Ihrem Buch voraus: „Dass die Sonne uns in der ersten Hälfte dieses Jahrtausends kältere Zeiten bescheren wird, ist sicher.“ Sind Sie schlauer als alle Astrophysiker zusammen? Vahrenholt: Die Wahrscheinlichkeit für ein Großes Solares Minimum wie während der kleinen Eiszeit liegt in der Tat unter zehn Prozent. Aber wir stehen vor einem leichteren Abschwingen der Sonnenaktivität, wie wir sie alle 87 und alle 210 Jahre sehen. Ich habe mit vielen Sonnenphysikern gesprochen, die dies erwarten. SPIEGEL: Wir kennen viele andere Sonnenforscher, die das bezweifeln. Ein weiteres
Vahrenholt: Dann werde ich im Jahr 2020
dem SPIEGEL ein Interview geben und öffentlich bekennen: „Jawohl, ich habe mich geirrt.“ Aber ich bin mir sicher, dass dies nicht notwendig sein wird. SPIEGEL: Glauben Sie eigentlich ernsthaft, dass alle 2000 im Weltklimarat zusammengeschlossenen Wissenschaftler gleichgeschaltet oder verblendet sind? Vahrenholt: So ist es ja nicht. Kritisch sehe ich aber die Rolle der wenigen Leitautoren, die die Schlussredaktion des Berichts übernehmen. Diese behaupten, sie würden 18 000 von Fachkollegen begutachtete Publikationen verwenden. Dabei sind 5000 davon sogenannte Graue Literatur, nicht begutachtete Quellen. Am Ende kommen dann solche Fehler heraus wie die absurde Behauptung, schon in 30 Jahren gebe es im Himalaja keine Gletscher mehr. Mich überraschen solche Übertrei-
bungen nicht. Denn von den 34 vermeintlich unabhängigen Mitgliedern, die den Synthesereport für die Politiker schreiben, ist fast ein Drittel mit Umweltorganisationen wie Greenpeace oder dem WWF verbunden. Merkwürdig, finden Sie nicht? SPIEGEL: Warum geben Sie so leidenschaftlich die Rolle des Klimarebellen? Woher diese Wut? Vahrenholt: Ich habe jahrelang die Hypothesen des IPCC verbreitet und fühle mich hinters Licht geführt. Mir liegen die erneuerbaren Energien am Herzen, für deren Ausbau ich seit über 30 Jahren kämpfe. Meine Sorge ist: Wenn auch die
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Physiker Kirkby bei Cern bei Genf
MAXIMILIEN BRICE / CERN
Maximum ist statistisch ebenso wahrscheinlich wie ein Minimum. Vorhersagen, wie es mit der Sonne in den kommenden Jahrzehnten weitergeht, grenzen an Wahrsagerei. Vahrenholt: Ich kenne nur einen deutschen Solarforscher, der sich so zweifelnd geäußert hat. Die Auffassung verschiedener amerikanischer und britischer Solarforschergruppen ist, dass wir vor schwachen Solarzyklen stehen. Ich nehme das ernst und erwarte von der Sonne bis 2050 nur Abkühlung. SPIEGEL: Und was machen Sie, wenn die Temperaturen doch wieder steigen?
Wolkenbildung
Bürger feststellen, dass die Klimawarner nur die halbe Wahrheit sagen, werden sie nicht mehr bereit sein, höhere Stromkosten für Wind und Sonne zu zahlen. Dann wird dem Umbau unserer Energieversorgung die nötige Akzeptanz fehlen. SPIEGEL: Wenn wir Ihr Buch zu Ende denken, dann ist es ja ohnehin unnötig, den CO -Ausstoß zu verringern. ² Vahrenholt: Nein, auch eine Temperaturerhöhung um nur ein Grad wäre eine spürbare Veränderung. Aber in der Tat sage ich: Der Klimawandel ist beherrschbar, weil uns die Sonne und die Meeresströmungen durch deren kühlende Wirkung genügend Zeit verschaffen, uns darauf einzustellen. In Deutschland werden wir uns ohnehin locker anen können. SPIEGEL: Ist es denn ein Fehler, sich ausschließlich auf die Verringerung von Kohlendioxid zu konzentrieren? D E R
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Vahrenholt: Ja, neben dem Kohlendioxid
geht es etwa um den schwarzen Ruß. Er erreicht immerhin 55 Prozent der Erwärmungswirkung des CO , könnte aber mit ² geringem Aufwand vor allem in den Schwellen- und Entwicklungsländern innerhalb weniger Jahre herausgefiltert werden – und man würde auch noch unglaublich viel für die Gesundheit der Menschheit bewirken. SPIEGEL: Wäre der Ausbau der Windenergie ohne die Sorge um das Klima so schnell vonstattengegangen? Vahrenholt: Das war eine treibende Kraft. Doch zuallererst war es Ingenieurskunst, welche die Windkraft auf ein rentables Niveau gebracht hat. Noch mal: Ich will, dass wir weiter auf die erneuerbaren Energien setzen; wir müssen sie wettbewerbsfähig machen. Ich finde nur, dass wir vernünftig vorgehen sollten: bei uns gern Windkraft und Biomasse, aber bitte keine Solaranlagen. Die sind in Afrika und Südeuropa besser aufgehoben. Es ist doch Irrsinn, aus Angst vor der angeblichen Klimakatastrophe 50 Prozent der weltweiten Solaranlagen im „Sonnenland Deutschland“ zu installieren und dafür pro Jahr acht Milliarden Euro auszugeben! SPIEGEL: Schießen Sie sich nicht selbst ins Knie, wenn Sie sagen, der Klimawandel sei gar nicht so schlimm? Wie wollen Sie weiter den Emissionshandel rechtfertigen, wenn Sie Treibhausgase für irrelevant halten? Vahrenholt: Ich sage doch, dass CO ein ² Klimagas ist, aber in seiner Wirkung eben nur halb so stark wie vom IPCC behauptet. Trotzdem müssen wir den CO -Aus² stoß durch einen weltweiten Emissionshandel verringern. Und es gibt noch andere Gründe, weniger fossile Brennstoffe zu verfeuern. Wir haben nicht mehr viel Kohle, Öl und Gas auf dieser Welt, wir müssen sparsamer mit ihnen umgehen, und wir müssen unabhängiger werden von Importen aus totalitären Staaten. SPIEGEL: Umfragen zeigen, dass die Angst vor der Klimakatastrophe abgenommen hat. Laufen Sie mit Ihrer Entwarnung offene Türen ein? Vahrenholt: Noch bestimmen die Angstmacher die politische Debatte. Nach Auffassung des „Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ soll der gestaltende Ökostaat um des Klimaschutzes willen Konsumverzicht erzwingen. Das geht in Richtung Ökodiktatur. Und die Panikmache zeigt schon jetzt Wirkung. Neulich im Restaurant hörte ich, wie am Nebentisch eine Mutter ihren Kindern einen Vortrag hielt, dass es falsch sei, ein argentinisches Steak zu essen – wegen des Klimas. Da frage ich mich: Wie konnte es so weit kommen? SPIEGEL: Herr Vahrenholt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 137
Sport
Bendler
EISKLETTERN
„Visueller Check“ Wenn der Österreicher Markus Bendler, zweifacher Weltmeister im Eisklettern, mit Steigeisen und Pickel einen gefrorenen Wasserfall erklimmt, verlässt er sich in erster Linie auf einen „visuellen Check“, sagt er. Hartes Eis ist milchig und schimmert blau. Blau ist gut. Scheint es schwarz durch das Eis, könnte es hinterspült, könnte die Bindung zum Felsen nur noch schwach sein. Schwarz ist schlecht. Eisklettern ist riskant, „für grobe Fehler ist kein Platz“, sagt Bendler, 27.
