Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung Betr.: Titel, Flüchtlinge, SPIEGEL GESCHICHTE, KulturSPIEGEL
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ls SPIEGEL-Autor Christian Neef in der vergangenen Woche die Absturzstelle von Flug MH17 nahe dem ukrainischen Dorf Hrabowe erreichte, stand er zwischen den verbrannten Trümmern des Flugzeugs, sah Gepäckstücke, Kinderspielzeug – aber keine internationalen Ermittler, nicht während des ersten Besuchs und auch nicht Neef in der Ukraine während der folgenden. „Es ist, als interessiere sich niemand mehr für den Unglücksort, eine Aufklärung des Absturzes dürfte immer schwieriger werden“, glaubt Neef. Welche Auswirkungen der Tod der 298 agiere auf die internationale Politik hat, auf das deutsch-russische Verhältnis und auf die Menschen in den Niederlanden, beschreibt Neef zusammen mit Kollegen aus Moskau, Hamburg, Berlin und Brüssel im Titelkomplex dieser Ausgabe. Sie analysieren die Sanktionen gegen Russland und ihre möglichen Folgen, begleiteten OSZE-Mitarbeiter in der „Donezker Volksrepublik“ und erlebten in den Niederlanden, wie ein Land um Fassung ringt. Seite 68
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ast 60 000 Kinder und Jugendliche sind seit Oktober vergangenen Jahres aus Staaten Mittelamerikas in die USA geflohen, in der Hoffnung, dort ein besseres Leben zu finden. Die Redakteure Jens Glüsing und Markus Feldenkirchen wollten wissen, warum diese Kinder fliehen, manche allein, andere mit ihrer Mutter. Sie machten sich auf beiden SeiGlüsing, Palacios in Honduras ten der Grenze auf die Suche nach den Mitgliedern einer Familie; Feldenkirchen im Süden von Texas, Glüsing im Norden von Honduras. Sie fanden Olga Arzu, verheiratet mit David Palacios, und ihren vierjährigen Sohn Daylan. Was die Mutter mit ihrem Kind in die USA trieb, warum der Vater zurückblieb, ist zu lesen ab Seite 82
FOTO: JUAN CARLOS / DER SPIEGEL (M.)
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it dem britischen Königshaus und dem deutschen Sommer beschäftigen sich in dieser Woche SPIEGEL GESCHICHTE und KulturSPIEGEL. Die neue Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE „Britanniens Krone – Von den Angelsachsen bis zu Königin Elizabeth II.“ geht der Frage nach: Wie erklärt sich die Erfolgsgeschichte dieser mehr als tausend Jahre alten Monarchie? Die Autoren zeichnen den Weg berühmter Könige und Königinnen nach, beschreiben, wie Wilhelm der Eroberer, Richard Löwenherz und die, die nach ihnen herrschten, ihr Land prägten, wie sie Intrigen ersonnen, Herrschaftsstrategien – und wie sich die Monarchie dabei wandelte. Der KulturSPIEGEL analysiert in seiner Sommerausgabe Aktivitäten, denen Menschen in ihrer Freizeit draußen gern nachgehen; unter anderem wird im Heft die Frage gestellt, ob man im Freien nicht viel besser kocht als in der Einbauküche. SPIEGEL GESCHICHTE erscheint am Dienstag dieser Woche, der KulturSPIEGEL liegt wie immer der Inlandsauflage bei. DER SPIEGEL 31 / 2014
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Europa feilscht, Putin wartet Sanktionen Nach dem Abschuss von MH17 wächst der Druck auf die EU, Russland zu isolieren und eine weitere Eskalation zu verhindern. Doch sind 298 Tote einen Wirtschaftskrieg und Verluste in Milliardenhöhe wert? Während die Niederländer trauern, wird in der Ostukraine weitergeschossen. Seiten 68 bis 74
Einkehr Hunderttausende pilgern auf dem Jakobsweg, viele auf den Spuren von Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“. Es könnten noch mehr werden, denn nun wird das Buch verfilmt. Der moderne Pilger sucht Trost, Freiheit, den Sinn des Lebens. Und er fragt sich, ob er das alles findet, wenn er auf Horden von Gleichgesinnten trifft. Seite 50
Als ob es tausend Stäbe gäbe Ethik Wie sieht der Zoo der Zukunft aus? Funktionieren Tierparks als Archen für bedrohte Arten? Im SPIEGELStreitgespräch diskutieren der Philosoph Jörg Luy und der ehemalige Zoodirektor Gunther Nogge über das schlechte Gewissen beim Zoobesuch und Menschenaffen in Gefangenschaft. Seite 94 4 DER SPIEGEL 31 / 2014
Die wilden Kerle Musik-Schwerpunkt Überall in Deutschland gibt es im Sommer Pop- und Klassikfestivals. Den wilden Kerlen auf den Bühnen ist der gesamte Kulturteil gewidmet. Es treten auf: HipHopper, Pianisten, auch der Türsteher des berühmtesten deutschen Technoklubs. Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister sagt im SPIEGELGespräch, Heavy Metal sei sein „teures Hobby“. Seiten 108 bis 120
FOTOS: MAXIM ZMEYEV / REUTERS(O.); MARIA FECK / DER SPIEGEL (M.L.); SLAVICA / DER SPIEGEL (R.); SCHÖNING / IMAGO (U.L.)
Pilgerboom auf dem Jakobsweg
In diesem Heft
Titel 68 Sanktionen Europa macht
Ernst gegen Russland 71 Außenpolitik Interview
mit Minister Frank-Walter Steinmeier 73 Niederlande Das Land mit den meisten Opfern steht im Zentrum des Konflikts 74 Ukraine Rund um den Absturzort von MH 17 herrscht Stillstand inmitten des Kriegs
Deutschland
FOTOS: MARC MÜLLER / DPA (O.); ANDREAS PEIN / LAIF (M.); CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL (U.)
10 Leitartikel Nach dem Ab-
schuss von Flug MH 17 muss Europa Putin zum Einlenken zwingen 12 Opposition stellt Bundesregierung Ultimatum für Snowden-Anhörung / Peter Gauweiler – Topverdiener im Deutschen Bundestag / Kolumne: Im Zweifel links 16 Erziehung Warum Manuela Schwesigs neues KitaQualitätsgesetz keines ist 20 Grüne Exfraktionschef Jürgen Trittin im SPIEGELGespräch über Moral in der Politik und eigene Macken 24 Proteste Woraus speist sich der Antisemitismus auf deutschen Straßen? 27 Berlin Einige linke Israelis protestieren gegen die Gaza-Offensive Netanjahus 28 Essay Der Berliner SPDPolitiker Raed Saleh über Integration als Mittel gegen Hass 30 Luftfahrt Nach der Flugzeugkatastrophe über der Ukraine suchen die Airlines nach neuen Sicherheitsregeln 32 Quote CDU-Ministerien blockieren Frauenförderung für öffentliche Unternehmen 33 Kommentar Deutschlands verwehte Chance 34 Strafvollzug Die Privatklinik, in der Uli Hoeneß behandelt wurde, bot schon anderen CSU-Spezln ein Refugium 36 Gesundheit Patienten sind in billigen Krankentransportern Risiken ausgesetzt 38 Verteidigung Wie verdeckt man als Soldat seine Tattoos bei 40 Grad im Schatten? 40 Schule Ein Berufskolleg bietet Jugendlichen die letzte Chance auf einen Abschluss 45 Maut Verkehrsminister Dobrindt stößt auf Widerstand bei den eigenen Leuten 46 Verbrechen Die wegen Mordverdachts verhaftete Münchner Hebamme fiel bereits in anderen Kliniken auf
47 Zeitgeschichte Im Kalten Wissenschaft Krieg ließ die Bundesregierung 92 Sexuelle Belästigung Suizidfälle untersuchen, unter Forschern / Selbstporträt sie vermutete Morde des KGB aus dem 3-D-Drucker 94 Ethik SPIEGEL-StreitGesellschaft gespräch zwischen dem Philo48 Sechserpack: Kommunika- sophen Jörg Luy und dem tion ohne Computer / Marke- früheren Zoodirektor Gunther ting: die Taufe von Produkten Nogge über Zoos 49 Eine Meldung und ihre 98 Archäologie Schmuggler Geschichte Ein britischer Auto- verhökern syrische Kunstmechaniker posierte als Leiche schätze aus dem Kriegsgebiet 50 Einkehr Die modernen Pil- 101 Sucht Die australische ger auf dem Jakobsweg Anti-Tabak-Politik taugt 56 Ortstermin Wie der als Vorbild für andere Länder Prominentenfriseur Udo Walz 102 Medizinrecht Im Prozess seinen 70. Geburtstag erlebt um manipulierte Organtransplantationen droht das VerfahWirtschaft ren dem Richter zu entgleiten 57 Manager-Streit bei VW / 104 Tiere Gefährliche Neue Spur in der „EuroSchnappschildkröten fighter“-Affäre / EZB springt in Deutschlands Badeseen Bundesbank bei 58 Konjunktur Deutschlands Kultur Unternehmer investieren vor 106 Der jüdische Comedian allem im Ausland Oliver Polak über Antisemi61 Interview DIHK-Präsident tismus in Deutschland / Film Eric Schweitzer kritisiert die über die Liebe des Dichters Politik der Großen Koalition Schiller zu zwei Schwestern / Kolumne: Zur Lage der Welt 62 Arbeitsmarkt Eine neue Bürgerbewegung in den USA 108 Pop Warum HipHop die kämpft für höhere Mindesterfolgreichste Jugendkultur löhne Deutschlands ist 64 Onlinebetrug Ticketfälscher 112 Legenden SPIEGELprellen die Bahn um Millionen Gespräch mit Lemmy Kilmister, Gründer von Motörhead, Ausland über Humor und Heavy Metal 66 Kämpfe zwischen Drogen- gegen Altersschwäche gangs und Polizei in Rio / 116 Nachtleben Die AutoDie islamistische Terrormiliz biografie des berühmtesten Boko Haram erobert Türstehers Deutschlands eine nigerianische Großstadt 118 Pianisten Der Musiker 77 Nahost Unter dem Krieg Chilly Gonzales fordert mit zwischen der Hamas und Israel einem Anleitungsbuch Klavierleiden vor allem die Kinder Abstinenzler zum Üben auf 80 Brief aus Gaza Wie das 120 Filmkritik Hollywood-Star Teenagerpaar Ahmed Clint Eastwood erzählt die und Tamara den Krieg erlebt Geschichte einer Sixties-Band 82 Flüchtlinge Zehntausende Medien Kinder und Jugendliche fliehen vor der Gewalt aus 121 Google braucht mehr PerMittelamerika in die USA sonal zum Löschen / FAZ plante Interviews mit Karl Albrecht 86 Global Village Warum ein junger Spanier in Berlin eine 122 Humor Elends-Comedians Gewerkschaft gegründet hat erobern die Bühne 125 Essay Der israelische Sport Autor Meir Shalev beschreibt 87 Bouldern – die reine Form die extreme Solidarität und des Kletterns / Valentin den blinden Hass in seinem Markser, Facharzt für Psycho- Land in Zeiten des Krieges therapie, über den Umgang des Leistungssports mit 6 Briefe depressiven Athleten 111 Bestseller 88 Fußball Wie der FC Bayern 128 Impressum, Leserservice München zur globalen Marke 129 Nachrufe werden will 132 Personalien 134 Hohlspiegel / Rückspiegel 91 Affären Ein asiatisches Wettsyndikat soll rund 350 Millionen Dollar auf Spiele Wegweiser für Informanten: der Fußball-WM gesetzt haben www.spiegel.de/briefkasten
Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite.
Uli Hoeneß, Ex-FC-Bayern-Manager, wurde wegen eines Routineeingriffs aus der Haft in eine Luxusklinik gebracht. Dort wusste die CSU ihre Mächtigen und Freunde stets gut und diskret betreut. Seite 34
Manuela Schwesig, Bundesfamilienministerin, bleibt hinter ihren Ansprüchen zurück. Verbindliche Standards für Kitas wird es nicht geben. Dabei wären die dringend nötig. Seite 16
Jürgen Trittin, jahrelang eigentlicher Anführer der Grünen, empfiehlt seiner Partei im SPIEGELGespräch, es mit der Moral nicht zu übertreiben, und erklärt, warum Arroganz von Vorteil sein kann. Seite 20 DER SPIEGEL 31 / 2014
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Briefe
„Christian Wulff ist keine Provokation; und wenn, dann eine für die Intelligenz der Leser. Die beständige und sorgfältige Arbeit unabhängiger Medien hat dem Staat den bedeutenden Dienst erwiesen, aus seiner Amtszeit als Bundespräsident eine Episode zu machen.“ Andreas Adan Baldauf, Jesteburg (Nieders.)
Wo bleibt die Einsicht? Nr. 30/2014 „Ich war eine Provokation.“ – Streitgespräch mit Ex-Bundespräsident Christian Wulff
Beiden Seiten – dem SPIEGEL und dem Bundespräsidenten a. D. – ein großes Kompliment! Fragen mit Substanz und im richtigen Ton, ohne die im SPIEGEL sonst häufige und oft ja auch amüsante, hier aber unende „Rotzigkeit“ – und ernsthafte, kluge Antworten, selbstkritisch, aber auch selbstbewusst und mit Blick für die Relationen.
dig der Meinung der fragenden Journalisten, was Wulffs Verhalten in der Vergangenheit angeht. Was mich aber berührt, ist die Offenheit, mit der er auf diese Journalisten deutet, die über andere urteilen. Ein großartiges SPIEGEL-Gespräch. Thomas Koschwitz, Berlin
Leider haben Sie es versäumt, Herrn Wulff zu erläutern, dass zu einem Provokateur immer auch Intellekt, Schlagfertigkeit, Witz und Charme gehören. Gerd Möller, Neustadt a. d. Weinstraße (Rhld.-Pf.)
Dr. Stephan Kaut, Karlsruhe
Der Titel mit einem eitlen Ex-Politiker ist in einer Zeit, in der die Welt brennt, eine komplette Fehlleistung. Gerade der SPIEGEL hat seinerzeit die schier unglaubliche Affäre klar und sauber auf den Punkt gebracht. Und jetzt das. Schade! Andreas Linke, Köln
Herr Wulff war keine Provokation, sondern eine glatte Fehlbesetzung. Er war intellektuell nicht in der Lage, seine Aufgabe zu erfüllen. Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie dies in dem Interview deutlich herausstellen und sich nicht in Spitzfindigkeiten über die Aufgaben und Pflichten des Journalismus verlieren. Klaus-Peter Möritz, Berlin
Warum muss man immer wieder über Herrn Wulff sprechen, schreiben und ihn dann noch als Titelbild zeigen?
Welch eine unerträgliche Arroganz! Er war keine Provokation. Er war eine Zumutung!
Norbert Weinert, Seevetal (Nieders.)
Hans Lander, Pleidelsheim (Bad.-Württ.)
Herr Wulffs Suada ist unsäglich. Er hat nie verstanden und wird wohl nie verstehen, dass Integrität und Souveränität Voraussetzungen für das Amt des Bundespräsidenten sind und nicht Eigenschaften, die er im Amt doch sicherlich noch erworben hätte, wenn die böse Presse nicht gewesen wäre. Mit diesem verschwurbelten Interview sollte der SPIEGEL mit Herrn Wulff den Abschluss finden, es ist genug.
Nach der Lektüre des Streitgesprächs erscheinen mir nun zwei Dinge entbehrlich: die Befassung mit Herrn Wulffs Buch und die Befassung mit der Frage, ob er nicht doch ein großer oder zumindest zukunftsfähiger Bundespräsident hätte werden können.
Burkhardt Riekel, Guardamar del Segura (Spanien)
Das Interview könnte man auf zwei Aussagen verkürzen: Ich habe nichts falsch gemacht, höchstens ein bisschen, aber das rechtfertigt keinen Rücktritt. Außerdem wurde das Ganze eh nur hochgeschrieben, weil man mir Böses will. Stephan Maier, Schwalmstadt (Hessen)
Wann hört die Larmoyanz des Mannes endlich auf? Er war kein Verfolgter, sondern hat sich selbst der Lächerlichkeit preisgegeben. Dorlis Brauer, Königstein im Taunus (Hessen)
Dieses Streitgespräch mit Christian Wulff ist das beste, das ich je gelesen habe! Es ist eine Lehrstunde im Ringen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Das ist vor allem Christian Wulff zu verdanken. Er ist offen. Er ist ehrlich. Er ist stark. Ich bin vollstän6
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Olaf Glowatzki, Oranienburg (Brandenb.)
Wo bleibt die Einsicht in die Rolle des SPIEGEL als Teil der Meute, die den Bundespräsidenten mit kleinkarierten Vorwürfen gehetzt hat? Hat nur er Fehler gemacht? Hasko Neumann, Stuttgart
Die Berichterstattung des SPIEGEL während des Rücktritts muss nicht nachträglich korrigiert werden. Noch hat die Bild nicht das Meinungsmonopol in unserem Land. Auch das war ein Irrtum von Christian Wulff.
Überlistung der Natur Nr. 29/2014 SPIEGEL-Redakteurin Nicola Abé über ihre Entscheidung, Eizellen einfrieren zu lassen
Gratulation zu Ihrem Artikel! Frauen wie Sie braucht diese Welt. Ihre offenen Worte zu lesen hat mir Mut gemacht. Ich bin 31, ebenfalls Journalistin, lebe in keiner Beziehung und habe aktuell auch keinen Kinderwunsch. Die Möglichkeit, mich in ein paar Jahren ebenfalls für das Einfrieren von Eizellen entscheiden zu können, gibt mir ein gutes Gefühl. Dafür möchte ich mich bei Ihnen bedanken. Nina Flori, Wien
Gut, dass es nicht viele solche Frauen gibt. Dieser Egoismus der heutigen Generation ist das große Übel unserer Gesellschaft. Gunter Knauer, Meerbusch (NRW)
Ich wünsche Frau Abé, dass ihre Rechnung aufgeht und dass sie mit der Überlistung der Natur glücklich wird. Dennoch sollten wir erst einmal 10, 20 Jahre ins Land gehen lassen, um zu sehen, ob nicht doch ein Rattenschwanz der Unannehmlichkeiten die Heilsbotschaft revidiert. Heiko Bredehöft, Buchholz i. d. Nordheide (Nieders.)
Als Vater, dessen Tochter in seinem ersten Semester (1969) geboren wurde, und als Hochschullehrer, der den Lebensweg vieler BWL-Studentinnen beobachten konnte, kann ich Frau Abé in allen Punkten zustimmen. Nur: Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es des Social Freezings zur Lebensgestaltung der Frauen nicht bedarf. Prof. Dr. Walter Habenicht, Kornwestheim (Bad.-Württ.)
Das Problem ist: Kinder, Fortpflanzung – Zukunft! – Das ist eine elementare Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Social Freezing ist ein Symptom dafür, dass Frauen mit der Verantwortung alleingelassen werden. Wo sind die zukünftigen Väter? Wo die potenziellen Großeltern? Wir alle sind verantwortlich dafür, dass wir Kinder haben. Dorothee Rieger, Icking (Bayern)
Günter Weber, Filderstadt (Bad.-Württ.)
Es bleibt dabei: Wulff war, wie der SPIEGEL schrieb, „der falsche Präsident“. Jedes weitere Interview bestätigt, wie visionär und mutig der SPIEGEL mit seinem damaligen Titel war. Ich hoffe, das war’s jetzt mit dem Wulff. Bitte hören Sie auf, einem eitlen Ex-Politiker eine Bühne für sein verzerrtes Selbstbild zu liefern.
Ich habe mich gefreut über den sehr klugen Artikel einer Frau meines Alters, der es gelingt, dieses von moralischen Urteilen durchlöcherte Thema aus einer pragmatischen und selbstbewussten Sichtweise zu schildern, wie viele unserer Generation sie teilen. Es ist wichtig, den gestrigen Bewertungsschablonen etwas entgegenzusetzen, in diesem Fall die schlichte Realität.
Martin Weiß, Hamburg
Isabel von Schwarzenstein, Tanna (Thür.)
Briefe SPIEGEL TV WISSEN MITTWOCH, 30. 7., 19.30 – 20.15 UHR | PAY TV BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
Das Geomar und die Meeresforscher Die Rückseite des Mondes ist besser erforscht als unsere Weltmeere. Die Mitarbeiter des Geomar HelmholtzZentrums für Ozeanforschung wollen das ändern: Mit Hightech und Tauchrobotern messen, filmen und
Polemisches Sülzkotelett Nr. 29/2014 SPIEGEL-Gespräch mit dem Putin-Vordenker Alexander Dugin über ein angeblich sterbendes Europa und den Aufstieg Eurasiens
Erst vor einigen Wochen Marine Le Pen, jetzt Alexander Dugin. Auch wenn es in bester aufklärerischer Absicht geschieht: Muss der SPIEGEL immer wieder Neofaschisten ein Forum für ihre Widerwärtigkeiten und Absurditäten bieten? Michael Gaertner, Kiel
In manchen Dingen hat Herr Dugin ja recht. Werteuniversalismus ist säkularisierter Monotheismus. Wo sollen die Werte denn existieren: in einem platonischen Wertehimmel? Dr. Dietrich Unverzagt, Fulda
Forschungstauchboot „Jago“ im Einsatz
fotografieren sie in bis zu 6000 Meter Tiefe. Neben „Jago“, Deutschlands einzigem bemanntem Forschungstauchboot, gehört auch das Tiefseefahrzeug „Abyss“ zur Flotte des Geomar. Die Unterwasserboote waren bereits an der erfolgreichen Suche nach dem Wrack eines 2009 abgestürzten Airbus im Atlantik beteiligt und wurden im Frühjahr 2014 erneut angefordert, um die Bergung der verschollenen Maschine der Malaysia Airlines zu ermöglichen.
SPIEGEL GESCHICHTE FREITAG, 1. 8., 21.00 – 22.40 UHR | SKY
Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Autos „Bitte setzen Sie sich hin, und schnallen Sie sich an. Ihr Auto hebt jetzt ab.“ Der Traum vom fliegenden Auto ist alt. Seit Jahrzehnten versuchen Ingenieure und Tüftler, die Unterschiede zwischen Auto und Flugzeug zu überwinden. Modelle wie der „Airphibian“ oder der „Maverick“ sollen die dabei entstehenden Probleme lösen. Doch die potenzielle Kundschaft ist skeptisch, sie sorgt sich um die Sicherheit am Himmel. Werden neue Technologien sie überzeugen?
SPIEGEL TV MAGAZIN SONNTAG, 3. 8., 22.10 – 23.15 UHR | RTL
Zu arm, um krank zu sein – Menschen ohne Versicherung; Die Milch macht’s – Hochleistungskühe als Exportschlager; Tod nach SMS – Handynutzung im Straßenverkehr und die dramatischen Folgen.
Als Leser leidet man ja schon hinreichend, wie aber muss Ihr Redakteur Christian Neef dabei gelitten haben, vor einem solchen polemischen Sülzkotelett die Fassung zu wahren! Immerhin wirft die Tatsache, dass die Lomonossow-Universität 10 000 Unterschriften gesammelt hat, um diesen unreflektiert-hasserfüllten Typen aus dem Lehrfach zu entlassen, ein positives Licht auf diese russische Hochschule.
nur noch aus den Kosten, die für diese Berufsgruppe anfallen dürfen. Folgen sind unter anderem ein hoher Krankheitsausfall, nicht gewährte Pausen und ständige Überstunden. Bei den anderen Berufsgruppen in den Kliniken sieht es ähnlich aus. Die Personaldecke ist unzumutbar geschrumpft. Niedriglöhne sind neben den klassischen Servicebereichen auch Thema für andere, in eigene Töchter ausgelagerte Beschäftigte. Diese Arbeitsbedingungen tun dauerhaft weh. Sabine Linke, Leipzig Stellvertretende Vorsitzende des Konzernbetriebsrats der Helios Kliniken GmbH
Wer stoppt eigentlich diese eiskalten Typen, die aus Krankheit und Leid von Menschen eine Rendite pressen? Krankenkassenbeiträge werden zur Behandlung kranker Menschen wie eine zweckgebundene Steuer erhoben; sie dürfen niemals zum Spielball raffgieriger Manager werden. Dr. Christoph Klumpp, Panketal (Brandenb.)
Warum lassen sich die Bürger gefallen, dass aus dem Solidarpool zur Bezahlung des Gesundheitswesens Dividenden ausgeschüttet werden? Das Geld gehört den Beitragszahlern und sonst niemandem.