Wenn er nicht wisse, ob er sein Ankergerät sicher ins Eis treiben könne, dann „mach ich’s nicht, es ist schon zu viel iert“. Im März vergangenen Jahres wurde ein Deutscher in Norwegen von einer Welle Eiswasser mitgerissen und starb, vor drei Wochen verunglückte der Amerikaner Jack Roberts tödlich. Roberts, der in der Szene als Legende gilt, stieg durch die gefrorenen Bridal Veil Falls in Colorado, stürzte rund 20 Meter tief und erlitt eine Herzattacke. Auch Kletterprofi Bendler, der im Alter von 20 Jahren seinen Job als Bäcker aufgab, erlebte bereits eine Tragödie im Eis. 2006 brach eine überhängende Eisscholle und begrub seinen Trainingspartner unter sich. Im Weltcup der Eiskletterer, den Bendler 2009 und 2010 gewann, kann so etwas nicht ieren. Die Wettkämpfe finden an Wänden aus Kunsteis statt.
Teammanager Herbert Chapman vom FC Arsenal. Beim WM-System rückte der Mittelläufer als dritter Verteidiger in die hintere Linie, eine Art Ausputzer. Zwei von ursprünglich fünf Stürmern wurden zu Halbstürmern, Fritz Walter Sepp Herberger, der spätere Vater des war später einer von ihnen. Ende 1940, Wunders von Bern, wurde zu Beginn deutsche Soldaten hatten Polen und seiner Karriere als Reichstrainer des Frankreich überrannt, begann der bayedeutschen Fußballs mit Vorwürfen werische NS-Sportbereichsführer Karl gen seines taktischen Konzepts konOberhuber, die Herberger-Spielweise frontiert. Der Historiker Markwart Herzu verunglimpfen. Sie habe zog beschreibt die bizarre, „ihr Gepräge“ erhalten ideologisch motivierte Kon„durch die Jahre des Pazifistroverse nun erstmals in mus der vergangenen und einer wissenschaftlichen überwundenen Systemzeit Studie. Es ging um das vor 1933“, so Oberhuber. „WM-System“, das HerberEr verordnete den bayeriger spielen ließ – eine taktischen Clubs ein offensivesche Grundformation, bei res Schema, ohne zurückgeder die Aufstellung der fünf zogenen Mittelläufer; Auangreifenden Feldspieler tor Herzog meint, es habe ein W beschreibt, die der sich an der Blitzkrieg-Stradefensiveren ein M. Erfuntegie des Hitler-Regimes den hatte es in den zwanziorientiert. Die Deutschen ger Jahren der britische Herberger 1938 FUSSBALL
HANNS HUBMANN / BPK
Angriff auf Herberger
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seien ein Volk von Kämpfern und Angreifern, argumentierte Oberhuber in einem Aufsatz. „Nur Angriff“ bringe Persönlichkeiten hervor. Während der TSV 1860 München dem Befehl offiziell folgte, ignorierten die anderen bayerischen Clubs die Doktrin. Auch entspann sich eine öffentliche Debatte, in der sich das Fachorgan „Der Kicker“ auf die Seite Herbergers schlug. Oberhuber drohte den widerspenstigen Redakteuren. Herbergers Position als Reichstrainer sei 1941 gefährdet gewesen, resümiert Herzog. Die fußballpolitische Auseinandersetzung endete erst, als Oberhuber im Spätsommer 1941 von Gauleiter Adolf Wagner fallengelassen wurde. Als Herberger seine Mannschaft auf die WM 1954 vorbereitete, verkaufte Oberhuber in München auf der Straße Milchmixgetränke. Markwart Herzog: „,Blitzkrieg‘ im Fußballstadion“. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart; 156 Seiten; 16,90 Euro.
BERNHARD KOGLER
Szene
Sport Surfer vor Australien
WELLENREITEN
Bombe aufs Riff Profisurfer wagen sich in immer gefährlichere Reviere. Wer die höchsten Brecher erwischt, dem winken gutdotierte Sponsorenverträge. Das Risiko, dabei umzukommen, wird ignoriert.
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eine Kumpels riefen ihm noch hinterher: „Nein! Zieh zurück!“ Aber Nathan Fletcher, 37, aus San Clemente, Kalifornien, hörte die Warnungen nicht, er wollte sie nicht hören. Ein Surfer hat nicht viele Gelegenheiten, um berühmt zu werden. Hier bot sich eine. Der Himmel über Tahiti war leicht bewölkt, die Welle, die auf Fletcher zurollte, so hoch wie ein vierstöckiges Haus. Und unten, an einer sicheren Stelle des Riffs, liegen Schiffe vollbesetzt mit Reportern, Kameraleuten, Fotografen. „Ich habe meinen Kopf abgestellt und das Brett laufen lassen“, sagt Fletcher. Er sitzt in einem Bungalow in San Clemente. Ein Mann mit zerzausten Haaren 140
und müden Augen. Ein Fernsehteam ist zu Besuch. Sie wollen die Geschichte mit der Welle hören. Sie kam mit der Wucht einer Lawine. Er raste durch den Tunnel, der sich bildet, wenn eine hohe Welle bricht. Der Tunnel war so groß, dass ein Reisebus hineinget hätte. Für einen Augenblick sah es so aus, als könne Fletcher dem Schlund entkommen, doch dann stürzte er. Die Welle wirbelte ihn durch die Luft, er wurde unter Wasser gedrückt, über das Riff gerissen. Es dauerte knapp eine Minute, bis Fletcher wieder an der Oberfläche war, benommen, verwirrt, aber unverletzt. „Es war ein Wunder“, sagt Fletcher. Er grinst jetzt wie ein Erleuchteter. D E R
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Jeder Sport bringt Extremisten hervor, Typen, die Grenzen ausloten wollen. Im Surfsport gibt es viele davon. Sie nennen sich Big-Wave-Surfer. Es sind Stuntmen, die besten werden von den großen Surfkonzernen bezahlt. Ihr Job ist es, Kopf und Kragen zu riskieren. Sie reisen um die Welt, auf der Suche nach neuen Superbrechern. Wer es mit einem Stunt auf die Titelseiten der Surfmagazine schafft, bekommt im folgenden Jahr wieder einen Sponsorenvertrag; so läuft das Geschäft mit dem Wahnsinn auf dem Ozean. Und jedes Jahr im Frühling werden dann die mutigsten Stuntmen bei einer großen Gala geehrt. Verliehen werden die
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XXL-Awards, eine Surffirma aus Australien bezahlt die Feier, diesmal im Mai in Anaheim. Großer Auflauf, Limousinen, roter Teppich, Blitzlichtgewitter. 15 000 Dollar bekommt derjenige, der die höchste Welle der Saison erwischt hat. Es gibt auch einen Preis für den heftigsten Sturz. Nathan Fletcher gehört in diesem Jahr zu den Nominierten. Die Welle, die er im August vor Tahiti ritt, gilt als eine der heftigsten, in die sich jemals ein Surfer wagte. Doch die Konkurrenz beim Surf-Oscar ist groß wie nie. Es wurden Bilder und Filme von Ritten auf monströsen Wellen vor Mexiko, Hawaii, Fidschi, Chile und der Westküste von Irland eingereicht. Im
November surfte der Amerikaner Garrett zog er in die Welle seines Lebens, seine McNamara, ein langjähriger Big-Wave- „Bombe“. Sie hätte ihm fast das Genick Profi, an der Westküste Portugals auf gebrochen. Aber das war okay. Immerhin einem wahren Wasserberg. Experten kennt ihn jetzt die ganze Welt. Surfer wie Fletcher sind Getriebene. streiten noch darüber, wie hoch das Exemplar wirklich war, von 27 Metern ist Ständig im Kampf mit den Naturgewalten wie bei Himalaja-Bergsteigern, geht es die Rede. Das wäre Weltrekord. Big-Wave-Surfer werden bewundert, um neue Rekorde, neue Mutproben. Und denn sie bewegen sich in einer Todeszone. größer als die Furcht vor dem Ertrinken Mit einem Seil an einem Jetski hängend, ist die Angst, eine wirklich fette Welle zu lassen sie sich in Wellen ziehen, die zu veren. Bei gefährlich hohem Seegang gibt die hoch, zu massiv sind, als dass man sie noch mit Armkraft anpaddeln könnte. Inselverwaltung auf Tahiti einen „Code Die Surfer tragen Helm und Kevlar-Weste Red“ raus, das heißt: Niemand darf aufs zum Schutz vor Felsen und Riffen. Man- Wasser. Big-Wave-Surfer haben sich noch che haben kleine Sauerstoffgeräte dabei nie daran gehalten. Vor Jahren wollten Profisurfer an der für den Fall, dass sie nach einem Sturz zu lange unter Wasser gedrückt werden. Ostküste der USA, inmitten der EvakuieEs gibt auch Airbags, die sich auf Knopf- rungsarbeiten wegen eines Hurrikans, druck aufblasen, um einen entkräfteten aufs Wasser. Sie hatten Polizeisperren Havaristen an die Oberfläche zurückzu- ignoriert. Als sie ihre Bretter vom Dach holten, wurden sie festgenommen. bringen. Der Reiz der Welle sei immer größer, Ihre Wellen finden die Profis dank moderner Seekarten und Satellitennaviga- sagt Fletcher in seinem Bungalow in San tion. Ein Hotspot liegt an der Küste Tas- Clemente. Im Nebenraum läuft auf einem maniens. Shipstern Bluff heißt die Stelle. Computer die neueste, weltweite WellenSteile Klippen, eiskaltes Wasser, Haie. prognose. Es sieht gut aus für die Küste Und Brecher, die mit Tempo 80 auf eine scharfe Riffkante treffen. Eines der populärsten Reviere aber befindet sich am nördlichen Ende der Half Moon Bay in der Nähe von San Francisco. Vor den Klippen des Pillar Point, eines Militärgeländes, brechen die höchsten Wellen Kaliforniens. Sie entstehen nur ein paarmal im Jahr, wenn ein Sturm eine besonders hohe Dünung durch den Pazifik an die Küste schickt. Dann wird der Ozean zum Zirkus. Dutzende Surfer paddeln auf ihrem Brett durch die Lagune hinaus, flankiert von Booten und Jetskis. Über den Wellen kreisen Hubschrauber, ausgerüstet mit neuester Kameratechnik für Superzeitlupen und 3-D-Aufnahmen. Mavericks, so heißt das Revier, ist eine Bühne, das Hollywood der Surfer. Dicht gedrängt sitzen die Darsteller auf ihrem Brett im Wasser. Sobald einer „Bombe“ schreit, weiß jeder, dass sich ein besonderer Brecher nähert. Dann wird es hektisch. Alle paddeln um die beste Posi- Surfer Fletcher tion, manchmal kommt es zu kleinen Ran- Kampf mit den Naturgewalten geleien. Vorigen März gab es in Mavericks ei- von Mexiko. Die vergangenen Wochen nen Unfall. Der Profisurfer Sion Milosky hat Fletcher auf der hawaiianischen Insel stürzte an einer besonders gefährlichen Oahu verbracht. Man kann dort in der Stelle und schaffte es nicht mehr an die Wellenzeit von November bis März den Oberfläche. 20 Minuten lang suchten Ka- besten Surfern vom Strand aus zusehen, meraden auf Jetskis nach Milosky. Am wie sie in Brecher hineingleiten, die wie Ende war es Nathan Fletcher, der den Fallbeile herunterkrachen. Einmal paddelte auch ein Tourist hinaus. leblosen Körper seines Freundes im WasEr wurde von der ersten Welle bewusstlos ser fand. Der Tod Miloskys war ein Schock. Ein geschlagen. Die Surfer, die den Unfall sapaar Wellenreiter schrieben auf ihre Bret- hen, zogen den Verunglückten aus dem ter: „Lebe wie Sion!“ Sie wollten damit Wasser. Herzmassage am Strand. Künstandeuten, dass der Traum vom Surfen in liche Beatmung. Der Mann kam durch. Danach gingen alle wieder surfen. großen Wellen jedes Risiko wert sei. Fletcher buchte ein Ticket nach Tahiti. Dort GERHARD PFEIL D E R
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Sport
Verdächtige Athleten Hesse, Steigmiller: Doping oder Scharlatanerie?