Lutz Meyer, Impruneta (Italien)
Dr. med. Rudolf Jakob, Neusäß (Bayern)
Eiskalte Typen
Fahnen über den Köpfen
Nr. 29/2014 SPIEGEL-Gespräch mit Fresenius-Chef Ulf Schneider über Gewinnstreben und Patientenwohl
Nr. 29/2014 Hohlspiegel
Wenn ein Krankenhaus Gewinn macht, heißt das, dass von den Patienten, sprich Krankenkassen, zu viel verlangt wurde. Dass Fallpauschalen, noch dazu zur Gewinnmaximierung, aus Patientensicht völliger Blödsinn sind, ist bekannt. Dass die Auslagerung von Küche, Reinigung, Labor zwar den Gewinn steigert, Qualität und Flexibilität aber darunter leiden, genauso. Also, was soll das? Geht Ulf Schneider als Patient in eines seiner Krankenhä oder lieber in eine Privatklinik? Klaus Schmidt, Bruchsal (Bad.-Württ.)
Wir als Konzernbetriebsausschuss der Helios Kliniken GmbH können die Äußerungen Herrn Schneiders so nicht stehen lassen. Personal wird zwischen Unternehmen hin- und hergeschoben. Hauptsache, tariflos, billig und möglichst mitbestimmungsfrei. Selbst die Unternehmensmitbestimmung soll abgeschafft werden. Die Personalmenge in der Pflege ergibt sich
Verehrte Kollegen, in den Hohlspiegel der Ausgabe 29 gehört nicht der Stern wegen des Begriffs „Gorilla-Diktatur“ in meiner Kolumne – in den Hohlspiegel gehört der SPIEGEL selbst, weil er diesen Begriff offenbar nicht kennt und ihn womöglich für eine peinliche Verwechslung mit „Guerilla“ hält. Tatsache ist aber: Wegen ihrer Brutalität wurden die Regime Mittel- und Südamerikas damals „Gorilla-Diktaturen“ genannt. Das ist vielfach nachzulesen, unter anderem in den Schriften der Bewegung der Revolutionären Linken Chiles (MIR). Aber ich räume ein, dieses Nachlesen war Ihrer Redaktion vermutlich nicht möglich, weil – wie der Titel jener Ausgabe ausweist – Deutschlandfahnen über den Köpfen hingen. Hans-Ulrich Jörges, Mitglied d. Chefredaktion des Stern, Berlin
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
[email protected]
Korrektur Heft 30/2014, Seite 92, „Gold für drei Euro“:
Der Stuhl im Konferenzzimmer des Krefelder Unternehmers Gerald Wagener ist nicht mit Schlangenleder bezogen. Es handelt sich bei dem Überzug um ein Imitat aus Kunststoff. 8
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Das deutsche Nachrichten-Magazin
Leitartikel
Ende der Feigheit Europa muss Putin für den Abschuss von Flug MH17 zur Rechenschaft ziehen.
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FOTO: MAXIM ZMEYEV / REUTERS
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ie Absturzstelle von Flug MH 17 ist ein Albtraum, der sätzlich auf harte Sanktionen gegen Russland geeinigt haben. Europa heimsucht. Noch immer liegen Leichenteile Zu den Vorschlägen gehören ein Boykott russischer Banken zwischen Sonnenblumen. 298 Unschuldige sind hier sowie ein Verbot der Exporte von Waffen und Energietechermordet worden, die Welt wurde Zeuge, als marodierende nologie. Entscheidend ist nun, dass die EU-Staaten die MaßBanditen in Uniform die Toten bestahlen, ihnen die Würde nahmen diese Woche auch wirklich in vollem Umfang beschließen, um Russlands Wirtschaft zu treffen, und sie, wenn nahmen. Hier, in der ostukrainischen Einöde, hat sich Putins wahres es nötig sein sollte, noch ausweiten. Gesicht gezeigt. Der russische Präsident steht enttarnt da, Wer harte Maßnahmen verlangt, um Russland zum Einlennicht mehr als Staatsmann, sondern als Paria der Weltgemein- ken zu bewegen, ist kein Kriegstreiber. Der Einzige, der seinen schaft. Die Toten von Flug MH 17 sind auch seine Toten, er Krieg in der Ukraine bisher ungehindert vorantreibt und seit ist für den Abschuss mitverantwortlich, und es ist nun der der Annexion der Krim den Frieden in Europa aufs Spiel setzt, Moment gekommen, ihn zum Einlenken zu zwingen – und ist Russlands Präsident. Die europäischen Staaten müssen deshalb alle nichtmilitärischen Druckmittel ausschöpfen, über die zwar mit harten wirtschaftlichen Sanktionen. Niemand im Westen zweifelt noch ernsthaft daran, dass sie verfügen. Es geht nicht um Eskalation, sondern um Abdas Flugzeug mit einem Buk-Luftabwehrsystem abgeschossen schreckung – und damit diese wirkt, muss sie glaubwürdig sein. wurde, das die Separatisten Das gelingt nur, wenn Europa höchstwahrscheinlich aus Russvereint auftritt und auf nationale land erhalten haben. Einer ihrer Egoismen verzichtet. Solange Anführer hat selbst zugegeben, Frankreich den Russen weiterdass sie über ein solches System hin Kriegsschiffe liefern will und verfügten, und die Indizienkette die Briten von den Moskauer ist eindeutig (siehe Seite 68). Oligarchen profitieren wollen, Der Abschuss von MH 17 mag kann die EU Putin nicht beeinein tragisches Versehen gewedrucken. Deshalb ist lobenswert, sen sein. Wer die Rakete abfeudass nicht nur die Bundesregieerte, wollte vermutlich kein Verrung, sondern auch maßgebliche kehrsflugzeug treffen. Doch der deutsche Wirtschaftsvertreter Abschuss ist die direkte Folge nun einen harten Kurs unterstütdavon, dass Russland die Sepazen – obwohl er die deutschen ratisten in den vergangenen WoExporte beeinträchtigen würde. chen militärisch aufgerüstet hat. Europa kann die Folgen einEr ist ein Symbol für die Ruchschneidender Sanktionen verlosigkeit Putins – und für das kraften, Russland kann es nicht. Versagen der bisherigen westliEs ist wirtschaftlich verwundbar, chen Politik. Die Trümmer von benötigt westliche Investitionen MH 17 sind auch die Trümmer und Technologie, insbesondere Absturzstelle in der Ostukraine der Diplomatie. für seinen Energiesektor. Während der Westen zuEine Garantie, dass Sanktionächst milde Sanktionen benen schnell zum gewünschten schloss und „De-Eskalation“ forderte, eskalierte Putin den Ergebnis führen, gibt es dennoch nicht. In einer ersten ReakKonflikt immer weiter und wusch seine Hände zugleich in tion könnte Putin um sich schlagen, einen überraschenUnschuld: Stets bestritt er, hinter den Separatisten zu stehen. den Gegenzug versuchen – aber die Wahrscheinlichkeit ist Dieses Gespinst aus Lügen, Propaganda und Täuschung ist sehr groß, dass er mittelfristig nachgeben müsste. Seine Herrnun aufgeflogen. schaft basiert bislang darauf, dass er die Eliten mit gut geDie Verbindungen zwischen Putin und den Separatisten henden Geschäften ruhigstellt. Massivem Druck seitens rusliegen offen zutage. Zwar mag er die Männer in den Fanta- sischer Unternehmer, Oligarchen und Liberaler könnte er sieuniformen nicht vollständig kontrollieren – das haben Stell- kaum standhalten. Eine weitere Abwertung des Rubels würde vertreterkriege so an sich –, aber er bewaffnet sie, und er auch die breite Bevölkerung treffen, die ihn bisher noch kann ihnen Einhalt gebieten. Allen Forderungen, dies zu tun, unterstützt. hat er sich bisher widersetzt. Selbst nach dem Mord an 298 Für die Sanktionen wird Europa, werden auch wir DeutMenschen kam von Putin kein Wort der Distanzierung, der schen sicherlich einen Preis zahlen müssen – aber der Preis Entschuldigung. wäre ungleich höher, wenn der Zyniker Putin seine völkerNach dem Abschuss von MH 17 kann Europa nicht mehr rechtswidrige Politik ungehindert fortsetzen könnte: Der weitermachen wie bisher. Deshalb ist es richtig, dass sich die Frieden und die Sicherheit in Europa wären dann in ernster Vertreter der 28 EU-Mitgliedsländer vergangene Woche grund- Gefahr.
Abgeordnete
Gauweiler an der Millionengrenze Der Topverdiener im Deutschen Bundestag heißt Peter Gauweiler. Als Rechtsanwalt hat der CSU-Vizeparteichef nach Berechnungen des Politik-Portals abgeordnetenwatch.de mindestens 967 500 Euro in den ersten neun Monaten der Legislaturperiode kassiert. Tatsächlich dürfte die Summe von Gauweilers Honoraren weitaus höher liegen. Die Parlamentarier müssen ihre Einkünfte nicht in Euro und Cent genau angeben, sondern in zehn Stufen einordnen. Die höchste ist mit „über 250 000 Euro“ definiert, Bezüge darüber hinaus müssen nicht näher beziffert werden. Nebenverdiener gibt es in allen Fraktionen des Bundestags. Jeder vierte Parlamentarier lässt sich einen Zusatzjob bezahlen. Von den CSU-Abgeordneten sind es sogar 45 Prozent. Unter den 13 Topverdienern des Bundestags mit 100 000 Euro und mehr finden sich elf Parlamentarier der Union, darunter die Nürnberger CSU-Abgeordnete Dagmar Wöhrl sowie die CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen und Philipp Mißfelder. che, heb
CDU
Pro-Snowden-Demonstration in Berlin
NSA-Affäre
Ultimatum für Snowden-Anhörung trag damit, dass Snowdens Anwalt inzwiLinke und Grüne im NSA-Untersuchungsschen eine Videobefragung des Zeugen in ausschuss haben die Bundesregierung Moskau abgelehnt hat. Außerdem habe die ultimativ aufgefordert, den Weg für eine Spionageaffäre mit der Enttarnung eines Zeugenbefragung Edward Snowdens in CIA-Maulwurfs im BND und einem weiteDeutschland doch noch frei zu machen. ren Verdachtsfall im VerteidigungsministeAndernfalls will die Opposition umgehend rium eine neue Eskalationsstufe erreicht. vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. „Es gibt keinen juristischen, aber nach den In einem gemeinsamen Antrag verlangen beiden vermuteten Spionagefällen auch Martina Renner (Linke) und Konstantin von Notz (Grüne), dass die Ausschussmehr- eindeutig keinen politischen Grund mehr für die Bundesregierung, den Untersuheit spätestens in der ersten Sitzung nach chungsausschuss zu blockieren“, sagt die der Sommerpause ihren Beschluss reviLinken-Abgeordnete Renner. „Wir bauen diert, Snowden nicht nach Deutschland zu mit diesem Antrag der Bundesregierung laden. Zugleich fordern sie die Bundesreeine letzte Brücke zur Rechtsstaatlichkeit“, gierung auf, „unverzüglich“ die Voraussetso der Grünen-Abgeordnete Notz. Sollten zungen für eine Vernehmung zu schaffen. sich Union und SPD verweigern, „dann ist Insbesondere müsse Snowden ein „wirksaeine Klärung der Frage vor dem Bundesmer Auslieferungsschutz“ garantiert werden. Linke und Grüne begründen ihren An- verfassungsgericht unvermeidbar“. jös
Betriebsrat bremst Generalsekretär aus
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DER SPIEGEL 31 / 2014
Asylbewerber
rung werde die Umsetzung „alsbald in Angriff nehmen“. Anspruch auf Luise Amtsberg, Flüchtlingspsychologische Hilfe expertin der Grünen-Fraktion, reicht das nicht. Ebenso Die Bundesregierung will minderjährigen und traumati- wie Ärzte und Sozialverbände hält sie die medizinische sierten Asylsuchenden einen Versorgung von Flüchtlingen Anspruch auf psychologische Hilfe gewähren. Das geht aus grundsätzlich für unzureichend. „Angesichts der zahleiner Antwort des Bundessozialministeriums auf eine An- reichen Fälle schwerer Gefrage der Grünen-Bundestags- sundheitsschäden von Asylbefraktion hervor. Die novellier- werbern verleugnet die Bundesregierung die strukturelte EU-Aufnahme-Richtlinie, len Defizite.“ Die Leistungen die bis Mitte 2015 in deutfür Asylbewerber sehen nur sches Recht umgesetzt wereine Versorgung bei akuten den müsse, umfasse im Bedarfsfall „auch eine geeignete Erkrankungen vor. Chronische Krankheiten werden im psychologische Betreuung“, Regelfall nicht behandelt. cos heißt es. Die Bundesregie-
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
FOTOS: HENNING SCHACHT (O.); CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL (U.)
Peter Tauber, 39, Generaltion im Bundestag, soll nach sekretär der CDU, stößt mit Taubers Willen eine neue Abseinen Plänen für den Umbau teilung für Kommunikation der Parteizentrale auf Wider- führen. Doch obwohl Bergstand. Sowohl der Betriebsrat mann schon im Juni ein Geals auch Bundesgeschäftsfühspräch bei CDU-Chefin Anrer Klaus Schüler sind wenig gela Merkel absolvierte und begeistert von seinen Ideen, Anfang Juli seinen Abschied wie die Abteilungen des Kon- von der Fraktion gefeiert hat, rad-Adenauer-Hauses straffer kann er den Posten nicht strukturiert werantreten. Der Beden könnten. Der triebsrat verweiStreit kulminiert gert dem Quereinin der Blockade steiger seine Zueiner für Tauber stimmung. Damit wichtigen Persoist Tauber mit einalie: Frank Bergnem zentralen Teil seiner Reformmann, 47, langjähpläne vorerst ausriger Online-Chef gebremst. ama der UnionsfrakTauber
Deutschland Afghanistan
FOTOS: MARKUS SCHREIBER / DPA (L.); ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL
Bundesregierung gegen Todesurteil Die Bundesregierung will im Fall der in Ostafghanistan ermordeten deutschen Fotografin Anja Niedringhaus verhindern, dass die lokale Justiz eine Todesstrafe verhängt. Bereits bei der erstinstanzlichen Verhandlung gegen einen afghanischen Polizisten, der die preisgekrönte Reporterin der Agentur Associated Press am 4. April erschossen und ihre Kollegin Kathy Gannon schwer verletzt haben soll, drängte ein anwesender Diplomat darauf, dass eine mögliche Todesstrafe in eine lange Gefängnisstrafe umgewandelt wird. Die Bundesrepublik engagiert sich grundsätzlich gegen Todesurteile, das gilt vor allem in diesem symbolischen Fall mit einem deutschen Opfer. Am vergangenen Dienstag hatte ein Kabuler Gericht in nicht öffentlicher Sitzung rund zwei Stunden über den Fall des 23-jährigen Polizisten Naqibullah verhandelt und ihn dann zum Tode verurteilt. Die Strafe muss noch durch ein übergeordnetes Gericht bestätigt und vom Präsidenten genehmigt werden. Die Motive des Mannes sind weiter unklar. Nach der Tat hatte der Polizist aus einer finanziell soli-
den Familie in der Provinz Parwan von einem Racheakt an den beiden westlichen Frauen gesprochen, da ein Bombardement der Isaf-Truppen im Januar 2014 in seinem Dorf viele zivile Opfer gefordert habe. Später berichtete der Polizist, der 2012 in die Afghan National Police eingetreten und von US-Mentoren in Masar-i-Scharif in einem Schnellkurs ausgebildet worden war, von einer psychischen Störung. Er beschrieb eine Art epileptischen Anfall, dies wird von deutschen Ermittlern allerdings als Schutzbehauptung gewertet. Bei umfangreichen Recherchen, die eine Überprüfung aller Telefonanrufe des Polizisten vor der Tat einschlossen, wurden nach der Tat zwar Hinweise auf eine antiwestliche Haltung des Mannes gefunden, deretwegen er nach der Ausbildung in die Provinz versetzt worden war; Indizien für eine Indoktrinierung durch die Taliban aber gibt es nicht. Die Deutsche Botschaft in Kabul soll das weitere Verfahren nun genau beobachten. Bis zu einem rechtskräftigen Urteil, das erst in einigen Monaten erwartet wird, führt der Generalbundesanwalt in Karlsruhe weiter ein Ermittlungsverfahren gegen den afghanischen Polizisten. mgb
Niedringhaus 2011
Jakob Augstein Im Zweifel links
Historisches Paradox Manchmal lässt sich die Wahrheit kurz zusammenfassen: „Friedens-Demos, auf denen Hass gegen Juden gepredigt wird, sind Kriegsdemos.“ Petra Pau hat diese Meldung neulich über Twitter abgesetzt. Und weil sie eine Politikerin der Linken ist, hat sie sicherheitshalber hinzugefügt, solche Demonstrationen seien „niemals links“. So schauerlich es ist – solche Hinweise sind in Deutschland wieder notwendig. Der israelische Botschafter Yakov Hadas-Handelsman entsetzt sich zu Recht über den Hass in aller Öffentlichkeit. Und diese Öffentlichkeit reagiert selber erschrocken. Aber gleichzeitig verfangen sich manche Kommentatoren in der Falle des „Ja, aber ...“: Ja, wir verurteilen die antisemitischen Parolen auf deutschen Straßen. Aber wir sollten nicht ihren Ursprung im maßlosen Krieg Israels gegen Gaza vergessen. Diese Argumentation geht fehl. Es ist ein historisches Paradox, dass sich das Vorurteil der modernen Antisemiten mit dem Postulat so mancher vorgeblicher Israel-Freunde deckt: Die Politik der israelischen Regierung wird mit dem Staat Israel gleichgesetzt. Und der Staat Israel mit dem Judentum. Aber das ist falsch. Man kann Premier Benjamin Netanjahu kritisieren, ohne Israel infrage zu stellen, und man kann über Israel sprechen, ohne das Judentum zu meinen. Die logische Verknüpfung dieser drei Begriffe – Regierungspolitik, Israel, Juden – ist unzulässig. Der beste Beweis: Die klügsten Kritiker der israelischen Regierungspolitik sitzen in Israel. Der Psychologe Carlo Strenger, Leiter des Graduiertenprogramms für Klinische Psychologie an der Universität Tel Aviv, der gute Gründe nennen kann, warum es so vielen Israelis schwerfällt, Frieden mit ihren Nachbarn zu schließen. Oder der Schriftsteller David Grossman, der seinen Sohn im Libanon-Krieg verloren hat und nicht hinnehmen will, dass Israel sich bereitwillig der Verzweiflung des Krieges ergibt, und jede Hoffnung auf Frieden hat fahren lassen. Und überall auf der Welt gibt es Juden, die sich, wie die Philosophin Judith Butler es formuliert hat, auf „ein anderes Jüdischsein berufen als das, in dessen Namen der israelische Staat zu sprechen behauptet“. Nicht der Krieg in Gaza und nicht das Scheitern der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik sind Ursache des Antisemitismus. Für ihren Hass gegen die Juden brauchen die Antisemiten keine Neuigkeiten aus Israel. Was Adorno das „Gerücht über Juden“ nannte, nährt sich selbst. Ganz gleich ob es sich um muslimische Einwanderer oder um einheimische Judenfeinde handelt: Im Antisemitismus fließen Menschenhass, Rassismus, Esoterik und Verschwörungstheorien zusammen. Wer es noch nicht gewusst hat, kann es jetzt lernen: Weder die „Aufarbeitung“ der Nazi-Vergangenheit im Westen noch die Tradition des „Antifaschismus“ im Osten haben Deutschland immun gemacht gegen den Antisemitismus. Es gibt ihn. Wir müssen ihn bekämpfen. An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist Jan Fleischhauer an der Reihe, danach Juli Zeh.
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Badeverbot
„Wir sind keine Hilfssheriffs“ Armin Jäger, 73,
Wärmebild eines Atommüllbehälters
SPIEGEL: Mehrere Menschen
Atomkraft
sind in den vergangenen Tagen in der Ostsee gestorben, nun wird über ein Bußgeld für leichtsinnige Schwimmer diskutiert. Was halten Sie von dem Vorschlag? Jäger: Ich kann ihn gut nachvollziehen. Früher wollte ich kein Bußgeld am Strand. Ich dachte, es sei genug, an die Vernunft der Badegäste zu appellieren. Ich habe mich geirrt. SPIEGEL: Das heißt, am Strand drohen uns bald Knöllchen? Jäger: Nicht so schnell. Das Bußgeld ist zwar eine gute Idee, und aus juristischer Sicht dürfen die Gemeinden es auch verhängen. Aber in der Praxis wird es kaum umsetzbar sein. Das fängt schon mit den Personalien an, es trägt ja niemand seinen Ausweis in der Badehose. Und wer soll die Ordnungswidrigkeiten überhaupt ahnden? Unseren Rettungsschwimmern will ich das nicht zumuten. SPIEGEL: Inwiefern wäre das eine Zumutung? Jäger: „Sie haben mir gar nix zu sagen!“ Das ist so ein typischer Pöbelsatz, den unsere überwiegend sehr jungen Rettungsschwimmer am Strand hören. Sie werden kaum als Autoritäten wahrgenommen und sind auch nicht für Konfliktsituationen ausgebildet. Wir holen Leute aus dem Wasser, wir sind keine Hilfssheriffs. SPIEGEL: Wer soll Ihrer Meinung nach dann am Strand patrouillieren? Jäger: Darum müssen sich die Gemeinden kümmern. Aber für regelmäßige Kontrollen – und nur dann ist eine Strafe
Ohne Castoren kein Rückbau
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Die Zulassung von Transportbehältern (Castoren) für Brennelemente aus Siedewasserreaktoren verzögert sich weiter. Das räumte die Bundesregierung gegenüber der Grünen-Bundestagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl ein. Grund seien fehlende Antragsunterlagen der Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS), die den großen Stromkonzernen gehört. Eigentlich sollte das Ver-
sinnvoll – fehlen Geld und Personal. Ich habe noch keine Lösung in petto. Aber es darf nicht sein, dass die Menschen weiter so unvernünftig sind. Sie gefährden ja nicht nur sich selbst, sondern auch die Rettungsschwimmer. SPIEGEL: Wie teuer könnte ein Verstoß gegen die Vernunft werden? Jäger: Ein Bußgeld zwischen 50 und 1000 Euro halte ich für realistisch. Letzteres zum Beispiel, wenn jemand seine Kinder trotz roter Flagge mit ins Wasser nimmt. aar
Affären
Betrug mit Autopaket? Der Düsseldorfer Kunsthändler Helge Achenbach, der nach Betrugsvorwürfen in Untersuchungshaft sitzt, sieht sich einem neuen Verdacht ausgesetzt. Nachdem Babette Albrecht, Witwe des 2012 verstorbenen Aldi-Erben Berthold Albrecht, schon im April Strafanzeige gegen Achenbach erstattet hatte, weil der beim Einkauf von
fahren seit Ende März abgeschlossen sein. Die Castoren sind wichtig, um die im Zuge der Energiewende stillgelegten Reaktoren von Kernbrennstoff räumen zu können. Inzwischen gehen manche Betreiber offenbar davon aus, dass dies erst ab 2020 der Fall sein wird. Ein GNS-Sprecher bestätigte die Verzögerung, er rechne aber mit einer Zulassung in den kommenden Wochen. mif
bach in seiner Firma State of Kunstwerken und Oldtimern the Art behielt, umso billiger für ihren Mann betrogen haberechnet worden sein. Zum ben soll, reichten die AnwälBeleg verweist die Albrechtte der Discounter-Dynastie Seite in ihrer Klage auf die nun eine Zivilklage über 19,3 Mail eines Achenbach-VerMillionen Euro ein. Darin trauten an Achenbach und wird erstmals der Verdacht geäußert, dass Achenbach bei dessen Buchhaltung. Darin hieß es unter der Betreffzeile einem Paketkauf von Oldtimern getrickst haben könnte. „Fahrzeug-Bepreisung“ zu den fünf Fahrzeugen für die Den Albrecht-Anwälten zuState of the Art, man habe folge hatte eine Achenbachbei ihrem Preis das „GeringsFirma im August 2012 bei eite“ genommen, was irgendnem Händler in Süddeutschwie gehe. Daraufhin folgen land sieben Oldtimer für inseine Liste mit Einzelpreisen gesamt 16,8 Millionen Euro eingekauft. Zwei der Fahrzeu- für diese fünf Typen und der Satz: „Macht in Summe ge, ein Ferrari 250 Berlinetta und ein Ferrari 250 California 974 000 Euro – alles darunter ist höchstverdächtig …“ Eine Spider, die Achenbach an Albrecht weiterverkaufte, sol- Achenbach-Sprecherin wollte dazu keine Stellung nehmen, len mit überzogenen Preisen da man den Vorgang bisher einen besonders hohen Anteil am Paket ausgemacht ha- nicht kenne. Achenbach ben. Dagegen sollen fünf wei- selbst hat bisher sämtliche Vorwürfe zurückgewiesen. tere Fahrzeuge, die AchenInsbesondere habe er nicht hinter dem Rücken von Berthold Albrecht versteckte Gewinnmargen beim Einkauf von Kunstwerken und Oldtimern kassiert. Mit einer Haftbeschwerde waren seine Anwälte vergangene Woche Achenbach gescheitert. amp, bas, gla, js
FOTOS S. 14: NILS BAHNSEN (O.L.); GREENPEACE / DPA (O.R.); ANDREAS ENDERMANN / DPA (U.); S. 15: RALF KOPP (O.); TIM WEGNER / DER SPIEGEL (U.)