In Thüringens Hauptstadt wäre es vie- dith Hesse, 29. Nach Durchsuchungen im len recht, wenn aus der Affäre Franke April 2011 in Frankes Praxis und dem kein Skandal erwachsen würde – wohl Stützpunkt hatte Hesse sich selbst angeauch Spilker, dem Vizepräsidenten des zeigt. Steigmiller sagt, Franke habe ihm Landessportbunds. Das Bundesland ist versichert, was er mache, sei kein Doping. Hesses Fall ist weit fortgeschritten, vereine Größe im Sport, besonders in den Die Affäre um einen Arzt Winterdisziplinen. 2010 in Vancouver ge- mutlich im Frühjahr wird ein Schiedswannen Thüringer Athleten elf olympi- gericht urteilen. Der Richterspruch dürfte am Olympiastützpunkt sche Medaillen, das hätte für Rang zwölf eine weitere offene Frage klären: Seit Thüringen zeigt, wie langsam unter den Nationen gereicht, einen Platz wann ist Frankes Blutmethode bei Sportdie Aufklärung bei lern illegal? Der Anti-Doping-Code vervor Frankreich. Betrugsfällen vorankommt. Franke arbeitete jahrelang als Honorar- bietet erst seit Anfang 2011 ausdrücklich arzt am Olympiastützpunkt, in dieser zen- jegliche Form der Blutmanipulation, voreinz-Jochen Spilker ist ein ein- tralen Funktion hat er vielen Athleten her las sich die Formulierung unschärfer. Damit, was die UV-Bestrahlung des flussreiches Mitglied der Erfurter Blut entnommen, mit ultraviolettem Licht Gesellschaft. Seine Anwaltskanz- bestrahlt und wieder verabreicht. Die Fra- Bluts bewirkt, beschäftigten sich schon lei hatte er nach dem Mauerfall eröffnet, ge ist nun, ob Franke gegen das Arznei- die Sportmediziner der DDR. Einige eininzwischen gehören ihr zwei ehemalige mittelgesetz verstoßen hat. Womöglich im geweihte Funktionäre glaubten 1983, ein Minister des Landes Thüringen an. Spil- großen Stil? Mindestens 30 Athleten soll Wundermittel für die Medaillenjagd geker, 63, zugezogen aus Hamm in West- er mit seiner Methode behandelt haben. funden zu haben. Klären ließ sich bis zur Der Fall hat eine lange, mehr als zwei Wende nicht mehr, was die Methode falen, ist im Rotary Club und Senator der Gemeinschaft des Erfurter Karnevals. Der Jahre währende Vorgeschichte; sie zeigt, wirklich ist: Doping oder Scharlatanerie. Trotzdem hielt sie sich. Wissenschaftler Linken-Fraktion im Landtag gilt er als wie zäh der Kampf gegen das Doping „Haus-, Hof- und Fachanwalt der Regie- vorankommt. Im November 2009 wurde vermuten, das UV-Licht verändere die rungspartei CDU“. Sich selbst bezeichnet Eisschnelllauf-Olympiasiegerin Claudia Form der roten Blutkörperchen. In 50 er als „geschickt agierenden Anwalt mit Pechstein wegen auffälliger Blutwerte ge- Millilitern – jener Dosis, die Franke enthoher Erfolgsquote“. So heißt es auf der sperrt. Die Nationale Anti-Doping-Agen- nahm – befinden sich 250 Milliarden dietur (Nada) erstattete bei der Staatsanwalt- ser für die Ausdauer so wichtigen Zellen. Internetseite der Kanzlei. Von einer anderen, vergangenen Kar- schaft München Anzeige gegen unbe- Wird das behandelte Blut zurückgeführt, riere ist dort nicht die Rede. Spilker war kannt, um nach Hintermännern fahnden so berichteten Versuchspersonen, erlebbis Ende 1990 Bundestrainer in der Leicht- zu lassen. Die Polizei hörte daraufhin Te- ten sie einen Schub. Während der Winathletik, dann trat er zurück. Der SPIE- lefonate ab, unter anderem bei Pechstein. terspiele 2006 in Turin wurden Athleten GEL hatte aufgedeckt, dass er Sprinterin- Ein solches Gespräch führte auf die Spur aus Österreich mit UV-Lampen erwischt. Bis heute existiert keine ernstzunehnen seines Vereins Eintracht Hamm mit nach Erfurt, zu Franke und dem OlymDopingmitteln versorgte, darunter mit ei- piastützpunkt. Das ist länger als ein Jahr mende Studie, die eine Leistungssteigerung beschreibt. Aber auch nem in Deutschland nicht zugelassenen her. Trotzdem durfte Franke Frankes Argument, er habe anabolen Steroid. Drei Jahre später wur- weiter Sportler betreuen. die Methode angewandt, um Die Nada hatte zwar die de er wegen Verstoßes gegen das ArzneiInfekte abzuwehren, ist ummittelgesetz zu einer Geldstrafe verurteilt. Ermittlungen ausgelöst und stritten. Die Schulmedizin Seit geraumer Zeit lässt sich nun der bekommt von der Erfurter kennt keinen Beweis für dieSportmediziner Andreas Franke von Spil- Staatsanwaltschaft Aktensen Effekt. kers Sozietät vertreten. Franke lebt und einsicht, mit den Resultaten Stellen sich die nächsten praktiziert dort, wo Spilker bestens ver- jedoch geht sie zurückhalFragen: Betrieb der Sportnetzt ist: in Erfurt. Kanzlei und Arztpra- tend um. Derzeit laufen erst arzt Franke den Aufwand zwei Sportrechtsverfahren xis liegen in Gehweite beieinander. bloß, weil er an ein HirngeGegen Franke ermittelt die Staatsan- gegen Athleten, deren Blut spinst glaubte? Oder hat er waltschaft. Er steht im Verdacht, Sportler Franke im Vorjahr behannoch etwas anderes mit dem mittels Blutmanipulation gedopt zu ha- delt hatte: den RadrennfahBlut angestellt? ben. Franke bestreitet die Blutbehand- rer Jakob Steigmiller, 22, so- Trainer Spilker um 1980 lung nicht, sieht darin aber kein Doping. wie die Eisschnellläuferin Ju- „Fachanwalt der CDU“ DETLEF HACKE, UDO LUDWIG DOPING
Bestrahltes Blut
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Der letzte Tusch Schalkes ehemaliger Manager Rudi Assauer leidet an Alzheimer. Die öffentliche Anteilnahme an seinem Schicksal ist groß, weil er als Romantiker des Fußballs gilt.
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udi Assauer ist ein Macher, und der grausamste Zustand, den es für einen Macher gibt, ist Hilflosigkeit. Als Assauer noch Manager von Schalke 04 war, saß er einmal in maßgeschneidertem Anzug in seinem Büro, er drückte seine Knie gegen die Schreibtischkante, wie er das ständig tat, trank Tee aus einem Becher, auf dem „Rudi der Ruhmreiche“ stand, und nuckelte an einer Zigarre, wie immer war es eine Davidoff Grand Cru No. 3. Assauer sprach davon, wie das ist, wenn nichts vorwärtsgeht. Er nannte diese Lage „Seuche“, er sagte, Seuche sei, wenn „Sachen ieren, die gar nicht möglich sind“, bei denen man nicht auf den Punkt komme, „da kannste dann trainieren, machen, üben, sprechen und musst doch möglichst ruhig bleiben“. Heute klingt das so, als habe er damals schon geahnt, was da auf ihn zukommen wird. Denn Rudi Assauer, das ist seit vergangener Woche der Öffentlichkeit bekannt, ist unheilbar krank, er erlebt hilflos mit, wie er sein Gedächtnis verliert, seine Persönlichkeit, wie schließlich sein ganzer Körper aus dem Gleichgewicht gerät, weil sich das Gehirn zersetzt. Assauer, 67, leidet an Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium. „Ich wollte doch das Alter, das Leben genießen“, sagt Rudi Assauer. „So ’ne Scheiße. Verdammt noch mal.“ Es ist die Seuche. Assauer hat sich entschlossen, sein Leid publik zu machen, er ist nach Walter Jens der zweite deutsche Prominente, der über die Krankheit spricht. Zusammen mit dem Journalisten Patrick Strasser hat Assauer seine Autobiografie geschrieben, „Wie ausgewechselt“ heißt sie, zwei Kapitel darin, das erste und das letzte, befassen sich mit der Krankheit. Einen Tag nach dem Erscheinen war das Buch auf Platz eins der Bestsellerliste bei Amazon. Assauer will nicht aufklären über Alzheimer, sein Motiv ist ein anderes. Er wollte nicht länger, dass die Leute über ihn tuscheln, dass sie denken, er sei betrunken, wenn er sich seltsam benehme. „Das Versteckspiel sollte ein Ende haben.“ Der Schock über Assauers Schicksal ist groß, und natürlich ist seine Geschichte auch ein Medienereignis. „Auf einmal ist alles vorbei!“, schrieben die Macher der
„Bild“-Zeitung auf ihre erste Seite, das senkämpfer der Bundesliga, und im „heute journal“ machte mit der Nachricht Dunst seiner Zigarren ließ er den Club von Assauers Krankheit auf, der „Stern“ in einen Konzern umbauen. Assauer ist so populär, weil er polarihob sie auf den Titel, und Reinhold Beckmann sprach darüber in seiner Talkshow. siert, weil er Fehler hat, weil er schon mal Alzheimer ist eine Volkskrankheit, As- einen über den Durst getrunken hat und sauer ist nur einer von 1,4 Millionen Pa- kein Blatt vor den Mund nimmt. Von seitienten in Deutschland, wie für viele Fa- ner Geliebten als „die Alte“ sprach und milien gibt es auch für seine Angehörigen über seine Alzheimer-Krankheit im Buch keine Hoffnung auf Heilung. In der Fuß- sagt: „Die Birne. Schlimmer geht’s nicht.“ Ursprünglich hatten Assauer und seine ballszene war seine Erkrankung seit mindestens einem Jahr ein offenes Geheim- Vertrauten überlegt, dass er sich bei einer nis. Die Anteilnahme ist riesig, und das Pressekonferenz zu seiner Krankheit behat auch damit zu tun, dass er als der kennen würde, aber sie hatten Sorge, daletzte große Romantiker des Fußballs gilt. bei die Kontrolle zu verlieren. Achtmal Als einer, der immer den Anschein von hat sich Biograf Strasser mit Assauer für das Buch getroffen, das erste Mal im AuVolksnähe und Tradition wahrte. Er ist ein Kind des Ruhrgebiets, der Va- gust. „Er war sehr geduldig“, sagt Strasser. ter war Zimmermann, 307 Bundesliga- „Sein Zustand hat sich im Laufe der Zeit spiele hat Assauer bestritten, als Manager verschlechtert.“ Im Dezember hat Assauers Frau Britta trat er ein bisschen rustikal auf, er verkaufte mit Schalke 04 Opium gegen die ihren Mann mal bei der Polizei als vertriste Realität in Gelsenkirchen, in seiner misst gemeldet. Er wohnt inzwischen bei Amtszeit gewann der Club den Uefa-Cup, seiner Tochter Bettina, die ihn betreut. und er ließ die Arena AufSchalke bauen. Allein kann er nicht mehr leben.
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MEDIZIN
Funktionär Assauer 2003: „Schlimmer geht’s nicht“
Dass Assauers Krankheit die Menschen bewegt, hat auch mit Voyeurismus zu tun: was, ausgerechnet der? Assauer hat das Image, ein Macho zu sein, es rührt unter anderem daher, dass er mit Zigarre in der Sauna posierte und sich mit seiner ExFreundin Simone Thomalla raufte. In Wahrheit ist Assauer ein liebenswerter, einfacher Mann, der sich nach einem ruhigen Familienleben sehnt. Assauer galt immer als Bauchmensch, der rund um die Uhr für Schalke schuftete und dabei vor allem an die Fans dachte. Er symbolisierte stets den erdnahen Arbeiterverein, stänkerte gegen die arroganten Dortmunder und abgehobenen Bayern, er gerierte sich als der letzte KlasD E R
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„In seinem Stadium wirken Medikamente kaum mehr“, sagt Konrad Beyreuther, Professor für Molekularbiologie und Alzheimer-Forscher. „Er sollte jetzt ins Fitnessstudio gehen, Fußball schauen und sich einen Hund kaufen.“ Assauer solle sich allen Herausforderungen stellen, Selbstmitleid sei kontraproduktiv. „Alzheimer ist kein Krebs, das verstehen viele Leute nicht.“ Assauer ist nicht gestorben, auch wenn sich manche Texte, die in der vergangenen Woche erschienen sind, so lasen. Er zieht sich zurück, mit viel Tamtam. Das Buch ist sein letzter Tusch. Wie es sich für einen Macher gehört. LUKAS EBERLE, MAIK GROSSEKATHÖFER
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Nur die Liebe fehlt – Wenn Babys ihren Müttern fremd sind
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES
Manche Mütter können ihre Kinder nicht lieben. „Postpartale Depression“ nennen Mediziner diese Störung, die im Extremfall zu Kindstötung oder Selbstmord führt. In einer hessischen Spezialklinik hat Sanja Hardinghaus Frauen getroffen, die Mutterglück erst lernen müssen. SONNTAG, 12.2., 23.50 – 0.35 UHR | RTL SPIEGEL TV MAGAZIN
Urangst Alzheimer – Diagnose ohne Heilung? Der 5-Milliarden-Dollar Boy –
Facebook-Gründer Zuckerberg auf Börsenkurs; Von Algenreaktoren und Kites – Die Energien der Zukunft.
THEMA DER WOCHE
CHRIS PIZZELLO / AP
Bärenfieber Von der Französischen Revolution bis zum Arabischen Frühling, vom Bosnien-Krieg bis zur Occupy-Bewegung: Das 62. Berliner Filmfest vereint politisches Weltkino mit großen Hollywood-Stars. SPIEGEL ONLINE berichtet live von der Berlinale. Welche Filme Sie sich merken sollten
Kite-Segel
Wer die größten Chancen auf die Bären hat
SAMSTAG, 11. 2., 22.40 – 0.35 UHR | VOX DIE SAMSTAGSDOKUMENTATION
Blick ins Jenseits – Gibt es ein Leben nach dem Tod? WIRTSCHAFT | Grüne Etiketten
Alles Bio, oder was? In der Flut der Öko-, Bio- und Fair-Trade-Produkte verlieren selbst ausgefuchste Verbraucher die Übersicht. SPIEGEL ONLINE erklärt, welche Siegel halten, was sie versprechen.