Jurist, Exinnenminister von MecklenburgVorpommern und Präsident des DLRG-Landesverbands, über Bußgelder für leichtsinnige Badegäste
Deutschland
Polizei
Manager
Einsatz für Fußball
Middelhoffs leere Taschen
Die Absicht Bremens, die Fußballbundesliga an den Kosten der Polizeieinsätze bei Spielen zu beteiligen, wird bisher von den anderen Ländern nicht unterstützt. Dabei zeigen unveröffentlichte Daten der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze, wie groß der personelle Einsatz der Polizei ist. Demnach leisteten die Beamten der Länder in der abgelaufenen Saison mehr als 650 000 Stunden für Bundesligaspiele. Der größte Aufwand wurde am 6. April dieses Jahres betrieben: Beim Spiel Braunschweig gegen Hannover kümmerten sich 3181 Beamte um 23 150 Stadionbesucher. Zusätzlich zu den Beamten der Länder sind an den Spieltagen Bundespolizisten unterwegs zur „Überwachung des Fanreiseverkehrs“ an Bahnhöfen. In der Saison 2012/13 waren dafür pro Woche durchschnittlich 2140 Beamte nötig. Kosten: 27,8 Millionen Euro. Nicht berücksichtigt sind in den Rechnungen erhebliche Ausgaben für Transport und Übernachtung der Beamten. mif
Nach Taschenpfändung und Drohungen mit Erzwingungshaft hat der frühere ArcandorChef Thomas Middelhoff am vergangenen Freitag in Essen eine Vermögensauskunft abgegeben – im Volksmund auch Offenbarungseid genannt. Mit dem Schritt kam Middelhoff der Forderung des Münchner Unternehmensberaters Roland Berger nach, der aus einer ehemaligen Geschäftspartnerschaft noch 6,8 Millionen Euro von ihm fordert. Auch Middelhoffs Exvermögensberater Josef Esch hat einen Vollstreckungstitel über 2,5 Millionen Euro gegen ihn in der Hand. Middelhoff hatte die Vermögensauskunft im letzten Moment mit einem Antrag vor dem Landgericht Bielefeld abwenden wollen. Allerdings verlangte das Gericht dafür Sicherheitsleistungen in Höhe von knapp acht Millionen Euro, die der Manager bis Freitag offenbar nicht stellen konnte. Sein Anwalt war für eine Stellungnahme am vergangenen Freitag nicht zu erreichen. amp, bas, gla, js
Einsatzkosten der Polizei Bundesligasaison 2013/14, in Millionen Euro* Eintracht Braunschweig
4,0
Borussia Dortmund
3,8 3,2
SV Werder Bremen Bayern München FC Schalke 04 Hannover 96 1. FSV Mainz 05 VfB Stuttgart Hertha BSC VfL Wolfsburg Eintracht Frankfurt Borussia Mönchengladbach Hamburger SV 1. FC Nürnberg SC Freiburg FC Augsburg Bayer 04 Leverkusen TSG 1899 Hoffenheim
2,9 2,8 2,5 2,2 2,0 1,9 1,9 1,8 1,8 1,7 1,6 1,5 1,3 1,2 1,0
gesamt
39 Mio. € * ohne Nebenkosten,
bei 60 € pro Stunde Quelle: ZIS
Der Augenzeuge
„Seit 3.40 Uhr weg“ Werner Schneider-Quindeau, 64, wagte als Pfarrer der evangelischen Stadtkirche in Frankfurt am Main zusammen mit einem Künstler ein Experiment: 54 000 Ein-Cent-Münzen, die zu Buchstaben aufgehäuft das Wort „Vertrauen“ bildeten, wurden vor einer Kirche ausgelegt. Nach 15 Stunden war das Geld weg.
Das Projekt te hervorragend zu einer Ausstellung über „Geld und Macht“, die wir in der Katharinenkirche in Frankfurt veranstalten. Der Künstler Ralf Kopp hat dazu ein Geldkunstwerk entwickelt. Wir wollten wissen, ob das Wort „Vertrauen“ vor einer Kirche so viel Respekt einflößt, dass nichts oder nur wenig weggenommen wird. Zur Eröffnung fragten wir, wie lange das Wort wohl zu sehen sein wird. Etwa die Hälfte der Anwesenden meinte, die Münzen würden 14 Tage lang bis zum Ende der Ausstellung liegen bleiben. Die anderen glaubten, dass nach einer Nacht nicht mehr viel übrig sein werde. Die Pessimisten hatten leider recht. Dabei hatten am Anfang einige anten sogar noch Münzen dazugelegt. Ich bin nachts um halb eins noch einmal mit dem Fahrrad vorbeigefahren, da wirkten die Buchstaben noch intakt. Später änderte sich das aber schnell. Durch eine Kamera, die wir am Dach angebracht hatten, konnte man sehen, wie nach 2 Uhr jemand mit einem Rucksack kam und ihn mit Münzen füllte. Der holte sich kurz darauf sogar noch eine zweite Ladung. Später rückten andere Leute mit Tüten und Rucksäcken an und bedienten sich. Am nächsten Morgen, kurz nach 9 Uhr, bekam ich eine Mail von Ralf Kopp: „Guten Morgen lieber Werner, die Gier hat gesiegt“, schrieb er, „das Vertrauen ist seit 3.40 Uhr weg.“ Selbst die Kreideskizze, die als Schablone für die Buchstaben diente, hatte die Straßenreinigung weggeputzt. Trotzdem bin ich total zufrieden mit dem Experiment, dem wir den Titel „Gier frisst Vertrauen“ gegeben haben. Wir haben damit in der Stadt eine tolle Diskussion darüber ausgelöst, was Vertrauen eigentlich ist und warum Geldwirtschaft ohne Vertrauen ebenso wenig funktioniert wie Kirche. Und es gab auch eine sehr schöne Geschichte: Als noch Münzen herumlagen, kam eine Gruppe Jugendlicher vorbei und holte einen Obdachlosen dazu, der sie vorher um eine Zigarette und Kleingeld gebeten hatte. Dem haben die jungen Leute geholfen, die Münzen in eine Tüte und in seine Jacke zu packen. Der Obdachlose hat sich tausendmal bedankt und wollte das Geld mit seinen Kollegen teilen. Ralf Kopp will jetzt in München und Berlin „Freiheit“ und „Demokratie“ mit Cent-Münzen legen. Mal sehen, wo sich die Wörter am längsten halten. Aufgezeichnet von Matthias Bartsch
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Deutschland
Der Kita-Betrug
Kinder in der Kita Sonnenschein in Potsdam: An guten Tagen neun oder zehn Kleinkinder pro Erzieherin, an schlechten mehr
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FOTO: ANN-KATRIN MÜLLER / DER SPIEGEL
Erziehung Der Ausbau war rasant, auf der Strecke blieb die Qualität der Tagesstätten. Experten fordern bundesweite Mindeststandards. Die wollte Familienministerin Schwesig eigentlich auch, doch in ihrem neuen Qualitätsgesetz findet sich dazu nichts.
FOTO: BLEICKER / CARO
V
ergangenen Mittwoch war es wieder so weit, Constanze Friedrich musste alles stehen und liegen lassen und in ihre Kita eilen. Eine ihrer Mitarbeiterinnen hatte sich krankgemeldet, eine Erzieherin hätte auf 17 Kleinkinder aufen müssen. Also sagte die Leiterin der Potsdamer Kindertagesstätte Sonnenschein alle Termine ab und übernahm den Dienst selbst. Sie kennt das schon: „Das ist Alltag, dass wir uns das zurechtbiegen müssen.“ Die Kita Sonnenschein gilt als Vorzeigeprojekt, sie wird vom Bundesfamilienministerium zusätzlich gefördert, das den Krippenausbau zu einer seiner wichtigsten Aufgaben erklärt hat. Wer auf die Website der Einrichtung geht, sieht viele fröhliche Kindergesichter. Maximal sechs Kinder unter drei Jahren teilen sich eine Erzieherin, so schreibt es das Kita-Gesetz in Brandenburg vor, aber das ist nicht die Wirklichkeit, auch nicht beim Sonnenschein: An guten Tagen kommen neun bis zehn Kinder auf jede Fachkraft, an schlechten mehr. Friedrich leidet unter der Situation. Sie nimmt ihre Arbeit ernst und will, dass es den ihr anvertrauten Kindern gut geht. Aber auch die beste Erzieherin kann nicht allen zuhören und zehn Kindern gleichzeitig aufs Töpfchen helfen. Friedrich, schwarzer Kajalstrich, auberginefarbenes Haar und neun Ohrringe, vier rechts, fünf links, schüttelt resigniert mit dem Kopf: „So haut es hinten und vorne nicht hin.“ Seit einem Jahr gilt in Deutschland der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Ein- und Zweijährige. Keine familienpolitische Aufgabe der vergangenen Jahre ist von Politikern aller Parteien für ähnlich wichtig befunden worden, keine andere sollte gleichzeitig so viele Probleme lösen: Mütter und Väter sollen endlich ohne schlechtes Gewissen aus dem Haus gehen können, Familie und Beruf sollen auch in Deutschland zusammenen, sozial benachteiligten Kindern der Bildungsaufstieg erleichtert werden. So wurde in der KitaWelt gegründet, vergrößert und saniert, um die ehrgeizigen Pläne zu erfüllen. Was den Ausbau angeht, ist das Land ein großes Stück vorangekommen. Vor anderthalb Wochen verkündete Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig einen neuen Rekord: 661 965 unter Dreijährige werden morgens zur Betreuung gegeben. Das ist ungefähr ein Drittel aller Kinder in dieser Altersgruppe. Und dabei wird es nicht bleiben: Der Kita-Ausbau gehe mit hohem Tempo voran, verkündete die Ministerin stolz. Der Bedarf werde zwar noch nicht ganz gedeckt, aber man sei auf einem guten Weg. Doch Kinder sind keine Möbel. Es reicht nicht aus, sie in einen Raum zu setzen, es muss auch jemand da sein, der sich um sie
Sozialdemokratin Schwesig: Hinter die eigenen Erwartungen zurückgefallen
kümmert. Kinder brauchen Zuwendung ung verbessert werden müsse. Als eine und Ansprache, je jünger sie sind, desto ihrer ersten Amtshandlungen versprach mehr. Gerade bei den unter Dreijährigen Schwesig im Dezember ein „Kita-Qualiist es nötig, dass die Erzieher die Entwick- tätsgesetz“, das endlich sicherstellen soll, lungsschritte der Kleinen aufmerksam ver- dass die Kinder, die von ihren Eltern in folgen können und dann entsprechend auf Kindertagesbetreuung gegeben werden, sie eingehen. Genügend gute Pädagogen dort nicht nur verwahrt werden. Bislang hängt die Betreuungsqualität sind der Schlüssel für den Erfolg frühkindlicher Bildung. Genau daran mangelt vom Zufall und der Haushaltslage der Bundesländer ab. Viele Experten mahnen seit es aber. Wie schlecht die Situation in Wahrheit Längerem eine bundesweite Regelung an, ist, enthüllte am Freitag vergangener Wo- die zumindest sagt, für wie viele Kinder che eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. ein Erzieher verantwortlich sein darf, welNur in zwei Bundesländern, nämlich Bre- che Qualifikationen das Personal braucht men und Baden-Württemberg, ist eine und wie die Weiterbildung auszusehen hat. Schwesig will bald ein Gesetz für den quantitative Betreuung sichergestellt, wie sie Erziehungswissenschaftler empfehlen. Kita-Bereich vorlegen, an dem ihr MinisBei den Kleinen sollte ein Erzieher für terium seit Monaten arbeitet. Im August höchstens drei Kinder verantwortlich sein, soll der Text zur Abstimmung ins Kabinett. bei den Älteren wird ein Personalschlüssel Das zehnseitige Papier trägt die Qualität von eins zu siebeneinhalb empfohlen. Legt im Namen, doch wer auf Mindeststandards man diese Anforderungen zugrunde, feh- hoffte, wird enttäuscht. Das „Gesetz zum len dem Land 120 000 Erzieher und Erzie- qualitativen Ausbau in der Kindertagesherinnen. Rund fünf Milliarden Euro würde betreuung“ legt lediglich fest, wie viel das zusätzliche Personal kosten, pro Jahr. Geld die Länder vom Bund bekommen, Was die Studie noch nicht berücksichtigt wenn sie den Kita-Ausbau weiter voranhat, ist die Zahl der Stellen, die in den kom- treiben. In dem Entwurf ist viel von „Neubau“, menden Jahren neu besetzt werden müssen, weil Fachkräfte in Rente gehen oder „Ausbau“, „Umbau“, „Sanierung“ und einfach nicht mehr wollen. Bis zum Jahr „Renovierung“ die Rede. Im Detail ist auf2025 sind das 200 000, wie die Technische gelistet, wie man sich die Finanzierung vorstellt. Es wird zwischen „GemeinschaftsUniversität Dortmund berechnet hat. Wie es in den Kitas wirklich aussieht, finanzierung“, „Zusatzfinanzierung“ und weiß natürlich auch Manuela Schwesig. „Eigenaufwendungen der Länder“ unterSeit zehn Jahren macht die Sozialdemo- schieden. Auch Ganztagsangebote sollen kratin Familienpolitik, 2008 wurde sie Mi- von den 550 Millionen Euro, die das Gesetz nisterin in Mecklenburg-Vorpommern, seit an die Länder verteilt, gefördert werden. Wer allerdings nach Qualitätsstandards Regierungsaufnahme von Schwarz-Rot ist sie es im Bund. Immer wieder hat sie ge- sucht, der sucht vergebens. In keinem Satz fordert, dass die Qualität bei der Betreu- wird ausgeführt, wie sich das FamilienDER SPIEGEL 31 / 2014
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ministerium eine Betreuung vorstellt, die diesen Namen auch verdient. Das Einzige, was sich irgendwie unter dem Begriff Qualität verorten lässt, sind „Ausstattungsinvestitionen“: Wenn Kitas beim Ausbau auf Gesundheitsförderung oder die Barrierefreiheit achten, werden sie zukünftig gefördert. Besseres Mittagessen und mehr Hilfen für Behinderte, mehr findet sich nicht. Warum der Entwurf dennoch „Gesetz zum qualitativen Ausbau“ heißt, begründet Staatssekretär Ralf Kleindiek damit, dass diese Vorschriften die Qualität in Deutschlands Kindertagesstätten verbessern würden. Ein Problem ist, dass Schwesig in den Gesprächen mit dem Finanzminister schlecht verhandelt hat. Sechs Milliarden Euro hatte der Bund den Ländern als Entlastung für den Bildungsbereich versprochen – für Kitas, Schulen und Hochschulen. So steht es im Koalitionsvertrag. Doch obwohl die Landesfamilienminister davon zwei Milliarden Euro für die Kitas forderten, kam Schwesig Ende Mai nur mit 550 Millionen Euro aus den Verhandlungen zurück. Für 2017 und 2018 sicherte sie noch einmal 100 Millionen Euro Betriebskosten. Für substanzielle Qualitätsverbesserungen reicht das bei Weitem nicht, selbst hinter der OECD-Empfehlung zur öffentlichen Kinderbetreuung bleibt Deutschland damit zurück. Um das OECD-Ziel von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erreichen, müssten Bund und Länder Jahr für Jahr ungefähr neun Milliarden Euro drauflegen. Dagegen steht die Schuldenbremse, die inzwischen in vielen Landesverfassungen verankert ist. Immer mehr Eltern wollen oder müssen ihre Kinder in die Obhut staatlicher oder privater Betreuer geben. 41,7 Prozent der Eltern wünschten sich im vergangenen Jahr einen Kita-Platz, mehr als je zuvor. Doch vielen ist unwohl bei dem Gedanken, ihren Nachwuchs fremden Menschen zu überlassen, wenn sie feststellen müssen, dass für das Wohl der Kleinen nicht angemessen gesorgt werden kann. Weil es keine verbindlichen Mindeststandards gibt, kann sich auch niemand darauf verlassen, dass immer ausreichend ausgebildete Erzieherinnen vor Ort sind. In jedem Land gibt es andere Regeln, wer mit welcher Ausbildung in Kindertagesstätten arbeiten darf. In Baden-Württemberg reichen bei bestimmten Berufen 25-tägige Schulungen, während die klassische Erzieherausbildung im Durchschnitt drei Jahre dauert. Kitas behelfen sich außerdem mit Quereinsteigern und Praktikanten. Manche Eltern greifen zur Selbsthilfe, um zu ersetzen, was in der Tagesstätte fehlt. Björn Wendel steht Tag für Tag eine Stunde früher auf, um seinen Zwillingen Frühstück zu machen. Eigentlich bekamen 18
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Kita-Leiterin Friedrich, Kollege René Klostermann „Haut hinten und vorne nicht hin“
sie das in ihrer Elbkinder-Kita in HamburgHarburg. Doch seit eine Praktikantin die Frühschicht übernahm und nur noch gelangweilt neben seinen Mädchen saß, aßen die Zwillinge nicht mehr richtig. Jeden Morgen schnibbelt er Äpfel und Bananen,
Weniger ist mehr Kinder unter 3 Jahren pro Erzieher*
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ideales Betreuungsverhältnis
Baden-Württemberg Bremen
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Bayern Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein
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Hamburg Thüringen
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MecklenburgVorpommern
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Brandenburg Sachsen Sachsen-Anhalt
*Personalschlüssel ohne Leitungsstunden, mittlere Betreuungsquote in öffentlich geförderter Tagesbetreuung Stand: März 2013, Quelle: Bertelsmann Stiftung
rührt Joghurt an und schmiert Brote. Kinder brauchten einfach Bezugspersonen und „nicht ständig wechselndes Personal“, murrt Wendel. Der Trend geht genau in die andere Richtung. Weil die Personaldecke in vielen Einrichtungen so dünn ist, dass jede Krankheit oder Schwangerschaft den Dienstplan durcheinanderwirft, etabliert sich auch im Kita-Sektor die Zeitarbeit. Lange waren Kita-Leitungen skeptisch, weil sie das Personal nicht kannten. „Heute können die sich so eine Haltung gar nicht mehr leisten“, sagt Maike Gotthusen, die vier Jahre als Zeitarbeiterin hinter sich hat. Gotthusen wollte sich nicht so eng an einen Träger binden. Immer wieder sah sie, wie viel Verantwortung man den jungen Leuten aus dem Freiwilligen Sozialen Jahr oder dem Bundesfreiwilligendienst übertrug, „viel mehr als gut war“. Wenn die Leitung ihre Bedenken nicht verstand, wechselte sie lieber die Kita als einfach danebenzustehen. „Im System ist der Wurm drin“, sagt Gotthusen. Man rackere sich ab, ohne die eigenen Qualitätsansprüche erfüllen zu können, das sei sehr frustrierend. Für Anfang November hat Schwesig einen Kita-Gipfel angekündigt. Dort wolle sie mit Ländern, Kommunen, Gewerkschaften und Trägern in „einen regelmäßigen Austausch zu Struktur- und Qualitätsfragen“ treten, wie sie sagt. Mit konkreten Maßnahmen sollten die Teilnehmer allerdings nicht rechnen. Die Länder wehren sich vehement gegen verbindliche Standards, sie fürchten die Kosten. Und Schwesig hat dem wenig entgegenzusetzen. Alles, was mehr Personal und bessere Qualifizierung angehe, werde man „mittelfristig“ betrachten, heißt es aus ihrer Ressortspitze, also eher in der nächsten Legislaturperiode. Zweifel an ihren Plänen hält Schwesig jedoch für unangebracht. Sie spricht von einem „wirksamen Paket für mehr und bessere Qualität in der Kindertagesbetreuung“. Außerdem, sagt sie, gehe sie davon aus, „dass weitere Länder dem guten Beispiel Niedersachsens folgen“. Das gute Beispiel hat gerade der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil geliefert: Das Geld, das er einspart, weil der Bund ab nächstem Jahr die BafögKosten übernimmt, will er den Kitas geben. Was Schwesig freut, hat Weil allerdings einen bösen Brief von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka eingehandelt. Darin ermahnt Wanka den Landeschef, die frei werdenden Mittel gefälligst für die Hochschulen einzusetzen, wie es verabredet war. Auch so kann man Politik betreiben: Man holt aus einer Tasche heraus, was man dann in die andere hineinsteckt. Ann-Katrin Müller
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Deutschland
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„Arroganz hat auch Vorteile“ SPIEGEL-Gespräch Der Ökopolitiker Jürgen Trittin über die Moralisierung von Politik, die Grünen als Verbotspartei und sein Image als eingebildeter Pinsel SPIEGEL: Herr Trittin, wir müssen zugeben,
wir vermissen Sie. Trittin: Eine Selbstbezichtigung von SPIEGEL-Redakteuren ist schon einmal ein guter Anfang. Aber nun bin ich ja bei Ihnen. SPIEGEL: Seit Sie weg sind, ist bei den Grünen eine furchtbare Harmlosigkeit ausgebrochen. Ihr Nachfolger Anton Hofreiter ist wegen seiner Haarpracht im Gespräch, von Katrin Göring-Eckardt weiß man vor allem, dass sie nett ist. Den größten Erfolg hatte in den vergangenen Wochen ein Video, in dem sich die Europaabgeordneten der Grünen wie Teenager begrüßen, die gerade bei einer Party eingelaufen sind. Trittin: Ich wusste, dass der Frieden mit Ihnen beiden schnell ein Ende haben würde. Aber gut. Die heute Verantwortlichen in meiner Partei sind in der schwierigen Situation, dass sie gegen eine Regierung Opposition machen müssen, die ziemlich genau das umsetzt, was sie vor der Wahl angekündigt hatte. Wir kennen das eigentlich
„Was Liberalität angeht, müssen wir uns vor keiner Partei in Deutschland verstecken.“ 20
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andersherum. Sowohl bei Merkel/Müntefering als auch bei Merkel/Westerwelle kam nach der Wahl das Gegenteil von dem, was vorher versprochen wurde. Da war es natürlich leichter, auf die Tonne zu hauen. SPIEGEL: Die Grünen sind offenbar in der glücklichen Situation, über eine Anhängerschaft zu verfügen, der es im Grunde egal ist, wer die Partei anführt. Trittin: Für Menschen, die links der Mitte wählen, sind traditionell eher Programme als Personen wichtig. Das ist für diejenigen, die als Spitzenkandidaten vorne stehen, keine schöne Botschaft, aber es ist so. Wir machen jetzt in Baden-Württemberg ein interessantes Experiment, indem wir dort demnächst einen Wahlkampf führen, der auf den grünen Ministerpräsidenten zugeschnitten ist. Das ist für uns ein Novum. SPIEGEL: Die Grünen haben bei der vergangenen Bundestagswahl zwar nicht glänzend abgeschnitten, aber 8,4 Prozent waren immer noch das drittbeste Ergebnis
ihrer Geschichte. Im Nachhinein wundert man sich über die tiefe Zerknirschung, die Ihre Partei anschließend erfasst hat. Trittin: Wir sind angetreten, um eine andere Regierung zu bilden. Wenn sich dann abzeichnet, dass es dazu nicht kommen wird, erlahmt schlagartig das Interesse. Wir hatten keine Machtoption, nirgends. Grüne werden heute nicht mehr gewählt, weil sie besonders gut Opposition können. Grüne werden gewählt, damit sich real etwas ändert. Als es drauf ankam, Stefan Mappus in Rente zu schicken, weil er unerträglich geworden war, oder David McAllister und die Hühnermafia in Niedersachsen abzusetzen, waren wir stark. Da gab es die reelle Chance auf Machtwechsel. SPIEGEL: Im Wahlkampf konnte man von führenden Grünen hören: Unsere Wähler sind so weit, dass sie ein Programm mittragen, dass sie finanziell belastet. Trittin: Das war im Einzelnen richtig, aber in der Summe falsch. Ich kann Ihnen auch den Punkt sagen, wo es kippte. Ein höherer Spitzensteuersatz war für die meisten noch okay. Das bleibt auch vernünftig, denn damit entlasten wir 90 Prozent der Steuerzahler. Aber die Abschaffung des Ehegattensplittings, das wollten viele nicht mehr mittragen. Das ging dann doch zu sehr gegen das eigene Lebensmodell, auch in der Göttinger Südstadt. SPIEGEL: Man könnte auch sagen: Der Wahlkampf zeigte die ganze Arroganz der Grünen, die glaubten, sie seien dem Gegner moralisch überlegen. Trittin: Überhaupt nicht. Was stimmt: Die Motive für die Wahl der Grünen sind andere als für die Wahl der FDP. Die Wertung, was besser oder schlechter ist, überlasse ich Ihnen. Im FDP-Milieu gilt ein höherer Verdienst als Ausweis einer höheren Leistung. Wer weniger hat, wird der Minderleistung verdächtigt. Leute, die freiwillig einer Reduzierung ihres Nettoeinkommens zustimmen, gelten da als bescheuert. Das ist eine andere Morallogik als die grüner Wähler. SPIEGEL: Viele Ihrer Parteifreunde verlangen, die Grünen sollten das Erbe der Liberalen antreten. Was halten Sie davon? Trittin: Man muss bei solchen Diskussionen höllisch aufen, welche Fragen man lostritt. Wenn ich sage, wir sind die neue liberale Partei, überlegen sich die Leute: War da nicht die FDP? Insofern freut sich Herr Lindner jedes Mal, wenn er hört, dass sich die Grünen als Nachfolger anbieten. Und die zweite Frage der Wähler ist: Wieso
FOTOS: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
neu? Ich dachte, ihr seid Bürgerrechtler, stimmt das gar nicht? Was die Liberalität angeht, müssen wir uns vor keiner Partei in Deutschland verstecken. Mittlerweile finden es alle gut, dass die Grünen für mehr Freiheit und Durchzug in dieser Gesellschaft gesorgt haben. Aber das ist in einem langen Kulturkampf gegen rechts durchgesetzt worden. SPIEGEL: Wenn keine Partei mehr für die individuellen Freiheitsrechte in Deutschland getan hat als die Grünen, wie Sie sagen: Was ist iert, dass auch bei Ihnen viele Leute der Meinung sind, die Partei müsse weg von ihrem Image als Verbotspartei? Trittin: Der Fehler ist: Wir wollen etwas ändern, was wir als schädlich erkannt haben. Aber anstatt die Produktion anzugehen, versuchen wir es über den Konsum. Nehmen Sie den berühmten Veggie-Day. Eigentlich wäre es ganz einfach: Wir ändern das Baurecht so, dass man bestimmte Ställe nicht mehr bauen kann. Wir streichen den Tierhaltern die Subventionen, wir sorgen dafür, dass der Arzt die Medikamente, die er verschreibt, nicht selber verkaufen darf. Drei Maßnahmen, die sofort zu einer Einschränkung der klima- und gesundheitsschädlichen Fleischproduktion beitragen würden. Das wäre viel besser, als auf die Erzeuger einzuwirken, indem wir ihnen die Nachfrage wegnehmen. SPIEGEL: Wer den Anspruch hat, die Gesellschaft in eine friedliche, ökologische Zukunft zu führen, kann nicht darauf warten, dass die Bürger irgendwann aus innerer Einsicht handeln. Warum stehen Sie nicht einfach zu dem Verbotsimage? Trittin: Natürlich will man als Grüner in der Regierung umsetzen, was man vorher gefordert hat. Doch die subkutane Botschaft an die Anhänger: „Wir wollen Vorbild sein und die Welt durch unser Beispiel verbessern“ – die nervt. Ich erinnere mich im Zusammenhang mit der Debatte um den Veggie-Day an ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Wenn es kein Fleisch mehr gibt, ess ich Vegetarier“. Ich fand das lustig. SPIEGEL: Vielleicht haben Sie einfach zu viele Lehrer und Sozialpädagogen in Ihrer Partei. Trittin: Ob ein Überhang an Juristen oder Betriebswirten vorteilhafter ist, darüber kann man streiten. SPIEGEL: Christian Lindner hat auf Veranstaltungen seine größten Erfolge, wenn er einfach mal aufzählt, was Grüne gern abschaffen würden, angefangen von den Heizpilzen und dem Ponyreiten auf öffentlichen Festen. Trittin: Und dann klatschen sie bei der FDP in die Hände und fliegen anschließend aus dem Bundestag raus. Dieser Diskurs hat in der grünen Klientel außerordentlich bescheidene Wirkung erzielt. Was auf der einen Seite die Leute in Aufregung versetzt, kann auf der anderen völlig verpuffen.
„Ich musste mich daran gewöhnen, mehr abzukriegen als andere.“
SPIEGEL: Die Moralisierung von Politik war
immer ein Markenzeichen der Grünen. Mit jedem neuen Fahrradweg steht gleich das Weltklima zur Diskussion. Das wollen Sie jetzt ändern? Trittin: Es gibt kein politisches Engagement, das nicht mit der Feststellung eines Missstandes beginnt. Der Klimawandel ist eine unglaubliche Ungerechtigkeit gegenüber ärmeren Ländern. Und natürlich ist es nicht hinnehmbar, wenn einige Menschen ungeheuer reich werden und ganz viele von weniger als zwei Dollar am Tag leben müssen. Der politische Kampf zielt auf die Etablierung neuer Normen – Normen sind, wenn man so will, kodifizierte gesellschaftliche Moral. Die Frage ist nur, ob ich diejenigen, die sich nicht dran halten, dann auch noch moralisch verdammen muss. SPIEGEL: Die extreme moralische Aufladung der Politik, wie sie die Grünen gerade in ihren Anfangsjahren betrieben haben, ist Ihrer Meinung nach ein Fehler? Trittin: Nein, die war zu einem bestimmten Zeitpunkt, als wir gegen alle anderen Parteien standen, unerlässlich. Die anderen waren der Meinung, dass man 49 Atomkraftwerke in Deutschland bauen sollte. Alle anderen waren auch der Auffassung, dass es kompletter Blödsinn ist, wenn Frauen an politischen Entscheidungen genauso beteiligt werden wie Männer. Wenn Sie gegen einen solch breiten Konsens an-
laufen, dann müssen Sie schon sehr tiefreichende Werte haben. SPIEGEL: Während die Deutschen am Ende ihren Frieden mit Joschka Fischer gemacht hatten, sind Sie Ihr Image als kluger, aber arroganter Pinsel nie losgeworden. Hat Ihnen dieses Image im Nachhinein eher geschadet oder genutzt? Trittin: Ich glaube, alles in allem hat es eher genutzt. Wenn es um die Durchsetzung von Inhalten geht, wird von einem erwartet, dass man jemand ist, der sich nicht verbiegen lässt. So gesehen hat die einem zugeschriebene Arroganz auch Vorteile. SPIEGEL: Gab es auch einen Nachteil? Trittin: Ich musste mich daran gewöhnen, für bestimmte Dinge mehr abzukriegen als andere. Das ist dann aber die logische Konsequenz. SPIEGEL: Katrin Göring-Eckardt hat mal über Sie gesagt: „Außen warst du Darth Vader, innen aber Mutter Teresa.“ Also offenbar gibt es eine zweite Seite. Trittin: Die gibt es doch immer. Sie bekommen als Umweltminister nicht 190 Staaten dahin, ein Klimaprotokoll zu unterschreiben, indem Sie Leute ständig vor den Kopf stoßen. Da bedarf es noch anderer Fähigkeiten. SPIEGEL: Sie haben immer etwas genervt reagiert, wenn Sie auf Ihre Vergangenheit als Mitglied des Kommunistischen Bundes angesprochen wurden. Aber sagt es nicht etwas über einen Politiker aus, wenn er in seinem Leben Mitglied einer Sekte war? DER SPIEGEL 31 / 2014
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Deutschland
Trittin: Ich finde nicht, dass ich auf Nach-
Trittin, SPIEGEL-Redakteure* „Eine Selbstbezichtigung ist ein guter Anfang“
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„Man schmunzelt über manche Dinge wie Boykott-Aufkleber, die einen selber geprägt haben.“ Trittin: Dann wäre ich nicht hingegangen. Ich gehe in Sondierungen, um dort ernsthaft zu verhandeln, alles andere wäre schlechter Stil. Regieren ist aber kein Selbstzweck. Es ist einfach falsch, wenn die CDU nachträglich behauptet, die Gespräche seien an den Grünen gescheitert. Wer mit den Grünen koalieren will und parallel im Auftrag von BMW und Daimler den Klimaschutz im Verkehrsbereich killt, der setzt ein klares Signal. Angela Merkel wollte nicht, Punkt. SPIEGEL: Wäre Ihre Partei schon weit genug für ein Bündnis mit der Union gewesen? Trittin: Es geht einzig und allein um den politischen Preis. Wenn unsere Kernforderungen erfüllt worden wären, dann hätte die Partei springen müssen, und sie wäre auch gesprungen. SPIEGEL: Würden Sie sich noch einmal an einer Regierung beteiligen wollen? Trittin: Ich habe letzten Herbst für mich die Entscheidung getroffen, dass ich für 2017 nicht noch einmal als Spitzenkandidat antrete, ansonsten mache ich hier erst einmal meinen Job im Bundestag. SPIEGEL: Sie sind am Freitag 60 Jahre alt geworden. Wie sehr geht einem eigentlich irgendwann der Protestkitsch auf die Nerven? Trittin: Man schmunzelt über manche Dinge wie Boykott-Aufkleber, die einen ja auch selber geprägt haben. Auf der anderen Seite weiß ich, dass politische Bewegungen * Jan Fleischhauer und René Pfister im SPIEGEL-Hauptstadtbüro.
anders nicht entstehen können. Es braucht dazu Menschen, die in tiefer Überzeugung, und manchmal auch mit Irrtümern behaftet, auf die Straße gehen. Das wird immer so bleiben. SPIEGEL: Als Sie 2001 als Umweltminister für die Castor-Transporte nach Gorleben verantwortlich waren, schrieben Sie den Demonstranten im Wendland: „Nur weil jemand seinen Hintern auf die Straße setzt, finden wir das noch nicht richtig.“ Ein wunderbarer Satz. Trittin: Trotzdem war dieser Brief falsch. Weil man als Minister an Bürgerinitiativen keine Briefe schreibt, als würde man noch im Asta sitzen. Deswegen hängt mir dieses Zitat bis heute nach. SPIEGEL: Manche glauben jetzt, dass sich die Welt schon ändert, wenn man anders über sie spricht. Neben Glühbirnen-Verbot und dem Ende der Atomkraft ist ein unbestreitbarer Erfolg der Grünen, dass wir an der Uni von Studierenden statt Studenten reden. Trittin: Es bilden sich in jeder Partei bestimmte Kulturen heraus, die man respektieren sollte. Ich habe in meinem Wahlkreis 30 000 Studierende, da spricht man die Menschen so an, wie sie angesprochen werden möchten. Die Formulierung „Studentinnen und Studenten“ ist noch umständlicher. Außerdem haben wir in unserem Gespräch ja festgestellt, dass es das Richtige und das Falsche nicht gibt. SPIEGEL: Herr Trittin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
FOTOS: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
fragen besonders genervt reagiert hätte. Ich fand nur bemerkenswert, dass der Umstand, dass ich für einige Jahre Mitglied beim KB war, immer eine weitaus größere Rolle gespielt hat als die Tatsache, dass ich als Student ein bekennender Rechtsbrecher war. Ich habe mich in Göttingen polizeibekannt an Hausbesetzungen beteiligt. SPIEGEL: Das ist für einen Grünen kein wirkliches Alleinstellungsmerkmal. Die Frage ist eher, ob man nicht aus seinem Engagement bei einer marxistischen Splittergruppe eine bestimmte Weltsicht mitnimmt? Trittin: Natürlich nehmen Sie aus allem eine bestimmte Weltsicht mit, aber Sie können diese auch korrigieren, manchmal müssen Sie das sogar. Wir haben beim KB damals ernsthaft geglaubt, dass sich das Land immer weiter autoritär zuspitzen werde, wir nannten das die Faschisierung von Staat und Gesellschaft. Interessanterweise ist das Gegenteil eingetreten, da haben wir also grausam unrecht gehabt. Dass wir Grünen diese Gesellschaft freier, offener und toleranter gemacht haben, ist das Dementi dieser Theorie durch die eigene Praxis. SPIEGEL: Möglicherweise ist Ihr großer Traum, Vizekanzler zu werden, daran gescheitert, dass Sie im Herzen immer noch ein bisschen KBler sind. Wer in seiner Jugend überzeugt war, dass Deutschland sich unter Führung der CDU in Richtung Faschismus entwickelt, kann dem Bösen nicht plötzlich die Hand reichen. Trittin: Die CDU ist schwarz, aber nicht böse. Ich kann Ihnen versichern, wir haben sehr ernsthaft sondiert. Die Gespräche sind gescheitert, weil es bei der Energiepolitik nie ein ernsthaftes Angebot gab. Alles, was von uns gefordert wurde, hat Sigmar Gabriel unterboten. In diesem Discountwettbewerb konnten wir nicht mithalten. Und es ist gescheitert, weil am Ende Herr Schäuble verkündete, für Investitionen gebe es insgesamt zwölf Milliarden, und davon seien schon zweimal sechs für die Mütterrente weg. Mit anderen Worten: Es gab weder Geld für Klimaschutz, noch gab es Geld für Bildung. SPIEGEL: Es heißt, Sie hätten Schwarz-Grün von Anfang an nicht gewollt.
Deutschland
„Wir löschen das Feuer“ Proteste Nach mehr als hundert Demonstrationen beginnt die Aufarbeitung der Hasswelle auf deutschen Straßen. Aus welchen Quellen speist sich der neue Antisemitismus?
N
eulich im Kinderfernsehen: Eine und ohne Migrationshintergrund – nach am Brandenburger Tor in Berlin („SchlachBiene namens Nahul hat es sich in den tieferen Gründen für die aggressive tet die Juden ab!“). Oder in Aachen, Breeinem Sessel bequem gemacht und Stimmung, wie sie auf der Frankfurter Zeil men, Kassel, Leipzig, Stuttgart und vielen telefoniert mit einem kleinen Jungen. Stoff- zu erleben war („Stop the Holocaust“). anderen Städten. Die Parolen schockieren eine Geselltiere und knallbunte Kulissen sorgen für eine Oder im Stadtzentrum von Gelsenkirchen Atmosphäre wie bei einer Geburtstagsfeier. („Hamas! Hamas! Juden ins Gas!“). Oder schaft, die eigentlich den Antisemitismus bekämpfen will und sich damit „Sag, mein Freund: Sind Juden rühmt, bei der Integration von in deiner Nähe?“ Einwanderern zuletzt Fortschrit„Nein, im Moment nicht.“ te gemacht zu haben. Nun sieht „Wenn sie kommen: schlag sie. es so aus, als rissen alte Gräben Mach ihr Gesicht rot wie eine wieder auf. Eines der schwieTomate.“ rigsten Themen der deutschen Dann wendet sich die Person Geschichte gewinnt neue Aktuaim knuffig schwarz-gelben Bielität, und das gefährdet den Zunenkostüm einer jungen Modesammenhalt vor allem in vielen ratorin und einem etwa fünfjähGroßstädten, wo fast die Hälfte rigen Kind im Studio zu, das Polialler Grundschüler aus Migranzist werden will wie sein Onkel. tenfamilien stammt. „Was macht ein Polizist?“, Die Verunsicherung ist groß, fragt die in. auf allen Seiten. In den jüdi„Er fängt Diebe“, erklärt schen Gemeinden, die als Erste Nahul, die Biene. Alarm schlugen und sich allein„Und er erschießt Juden. gelassen fühlten. Bei der Polizei, Willst du wie er sein?“, sagt die die sich schwertat, eine angemesin. sene Antwort auf die menschen„Ja“, antwortet das Mädchen, verachtenden Parolen zu finden. „damit ich Juden erschießen Beim obersten Repräsentanten kann.“ des Staates, Bundespräsident „Gut.“ Joachim Gauck, der die AusDie arabischsprachige Senschreitungen scharf verurteilte. dung war überall in Deutschland Und natürlich bei zahlreichen mit einer Satellitenschüssel zu Migranten, die nicht als judenempfangen, dazu im Internet, feindlich gelten wollen, nur weil produziert von Al-Aqsa-TV, dem sie gegen das Leid der Menschen Fernsehsender der Hamas mit in Gaza demonstrieren. seinem antiisraelischen Angebot Zwei Aufgaben sind nun zu für alle Altersgruppen, anzuselösen. Kurzfristig geht es darum, hen von Gaza bis Gelsenkirchen. die antijüdischen Parolen und Solche Programme tragen Aktionen in den Fußgängerzozweifellos zur Radikalisierung nen zu unterbinden. Es gilt, daim Nahen Osten bei. Aber welfür zu sorgen, dass vermeintlich chen Effekt haben sie auf Menjüdisch geführte Imbissketten schen, die weit entfernt vom Krinicht gestürmt werden, wie es sengebiet in den Migrantenvierin Nürnberg geschah. Es muss teln europäischer Städte leben? verhindert werden, dass auch Aus welchen Quellen speist sich hierzulande israelische Fußballder neue, lautstarke Antisemitismannschaften – wie in Östermus auf deutschen Straßen? Wie reich – attackiert werden. Wer weit verbreitet sind antijüdische Hass schürt, muss zur VerantRessentiments in den arabischwortung gezogen werden. und türkischstämmigen BevölkeUnd dann steht, auf längere rungsgruppen? Sicht, eine Auseinandersetzung Erst viele Tage nach Beginn mit den tieferen Ursachen der der israelischen Bodenoffensive neuen Antisemitismus-Welle an. im Gaza-Streifen startet hierzuFür manche Demonstranten lande die Aufarbeitung eines aus „lässt sich die Hoffnungslosigkeit dem Nahostkrieg abgeleiteten der eigenen Situation in der AusKonflikts. Erschrocken und irriweglosigkeit der ewigen Getiert suchen viele Deutsche – mit Arabischsprachige Kindersendung: Von Gaza bis Gelsenkirchen 24
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waltspirale in Nahost gut spiegeln“, schreibt Raed Saleh, ein gebürtiger Palästinenser, der im Berliner Abgeordnetenhaus die SPD-Fraktion führt (siehe Seite 28). Offenbar war kaum jemand auf das Ausmaß und die Schärfe der antiisraelischen Proteste vorbereitet. Am vergangenen Dienstag, anderthalb Wochen nach Beginn der Demonstrationen, warnte das Bundesinnenministerium dann vor möglichen Konsequenzen: „Aufgrund der eingetretenen Eskalation ist temporär von einer Gefährdungserhöhung von israelischen Ein-
Die Demonstrationsteilnehmer, vorwieund erfordert das Eingreifen. Lediglich als Beleidigung dagegen verstand beispiels- gend Frauen und Kinder palästinensischer weise die Berliner Polizei bis vor Kurzem Herkunft, hielten sich an die Auflagen – den Spruch „Jude, Jude, feiges Schwein, und wählten einfach andere Schlachtrufe: komm heraus und kämpf allein“. In diesem „Zionisten sind Faschisten, töten Kinder Fall muss erst ein Betroffener einen Straf- und Zivilisten.“ Desinteressiert, verstört oder sprachlos, antrag stellen, bevor die Ordnungshüter aktiv werden. „Kindermörder Israel“ wie- so reagierten deutsche Politiker zunächst derum geht häufig als zulässige Meinungs- auf die anschwellende Protestwelle. „Mehr Solidarität aus der deutschen, nichtjüdiäußerung durch. Zwar kann die Polizei bei antisemiti- schen Gesellschaft wäre natürlich sehr schen Parolen auch außerhalb des Straf- schön und mehr als angebracht“, schrieb rechts eingreifen, doch offenbar fehlte da- der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, am vorigen Montag erfür zunächst das Gespür. nüchtert an seine Gemeinden: „Lassen wir uns nicht beirren und nicht entmutigen.“ Es war ein Weckruf: Erst danach meldeten sich der Bundespräsident und die KanzleTagelang berieten Staatsanwälte und rin zu Wort. Keine Äußerung zum Thema gab es Einsatzleiter über neue Regeln – und setzten diese dann im Demonstrationsalltag dagegen von Aydan Özoguz (SPD). Dabei um. So etwa bei einem Protestzug von wäre die Integrationsbeauftragte der Bun350 Israel-Kritikern am vorigen Dienstag desregierung durch ihr Amt und ihre Herim Zentrum von Berlin, wo die Versamm- kunft prädestiniert, in die Migranten-Comlungsleiterin zu Beginn laut ins Mikrofon munity mäßigend hineinzuwirken. Zurief, welche Sprüche ab sofort behördlich gleich könnte sie in der Öffentlichkeit um verboten seien: „Untersagt ist insbeson- Verständnis für die Sorgen und die Wut dere das Rufen der Parolen ,Tod Israel‘ be- vieler Zuwanderer angesichts der Bodenziehungsweise ,Tod den Israelis‘.“ Auch offensive in Gaza zu werben. Doch die Staatsministerin befand sich die „Schweine“-Parole, trug die Anführeim Urlaub. Stattdessen meldete sich am rin vor, sei nicht mehr erlaubt.