PANORAMA | Kampf der alten Dame
Irmgard Greiner vertraute der Bank, die eine Anlage mit langer Laufzeit empfohlen hatte. Erst später merkte die Frau: Sie bekäme im Alter von 108 ihr Geld zurück.
SCHULSPIEGEL | Rucksack-Check
Hamburger Schüler öffnen ihre Taschen und zeigen, was für sie im Schulalltag überlebensnotwendig ist: Handy, Collegeblock – und die Schulordnung, aus der für die Strafarbeit abgeschrieben werden muss. Eine Audio-Slideshow.
| Barbies barbarische Brüder
Einige Menschen, die fast gestorben sind, berichten von Schwerelosigkeit, Licht und absoluter Glückseligkeit. Sie glauben an ein sogenanntes Nahtod-Erlebnis. Für das, was sie während der dramatischen Minuten oder Stunden des Schwebens zwischen Leben und Tod gefühlt haben, fehlen hier im Diesseits oft die Worte. Die Samstagsdokumentation beleuchtet das Phänomen dieser Grenzerfahrung und beschäftigt sich mit der Frage: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Menschen kommen zu Wort, die ein Nahtod-Erlebnis hatten. Sie schildern, wie eindrucksvoll diese Momente waren und wie sich ihr Leben danach verändert hat.
Er war nur 13 Zentimeter groß und doch der mächtigste Mann des Universums: 1982 eroberte die Action-Figur He-Man die Kinderzimmer. Der Muskelprotz mit dem Pagenschnitt und seine brutale Barbaren-Gang trieben Kinder in die Spielzeugläden und Eltern in den Wahnsinn. Doch plötzlich waren die Master of the Universe wieder verschwunden.
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Simulierte Nahtod-Erfahrung 6 / 2 0 1 2
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KACZMARZ / REPORTER / EASTWAY
Wislawa Szymborska, 88. Einmal machte sie sich lustig über das, was der Tod alles nicht kann: „nicht einmal das, / was zu seinem Handwerk gehört: / ein Grab ausheben, einen Sarg zimmern, / hinterher aufräumen“. In den Gedichten der polnischen Lyrikerin wird nichts verrätselt, eher geklärt; sie liebte es, eine Sache „von sechs Seiten zu betrachten“. Der Nobelpreis, den sie 1996 erhielt, änderte nichts an ihrem zurückgezogenen Leben; nicht einmal das Klingelschild führte ihren Namen. In Bnin bei Posen geboren, lebte Szymborska seit 1931 in Krakau; ihr erster Gedichtband, 1948, wurde aus „ideologischen Gründen“ nie veröffentlicht. Fern vom politischen und literarischen Betrieb fand ihr Werk in den sechziger Jahren zunehmend Anerkennung und wurde in 36 Sprachen übersetzt. Schlichte Sprache, hohe Reflexivität und subtiler Humor zeichnen es aus. „Wer behauptet, der Tod sei allmächtig, / ist lebendiger Beweis dagegen. / Es gibt kein solches Leben, das nicht wenigstens für einen Augenblick / unsterblich wäre. / Der Tod / kommt immer um diesen einen Augenblick zu spät.“ Wislawa Szymborska starb am 1. Februar in Krakau.
Mike Kelley, 57. Seine bekanntesten Werke schuf der amerikanische Künstler aus Stoffpuppen, er vernähte sie oft zu großen Klumpen, Bällen oder zu Wandbehängen, und immer wirkte das abschreckend, so, als ob seine Werke böse Geschichten über die Kindheit, über das Leben erzählen wollten. Kelley verstand sich als Außenseiter. Er war mal Punk-Musiker, wechselte dann aber endgültig zur Kunst, weil er glaubte, dass ihn das noch mehr isoliere. Stattdessen wurde er erfolgreich, der internationale Kunstbetrieb verehrte ihn, die großen Galerien bemühten sich um ihn. Er war einer der letzten Unangeten und traf mit seinen Arbeiten dennoch den düsteren Unterton der Gesellschaft. Retten konnte ihn die Kunst allerdings nicht: Polizisten fanden die Leiche von Mike Kelley am 31. Januar in seinem Haus in Los Angeles; eine Galeristin verwies auf eine Depression des Künstlers.
CAMERON WITTIG / AP
Früher Früher lesen: lesen: Sonntag schon ab 8 Uhr auf iPad, iPhone®, Android-Tablets und -Smartphones sowie auf Mac und PC: einmal anmelden und auf jedem Gerät lesen – egal wo Sie gerade sind. Mehr Mehr sehen: sehen: Nutzen Sie Videos, Fotostrecken und interaktive Grafiken. Mehr Mehr hören: hören: Lauschen Sie Interviews, neuen Songs oder historischen Tondokumenten. Mehr Mehr wissen: wissen: Lesen Sie weiter auf den Themenseiten. Lassen Sie sich vom Reporter erklären, wie er recherchiert hat.
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Knud Wollenberger, 59. Seine jahrelange Tätigkeit als Stasi-Spitzel versuchte der Hobby-Lyriker später politisch zu rechtfertigen: „Das war einer der großen Irrtümer der kritischen IM, dass sie dachten, ihre Berichte bewirken etwas im Inneren des Staates und landen auf den richtigen Schreibtischen.“ Unter dem Decknamen IM „Donald“ hatte Wollenberger über den oppositionellen Friedenskreis Pankow berichtet und auch darüber, was seine Ehefrau, die DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, dort so machte. Nach seiner Enttarnung 1991 wurde er zu einem Sinnbild für die Abgründe des Spitzelsystems. Lengsfeld ließ sich vom Vater ihrer Söhne scheiden, verzieh ihm aber später den Verrat, nachdem er sie darum gebeten hatte. Knud Wollenberger, der an Multisystematrophie litt, starb am 25. Januar in Irland. Oscar Luigi Scalfaro, 93. „Io non ci sto“, ich mache da nicht mit, für diesen Satz verehren ihn die Italiener bis heute. Er sprach ihn in einer Rede an die Nation, als man ihm vorwarf, Schmiergeld vom italienischen Geheimdienst bekommen zu haben. Scalfaro galt als unbestechlich, ihm wurde geglaubt. Als Staatspräsidenten hätte Italien 1992 keinen besseren finden können: Zwei Tage vor seiner Wahl starb der Mafia-Fahnder Giovanni Falcone durch einen Sprengstoffanschlag der Cosa Nostra. Sieben Jahre lang lotste der streng katholische Sohn eines Eisenbahners sein Land durch politisch stürmische See. Es war die Zeit des Aufstiegs des Silvio Berlusconi, als dessen Widersacher sich Scalfaro stets verstanden hatte. Oscar Luigi Scalfaro starb am 29. Januar in Rom. TANIA / A3 / CONTRASTO / LAIF
GESTORBEN
Angelo Dundee, 90. Er war da, als Mu-
hammad Ali im Januar 70 wurde, und feierte seinen Musterschüler. So wie in den glorreichen Zeiten, in denen Dundee immer da war und Ali zu dessen größten Triumphen trieb. Er stand in der Ecke, als Ali Sonny Liston 1964 den WM-Titel im Schwergewicht nahm, er bereitete Ali gegen Archie Moore, Floyd Patterson, Joe Frazier oder Ken Norton vor. George Foreman verdächtigte Dundee, beim legendären „Rumble in the Jungle“ in Zaire 1974 die Ringseile gelockert zu haben, damit Ali gewinnen konnte. Später nahm er die Vorwürfe zurück – und ließ sich, wie 14 andere Boxer, von dem weißen Amerikaner bis zur WM trainieren. Doch Dundees Herz gehörte Ali, diesem „komplettesten aller Fighter“. Angelo Dundee starb am 1. Februar in Tampa, Florida.