„Mehr Solidarität aus der deutschen, nichtjüdischen Gesellschaft wäre natürlich sehr schön.“ richtungen und Interessen in Deutschland auszugehen“, hieß es in einer internen Lagebewertung. Die größte Sorge der Sicherheitsbehörden gilt potenziellen Einzeltätern oder kleineren Gruppierungen, die, aufgestachelt von der Hasspropaganda auf der Straße oder im Internet, ein Fanal setzen könnten. Aus diesem Grund wurde der ohnehin weitreichende Schutz israelischer Einrichtungen in Deutschland in der vergangenen Woche noch einmal verstärkt. Immerhin: Anzeichen für eine sogenannte Querfront, also eine strategische Allianz verschiedener Verfassungsfeinde, sehen die Behörden derzeit nicht – auch wenn vereinzelt Rechtsextremisten im selben Pulk wie Linksautonome oder militante Muslime gegen Israel marschierten. Umdenken musste vor allem die Polizei, nachdem bei mehreren Protestzügen die Lage außer Kontrolle geraten war. Zum Beispiel in Essen, wo im Anschluss an eine vom Jugendverband der Linken organisierten Demonstration mit mehr als tausend Teilnehmern Parolen wie „Tod den Juden“ skandiert wurden. Warum griffen die Beamten nicht ein? Weil sie es nicht gehört hätten, sagt Arnold Plickert, der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Nordrhein-Westfalen: „Die Kollegen tragen Helme, da läuft Funkverkehr. Sie haben nichts mitbekommen. Das ist bedauerlich, aber lässt sich nicht vermeiden.“ Zahlreiche Polizisten hätten überdies Probleme mit der rechtlichen Bewertung von Protestaktionen, sagt Plickert: „Kein Mensch versteht, warum das Verbrennen einer deutschen Flagge eine Straftat ist, das Abfackeln einer israelischen Fahne aber nicht, es sei denn, sie hängt am Fahnenmast vor einem offiziellen Gebäude.“ Schwierig ist es für die Beamten außerdem, bei jeder Parole abzuschätzen, ob es sich um Volksverhetzung, Beleidigung oder eine freie Meinungsäußerung handelt. Einfach ist es bei Rufen wie „Juden ins Gas“: Das ist als Volksverhetzung strafbar DER SPIEGEL 31 / 2014
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vergangenen Mittwoch ihr Bruder Yavuz wenig später zwar selbst einen frühen Se- schem Vater und deutscher Mutter ist VorÖzoguz, der mit seinem Bruder Gürhan rientod als „Märtyrer“. Inzwischen setzt standsmitglied in der Kreuzberger Initiaeine islamistische Plattform betreibt, mit Nahul, die Biene, ihren Kampf gegen Israel tive gegen Antisemitismus. Seit zehn Jaheinem offenen Brief an Bundesinnenmi- fort. ren setzt sich der Verein dafür ein, VorurJunge Berliner, Hamburger oder Frank- teile über Israel und die Juden abzubauen. nister Thomas de Maizière (CDU) zu Wort. „Abschließend drücke ich Ihnen furter mit Migrationshintergrund erleben Kassar und ihre Kollegen haben Schulen meine Verachtung auch dafür aus, dass Sie damit regelmäßig zwei Wirklichkeiten, besucht und sind mit Berliner Jugendgrupin der Arroganz der Macht offensichtlich zwei grundverschiedene Sichtweisen auf pen nach Israel gereist. Zeitweise arbeitejedes Mitgefühl für Menschen verloren ha- den Dauerkonflikt im Nahen Osten: ten acht Leute in dem Verein. Doch Ende Freunde und Verwandte, die selbst aus vergangenen Jahres liefen die Mittel des ben“, schrieb er an den Minister. Muslime wagten kaum noch öffentliche Palästina geflohen sind, schildern die Lage Bundesfamilienministeriums für zwei Kritik an Israel, agitierte Yavuz Özoguz, in der Heimat in düsteren Bildern. Dazu Großprojekte aus. Seitdem musste der „weil Machthaber wie Sie die Meinungs- kommen die Fernsehsender und Videos im Vorstand alle Festangestellten entlassen. freiheit in diesem Land im Sinn eines Internet, Diskussionen in sozialen NetzAm Donnerstag streifte Kassar, 33, radikal-zionistischen Gedankenguts ein- werken – und auf der anderen Seite die durch ihre leeren Büros in der Berliner Sichtweise in deutschen Medien. Wer die Oranienstraße, vorbei an Auszeichnungen schränken“. Die Staatsministerin habe sich wieder- vermeintlich höhere Glaubwürdigkeit be- und Kartons mit Infobroschüren, die nicht holt öffentlich von der Arbeit und Mei- sitzt, ist mitunter schnell entschieden. „Wie mehr verschickt werden können. „Hier“, nung ihrer Brüder distansagte die Islamwissenziert, sagte ihre Sprecherin schaftlerin und zog eine am Freitag und lieferte auf Schublade auf: „Das sind Nachfrage eine Stellungdie Unterlagen für ein nahme der IntegrationsbePlanspiel zur Gründung auftragten nach: „Antisedes Staates Israel.“ Danemitismus hat in Deutschben lagen Lehrmaterialien land keinen Platz. Klar ist, über den Nahostkonflikt dass sich der Israel-Gazaund das jüdische Leben in Konflikt nicht mit Gewalt Berlin-Kreuzberg. Aus ihlösen lässt.“ rer Sicht führt grade die Wieso aber führt der mangelnde Bildung zum Nahostkrieg zu teils volksverzerrten Bild des Nahverhetzenden Protestmärostkonflikts unter vielen schen? Jugendlichen. „Es ist trauAn allzu großer Präsenz rig, dass die Sachen jetzt der Judenfeinde im Alltag in den Schränken liegen kann es nicht liegen. Die bleiben“, sagte Yasmin Hamas zum Beispiel verKassar, „hier ist kein Lefüge über 300 Anhänger, ben mehr.“ „die allerdings selten ofZurzeit sind Schulferien fen auftreten“, heißt es im in Berlin. Andernfalls stünAnti-Israel-Protest in Frankfurt am Main: Erfolgreiche Propaganda Bericht „Antisemitismus de das Telefon in dem Verin Deutschland“, den das Bundesinnen- viel Prozent Wahrheit steckt in den Me- ein nicht mehr still, meint Kassar. Jedes ministerium im Jahr 2011 veröffentlicht dien?“, fragte vor wenigen Tagen der Mal, wenn sich die Lage im Nahen Osten Interviewer eines YouTube-Kanals einen zuspitze, riefen verzweifelte Lehrer an, hatte. Trotzdem gelingt es den Islamisten of- Gaza-Demonstranten in Hannover. „Null die nicht wüssten, wie sie mit antisemitifenkundig mit großem Erfolg, ihre Propa- Prozent. Nee, sagen wir mal ein Prozent“, schen Sprüchen in ihrer Klasse umgehen sollten. Die Mitarbeiter der Initiative fuhganda auch in Deutschland zu verbreiten. lautete die Antwort des jungen Mannes. Zu den Bildern aus Gaza gesellt sich ren dann zu den Schulen und redeten mit 24 Stunden am Tag liefern insbesondere Al-Manar, die TV-Station der libanesi- gerade bei manchen Einwanderern das den Jugendlichen. „Bei uns sagten wir schen Hisbollah, und das Hamas-Pro- Gefühl, in Deutschland ebenfalls ein Opfer dann immer: Wir löschen das Feuer.“ Kassar hat mittlerweile einen anderen gramm Al-Aqsa Dauerberichte über den zu sein: „Sie solidarisieren sich mit dem Schicksal der Palästinenser, die sie aus- Job angenommen, sie arbeitet als Sozialisraelisch-palästinensischen Konflikt. „Die einschlägigen Programminhalte schließlich als Opfer israelischer Politik pädagogin an einer Kreuzberger Schule. sorgen dafür, dass selbst in der zweiten wahrnehmen“, heißt es in der Studie des Noch hat sie Hoffnung, dass ihr Verein wieder auflebt. Ab 2015 stellt der Bund und dritten Einwanderergeneration anti- Innenministeriums. Gut hundert Demonstrationen wurden frisches Geld für Initiativen gegen Extresemitische Einstellungen befördert werden und sich ein ,Feindbild von Israel‘ verfes- in Deutschland seit Beginn des jüngsten mismus zur Verfügung. Vor wenigen Tagen tigt“, heißt es im Antisemitismus-Bericht Konflikts gezählt. Weitere werden folgen. hat der Vorstand beschlossen, sich erneut des Bundesinnenministeriums, der von ei- Doch wenn die TV-Nachrichten über die zu bewerben. „Wir können doch nicht aufnem unabhängigen Expertenrat verfasst Gaza-Offensive seltener werden, wenn ein geben“, sagt Yasmin Kassar. Waffenstillstand die Lage in Israel beruhigt, wurde. Sven Becker, Dietmar Hipp, Frank Hornig, Jörg Schindler, Barbara Schmid Immer wieder gehören auch Kleinkin- dürften auch die Proteste in der Bundesreder zur Zielgruppe. 2007 rief etwa eine publik abflauen. Und dann? Was kann die Video: Antisemitismus auf Micky-Maus-ähnliche Figur in der Serie Gesellschaft langfristig gegen antisemitideutschen Straßen „Ruwwad al-ghad“ („Pioniere von mor- sche Ressentiments tun? Yasmin Kassar kann darauf kluge Antgen“) blutrünstige Slogans aus: „Wir werspiegel.de/app312014israel oder in der App DER SPIEGEL den die Juden vernichten.“ Die Maus starb worten geben. Die Berlinerin mit syri26
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FOTO: HONESTLY CONCERNED
Deutschland
Ein Freiraum für Kritik Eine linke Minderheit Berliner Israelis spricht sich offen gegen Netanjahus Gaza-Offensive aus.
FOTO: ESPEN EICHHÖFER / DER SPIEGEL
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fri Ilany war gerade auf dem Heim- an einer Gaza-Solidaritätsdemonstration der politischen Lage vermisst Ilany seine weg zu seiner Wohnung in Berlin- in Berlin-Mitte teilgenommen. In der Heimat. „Ja, ich kritisiere viele Aspekte Kreuzberg, da vibrierte das Smartphone Facebook-Gruppe der Israelis in Berlin der israelischen Kultur“, sagt er, „aber des Israeli: eine Warnung vor Hamas- löste die Ankündigung, dass Landsleute ich bin immer noch mit ihr verbunden. Raketen auf Tel Aviv. Auf Facebook las eine Gaza-Solidaritätsdemo mitorgani- Ich bin ein Produkt Israels.“ Wie viele Israelis geht Ilany gern zu er, dass seine Freunde in Luftschutz- sieren, einen Schlagabtausch aus. Nicht bunker flüchteten. Dann hörte der 35- wenige Nutzer legten den Organisatoren einem Imbiss in der Neuköllner SonnenJährige einen Knall, dann noch einen. nahe, doch „gleich in den Gaza-Streifen allee. Im „Azzam“ wird Hummus serviert, fast wie zu Hause. Der Besitzer Es dauerte einen Moment, bis er begriff, zu gehen“. Ilany demonstrierte trotzdem. Er und ist Palästinenser, sein Lokal war noch dass nicht Hamas-Raketen den Lärm verursachten, sondern Böller deutscher seine Mitstreiter trugen Transparente, nie frei von Politik, aber jetzt drehen Fußballfans. Deutschland hatte bei der auf denen stand: „Nicht in meinem Na- sich die Gespräche nur um die Raketen, Weltmeisterschaft gerade das 5:0 gegen men“ und „Wir weigern uns, Feinde zu den von der Hamas verschleppten sein“. Am Hackeschen Markt hielten alle Soldaten, die Tunnel. Die Stimmung Brasilien geschossen. habe sich verändert, sagt Wie Ilany kamen in Ilany. den vergangenen Jahren Tausende junge Israelis Dana Rothschild, Stuins hippe Berlin: Wissendentin der jüdischen Reschaftler und Studenten, ligionsphilosophie in PotsKünstler und Musiker, ITdam, kommt noch immer Entwickler und Untergern ins Azzam. Die 35nehmer. Ihre Großeltern jährige Israelin, die vor hatten deutsche Konzenzwei Jahren nach Neutrationslager überlebt und kölln zog, war eine der boykottierten deutsche Organisatorinnen der SoProdukte. lidaritätsdemo für Gaza. Sie, die NachgeboreSie sagt: „Ich bin gegen nen, sahen die Kunstszedie Angriffe auf Gaza ne, die Start-ups, die und auch gegen die Hagünstigen Mieten. Und in mas. Das ist eine terrorisBerlin schien ein Leben tische Organisation.“ Die möglich, das in Tel Aviv israelische Regierung wolniemand führen kann: le mit den militärischen ohne heulende Sirenen, Aktionen von innenpoliohne bewaffnete Sichertischen Problemen ablenheitsleute, ohne Panik ken. Sie habe Tel Aviv Regierungskritiker Ilany: „Ich bin ein Produkt Israels“ beim Anblick herrenloverlassen, weil sie sich sen Gepäcks. Ein Leben, das nicht stän- Demonstranten Blätter mit Namen ge- das Leben dort trotz Vollzeitjob nicht töteter Palästinenser hoch. dig von Angst begleitet ist. mehr leisten konnte. Mieten und ImmoSolche Proteste wären in Israel im Mo- bilienpreise sind in den letzten Jahren Doch mit jeder Eskalation in Nahost wird klar: Die Krise holt die Menschen ment kaum vorstellbar, sagt Ilany. Das explodiert. Die Siedlungspolitik der Reein, die Konflikte der Heimat sind mit- erzählten ihm jedenfalls seine Freunde. gierung sei für die Misere der israelischen gezogen. Das zeigt sich in der Sorge um In Haifa und selbst im liberalen Tel Aviv Mittelschicht verantwortlich, glaubt Rothdie Freunde und Familien in Israel, aber haben regierungsnahe rechte Schläger schild. Die Steuern gingen in die besetzauch bei den Gaza-Demonstrationen in linke Demonstranten angegriffen. Regie- ten Gebiete, der Rest des Landes leide. deutschen Städten, auf denen Protestler rungskritiker würden in Israel im MoAuch Etay Naor, 33, demonstrierte in ment bedroht und geschmäht. In Berlin, Berlin-Mitte. In Israel hatte sich der Werantisemitische Slogans brüllen. Die meisten im Ausland lebenden Is- sagt Ilany, gebe es für ihn und andere ei- betexter für Hadasch engagiert, ein linraelis diskutieren nicht gern über Politik, nen sicheren Raum für Kritik, der in sei- kes jüdisch-arabisches Bündnis mit vier viele sind ja gerade weggegangen, um ner Heimat zunehmend verloren gehe. Sitzen in der Knesset. Heute lebt Naor nicht jeden Tag zu erleben, wie politi- Er sagt, er fühle sich von rechter Gewalt in Neukölln und fordert eine entschlossche Fragen den Alltag bestimmen. Die in Israel mehr bedroht als von muslimi- sene Bekämpfung jeglichen AntisemitisAnsichten der Berliner Israelis sind so schem Antisemitismus in Europa – vor- mus. Er sagt aber auch, dass er in Israel vielfältig wie ihr Hintergrund, trotzdem gehen müsse man gegen beides. für seine Haltung „schon mal mit Eiern Ilany hat über Bibelforschung in der beworfen und angespuckt wurde“, die steht eine Mehrheit hinter der Regierung, auch in der Kriegsfrage. In Israel unter- deutschen Aufklärung promoviert und Gewalt gegen Leute mit seiner Einstelstützen laut Umfragen sogar zwischen ist seit einem Jahr Postdoktorand an der lung habe seitdem noch zugenommen. 80 und 90 Prozent der Bevölkerung die Humboldt-Universität. Wenn sein Ver- Israel könne „sehr deprimierend sein, trag ausläuft, kehrt er wohl zurück, auch wenn man ein Linker ist“, sagt Naor. Operation „Fels in der Brandung“. Ofri Ilany gehört zu jenen, die ein wenn seine Berliner Freunde davon abVor vier Jahren zog er nach Berlin, Ende des Einsatzes im Gaza-Streifen raten. „Die witzeln dann: ,Zurück nach um eine Pause von Israel zu machen. Er fordern. Am 16. Juli hat der Historiker Israel? Das ist doch Hardcore.‘“ Trotz will noch bleiben. Pavel Lokshin DER SPIEGEL 31 / 2014
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Deutschland
Hausaufgaben statt Hass Essay Warum wir Antisemitismus nur mit aktiver Integrationspolitik bekämpfen können Von Raed Saleh geordnetenhaus. Er wurde 1977 im Westjordanland geboren, als Fünfjähriger zog er mit seiner Familie nach Berlin.
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ieser Sommer erweist sich als neuer Test dafür, wie wir Deutschen uns sehen, wer zu uns gehört und was wir lieber ausblenden würden. Vor zwei Wochen wurden wir Fußballweltmeister – und feierten auch uns selbst: das weltoffene, tolerante, erfolgreiche Deutschland, das alle einlädt, Teil davon zu sein. Vielleicht waren manche auf Jérôme Boateng und Mesut Özil sogar besonders stolz – als Vorbilder für gelungene Integration. Die hässlichen Szenen auf den Gaza-Demonstrationen würden wir dagegen gern verdrängen, als ob es sich dabei nur um Ausläufer eines weit entfernten Konflikts handelte und dieser Antisemitismus nichts mit der deutschen Gesellschaft zu tun hätte. Ich glaube, diese Tage beweisen, wie wichtig die Integrationsfrage für unsere Republik geworden ist. Wie unter einem Brennglas zeigen sich jetzt Konsequenzen einer über Jahrzehnte falsch verstandenen Integrationspolitik. Viel zu lange war das Wegschauen eine eingeübte Reaktion. Für die politische Linke durfte es keine Integrationsprobleme geben, weil die Idee einer multikulturellen Gesellschaft das nicht zuließ. Die Konservativen schauten weg, weil Deutschland kein Einwanderungsland sein sollte. Diese wegschauende und damit ungewollt auch beschwichtigende Haltung müssen wir überwinden. Gerade Politiker sollten in überladenen Konflikten abgewogen argumentieren. Bundespräsident Joachim Gauck zum Beispiel sprach im Zusammenhang mit den judenfeindlichen Aussagen von einem Antisemitismus, der „aus ausländischen Gesellschaften importiert wird“. Das klang ein wenig danach, als könnte man die Hetzparolen durch bessere Zollbestimmungen irgendwie fernhalten. Dabei wird schon in wenigen Jahren die Mehrzahl der Erstklässler in Berlin einen Migrationshintergrund haben. Diese Kinder sind in deutschen Krankenhän geboren. Wir müssen die offensichtliche Frage stellen: Wie kommt es, dass aus einigen stolzen Neuköllner Jungs wegen eines weit entfernten Konflikts plötzlich Hassprediger im Kleinformat werden? Warum schwenken dieselben Jugendlichen, die noch vor zwei Wochen Deutschlandfahnen in der Hand hielten, jetzt palästinensische Fahnen? Schließlich ist bei manchen der Demonstranten der Großvater aus der Fremde gekommen – oft nicht einmal aus dem Krisengebiet. Versetzen wir uns mal hinein in einen Jungen aus einem unserer Problemkieze in irgendeiner deutschen Großstadt. Mir fällt das nicht ganz so schwer, denn ich bin als eines von neun Geschwistern in der Heerstraße Nord aufgewachsen, einer Hochhaussiedlung am Berliner Stadtrand. Es ist einer dieser Orte, wo sich die Hipster und die Berlintouristen nicht blicken lassen, noch immer viele Jugendliche keinen Schulabschluss haben und als Perspektive „Hartzer“ nennen. Ich hatte das Glück, in einer Familie ohne mentales Rückflugticket aufzuwachsen. Es in Deutschland zu schaffen, hier akzeptiert zu werden war der Traum meines Vaters, der in einer Fabrik arbeitete.
Trotzdem saß er 1993 mit uns allen vor dem Fernseher, als das erste Friedensabkommen zwischen Israelis und Palästinensern unterzeichnet wurde. Auf dem Bildschirm gaben sich drei Männer die Hand, die deshalb später Nobelpreisträger wurden, und mein Vater sagte: „Jetzt kommt endlich Frieden.“ Seine Hoffnungen für seine frühere Heimat haben sich nicht erfüllt. Umso wichtiger war es für ihn, dass die Integration in Deutschland funktionierte. Heute springen nicht alle, aber manche der jungen Leute, deren Vorfahren aus muslimischen Ländern kommen, bei jeder neuen Eskalation der Gewalt auf die Fernsehbilder aus Nahost an. Denn die Hoffnungslosigkeit der eigenen Situation lässt sich in der Ausweglosigkeit der ewigen Gewaltspirale gut spiegeln. Plötzlich scheint die eigene soziale Lage nicht mehr ein Problem von Chancen, Motivation und guter Bildung zu sein. Sich als Opfer der Umstände zu fühlen wirkt sogar entlastend. Die Emotionalisierung der jungen Menschen beginnt bei den schrecklichen Bildern, die das Leid auf beiden Seiten zeigen. Sie setzt sich fort in den sozialen Medien, wo Schlagfertigkeit und klare Kante mehr zählen als Differenzierung und Argumentation. Und dann iert das Schlimmste: Die differenzierten, die friedliebenden, die ausgleichenden Vertreter ziehen sich zurück, um nicht mit antisemitischer Hetze in Verbindung gebracht zu werden. Wenn ausgleichende Stimmen verstummen, fallen die Hemmschwellen. Manche Menschen mit arabischem Hintergrund hält der Antisemitismus, der sich auf diesen Kundgebungen radikal zeigt, davon ab, ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen – um nicht mit den Schreihälsen in einen Topf geworfen zu werden. Was halten wir eigentlich davon, wenn auf diese Weise Grundrechte ausgehöhlt werden?
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eltweit dient Israel vielen Gruppen als Feindbild. Für manche reicht es nicht aus, die Politik Israels zu kritisieren. Damit der Konflikt in Nahost global instrumentalisiert werden kann, brauchen radikale Ideologen den Antisemitismus. Die perfide Idee der jüdischen Weltverschwörung hat der islamistische Judenhass direkt aus dem europäischen Antisemitismus übernommen. Deshalb sage ich: Dieser Antisemitismus ist genauso zu bewerten wie der Antisemitismus der Rechtsextremen. Die Gewalt der Worte schafft die Grundlage für physische Gewalt. Wir Deutsche wissen, wohin das führen kann. Wir können im Kampf gegen den Antisemitismus auf eine breite demokratische Mehrheit bauen. Nach einer Studie der Friedrich Ebert Stiftung von 2012 sind judenfeindliche Einstellungen bei etwa 17 Prozent der Muslime in Deutschland verbreitet, im Vergleich zu rund 12 Prozent bei der Gesamtbevölkerung. Eine der größten Gefahren ist auch deshalb die Gleichgültigkeit der Mehrheit. Und damit sind wir abermals bei jener wegschauenden Haltung, die noch immer auf der Integrationspolitik in Deutschland lastet. Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky hat damit seine Erfahrungen gemacht. Jahrelang hat er Missstände angeprangert –
Wenn wir es nicht schaffen, den sozialen Aufstieg junger Leute zu organisieren, werden sozialer Frieden und Wohlstand unseres Landes bedroht sein. 28
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Saleh, 37, ist seit 2011 Fraktionschef der SPD im Berliner Ab-
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Fußballfans beim Empfang der Nationalmannschaft in Berlin: Deutsche Identität für die junge Generation öffnen
und wurde reflexhaft als Populist verschrien. Dabei ging es den Gutmeinenden darum, möglichst niemandem wehzutun. Andere wollten ihr fortwährendes Nichthandeln legitimieren, indem man den Überbringer der Botschaft kritisierte. Was eine wegschauende Integrationspolitik bewirkt, zeigte sich in diesem Sommer in Kreuzberg. Zunächst schien es für viele so, als ob die auf dem Oranienplatz kampierenden Flüchtlinge irgendwie zum „coolen Berlin“ gehörten. Aber faktisch wurden die Flüchtlinge in ihrer Perspektivlosigkeit genauso alleingelassen wie die Anwohner. Weil sich die Verantwortlichen der Stadt über eine Räumung des Camps zerstritten, wurde die Polizei zum Spielball der Politik. Am Ende fehlte der Mut, sich am Rechtsstaat zu orientieren – und damit auch den Flüchtlingen zu helfen. Statt einer wegschauenden brauchen wir eine hinschauende Integrationspolitik, die sich gegen Verhaltensweisen wendet, die in unserer Demokratie nichts verloren haben. Die Politik steht für die nächsten Jahrzehnte vor einer Herkulesaufgabe. Wenn wir es nicht schaffen, den sozialen Aufstieg der jungen Leute mit fremden Wurzeln zu organisieren, dann werden der soziale Frieden und der Wohlstand unseres Landes bedroht sein. Wir müssen es schaffen, dass die jungen Leute sich nicht mehr als Türken oder Araber oder Russen fühlen – sondern als gleichberechtigte Deutsche, die sich zwar ihrer Herkunft bewusst sind, aber auch stolz sind auf ihre deutsche Heimat. Als Allensbach im Jahr 2012 junge Erwachsene befragte, glaubten nur 19 Prozent der unteren sozialen Schichten daran, dass sie aus eigener Anstrengung den Aufstieg schaffen können. Diesen Glauben müssen wir neu stiften. Dann interessieren sich die Jungen auch weniger für den Nahostkonflikt und mehr für ihre Hausaufgaben. Für diese hinschauende Integrationspolitik brauchen wir einen starken Staat – der sich auch durchsetzt, wenn Recht gebrochen wird. Das fängt beim Schulschwänzen an und reicht bis zu Angriffen auf Polizisten, die wir nicht dulden dürfen: Der Staat muss konsequent sein. Denn gerade in einer komplizierter und vielfältiger werdenden Gesellschaft sind Regeln wichtig. Deshalb muss ein Rechtsbruch spürbare Konsequenzen für alle haben, die sich nicht an Regeln halten. Rechtsfreie Räume dulden wir nicht.
Wir müssen auch bessere Chancen schaffen. Das ist die andere Seite der Medaille. Wir müssen den Kita-Besuch zum Normalfall machen, das hilft gerade Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Und wir brauchen mehr Sozialarbeiter und Sprachmittler in Problemkiezen; deshalb haben wir ein Programm für Brennpunktschulen geschaffen. Hinschauende Integrationspolitik heißt auch, deutsche Identität und Geschichte für die junge Generation zu öffnen. Damit habe ich erstaunliche und hoffnungsvolle Erfahrungen gemacht. Im April 2013 begleitete ich eine Jugendgruppe aus einem sozial schwachen Spandauer Kiez in das ehemalige Vernichtungslager Auschwitz. Etwa zwei Drittel hatten einen Migrationshintergrund – und auch die Großeltern der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund waren oft erst nach dem Krieg geboren. Sie alle haben das gesehen, was Generationen vor ihnen besichtigt haben: die leeren Koffer der ermordeten Juden, die Tausenden kleinen Kinderschuhe, die monströsen Ausmaße von Birkenau. Und sie waren genauso geschockt wie die Generationen zuvor. Faszinierend für mich war ein junger Mann, dessen Eltern aus dem Libanon kamen. Er sagte: „Unter den Nazis wären auch wir hier gelandet.“ Er zog einen Bogen von seiner eigenen Erfahrung, sich in der Gesellschaft ausgegrenzt zu fühlen, zu der massiven Ausgrenzung der Juden. Er erkannte, dass Antisemitismus mit Rassismus verschwistert ist und der Hass sich leicht auch gegen sie selbst richten kann. Diese Schlüsselmomente, in denen deutsche Geschichte im Schlimmen wie im Guten für jene bunte, neue Generation erfahrbar wird, lassen sich bewusst organisieren. Hinschauende Integrationspolitik heißt, allen etwas abzuverlangen, es sich nicht leicht zu machen. Wir dürfen auch von jungen Deutschen, die ihre Wurzeln in aller Welt haben, fordern, dass sie sich deutscher Geschichte stellen – sie werden es uns danken. Lesen Sie weiter zum Thema Seite 77: Die zivilen Opfer im Gaza-Konflikt Seite 125: Der israelische Autor Meir Shalev über sein Land in Zeiten des Krieges DER SPIEGEL 31 / 2014
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Russland
Amsterdam London
Riskante Routen
Frankfurt
Wichtige Flugverbindungen von Lufthansa Q von Emirates Q
Ukraine
Paris
Nordkaukasus
Rom
Tunis
Peschawar
Syrien Israel
Irak
Afghanistan
Amman
Quellen: Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung, flightaware, flightradar24 Stand: 23. Juli
Peking
Kaschmir
Kairo Pakistan
GazaStreifen
Neu-Delhi
Dubai
Burma Sudan
Indien Jemen
Q Länder mit Krieg
oder bewaffneten Konflikten
Südsudan
Somalia
Thailand
Bangkok Singapur
Schrapnelle im Flügel Luftfahrt Der Abschuss eines malaysischen agierjets über der Ukraine schockiert Airline-Manager in der ganzen Welt. Einige fordern nun mehr Abstimmung unter Fluggesellschaften und Behörden.
B
ei der Personalversammlung in der Lufthansa-Kantine am Frankfurter Flughafen sah zunächst alles nach Routine aus. Mehrere Hundert Flugbegleiter waren am Dienstagnachmittag vergangener Woche in die ehemalige Simulatorhalle gekommen, um vom Vorstand Details zum geplanten Sparprogramm des Konzerns zu erfahren. Das Thema bewegt die Beschäftigten seit Wochen, doch nun bedrängten sie ihre Chefs auch noch mit ganz anderen Fragen. Einer der Teilnehmer wollte wissen, warum die Lufthansa, anders als andere Airlines, bis zuletzt über die Ostukraine flog, wo am Donnerstag vorvergangener Woche Malaysia-Airlines-Flug MH17 mit 298 Menschen an Bord abgeschossen worden war. Ein anderer Mitarbeiter hatte per SMS erfahren, dass nahe dem Flughafen Tel Aviv eine Bombe aus dem umkämpften Gaza-Streifen eingeschlagen war. Er fragte, ob der Konzern den Airport Ben Gurion denn trotzdem weiterhin ansteuern wolle. Alles unter Kontrolle, signalisierte Flugbetriebschef Werner Knorr, man halte sich streng an die Vorschriften und fliege auch weiterhin nach Israel. Die Aussage galt nur ein paar Stunden. Am Abend verkündete die Lufthansa, dass sie Tel Aviv vorerst nicht mehr bedient. Als am Freitag vergangener Woche Lufthansa ankündigte, die Strecke wieder aufnehmen zu wollen, protestierte die Piloten30
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vereinigung Cockpit sofort – zu gefährlich seien diese Flüge. Andere Airlines wie Aeroflot oder British Airways stellten den Verkehr dagegen überhaupt nicht ein, wieder andere nahmen die Verbindungen schon wenig später wieder auf. Das Hin und Her um den zentralen israelischen Verkehrsflughafen zeigt, wie tief einer der größten anzunehmenden Unfälle in der jüngeren Geschichte der Zivilluftfahrt Airlines in aller Welt verunsichert hat. Welche Risiken kann man noch akzeptieren, fragen sich besorgte Manager. Und: Wie viel Sicherheit kann man sich leisten, wenn die Konkurrenz einfach weiterfliegt? Die Antworten stehen noch aus. Klar ist jedoch: Die Gefahr, dass ein Jet von einer Boden-Luft-Rakete getroffen werden könnte, wurde offenbar sträflich unterschätzt. Jahrzehntelang galt es in der Branche als ausgeschlossen, dass derartige Waffen im Besitz von Aufständischen agierflugzeugen etwas anhaben könnten. Die Reichweite der Geschosse galt als zu gering. Zudem waren Flugverbote Sache der Staaten, die sich darüber mit der UnoSicherheitsagentur ICAO oder Behörden wie Eurocontrol abstimmten. Doch solche Einschränkungen wurden offenbar zu selten verhängt, weil manche Staaten auf Einnahmen aus der Nutzung ihrer Luftstraßen durch Fluggesellschaften anderer Länder nicht verzichten wollten.
Seit sich abzeichnet, dass es wahrscheinlich russische Separatisten waren, die in der Ukraine die Malaysia-Airlines-Maschine mit einer Boden-Luft-Rakete vom Himmel geholt haben, ist in der Branche nichts mehr, wie es einmal war. „Die Spielregeln haben sich geändert“, konstatiert der Chef der arabischen Fluggesellschaft Emirates, Tim Clark. Bislang hatte sich die Öffentlichkeit kaum dafür interessiert, ob als Kollateralschaden des Gaza-Konflikts etwa Raketenschrapnelle in die Flügel startender oder landender Jets einschlagen könnten. Nun werden die Risiken auf einmal extrem sensibel wahrgenommen. Emirates-Chef Clark forderte sogar, möglichst rasch ein Krisentreffen unter Federführung der zuständigen internationalen Dachverbände anzuberaumen. Es soll bereits am Dienstag dieser Woche stattfinden. „Nichts zu tun ist keine Option“, sagt er. Ein solcher Sicherheitsgipfel der AirlineBranche ist überfällig. Aber offenbar brauchte es ein Fanal wie den Abschuss in der Ukraine, um der Welt eindrücklich vor Augen zu führen, wie verwundbar die zivile Luftfahrt ist. „Die Zahl der Konflikte hat zugenommen“, warnt Clark, „und auch deren Tragweite.“ Allein im Nahen und Mittleren Osten werden zurzeit rund ein halbes Dutzend bewaffnete Konflikte ausgetragen, etwa in Syrien, dem Irak oder dem Gaza-Streifen (siehe Grafik). Trotz-
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agiere am Flughafen Tel Aviv*
dem düsen noch immer Jets in großer Höhe über diese Gebiete hinweg, mit wenigen Ausnahmen. Die Lufthansa umfliegt schon seit 2012 den syrischen Luftraum, obwohl die zuständigen Behörden das bislang nicht vorschreiben. Die Airline stuft die Lage in dem Land als zu gefährlich ein – und hielt das in ihrem tagesaktuellen „Risk Mapping“ fest, in dem mögliche Gefahren für jede Flugroute und jedes Ziel festgehalten sind. Die Analysen führten unter anderem dazu, dass die Fluglinie die jemenitische Hauptstadt Sanaa oder die libysche Metropole Tripolis nicht mehr bediente und auch die Krim frühzeitig mied. Über Afghanistan oder den Irak dürfen die Lufthansa-Jets danach allerdings noch fliegen. Die entsprechenden Flugkorridore gelten nach Darstellung eines Sprechers derzeit als sicher und werden beispielsweise auch von Emirates nach wie vor genutzt. Doch die Unsicherheit wächst. Gleich mehrere Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zeigen, dass Flugzeuge zunehmend zum Ziel terroristischer Anschläge und kriegerischer Attacken werden. Immer wieder griffen Unbekannte den internationalen Flughafen in Tripolis an und setzten dabei Flugzeuge in Brand. Seit Mitte Juli wird der Airport hart umkämpft. Dabei gab es mehrfach Tote und Schwerverletzte. Zuvor hatten Taliban-Kämpfer in der afghanischen Hauptstadt Kabul den Flughafen mit Maschinengewehren und Handgranaten attackiert. Dabei wurde der Diensthubschrauber des Präsidenten zerstört. Dramatisch ist auch die Situation in Pakistan, das von der Lufthansa schon seit Längerem nicht mehr angeflogen wird. Erst vor einem Monat beschossen Terroristen dort einen Jet von Pakistan Interna-
tional Airlines im Landeanflug, der aus der saudi-arabischen Hauptstadt Riad kam. Zehn Kugeln durchsiebten die Hülle der Maschine vom Typ Airbus A310. Eine Frau, die direkt am Fenster saß, wurde getötet. Es war bereits der zweite Anschlag innerhalb eines Monats. Schon Anfang Juni hatten sich Taliban-Extremisten und Sicherheitskräfte bei einer versuchten Flugzeugentführung auf dem Airport eine stundenlange Schießerei geliefert. Insgesamt kamen dabei 28 Menschen ums Leben. Auch ein Emirates-Jet wurde beschädigt. Die arabische Fluglinie stornierte daraufhin alle Verbindungen nach Peschawar, fliegt die Stadt seit Donnerstag vergangener Woche allerdings wieder an, und das sogar fünfmal pro Woche. Die Sicherheitsmaßnahmen seien inzwischen eingehend überprüft worden, sagt ein Unternehmenssprecher, im Übrigen habe die Unversehrtheit der agiere und Crews absolute Priorität. Dass nun ausgerechnet Emirates eine internationale Sicherheitskonferenz einberufen will, hat gute Gründe. Die größte arabische Airline besitzt 50 Großraumflugzeuge vom Typ A380 mit rund 500 Sitzen und hat weitere 89 Exemplare bestellt. Die Vorstellung, dass einem seiner Jets womöglich ein ähnliches Schicksal widerfahren könnte wie Malaysia Airlines MH 17, muss Airline-Chef Clark den Angstschweiß auf die Stirn treiben. In so einem Fall wären inklusive Crew deutlich mehr Tote zu beklagen als kürzlich in der Ukraine. Malaysia Airlines bekommt die Folgen der zweiten unverschuldeten Katastrophe innerhalb von knapp fünf Monaten nach dem Verschwinden von MH 370 im März schon schmerzhaft zu spüren. Der Kurs
der Aktie dümpelt schon seit Jahren auf Ramschniveau dahin. Pro Tag drohen der Fluggesellschaft Verluste von bis zu zwei Millionen Dollar, schätzen Experten. Selbst ein Bankrott scheint möglich. Als Ausweg aus der Krise fordern Fachleute nun eine „kreative Zerstörung“ der Fluggesellschaft. „Malaysia Airlines muss geschlossen werden“, fordert Shukor Yusof von der malaysischen Denkfabrik Endau Analytics. „Und dann muss sie neu aufgebaut werden, mit einem völlig neuen Image.“ Die Lufthansa hat bereits signalisiert, dass sie Clarks Vorstoß für eine internationale Sicherheitskonferenz begrüßt. In der Branche werden drastische Maßnahmen debattiert. Ein erster Schritt könnte sein, Langstreckenjets künftig mit noch ausgefeilteren Transpondern auszustatten, die sie gegenüber den Radarsystemen potenzieller Angreifer automatisch als zivile Objekte ausweisen. Manche Airline-Manager empfehlen gar, die Flieger mit Störsendern sowie Raketenabwehrgeräten zu bestücken. Auch der Informationsaustausch zwischen den Airlines über sicherheitsrelevante Vorkommnisse könnte verbessert werden. Und einige Experten fordern, dass sich die Geheimdienste künftig stärker als bisher um den Schutz der zivilen Luftfahrt kümmern sollten. Auch die Sicherheit mancher Regierungsflüge könnte noch verbessert werden. Nach Gerüchten in Pilotenkreisen soll selbst die Kanzlerin mit ihrem staatseigenen Airbus-Jet vom Typ A340 schon über das Krisengebiet in der Ostukraine geflogen sein. Eine Sprecherin der Bundesregierung dementiert – zumindest in den letzten drei Monaten habe es keine entsprechenden Flüge gegeben.
* Vor einer Tafel mit den abgesagten Flügen am 22. Juli.
Dinah Deckstein, Martin U. Müller, Wieland Wagner DER SPIEGEL 31 / 2014
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Deutschland
CDU-Ministerien als besonders krassen Eingriff empfinden: Für alle Personalien, die das Bundeskabinett absegnet, müssen sie sich künftig mit dem Frauenministerium auf Kandidatinnen einigen. Für Ärger sorgt auch die Forderung nach mehr Gleichstellungsbeauftragten. Das Verteidigungsministerium hat ausgerechnet, dass es dafür die Stellen von 100 auf 200 verdoppeln müsste. Der Staatsbetrieb Deutsche Bahn kalkuliert für die Tochterfirmen mit mindestens 960 neuen Stellen. Dabei hat der Staat dringenden Nachholbedarf beim Thema Frauenförderung. Im Topmanagement der größten Bundesunternehmen haben Frauen nur etwa 14 Prozent der Jobs inne. Bei den Aufsichtsräten sieht es kaum besser aus. Sie sind für den Staat. Sogar das Verteidigungsmi- nur zu gut einem Fünftel weiblich besetzt, nisterium von Ursula von der Leyen, der wie eine Untersuchung der Initiative schärfsten Quotenkämpferin der CDU, „Frauen in die Aufsichtsräte“ ergab. Bekritisiert Details des Entwurfs. Dieser sonders schlecht schneidet die Deutsche schreibt nämlich auch Bundesbehörden Bahn ab. In ihrem Kontrollgremium sitzen und Unternehmen im öffentlichen Eigen- 2 Frauen – neben 16 Männern. tum vor, dass sie mehr Frauen in PosiDie verantwortlichen SPD-Minister Heitionen mit Macht und Einfluss bringen ko Maas, Justiz, und Manuela Schwesig, Quote Die Regierung setzt der sollen. Frauen, hatten sich zwar auf Widerstand Industrie ehrgeizige Ziele So kritisch fielen die Stellungnahmen aus der Wirtschaft eingestellt. Dass auch vieler Ressorts aus, dass Ralf Kleindiek, Regierungskollegen sich querlegen, trifft für Frauen in Toppositionen. Staatssekretär im Frauenministerium, sich sie unerwartet. Dem Kanzleramt lag der Mit Staatsbetrieben will die vergangene Woche gezwungen sah, seine Entwurf plangemäß im Juni vor und wurde CDU weniger hart umspringen. Amtskollegen zum Krisentreffen zu laden. anstandslos abgesegnet. Die Querelen lassen die Wirtschaft frohEr sei „erstaunt“ über die „generelle Abie Kanzlerin kann auch Frauen- lehnung“ der Quotenvorgaben für den locken. „Es ist schön, dass der Öffentliche politik, jedenfalls im Prinzip. An- Staat, sagte Kleindiek den Kollegen. „Hier Dienst sich vergegenwärtigt, wie schwierig fang April kündigte Angela Merkel hätte ich mir ein früheres Signal ge- es sein kann, den Frauenanteil in der Mitin ihrer Regierungserklärung an, die Große wünscht.“ Letztlich lenkte er aber ein und arbeiterschaft zu erhöhen“, sagt Holger Koalition werde alles daransetzen, „dass versprach Korrekturen. Triumphierend pro- Lösch, Mitglied der Hauptgeschäftsfühtokollierte ein Unionsteil- rung des Bundesverbands der Deutschen Frauen in Führungspositionehmer, Kleindieks Ressort Industrie, süffisant. „Die Industrie würde nen besser vertreten sein nehme „Zeitdruck aus dem sich wünschen, dass die Bundesregierung müssen“. Notfalls werde Weibliche Führung Verfahren und ändert seine so nachsichtig mit der Privatwirtschaft umman die Industrie per geVorgehensweise“. Im Klar- geht, wie mit sich selbst.“ setzlicher Quote zu mehr Frauen in Aufsichtsgremien * öffentlicher Unternehmen text: So schnell kommt der Gleichstellung zwingen. Auch Martin Wansleben, HauptgeschäftsEntwurf nicht ins Kabinett. führer des Deutschen Industrie- und HanDrei Monate später sieht BUND die Situation so aus: Es gibt Das wichtigste Argu- delskammertags, kann sich Spott nicht vereinen Gesetzentwurf, um ment der Gegner lautet: kneifen: „Eine gesetzliche Frauenquote ist mehr Frauen in die AufSo steht es nicht im Koali- der falsche Weg und verfassungsrechtlich sichtsräte und ins Toptionsvertrag. Tatsächlich äußerst fragwürdig. Wenn sie aber kommt, management zu befördern. enthält der Entwurf einige dürfen öffentliche gegenüber privaten Unim Topmanagement..................... 14 % Doch nun kommt Wider- Vorstand, Geschäftsführung für die Union überraschen- ternehmen nicht privilegiert werden.“ stand aus den eigenen Reide Ideen. Künftig sollen In den nächsten zwei Wochen will Staatsfrauenfreie Führungsetagen.... 22% hen. Ausgerechnet in von alle Unternehmen im sekretär Kleindiek nun einen neuen EntCDU und CSU geführten mehrheitlichen Besitz des wurf vorlegen. Es gilt als ausgemacht, dass Ministerien sitzen die ärgs- LÄNDER Bundes auf einen Frauen- die Pläne für mehr Gleichstellungsbeauften Quertreiber. anteil von 50 Prozent für tragte kassiert werden. Aber an den QuoIhnen geht es nicht um ihre Führungpositionen ten wollen Schwesig und Maas nicht rütteln. die Freiheit des Unternehhinwirken. Die beiden gehen mit gutem Beispiel mertums und das Recht der Auch in die von der öf- voran. Maas hat soeben eine Frau, Beate Firmen, sich ihre Mitarbei- KOMMUNEN fentlichen Hand zu beset- Kienemund, zur Abteilungsleiterin beförter selbst auszusuchen. Landeshauptstädte zenden Aufsichtsräte soll dert – die zweite in Folge. Seine KabinettsVielmehr stören sich etwa der Staat bald möglichst kollegin Schwesig setzte Claudia Buch als das Gesundheitsministegleich viele Frauen und Vizepräsidentin der Deutschen Bundesrium von Hermann Gröhe Männer entsenden – in bank durch und machte sich für Kirsten und das Verkehrsministemanchen Gremien sitzt Lühmann als Aufsichtsrätin der Deutschen der größten Unternehmen rium von Alexander Dob- * Durchschnitt aber ohnehin nur ein Bahn stark. in Deutschland mit mehrheitlich öffentlicher Beteiligung; Quelle: Public WoB-Index rindt an den Quotenregeln Staatsvertreter. Was die Melanie Amann, Horand Knaup, Ann-Katrin Müller
Staat ohne Frauen
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FOTO: FRANZISKA KOARK / TMN / DPA
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Kommentar
Die verwehte Chance
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eltmeister werden macht müde; satt und schläfrig liegt das Land. Die Wirtschaft läuft blendend, die Stimmung ist bestens. Man sorgt sich ein wenig um den Nahen Osten und die Ukraine, aber Deutschland ist eine feste Burg. Die Sonne scheint. Von jenseits der Grenzen wird das Land umso heftiger bestaunt. Die Franzosen haben „la mannschaft“ für weit mehr als nur den Fußball in ihren Wortschatz aufgenommen; das US-Magazin Newsweek ruft das „deutsche Jahrhundert“ aus. Es wird geschwärmt oder geneidet, auf jeden Fall aber genau verfolgt, was die Deutschen mit ihrem goldenen Moment anfangen wollen. Doch er scheint ungenutzt zu verstreichen. Die Kanzlerin investiert viel in das Einhegen internationaler Krisen und die fürsorgliche Begleitung ihrer Koalition. Ihre Macht und ihre Möglichkeiten dabei beschreibt sie stets mit großer Zurückhaltung. Doch in diesem Sommer klaffen Gelegenheit und Ehrgeiz selbst für Merkels Maßstäbe erschreckend weit auseinander. Dabei en dieser Moment und das, was man daraus machen könnte, viel besser in ihr Denken und Handeln, als sie zugibt. Denn diese Kanzlerin hat ihre Politik oft in große Stimmungsströme der Bürger eingefügt. So erklärt sich, dass sie der Atomkraft abrupt den Rücken kehrte oder die Große Koalition die Früchte des Aufschwungs freigebig verteilt. Zugleich reizt die Kanzlerin das Denken in großen Zusammenhängen durchaus. Wenn sie in ferne Länder reist, kommt das funkelnd zum Vorschein. Daheim hält sie das kleine Karo für angemessen. Aber im Ausland, wie zuletzt in China, sagt sie, das Gegenteil sei nötig, um in der Welt ernst genommen zu werden. Auf den WM-Fanmeilen waren in den vergangenen Wochen viele Junge unterwegs. Sie erwarteten auf angenehm entspannte Art Großes von ihrer Mannschaft. Von der Politik erwarten sie wenig. Das müsste jede Regierung alarmieren, da müsste Angela Merkel ansetzen. Vor gut zehn Jahren hatte Deutschland in Europa Das Welt wartet die rote Laterne. Dann kamen die Reformen in Gang gespannt, was und erbrachten nach einiger Zeit überzeugende Erdie Deutschen aus folge, weshalb viele andere Staaten längst versuchen, ihrem goldenen davon zu lernen. In Deutschland hingegen ging das Wort „Reform“ vor die Hunde, wenige politische Be- Moment machen. griffe sind so verfemt wie dieser. Das ist eine schwere Vermutlich kann Hypothek, wenn man nicht warten will, bis erst wiesie lange warten. der eine tiefe Krise Reformen erzwingt. Mehr noch: Die Deutschen halten ihre Gesellschaft für viel ungerechter, als es der Realität entspricht. Sie halten den Anteil jener, die im unteren Siebtel der Einkommensverteilung zurechtkommen müssen, für deutlich höher und die Mittelschicht für viel kleiner, als sie ist. Auch dieses Zerrbild ist alarmierend. Reformen und Gerechtigkeit – beide Felder wären wie geschaffen für eine Kanzlerin, der mehr Menschen dauerhaft zu vertrauen scheinen als je einem ihrer Vorgänger. Dieses Kapital könnte sie investieren, statt nur von den Zinsen zu leben. Es geht um die Verfasstheit einer Gesellschaft, die zu bemerkenswerten Leistungen fähig, aber an wichtigen Punkten nicht mit sich im Reinen ist: Man zeigt sich stolz auf das Erreichte, hofft aber zugleich, der Rest der Welt möge fortan bitte stillstehen und den Deutschen ihre Nische nicht streitig machen. Die Bundesregierung soll Südeuropa Beine machen, aber das eigene Land in Ruhe lassen. Diese Widersprüche jetzt, unter denkbar günstigen Umständen, anzugehen läge – anders als viele meinen – in der Natur dieser Kanzlerin. Was hält sie bloß davon ab? Es ist ein Jammer. Nikolaus Blome
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Visite am See Strafvollzug Die Privatklinik, in der Uli Hoeneß behandelt wurde, war Rückzugsgebiet für CSUSpezln. Ein Gefangener ist dort sogar spurlos verschwunden.
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usgesucht hat sich Uli Hoeneß das Krankenhaus angeblich nicht. Nein, glaubt man Vertrauten, dann handelte es sich um eine Art Zwangseinweisung durch die Landsberger Gefängnisleitung. Die suchte einen Ort, an dem „Abschottung und Überwachung“ gewährleistet seien. Gut wenn sich das Nützliche mit dem Angenehmen verbindet. Hoeneß, 62, der seit dem 2. Juni wegen Steuerhinterziehung in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Landsberg in einer Einzelzelle sitzt, hätte es schlechter erwischen können. Er durfte vergangenen Montag einen Raum in der luxuriösen Schön-Klinik in Kempfenhausen am Ostufer des Starnberger Sees beziehen und sein karges Lager in der Haft gegen ein Zimmer mit allen Annehmlichkeiten tauschen. Allerdings kürzer als gedacht. Nach einem Routineeingriff am Herzen sollte der Expräsident des FC Bayern München bis mindestens Anfang dieser Woche das weiche Krankenlager hüten. So lautete der „Heilungsplan“, verrieten Freunde. Am vergangenen Mittwochabend kam es zur wundersamen Wende. Nachdem öffentlich geworden war, wie exklusiv der Steuer-
Steuersünder Hoeneß „Alles andere als ein Traumleben“
sünder logierte, witterte die Justiz offenbar Ärger und ließ den frisch Operierten schon etwa eine Stunde nach dem Aufwachen aus der Narkose, noch „leicht schwankend“, wie Vertraute sagen, zurück nach Landsberg bringen. Keine Sonderbehandlung für Prominente, lautete die Botschaft. Sie kam zu spät. In der schicken Privatklinik am See teilen sich die Patienten hinter hohen Hecken nicht nur einen herrschaftlichen Prachtbau, sondern 12 000 Quadratmeter Parkgrundstück in einer der teuersten Lagen Deutschlands. Die medizinische Versorgung gilt als diskret und erstklassig, das Essen als ausgesucht gut und der Blick übers Wasser als unbezahlbar. Um Hoeneß, der an Übergewicht und Bluthochdruck leidet, kümmerte sich der international renommierte Kardiologe und Chefarzt Jürgen Pache. Wer beim bayerischen Justizministerium nachfragt, ob jeder Gefangene im Krankheitsfall eine der-
Schön-Klinik Kempfenhausen: „Abschottung und Überwachung gewährleistet“
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art komfortable und teure Versorgung erfahre, bekommt keine Antwort. Man äußere sich nicht zu Vollstreckungsfragen einer Einzelperson, so die Auskunft. Aus Hoeneß’ Umfeld wurde beruhigt, der Patient habe keine Notoperation benötigt. Es habe sich vielmehr um einen lange geplanten Eingriff gehandelt, für den es in der Krankenstation der JVA weder die richtigen Ärzte noch die richtigen Räume gebe. Auf die Frage, ob der Eingriff nicht in den 80 Tagen zwischen Verurteilung und Haftantritt erledigt werden konnte, reagiert ein enger Vertrauter des früheren FCBayern-Managers ungehalten. „Es ist vollkommen widerwärtig, dass Uli seine Krankheit überhaupt erklären muss. Was geht das die Menschen an? Das ist doch seine Privatsache!“ Immerhin befand sich CSU-Freund Hoeneß nicht nur in besten Händen, sondern auch auf für die bayerische Regierungspartei historischem Boden. Jahrzehntelang vertrauten die CSU-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber dem medizinischen Fachwissen und den freundschaftlichen Ratschlägen von Klinikgründer Valentin Argirov. Und schickten ihm Parteifreunde und Spezln, die eine gut betreute Auszeit am See nehmen wollten. Argirov handelte diskret; wer wann und warum in seinem Haus weilte, sickerte fast nie nach draußen. In der christsozialen Führungsriege kursierte der Spruch: „Hast du mit der Leber Zoff, geh zu Doktor Argirov.“ Argirov, gebürtiger Bulgare, machte 1980 am idyllischen Ostufer eine kleine Klinik auf. Die Nähe zur Macht verschaffte ihm prominente und zahlungskräftige Patienten. Zugleich flossen viele Millionen staatliche Zuschüsse, die das Haus Argirov zwar nicht zu Unrecht kassierte, die andere Kliniken jedoch mit Neid verfolgten. Die Diagnosegeräte waren auf modernstem Stand. Immerhin wurden in der Klinik damit auch Kassenpatienten behandelt. Den Mächtigen stand der Arzt, bis er 2003 seine Kliniken an die Schön-Gruppe verkaufte, selbstlos zur Verfügung. Stoiber ließ sich schon mal kurz vor Mitternacht nach Kempfenhausen chauffieren, um einen Gesundheitscheck vorzunehmen zu lassen. Sein Terminplan hatte einen Arztbesuch tagsüber nicht erlaubt. Damit seine Personenschützer den Ministerpräsidenten gebührend bewachen konnten, wurde eine Patientin geweckt, sie musste ein anderes Zimmer beziehen. Arzt und Patient trafen sich auch privat. Im bayerischen Landtag kam Stoiber 1999 in Erklärungsnot, als bekannt wurde, dass er in Argirovs Anwesen in Südfrankreich seinen Urlaub verbracht hatte. Ebenso rührend wie um die Regierungschefs kümmerte man sich in der Klinik um enge Vertraute der CSU: etwa um Franz
FOTOS: LORENZBAADER / WITTERS (O.); JOERG KOCH / GETTY IMAGES (U.)