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„Schlachthöfe“-Darsteller, Gabriel
Sigmar Gabriel, 52, SPD-Vorsitzender,
beeindruckte in der vergangenen Woche junge Theaterleute mit seiner germanistischen Vorbildung. Bei einem Besuch im „Spinnwerk“, einer Spielstätte des Leipziger Centraltheaters, erlebte der Sozialdemokrat eine Probe zum Stück „Schlachthöfe“, das am 23. März Premiere haben soll. Der Stoff, eine freie Bearbeitung von Bertolt Brechts „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“, gab Gabriel die Gelegenheit, von seinem Studium zu erzählen. Darin habe er sich auch mit Brecht beschäftigt, erzählte der ehemalige Umweltminister. Gabriel zeigte ebenfalls reges Interesse an den Zukunftsplänen seiner Gesprächspartner. Einen der Akteure fragte der Sozialdemokrat, ob er Schauspieler werden wolle – woraufhin er zur Antwort bekam: „Nein, Politiker.“ Dazu Gabriel: „Das liegt ja nah beieinander.“
Wendelin Wiedeking, 59, Ex-Porsche-
Chef und einst Topverdiener mit zweistelligen Millionenbezügen, gefällt sich offenbar in der Rolle des edlen Spenders. Nach dem Scheitern der VW-Übernahme durch den Sportwagenbauer war der Manager im Sommer 2009 aus dem Unternehmen ausgeschieden. Teile seiner Abfindung – rund 50 Millionen Euro – steckte er in diverse Stiftungen. Von den Erträgen profitieren nach Schilderung enger Vertrauter vor allem Heranwachsende: Straßenkinder in Leipzig etwa und Jugendliche in Pforzheim. Außerdem unterstütze er die musikalische Früherziehung in seinem Wohnort Bietigheim-Bissingen. Zu seiner alten Branche hält Wiedeking ebenfalls Kontakt. Mit 60 000 Euro sponserte der Hobby-Landwirt und Privatier eine Aktion des Automobilclubs ADAC: Der kaufte davon Sicherheitswesten für Schulanfänger.
Gregor Gysi, 64, Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, will sein praktisches Wissen über ts nicht vertiefen. Auf einer Veranstaltung in Köln sei er 1990 mal gefragt worden, wie er zur Legalisierung weicher Drogen stehe. Da er über keinerlei Erfahrungen verfügte, so Gysi, habe er die Frage abgewimmelt. Nach der Diskussion habe ihm dann eine junge Frau einen t mit den Worten in die Hand gedrückt: „Nicht studieren, sondern probieren.“ Trotz leichter Bedenken, die Drogenzigarette über die damals noch existierende deutsch-deutsche Grenze zu schmuggeln, nahm er sie mit zurück nach Ost-Berlin. Dort sei der t im Kreise von fünf Freunden ausprobiert worden, sagt Gysi – „blieb aber ohne Wirkung bei mir“. Jahre später kam der Politiker erneut in Kontakt mit dem Rauschmittel: Da stand er bei einem Fußballspiel im Fanblock von St. Pauli, und um ihn herum wurde kräftig gekifft. Nach dem Spiel habe er allein vom ivrauchen starke Schwindelgefühle und Kopfschmerzen gespürt. An „diesem Rausch“, so der Jurist, „war ich aber völlig unschuldig.“ Sein Fazit: „Ich brauche keine weiteren Erfahrungen damit.“ Nicolas Sarkozy, 57, französischer Staats-
präsident, schaut reuevoll in die Vergangenheit. Das gestand er einem ausgewählten Kreis von Journalisten während einer Auslandsreise. Angesichts einer nicht unwahrscheinlichen Wahlniederlage Anfang Mai versucht Sarkozy derzeit, sein Image
AUNOS JEAN-CLAUDE / GAMMA / EYEDEA PRESSE / LAIF
SEBASTIAN WILLNOW / DAPD
Personalien
ZITAT
XAVIER TORRES-BACCHETTA / CORBIS OUTLINE
„Ich fühle mich nicht wohl, in einem Raum voller fremder Leute nackt herumzulaufen. Aber es musste sein.“ Michael Fassbender, 34, irischdeutscher Schauspieler, über seine Rolle als sexbesessener Geschäftsmann in dem Film „Shame“ 148
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Sarkozy, Bruni 2007
aufzupolieren. Er bedaure, sich in der Vergangenheit schon mal im Ton vergriffen zu haben, sagte er. Auch einige Fotografien aus dem Jahre 2007 hätte er lieber zurückhalten sollen. Die Bilder zeigen ihn in Ägypten mit Carla Bruni, 44, damals noch nicht seine Gattin. „Es war ein Fehler“, diese Fotos zu veröffentlichen, zitiert ihn die Tageszeitung „Le Monde“. Sarkozy glaubt, es habe seinem Ansehen schwer geschadet, denn „die Franzosen sahen mich glücklich und dachten: ,Uns hat er im Stich gelassen‘“.
Bart De Wever, 41, schwergewichtiger An-
JULIEN WARNAND / DPA
führer der flämischen Separatistenpartei N-VA, eifert seinem politischen Gegner nach, dem sozialistischen Regierungschef Elio Di Rupo. Seit einigen Wochen macht De Wever eine Radikaldiät. Der Liebhaber fettiger belgischer Fritten hatte einen gehörigen Schrecken bekommen, als er mal wieder eine Waage bestieg: „Der Zeiger drehte sich um 360 Grad und blieb bei einem Kindergewicht stehen.“ Seither hat der Flame über 20 Kilo abgespeckt. Sein wallonischer Counterpart Di Rupo geht mehrmals in der Woche in ein Fitnessstudio und ist für seine 60 Jahre vorbildlich schlank. Di Rupos Leute vermuten, dass De Wever De Wevers Diät auch politisch motiviert sei; er wolle attraktiver wirken, um mehr Frauen für sich und seine Partei zu begeistern und so den Regierungschef ablösen zu können.