Deutschland
Dannecker, den früheren Justiziar der Partei. Strauß empfahl Dannecker wegen einer bedrohlichen Herzerkrankung seinen bulgarischen Leibarzt. Der Justiziar stand in dem Ruf, jahrelang diskret Parteispenden entgegengenommen und so zwischengelagert zu haben, dass nur er vom Verbleib wusste. Danneckers Weggefährten erzählten später, Strauß sei wie wild durch den argirovschen Park gerannt, in der Angst, der Rechtsanwalt könnte versterben und das Wissen um die Spenden mit ins Grab nehmen. Dannecker überlebte noch einige Jahre dank der Therapie am Starnberger See. Gut aufgehoben durfte sich auch ein CSU- und CDU-Spendensammler in Kempfenhausen fühlen. Der Geschäftsmann war bis zum Jahr 2000 ebenso wie heute Hoeneß Insasse der JVA Landsberg. Das Landgericht München I hatte ihn zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Richter waren überzeugt, dass er Spenden für sich selbst abgezweigt hatte. Doch die bayerische Justiz ging schonend mit ihm um. Nach einem Jahr Gefängnis wurde der Mann Freigänger, im Jahr darauf verlegte man ihn in die Klinik Argirov. Seine Leiden waren vielfältig: eine Beinverletzung, Rückenschmerzen, Folgen zweier Herzinfarkte und eines Schlaganfalls, Angina pectoris. Doch der Patient blieb agil, tagsüber kurbelte er seine Geschäfte an. Justizbeamte sahen zunächst in Kempfenhausen nach ihm oder ließen sich seine Anwesenheit vom Personal am Telefon bestätigen. Eines Tages fiel auf: Der Mann war weg. Wie lange schon, wollte niemand sagen. Gefunden wurde er auch nicht. Monate nach seinem Verschwinden setzte die Justiz seine Strafe zur Bewährung aus. Dass sich ein derart lockerer Vollzug bei Hoeneß wiederholen könnte, weist ein Vertrauter zurück. Er genieße keinesfalls Sonderrechte, heißt es, auch nicht in der JVA. „Ich kann jedem die Sorge nehmen, der glaubt, dass Uli ein Traumleben hat. Das, was er in Landsberg mitmacht, mit Kinderschändern und anderen Kriminellen, ist alles andere.“ Beleg dafür ist laut Hoeneß’ Umfeld auch ein weiterer Erpressungsversuch. Die Polizei, heißt es, habe ihn nicht besonders ernst genommen. Trotzdem sei er ein Hinweis auf Hoeneß’ anhaltende Bedrohung. Bei einem ersten Erpressungsversuch hatte man ihm mitgeteilt, gegen die Zahlung einer sechsstelligen Summe könne Einfluss auf seinen Haftverlauf genommen werden. Der Erpresser wurde festgenommen. Rafael Buschmann, Conny Neumann
Video: Die Hoeneß-Klinik spiegel.de/app312014hoeness oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 31 / 2014
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Deutschland
Privater Krankentransport*: Hilflose Patienten wie Pakete behandelt
Ein krankes Geschäft Gesundheit Weil es billiger ist, werden Patienten statt in Krankenwagen oft in Mietliegewagen transportiert – und sind dort erhöhten Gefahren ausgesetzt.
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ls die Sanitäter zu dem Transporter eilten, der vor der Notaufnahme des Köpenicker Krankenhauses vorgefahren war, konnten sie schon die Schmerzensschreie hören. Im Laderaum saß Ingeborg L. in einem Rollstuhl, der am Boden festgezurrt war. Die betagte Dame sollte nur aus dem Pflegeheim zur Dialyse gebracht werden. Nun berichtete sie den beiden Helfern, der Fahrer des Wagens habe abrupt gebremst, dabei sei sie aus dem Rollstuhl gerutscht. Der Fahrer behauptete jedoch, sie sei angeschnallt gewesen. Später stellten die Ärzte des Klinikums fest, dass Frau L. sich bei dem Unfall beide Beine gebrochen hatte. Sie starb nicht lange danach, im November 2011, vermutlich an den Folgen der schweren Verletzungen. Die beiden Sanitäter bezeugten den Fall danach vor Ermittlern. Doch ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Berlin sagt, die Strafverfolger hätten nicht nachweisen können, 36
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dass der Fahrer vergessen habe, Frau L. anzuschnallen. Es sei ja auch möglich, dass sie sich während der Fahrt selbst abgeschnallt habe und deshalb bei der Bremsung auf dem Boden gelandet sei. Ihr Tod blieb ohne strafrechtliche Konsequenzen. Wenn Kranke von ihrer Wohnung zur Dialyse oder von einer Operation zurück ins Pflegeheim gebracht werden, geschieht dies häufig nicht in klassischen Krankenwagen, sondern in umgebauten Transportern. Von außen sehen die sogenannten Mietliegewagen oder Tragestuhlwagen oft aus wie die Fahrzeuge eines Umzugsunternehmens, und doch sind im Laderaum eine Liege oder spezielle Sitze eingebaut. Die Fahrer brauchen, anders als jene von Krankenwagen, keine Ausbildung zum Sanitäter. Sie sollen Patienten chauffieren, die zu gebrechlich oder krank für ein Taxi sind, jedoch zu gesund für einen Krankenwagen. Eine Fahrt im Transporter kostet die Krankenkassen oft nur halb so viel wie eine im Krankenwagen. Die Kassen haben durch ihre Aufträge dazu beigetragen, dass sich eine Branche etabliert hat, in der mitunter Wildwestmethoden herrschen. Manche Unternehmer und Fahrer haben kaum Vorkenntnisse im Umgang mit Kranken. Fuhrbetriebe nutzen Krankentransporte als schnelle Einnahmequelle. Leidtragende sind die Patienten, die in den Wagen einem erhöhten Infektions- und Unfallrisiko ausgesetzt sind. * Observationsfoto von Privatdetektiv Klaus-Dietmar Nehring.
Die AOK Nordost hat 2013 für Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern etwa 400 000 Fahrten in klassischen Krankenwagen abgerechnet, aber rund 1,8 Millionen in Mietwagen. Darin dürfen nur Patienten gefahren werden, die keine medizinische Überwachung benötigen. Seit 2004 haben die Krankenkassen das Recht, Fahrten vorab zu genehmigen. Muss ein Patient auf Kassenkosten regelmäßig in eine Klinik gefahren werden, braucht er die „Verordnung einer Krankenbeförderung“ vom Arzt. Die Kasse darf die Verordnung ändern, wenn sie diese für nicht gerechtfertigt hält. Dem SPIEGEL liegen Dokumente vor, die belegen, dass Kassen Fahrten im Krankenwagen ablehnen, selbst wenn Ärzte sie verschrieben hatten. Dann kann der Mediziner zwar verordnen, dass ein Patient überwacht werden muss. Genehmigt der Mitarbeiter der Kasse nur den einfachen Krankentransport, hilft das in der Praxis meist nichts. Die AOK Nordost teilt mit, sie sei „gehalten, auf eine wirtschaftliche Verwendung der Versicherungsgelder zu achten“. Die Knappschaft, eine Krankenkasse mit mehr als 1,4 Millionen Mitgliedern, behauptet, sie übe keinen Druck aus, sondern versuche nur, die niedergelassenen Ärzte zu informieren. Immer wieder befördern Transportfirmen auch ernsthaft erkrankte Patienten, wie Unternehmer berichten. Es wird gefährlich, wenn diese Kranken auf überforderte Fahrer treffen. In Bochum rammten die Mitarbeiter einer Beförderungsfirma den Kopf einer
Patientin beim Einladen gegen die Ober- Haar und grauem Pullover, überwacht seit kante des Mietliegewagens. Die Frau ist vier Monaten dreimal pro Woche Berliner seitdem teilweise querschnittsgelähmt. Das Krankentransporte. Dann steht er vor den Oberlandesgericht Hamm verurteilte das Notaufnahmestationen der Krankenhä, Krankenhaus, das die Firma beauftragt hat- flüstert Beobachtungen in sein Aufnahmete, vor einigen Jahren zu 20 000 Euro gerät und schießt mit einer kleinen Kamera Beweisbilder. Etwa von einer alten Schmerzensgeld. In Lüdenscheid vergaßen 2007 ein Fah- Dame, die ein Fahrer unangeschnallt in rer und sein Kollege einen Patienten im einen Transporter setzt. Fahrgastraum und machten Feierabend. Seine Ermittlungsergebnisse hat Nehring Der 71-jährige Bewohner eines Senioren- in einem dicken Ordner zusammengefasst. heims, der nur wegen einer Platzwunde Darin dokumentiert er, wie der Rollstuhl im Krankenhaus gewesen war, stand unter eines geschwächten Dialysepatienten auf starken Medikamenten, er konnte sich der Ladefläche notdürftig mit Seilen genicht bemerkbar machen und wurde erst sichert wurde. Andere Kranke wurden in am nächsten Morgen in der kalten Garage Fahrzeuge bugsiert, in denen kurz zuvor gefunden. Vorher hatten Mitarbeiter des Zementsäcke oder Möbel transportiert worHeims ergebnislos nach ihm gesucht. den waren. Mehrmals erlebte Nehring, dass Dass hilflose Patienten manchmal wie die Fahrer abends nach allen PatientenfahrPakete behandelt werden, weiß Christian ten schaufelweise von Fahrgästen hinterlasMolina Ribas aus eigener Erfahrung. Der senen Müll aus dem Fahrzeug räumten. 45-jährige Berliner arbeitet seit acht Jahren Die Krankentransporter unterliegen als Fahrer von Krankentransportern. Ge- dem Personenbeförderungsgesetz. Für sie gen seinen ehemaligen Arbeitgeber laufen gelten laschere Hygienevorschriften als für Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts klassische Krankenwagen, deren Betrieb auf Krankenkassenbetrug und Hehlerei. im Rettungsdienstgesetz geregelt ist. Des„Je weniger Aufwand und je mehr Geld halb dürfen in den meisten Bundesländern pro Fahrt, desto besser, das war das Motto, keine Patienten in Krankentransportern und das ist es bei vielen in der Branche befördert werden, die multiresistente Keiimmer noch“, sagt Molina Ribas. me (MRSA) in sich tragen. Seine Schichten hätten üblicherweise Doch als Wissenschaftler der Univerzehn bis elf Stunden gedauert. In dieser sitätskliniken Gießen und Frankfurt am Zeit habe er bis zu 30 Fahrten gemacht, Main vor drei Jahren die Wagen untersuchfür 6,25 Euro netto die Stunde. Er habe ten, fanden sie die gefährlichen Keime in oft mehrere Patienten gleichzeitig mitneh- jedem vierten untersuchten Krankentransmen müssen. „Der Druck war enorm“, porter. Ein Grund dafür dürfte sein, dass sagt der gelernte Maler, dem das Arbeits- Patienten in Krankentransportern gefahren amt den Job vermittelt hatte. „Ich war froh, werden, selbst wenn Ärzte Infektionskranküberhaupt eine Anstellung beheiten auf ihren Transportverkommen zu haben.“ Manchmal ordnungen notiert haben. sei ihm monatelang kein Gehalt Der laxe Umgang mit MRSAgezahlt worden, niemand habe Patienten sei „haarsträubend“, Hygienevorschriften beachtet, sagt Christian Kühn, Sicherheitsetwa den Patientenstuhl nach ingenieur für Krankenwagen jeder Fahrt zu desinfizieren. aus Schleswig-Holstein. Einige „Trotzdem beschwert sich nieder Wagen sind so groß, dass mand“, sagt Molina Ribas, zu neben den Tragestühlen auch groß sei die Angst, wieder beim Fahrer Molina Ribas mehrere Reihen normale Sitze Arbeitsamt zu landen. installiert sind. „In diesen MultiIn vielen Bundesländern sind die Behör- funktionswagen werden morgens MRSAden mit der Kontrolle zwielichtiger Firmen Patienten transportiert, dann holen sie überfordert. In Berlin ist eine einzige eine Schulklasse vom Schwimmunterricht Mitarbeiterin des Landesamts für Bürger- ab, und abends fahren sie noch mal eine und Ordnungsangelegenheiten für die Kon- Gruppe Rentner“, sagt Kühn. Das sei pertrolle von knapp 10 000 Taxis, Kranken- fekt für die Verbreitung der krankmachentransportern und Krankenwagen zuständig. den Keime. Zudem müssten sich die FahMolina Ribas hat bei seiner alten Firma rer kaum an Hygienevorschriften halten, schließlich gekündigt. Er arbeitet immer gingen aber täglich in den Krankenzimnoch als Fahrer von Krankentransporten, mern ein und aus. Niemand dürfe sich aber bei einem Unternehmen, das besser wundern, wenn Fahrer auf diese Weise die mit Patienten und Fahrern umgehe. Keime verbreiteten. Weil der Markt kontinuierlich wächst Privatdetektiv Nehring sagt, er habe und auch fragwürdige Firmen hervor- bis zum diesem Auftrag keine Angst vor bringt, haben einige Unternehmen die dem Alter gehabt. Das habe sich geändert, Kontrolle selbst in die Hand genommen seitdem er wisse, wie es in der Krankenund einen Privatdetektiv engagiert. Klaus- transportbranche zugehe. Dietmar Nehring, ein Mann mit grauem Sebastian Kempkens 38
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Im Namen der Sandmücke Verteidigung Trotz Hitze in Einsatzgebieten sollen Bundeswehrsoldaten ihre Tätowierungen abdecken. Nun regt sich in der Truppe Protest gegen die Regel.
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s ist der vergangene Donnerstag, als wenige Meter von Ursula von der Leyen entfernt der Regelverstoß geschieht. Der Hauptfeldwebel sitzt auf einer Bank im Innenhof des Hauptquartiers der Afghanistan-Schutztruppe in Kabul, das Thermometer steigt unaufhaltsam gen 40 Grad Celsius. Die Ärmel seiner Uniform sind zweifach umgekrempelt,
FOTOS: WELTERS / DER SPIEGEL (L.); BÜTTNER/PICTURE-ALLIANCE/DPA (M.O.); PÜSCHNER / ZEITENSPIEGEL (M.U.)
Deutschland
FOTOS: HERMANN BREDEHORST / POLARIS / LAIF (R.O.); ULLSTEIN BILD (R.U.)
Soldaten im Einsatz: Warum schreibt man mir vor, was ich von meiner Haut zeigen darf?
darunter scheint ein schwarzes Tribal-Tattoo hervor. Es ist deutlich zu erkennen, und genau da liegt das Problem. Denn seit Februar gilt in der Bundeswehr der neue Haar- und Barterlass. Er regelt nun nicht nur die zulässige Bartstoppellänge („gepflegt und gestutzt“), wie es seit Langem Brauch ist. Nach Monaten akribischer Arbeit hat Generalinspekteur Volker Wieker jetzt festgelegt, dass die Soldaten ihren Körperschmuck im Dienst abnehmen sollen. Was sich nicht abnehmen lässt, muss wenigstens „in geeigneter und dezenter Weise“ abgedeckt werden. Als die Regelung im Winter in Kraft trat, waren viele Soldaten irritiert. Jetzt ist Sommer, und mit den Temperaturen steigt auch das Unverständnis über das Paragrafenwerk. 38 Eingaben haben den Bundestags-Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus schon erreicht. Der Ton ist stets ähnlich: Warum schreibt mir die Bundeswehr vor, was ich von meiner Haut zeigen darf? „Die Neu-
fassung des Haar- und Barterlasses sorgt in der Bundeswehr für große Verunsicherung“, sagt Königshaus, er stellt sich auf einen heißen Sommer ein. Für von der Leyen kommt das Thema höchst ungelegen. Sie will aus der Bundeswehr ja einen attraktiven Arbeitgeber machen, seit Wochen tingelt sie von Kaserne zu Kaserne. Die Ministerin verspricht neue Fernseher und eine rasche Sanierung der Stuben; Hauptsache, die Jugend begeistert sich wieder in ausreichender Zahl für die seit dem Ende der Wehrpflicht dezimierte Truppe. Und nun das. „Wenn die Bundeswehr in Zukunft etwa jeden siebten deutschen Staatsbürger eines Jahrgangs davon überzeugen möchte, sich bei ihr zu bewerben“, sagt der Wehrbeauftragte Königshaus, „sollte klug abgewogen werden, wie rigide das äußere Erscheinungsbild junger Soldatinnen und Soldaten geregelt wird.“ Warum in den neuen Afrika-Einsätzen zwischen Mali und Somalia bei sengender
Hitze lange Kleidung angelegt werden muss, ist nicht leicht zu erklären. Tattoos sind unter jungen Menschen Mode, das gilt erst recht bei der Bundeswehr, wo die in die Haut gestochenen Bilder und Symbole oft eine Erinnerung an einschneidende Erlebnisse im Kampfeinsatz sind. Am härtesten trifft es die knapp 2000 Soldaten, die momentan in Afghanistan stationiert sind. Beim Besuch von der Leyens in Masar-i-Scharif einen Tag vor dem Abstecher nach Kabul standen die anwesenden Soldaten brav mit langem Hemdenarm vor der Ministerin. Der im Norden verantwortliche Bundeswehrgeneral Bernd Schütt hatte mit persönlichem Appell an die Soldaten dafür gesorgt, dass keiner auch nur einen Zipfel Tattoo aus der Kleidung herausblicken ließ. Not macht erfinderisch, das gilt auch für argumentative Zwangslagen. Als Begründung für lange Ärmel wird von Schütt und anderen nun die Leishmaniose herangezogen. Der Erreger der Infektionskrankheit wird von einer fiesen Sandmücke übertragen, einzelne Fälle gab es auch bei Soldaten in Afghanistan. Dagegen helfen natürlich am besten: lange Ärmel. Mit mehr Stoff am Körper sind freilich nicht alle Probleme gelöst. Bei Frauen ist Lippenstift nur „natürlich wirkend“ erlaubt; langes Haar muss „komplett gezopft“ sein, und aufgeklebter Schmuck auf den Fingernägeln ist ebenfalls tabu. Die wenigen Bewerberinnen, die eine Karriere in der Bundeswehr in Erwägung ziehen, dürften sich bei der Lektüre der Vorschriften noch einmal überlegen, ob sich nicht eine Alternative zur Truppe finden lässt. Im Bundesverteidigungsministerium schwant den Verantwortlichen bereits, dass die Regeln ein wenig übertrieben sind. Aus Solidarität mit ihrem Generalinspekteur Volker Wieker hat von der Leyen dazu bislang nichts gesagt. Der hatte monatelang mit seinen Generälen um jeden Unterpunkt feilschen müssen. Momentan sei keine Änderung geplant, heißt es auf Nachfrage im Wehrressort. Immerhin darf jeder Vorgesetzte selbst entscheiden, wie streng er darauf achtet, ob die Untergebenen sich an die Vorgaben halten. Von der Leyen besteht jedenfalls nicht auf langen Arm. Im Ministerium läuft mancher Offizier mit kurzem Hemd herum, darunter ein sichtbares Tattoo. Wie sehr die Leitung mit der eigenen Regel fremdelt, beweist ein Blick auf die neue Broschüre zur Attraktivitätsoffensive. Unter dem Schriftzug „Aktiv. Attraktiv. Anders“ ist eine junge Soldatin zu sehen. In ihrem Ohr blinken zwei Stecker dem Betrachter entgegen. Auch das ist gemäß dem neuen Haar- und Barterlass ein Regelverstoß. Stecker sind als Ohrschmuck zwar prinzipiell erlaubt. Allerdings nur einer pro Ohr. Gordon Repinski DER SPIEGEL 31 / 2014
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Lehrer Pannes mit Handelsschülerin im Deutschunterricht
Eine für alle
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enn Rolf Wohlgemuth morgens den Dienst antritt, in seinem Arbeitszimmer mit brauner Schrankwand und meterlangem Schreibtisch, sind all die drängenden Probleme Deutschlands auch schon da. Migration und Integration, Fachkräftemangel und Arbeitslosigkeit, Zukunftsängste, Chancenungerechtigkeit, Bildungsferne. Der hochgewachsene Mann ist promovierter Philosoph und Germanist, Sozialpädagoge außerdem; jahrelang betreute er Schwerstabhängige in der stationären Drogentherapie. Die Erfahrung jenseits üblicher Regeln helfe ihm nun sehr, sagt er. Seit einem Jahr leitet er ein Berufskolleg in Köln – und obwohl allein in dieser Stadt mehr als 40 000 Schüler, etwa ein Drittel aller, eine solche Schule besuchen, trifft der Rektor überwiegend auf Menschen,
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die sich kaum etwas darunter vorstellen können. Sie wissen nicht, dass sich hier offenbart, woran es vielen schon seit dem Kleinkindalter mangelt. Von den Chancen, die hier jedem offenstehen, ahnen sie ebenfalls nichts. Dabei sind Schulen wie das ErichGutenberg-Berufskolleg ein Lehrstück über Bildung. Und alle, die in diesem Land darüber nachdenken, müssten eigentlich bei Rektor Wohlgemuth hospitieren. Zwei Schluck Tee, dann klickt er durch die morgendlichen E-Mails; wie jeden Tag gekleidet mit Hemd und Krawatte, als sende er ein Signal des Pflichtbewusstseins. Ein Schüler kündigt eine Klage gegen seine vorgesehene Entlassung an. Eine Lehrerin erwägt zivilrechtliche Schritte gegen einen Schüler. Zwölf Krankmeldungen aus dem Kollegium, ein städtischer
Angestellter stellt Fragen zum Schulbudget. Zügig tippt der Rektor Antworten, anschließend versieht er den großen Flachbildschirm an der Wand im Lehrerzimmer mit Terminen und Neuigkeiten. Er muss mehr als hundert Pädagogen zusammenhalten, die sich in großer Zahl unter ihrer Aufgabe einmal etwas anderes vorgestellt hatten als das, was sie auch an diesem Tag erwartet. Fast 2500 Schüler, Unterricht tagsüber und am Abend, 17 unterschiedliche Bildungsgänge, zwölf Arten von Abschlüssen. Traditionell sind dies in einer Berufsschule Berufsabschlüsse. Im Erich-Gutenberg-Kolleg, das auf Wirtschaft und Verwaltung spezialisiert ist, bringen viele den theoretischen Teil ihrer Ausbildung als Steuerfachangestellte, Bürokaufleute, IT-Systemkaufleute, Betriebswirte oder Informatik-
FOTOS: THEODOR BARTH / DER SPIEGEL
Schule Berufskollegs bieten vielen Jugendlichen die letzte Chance auf einen Abschluss – und offenbaren doch grundsätzliche Missstände im Bildungssystem. Eine Nahaufnahme. Von Katja Thimm
Deutschland
kaufleute hinter sich. Einige erwerben gleichzeitig das Fachabitur oder den Bachelor of Arts. Es sei, so urteilt das Kollegium, eine eher zielstrebige, eher unproblematische Schülerschaft. Doch die Schule, und davon handelt dieser Text, ist wie Hunderte ihrer Art auch eine Zuflucht. Wer andernorts im Bildungssystem verloren ging, kann sich hier an Haupt- und Realschulabschluss, Fachhochschulreife und Abitur versuchen. Jeden Tag, ein, zwei oder drei Jahre lang, in einem sogenannten Vollzeitbildungsgang. Beinahe die Hälfte aller Zeugnisse, die heute eine mittlere Reife bescheinigen, stammt von Berufsschulen. Der Rektor blickt auf. Vor seinem Fenster ziehen die Schüler vorüber wie ein träger Strom, der Eingang des Kollegs liegt gleich um die Ecke; es ist ein Fluss aus roten, grünen, blauen Chucks, aus Kapuzenpullovern, Kopftüchern, trainierten Oberkörpern und Sonnenbrillen. Emre, der schon zweimal die mittlere Reife vert hat. Salvatore aus einer Klasse für Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis, Florin, der auf eine Lehrstelle als Fachlagerist hofft. Stanislav, der Rechtsanwaltsgehilfe werden will, Jacquelina, Olga, Mehmet. Zwei Drittel der Schüler stammen aus einer Familie mit Migrationshintergrund; ein Großteil wohnt gleich hier im strukturschwachen Stadtteil Mülheim, wo Baracken geschlossener Großmärkte brach liegen und die Lehrer in der weitläufigen Anlage des Kollegs Rollkoffer mit Unterrichtsmaterial hinter sich herziehen, als verreisten sie in karges Terrain. Von einer zweiten, dritten und vierten Chance spricht Wohlgemuth und vom großen Glück mancher Schüler. Aber er sagt auch, dass die Vielzahl möglicher Umwege einige der jungen Leute überhaupt nicht weiterführe.