Dirk Metz, 55, ehemaliger Regierungssprecher und Staatssekretär in Hessen, profitiert von früheren politischen Kontakten. Der langjährige enge Vertraute des einstigen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) arbeitet inzwischen als „freier Kommunikationsberater“ für den Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport. Das Unternehmen, das derzeit wegen Lärmbelastung auf der neuen Landebahn heftig kritisiert wird, gehört mehrheitlich dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt am Main. Koch hatte den Bau der Landebahn an dem umstrittenen Standort in der
GOMILLION & LEUPOLD / CORBIS OUTLINE
scher TV-Star, fordert den Drogenbaron Joaquín „el Chapo“ Guzmán auf, sich sozialpolitisch zu engagieren, statt mit verbotenen Substanzen zu handeln. Per Twitter fragte die Schauspielerin den Milliardär: „Wäre es nicht cool, wenn Sie ab sofort mit guten Taten dealen würden?“
Nähe von großen Wohngebieten im Frankfurter Süden durchgesetzt, Metz verteidigte die Entscheidung stets offensiv. Nach Kochs Wechsel aus der Politik zum Baukonzern Bilfinger Berger kam Metz für einige Monate bei Kochs Parteifreund Stefan Mappus als Berater in der badenwürttembergischen Staatskanzlei unter. Bei Fraport soll er nun die Abteilung „Unternehmenskommunikation“ beraten. Sein Chef dort ist ebenfalls ein früherer Landesbediensteter, der ehemalige Sprecher des hessischen Finanzministeriums, Jürgen Harrer. D E R
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REUTERS TV / REUTERS
Kate del Castillo, 39, mexikani-
Lee Chun Hee, 68, Star-Ansagerin des nordkoreanischen Fernsehens, will sich künftig vor allem der Förderung des beruflichen Nachwuchses widmen. Die Koreanerin hatte zuletzt weltweites Aufsehen erregt, als sie mit tränenerstickter Stimme den Tod von Diktator Kim Jong Il verkündete. Ihr Talent, Nachrichten mit staatstragendem Tremolo zu untermalen, hatte sie bereits 1994 beim Ableben von Staatsgründer Kim Il Sung bewiesen. Als sie 2006 dann den „sicheren und erfolgreichen“ Atomtest des stalinistischen Hungerreichs verkündete, überschlug sich ihre Stimme fast vor Begeisterung. In Südkorea, dem verfeindeten Bruderstaat, wird Lee „Ansagerin, die mit dem Mund schießt“ genannt. Im vergangenen Herbst war das Sprachrohr Pjöngjangs allerdings fast zwei Monate verstummt. In einem Interview des chinesischen Staatsfernsehens verriet Lee jetzt, warum sie nur noch selten auftritt: „Es ist besser, wenn schöne, junge Gesichter auf dem Bildschirm erscheinen.“
Lee
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Bildunterschrift aus der „Dürener Zeitung“: „Rätselraten: Immer mehr Schafe bringen Lämmer und Kälber tot oder mit schweren Missbildungen zur Welt.“
Zitate
Aus den „Stuttgarter Nachrichten“ Aus der „Waldeckischen Landeszeitung“: „Der Volkmarser fiel bewusstlos zu Boden, was ihn aber nach Auskunft der Polizei nicht davon abhielt, noch weiter auf den am Boden Liegenden einzuschlagen.“
Die „Berliner Zeitung“ zum SPIEGELBericht „Rennrodeln – Kokosnuss auf Schlittenfahrt“ über eine Werbekampagne für Herrenunterwäsche (Nr. 5/2012): Fuahea Semi ist ein schöner Name. Er klingt irgendwie sportlich. Er erinnert an das Wort Semifinale. Leider aber auch an das Wort semiprofessionell. Vielleicht hat sich Fuahea Semi deshalb entschieden, seinen zu ändern. Schließlich ist er Rodler mit Ambitionen. Das liegt wiederum daran, dass er von der Insel Tonga stammt, auf der Rodeln in etwa so populär ist wie das Fingerhakeln … Fuahea leistet Pionierarbeit. Unterstützt wird er von seinem deutschen Sponsor, dessen Namen er folgerichtig annahm, wie jetzt der SPIEGEL aufdeckte: Bruno Banani. Der Chemnitzer Trikotagenhersteller leistet ebenfalls Pionierarbeit, indem er Feinripp made in hoffähig macht. Das französische Wochenmagazin „Marianne“ zum SPIEGEL-Gespräch „Sarkozys Agenda 2010“ mit dem Präsidentenberater Alain Minc (Nr. 4/2012):
Aus der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ Bildunterschrift aus der „Frankfurter Rundschau“: „Das ehemalige Tier lag bis zum Fototermin in Konservierungsflüssigkeit.“ Aus der „Neuen Westfälischen“: „Man muss dies deutlich sagen, weil es nun nicht länger Zweifel geben darf, dass ein Hoffen auf Vergesslichkeit und ein Durchwurschteln im Amt erfolgreich sein können.“
Aus dem „Weißenburger Tagblatt“ Aus der „WAZ“: „Für eine Identitätsfindung sei das ganz wichtig. Zu wissen, dass das Kind eben nicht aus dem Bauch der Mutter stammt.“ Aus „Der Teckbote“: „Ohne oder mit einem Mangel an Bewegung können sich Kinder nicht richtig entwickeln.“ Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: „Caesar bestimmte den Februar zum Schaltmonat. Seither hat dieser alle vier Jahre 366 statt 365 Tage.“ 150
In einem Interview mit dem SPIEGEL erklärte der Essayist und Berater von ihr wisst schon wem, Alain Minc, dass es „drei Frauen im Leben von Nicolas Sarkozy“ gebe: „Carla Bruni, seine Tochter und Angela Merkel“. In Bezug auf Letztere fügte er dann noch hinzu: „Ich glaube, er hat gelernt, sie zu mögen.“ Bleibt offen, ob das auf Gegenseitigkeit beruht.
Der SPIEGEL berichtete ... … in Nr. 5/2012 „Titel – Die Zocker AG“ über die Geschäfte der Deutschen Bank am amerikanischen Immobilienmarkt und die finanziellen Risiken, die sich aus Klagen von Kunden wegen dieser Praktiken ergeben. Auf der Bilanzpressekonferenz am vergangenen Donnerstag sagte der scheidende Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, dass Rechtsstreitigkeiten vor allem wegen US-Immobiliengeschäften das Ergebnis der Bank 2011 mit 655 Millionen Euro belasteten. Außerdem habe die Deutsche Bank rund eine Milliarde Euro Kapital beiseitegelegt, um sich gegen weitere Risiken abzuschirmen. Ackermann erklärte die juristischen Probleme unter anderem mit den ehrgeizigen Zielen der Bank. „Wir sind einer der ganz Großen in diesem Geschäft, wir haben auch in den USA eine prominente Stellung gehabt und haben sie heute noch“, sagte er. „Wir haben auch viel Geld verdient in den USA über viele Jahre, und das ist jetzt halt der Preis, den wir zum Teil bezahlen müssen.“ D E R
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