Achselzucken. „Die Grünen“, sagt schließlich eine Schülerin. In einem Jahr wollen die Jugendlichen das Berufskolleg mit dem mittleren Schulabschluss verlassen. Viele sollten jetzt schon so weit sein, alle sind mindestens volljährig. Aber es mangle an Durchhaltevermögen, sagt Sigrid Kurz. Zwölf Schüler, fast die Hälfte in der Klasse, fehlen auch an diesem Tag. Das zurückliegende dreiwöchige Pflichtpraktikum brachten zwei zu Ende. In manchen Halbjahren stehen in einem Klassenbuch bis zu 1700 Fehlstunden verzeichnet – das sind pro Schüler durchschnittlich 68 und, wie es der Beratungslehrer Armin Wambach formuliert, 1700 Störungen bei dem Versuch, Bildung zu verbreiten. Der Stapel aus Entschuldigungszetteln, die ihn in den vergangenen Monaten erreichten, ist umfänglich wie ein Bildband. „Und außerdem: die Unpünktlichkeit!“; Wambach schüttelt den Kopf. Selten nur, sagt er, schafften es die anwesenden Schüler, bei Unterrichtsbeginn auf ihrem Platz zu sitzen. Doch obwohl viele jeder Form von Schule längst überdrüssig sind, halten sie am Berufskolleg fest. In manchen Fällen reizt sie das Kindergeld. Aber vor allem ist es die Angst, die sie in die Klassenzimmer zieht. Der Welt da draußen, ihren Erwartungen und ihrer Unüberschaubarkeit, fühlen sie sich noch weniger gewachsen. 20 Prozent aller 15-Jährigen seien gefährdet, an einfachen Alltagsaufgaben zu scheitern und am Ende ohne Schulabschluss zu bleiben, heißt es an diesem Tag in den Nachrichten. Im Mülheimer Kollegium wird dieses neueste Ergebnis der Pisa-Studie mit Kopfnicken quittiert. Er komme da sofort auf zehn Namen, meint ein Lehrer. Leider. Wieder ertönt der Gong. Bei Jörg Pannes beginnt der Deutschunterricht im „Be-
rufsgrundschuljahr“. Es soll, wie es im „Bildungsportal“ des nordrhein-westfälischen Schulministeriums heißt, jungen Menschen eine berufliche Grundbildung vermitteln und sie schulisch weiterqualifizieren. Von den 18 Schülern, 16, 17 oder 18 Jahre alt, haben zum Schuljahresende in diesem Sommer 9 die angestrebte mittlere Reife erreicht. Das seien außergewöhnlich viele, urteilt der Lehrer. Jörg Pannes strahlt freundliche Bestimmtheit aus. Ob jemand schon mal etwas vom iv gehört habe, fragt er; die Verbform gehört zum Stoff der Unterstufe. „Bei BWL machen wir das“, erhält er zur Antwort. „Bei Bilanz, da haben wir links aktiv und rechts iv.“ „iv ist, wenn man was macht, so eher zurückhaltend“, mischt sich der Nächste ein. „Wie im Fußball.“ Hhm, erwidert der Lehrer, so ähnlich sei das auch in der Sprache. Dann erklärt er, bildet Beispielsätze, schließlich greift er nach der Kreide. ,Legen Sie beide Hände über den Kopf‘, schreibt er an die Tafel und legt beide Hände über den Kopf. „Ist das Aktiv oder iv?“ „Ich bin für Aktiv“, schreit eine Schülerin. „Ich für iv“, schmettert ein nächster. „Nicht raten!“, ruft Pannes in gespielter Verzweiflung. Aber es ist ihm ernst. Lernen funktioniere nun einmal durch Anschluss – und leider sei da häufig zu wenig, woran sich anschließen lasse, sagt er nach der Stunde. Eine seiner Kolleginnen ließ Geschäftsbriefe aufsetzen und fand Betreffzeilen wie „Beschwerde um Hereinkommen meiner Mietwohnung ohne mein Einverständnis“ oder Wörter wie „Elkaweh“, gemeint waren Lastkraftwagen. Manchmal zweifelt der Deutschlehrer, ob sich diesen erwachsenen Schülern überhaupt noch etwas beibringen lässt, das zu einem messbaren Lernzuwachs führt. Sie hätten in ihrem Alter ja
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er Gong erklingt, vier Töne eines Akkords, in Raum 2020 sammeln sich die Handelsschüler bei Sigrid Kurz zum Politikunterricht. Die Ukraine soll Thema dieser Stunde sein, die Gespaltenheit des Landes. „Erst einzeln, dann in Gruppen“, ruft Frau Kurz und verteilt Arbeitsblätter. Minuten später hebt eine Schülerin die Stimme: „Ich hab vergessen, was Opposition ist.“ „Vielleicht kann jemand helfen?“, fragt Frau Kurz. Stille. „Versuchen wir es anders“, sagt die Pädagogin. „Wer stellt in Deutschland zurzeit die Regierung?“ „Die Frau Merkel.“ „Und wer noch?“ „Der Bundespräsident.“ „Denken Sie an den Bundestag: An welche Parteien erinnern Sie sich?“
Schulleiter Wohlgemuth: Gelbe Karte, Rote Karte DER SPIEGEL 31 / 2014
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doch schon recht viele Verhaltensweisen verinnerlicht. Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Konflikten gehören dazu, manchmal Mobbing. Viel ausgeprägter aber ist unbedarftes Verhalten. Schülerinnen schneiden Haarspitzen, Schüler zupfen Augenbrauen, während Lehrer binomische Formeln erklären; weit verbreitet ist auch der Einsatz von Handcreme. Fordern die Lehrer auf, Schere, Pinzette und Creme wegzupacken, folgen Diskussionen. Das störe ja wohl niemanden! Das sei ja wohl leise! Kaum einer meine das böse. Aber die wenigsten seien in der Lage, Anweisungen kommentarlos zu folgen, lautet, zusammengefasst, das Urteil im Kollegium. Wer eine Woche lang den Unterricht in verschiedenen Klassen beobachtet, gewinnt einen ähnlichen Eindruck. Gängige Sanktionen, selbst der zwölfte Eintrag ins Klassenbuch, schrecken nur eine Minderheit. Die Lehrer führen zahlreiche Einzelgespräche; vor einigen Wochen saß im Zimmer des Rektors ein junger Mann auf dem Weg zur Fachhochschulreife. Er hatte eine Lehrerin in einer WhatsApp-Gruppe als NaziHure beschimpft. Dieser junge Mann, berichtet Rolf Wohlgemuth, habe weder die historische Dimension seiner Worte erfassen noch eine angemessene Entschuldigung äußern können. Symptomatisch sei dieser Fall, nicht nur für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Auch die deutschen beherrschen in vielen Fällen bloß eine Alltagssprache zum Austausch von Informationen. Ein Verständnis für komplexe Situationen oder den richtigen Ton bleibt vielen unerschlossen – unter anderem wohl deswegen, weil solche Fertigkeiten als Anstrengung empfunden werden. Umfasst eine Lektüre in der höheren Handelsschule mehr als eine DIN-A4-Seite, schwindet im Klassenraum die Konzentration. Die Sprache einfacher Verwaltungsvorgänge erschließt sich zahlreichen Schülern selbst dann nicht, wenn es sie betrifft. Ist zum Beispiel ihr Fehlverhalten Thema einer Lehrerkonferenz, halten viele bereits den ersten schriftlichen Verweis für den endgültigen Ausschluss aus der Schule. Der Rektor bemüht dann, in seinem Berufskolleg mit dem Schwerpunkt Verwaltung, den Fußball. Gelbe Karte, Rote Karte. Und gleichzeitig ist alles ganz anders. Severin, der ehemalige Hauptschüler, arbeitet hart, weil er bei der Bundeswehr unbedingt mit mittlerer Reife antreten will. Ulrike hat sich nach 35 schwierigen Lebensjahren nun erfolgreich als Abiturientin in die Sommerferien verabschiedet. Dennis, 22 Jahre alt, hat früher auf dem Bau gearbeitet und jetzt ein Studium vor Augen; der 19-jährige Serdar, der einmal Realschüler war, will Betriebswirt werden. Und die Schüler aus der „Internationalen Förder42
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kenntnisse, mehrere Schulwechsel und das Gefühl von Heimatlosigkeit ihre Rollen. Der Stiefvater führt einen türkischen Supermarkt, der leibliche Vater einen Hochzeitssalon, in dem er die großen Feierlichkeiten türkischer Familien ausrichtet. Es ist eine Geschichte über die mangelnde Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft, in der Erfolg vor allem von sozialer Herkunft abhängt. Mit der bürgerlichen Welt, in der sich Emre einmal behaupten soll, hat sie wenig gemein. Er habe einfach zu oft gechillt, sagt er, irgendwo mit Freunden eine Suppe getrunken, oder er sei nach Berlin gefahren, morgens hin, abends zurück, zum Einkaufen. Gern, sehr gern würde er noch einmal alles neu und anständig machen. Doch auch in Schüler Emre im Computerkurs diesem Jahr hat Emre im Unterricht 60 „Manchmal im Kopf erst zwölf Jahre alt“ Stunden gefehlt. Knapp 30 gelten als unklasse“ hoffen auf Asyl in Deutschland und entschuldigt; die Bilanz hat ihn Mühe gebegreifen alles, was sie lernen, als Eintritts- kostet. Obwohl der 20. Geburtstag längst karte in ein besseres Dasein. Ohne die Um- hinter ihm liegt, wirkt Emre kindlich, ein wege, die ein Berufskolleg offenhält, wür- Junge mit dünnem Bart und schmalem Geden Hunderte in diesem Kölner Stadtteil sicht. Einmal, vor ein paar Jahren schon, nicht so weit nach vorn blicken. haben ihn Polizisten zu Hause aufgesucht Vor allem in den Bildungsgängen „Wirt- und in die Schule beordert. Fast zwei Woschaftsgymnasium“ und „Fachoberschule“ chen lang war er nicht im Unterricht ersammeln sich Hoffnungsträger; die Pokale schienen. Meist schicken die Sachbearbeiim gläsernen Schaukasten zeugen von ter im Ordnungsamt in solchen Fällen Mathematikwettbewerben und Fremd- außer der Polizei auch einen Bußgeldbesprachenexperimenten, von Ehrgeiz, Ein- scheid. Bis zu 1000 Euro kann das Vergesatz, Sieg. In den Stunden der Abiturfächer hen kosten. „Aber ehrlich!“, sagt Emre, und herrscht trotz linearer Algebra und epi- er ist stolz darauf, „das war nur einmal.“ schen Lehrtheaters straffe Ruhe. Vielfach Bringen Bewerber die formalen Vorausist das Kolleg, dank europäischer Struktur- setzungen mit, müssen sie am Berufskolleg förderung und eines amerikanischen Soft- aufgenommen werden. Wie Emre fehlt vieware-Unternehmens, auch besser ausge- len allerdings ein Masterplan. Die altgestattet als andere. Im Selbstlernzentrum dienten Lehrer in Köln blicken wehmütig, sind 40 Tablets verfügbar; Berufsbörsen, sie erinnern sich an eine Zeit, in der in ihSelbstmanagement und ein Training für Be- ren Klassen überwiegend die kaufmänwerbungsgespräche gehören ebenfalls zum nisch und mathematisch Interessierten eiAngebot: Wie steht man selbstbewusst im nes Jahrgangs saßen. Heute entscheiden Raum? Wie hoch muss der Ausschnitt einer sich viele Heranwachsende allein aus AlBluse sitzen? Zwei Sozialpädagoginnen ternativlosigkeit für die Vollzeitbildungssind bei Problemen ansprechbar; und um gänge einer Berufsschule. Vor allem die möglichst vielen gerecht zu werden, unter- höhere Handelsschule, lange eine prestigerichten in manchen Schulstunden zwei trächtige Station künftiger BankangestellLehrer gleichzeitig. Sie vermitteln während ter, zieht in großer Zahl jene Jugendlichen der Klassenfahrten neben Skifahren auch an, die nach der zehnten Klasse ohne AusTischmanieren, sie posten Lernhinweise bildungsplatz geblieben sind. Allerdings auf Facebook, sie sind per E-Mail zu errei- erreichen dort in der Regel höchstens zwei chen. Und viele mögen ihre Schüler. Drittel der Schüler den Abschluss. Dass An diesem Berufskolleg, so lässt es sich ein Drittel scheitert, ist typisch für alle wohl zusammenfassen, ist vieles verwirk- Vollzeitbildungsgänge – halten 70 Prozent licht, was Lernforscher als Ideal annehmen. der Jugendlichen durch, gilt das im ErichWarum nur liegt dann so viel im Argen? Gutenberg-Kolleg bereits als gutes Ergebnis. Neue Bildungspläne in Nordrheinmre hat sich bereit erklärt zu er- Westfalen sollen dazu beitragen, die Quote zählen. Der Handelsschüler aus der in den Berufsschulen zu steigern – mehr Politikklasse von Frau Kurz verlässt Kompetenzen statt abstrakten Wissens, in diesem Sommer mit der mittleren Reife mehr individuelle Förderung. Alles schön und gut, heißt es im Lehrerdas Berufskolleg. Es ist der dritte Anlauf. Emres Geschichte klingt typisch für die- zimmer. Aber das eigentliche Drama sei sen Stadtteil; es spielen darin eine beengte das Hohelied des Abiturs – die gesellschaftWohnung, falsche Freunde, körperliche liche Übereinkunft, dass ein erfolgreiches Auseinandersetzungen, holprige Deutsch- Leben ohne Hochschulreife im Grunde un-
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FOTOS: THEODOR BARTH / DER SPIEGEL
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denkbar sei. Bildungsforscher beschreiben es ähnlich: Weil jeder heute nach dem bestmöglichen Abschluss strebe, würden zahlreiche Jugendliche am Rand ihrer kognitiven Fähigkeiten beschult. Es ist eine Garantie für Frustration und Scheitern. Mehr als die Hälfte der Schüler mancher Klassen des Erich-Gutenberg-Kollegs findet im Anschluss an die Schule keine Lehrstelle. Ein Großteil sei einfach nicht gut genug, urteilen viele Lehrer. Zeugnisse seien oft irreführend, häufig brächten die Schüler bereits geschönte Noten mit. Und so sammeln sich in Berufsschulklassen Mängel und Versäumnisse vergangener Jahre, die sich kaum aufholen lassen. Am Erich-Gutenberg-Berufskolleg vergeben Pädagogen zuweilen ebenfalls bessere Noten, als die Leistung es verdient. Mitleid treibt sie; und alle kennen sie Ehemalige, die irgendwann doch noch ihren Weg gefunden haben. Zugleich reagieren Schüler auf schlechte Beurteilungen zunehmend mit Einspruch oder Klage. Auch die Bezirksregierung schrecken hohe Durchfallquoten. Es ist vorgekommen, dass ein Lehrer zum Gespräch geladen wurde, nachdem weniger Jugendliche einen Abschluss erreicht hatten als statistisch erwartet. Das Geflecht ist verworren: Nimmt ein Pädagoge seinen Beruf ernst, mag er Noten nicht verschenken. Dennoch will er niemandem die Zukunft verbauen, sie strahlt in Köln-Mülheim ohnehin nicht hell. Und gleichzeitig behindern freundliche Zeugnisnoten manche Schüler auch. Der unfreundliche Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt trifft sie dann umso härter. Emre kennt das Gefühl, er hat es so lange wie möglich gescheut. Wie die meisten seiner Mitschüler plant er ein Leben, das
er als normal bezeichnet. Mit Glück gesund, verheiratet, ein Kind, eine einkömmliche Arbeit. Er wolle nicht übertreiben, sagt er, mit 2500 Euro netto monatlich wäre er zufrieden. Außerdem ein Auto, natürlich. Gebraucht kostet sein Wunschmodell etwa 80 000 Euro, aber so weit rechnet Emre nicht. Als Einzelhandelskaufmann möchte er seine Ziele einmal erreichen. Und er hofft, dass sich nun, die mittlere Reife in der Tasche, doch alles irgendwie schon fügen wird. Vorerst aber wird der junge Mann in einer Supermarktfiliale als Hilfskraft an der Kasse sitzen und Tiefkühlerbsen in das Gefrierfach sortieren. Weder bei Netto noch bei Lidl, Penny, Aldi oder Rewe haben ihn die Personalbeauftragten als Lehrling angenommen. Er hat sich allerdings auch viel zu spät darum beworben. „Manchmal“, sagt Emre, „denke ich wirklich, dass ich im Kopf erst zwölf Jahre bin. Ich schaffe es einfach nicht, mich so zu verhalten, wie man sich in meinem Alter verhalten muss.“
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iotee steht auf dem runden Tisch. Auch Salvatore hat sich bereit erklärt zu erzählen; wie jeden Mittwochvormittag findet er sich im Raum der Sozialpädagoginnen ein. Svenja Kreuzer und Güler Almering helfen bei Problemen mit Schulden, ungewollter Schwangerschaft oder Gewalt im Elternhaus. Vor allem aber unterstützen sie die Schüler bei Bewerbungen um Lehrstellen und Praktikumsplätze. Salvatore ist ein kräftiger Junge mit dunklem Kraushaar, an diesem Tag trägt er Schwarz; Jacke, Hemd, Hose. Wie alle Schüler in der ABV-Klasse, der Klasse für Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis, besucht er das Berufskolleg, weil er als
Eingangstor des Kölner Erich-Gutenberg-Berufskollegs: 17 Bildungsgänge, 12 Abschlüsse
Minderjähriger ohne Lehrstelle gesetzlich dazu verpflichtet ist. Klassen wie seine stehen in der Hierarchie einer Berufsschule an unterster Stelle. Mit ihrem oft schlechten Hauptschulabschluss sind die meisten Schüler dieses Bildungsgangs auf dem regulären Ausbildungsmarkt von vornherein beinahe chancenlos. Einen weiterführenden Abschluss können sie nur erwerben, wenn ein Lehrer sie ausdrücklich empfiehlt. Die Trostlosigkeit ist groß. Von den 55 Mitschülern Salvatores erschienen in den zurückliegenden Monaten selten mehr als 8 zum Unterricht. Salvatore kam regelmäßig. Seine Eltern stammen aus Sizilien; sie könnten ihm nicht weiterhelfen, meint er, aber irgendwie müsse es ja vorangehen. Weitgehend eigenständig hatte er nach der Hauptschule entschieden, einen kaufmännischen Beruf zu erlernen. Seine Note in Mathematik aber war mangelhaft, und sein Weg führte ihn in die ABV-Klasse. Die Tests zur Berufsfindung bei Svenja Kreuzer wiesen auf eher handfeste Begabungen hin. Salvatore absolvierte Praktika, wie vorgeschrieben jeweils nur einen Tag lang. Den ersten Betrieb, eine Glaserei, empfand er als unfreundlich, die spätere Arbeit eines Dachdeckers als anstrengend. Beim dreiwöchigen Praktikum im Hotel gefiel es ihm besser. In der Küche und in den Zimmern sei er gewesen, erzählt er, auch bei den Beratungen, er meint die Rezeption. Warum er sich nicht dort um eine Lehrstelle bemüht? Das Geld, antwortet Salvatore. Er habe gehört, dass sich im Hotel nicht mehr als 1800 Euro brutto verdienen lasse. Zu wenig für ein Haus, ein Auto und eine Familie. Erst einmal anfangen, das schreckt ihn ab. Dass ein schlechter Hauptschulabschluss und sein Anspruch schlecht miteinander vereinbar sind, daran mag er nicht denken. Findet er bis zum Ende der Sommerferien keine Lehrstelle, bleibt er für ein weiteres Jahr in der ABV-Klasse. „Ich hab’s mir halt einfach vorgestellt“, sagt er. „Schule, weitermachen, und irgendetwas wird schon dabei rauskommen.“ Vielleicht eine Maßnahme, sagt Frau Kreuzer. Während einer Maßnahme sollen Sozialverbände wie das Kolpingwerk Jugendliche außerhalb der Schulzeit darin unterstützen, Perspektiven zu finden. Die Verbände erhalten dafür Geld von der Arbeitsagentur. Es ist auch ein Versuch, Jugendarbeitslosigkeit vorübergehend unsichtbar zu halten. Oder eine Einstiegsqualifizierung, sagt Frau Kreuzer. Während einer Einstiegsqualifizierung arbeiten Jugendliche bis zu zwölf Monate lang staatlich bezuschusst, bis der Arbeitgeber entscheidet, ob er sie als Auszubildende übernimmt. Manche Firmen rund um Köln bieten 60 Qualifizierungsplätze, anschließend aber nur 30 Lehrstellen an. Allein das Wissen um DER SPIEGEL 31 / 2014
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derartige Konkurrenz entziehe jungen Erwachsenen wie Salvatore die Energie, sagt Svenja Kreuzer. „Im Zweifel fangen sie ja doch wieder bei null an. Nur sind sie in der Zwischenzeit noch ein Jahr älter geworden.“
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roße Pause. Smartphones kreisen. Sie sind bestückt mit amerikanischen Fernsehserien und digitalen Lesezeichen für Automarken, Kleidung und High-End-Technik. Im Unterricht, es ist ein ungeschriebenes Gesetz, werden sie eingesammelt. Die Mutlosigkeit, die Resignation vieler Schüler speise sich auch aus den immer verfügbaren Bildern von Wohlstand und Glamour – selbst die Internetfreunde im Kollegium sind davon überzeugt. Dass zu einem guten Leben ein langer Atem gehöre, Anstrengung und Ausdauer, gehe im Rausch der Bilder leider unter, sagen sie. Gleichzeitig aber führe jeder Tag vor, wie weit das eigene Leben von der Serienwirklichkeit entfernt sei. Natürlich verunsichere das, meinen die Pädagogen. Wie solle da ein stimmiges Selbstbild entstehen? Um sich dem glamourösen Lebensstil wenigstens zu nähern, arbeiten zahlreiche Schüler als Aushilfen. Die Zeit, manchmal mehr als 20 Stunden in der Woche, fehlt bei der Suche nach langfristigen Perspektiven. Doch auch weil sie oft weitaus mehr verdienen als ein Lehrlingslohn hergeben könnte, erscheint manchen ein Ausbildungsplatz am Ende nicht mehr so wichtig. Urlaub, ein vorzeigbares Auto, Klamotten – um die 700 Euro brauche man schon im 44
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Monat, berichten zwei Wirtschaftsgymna- schen einer Leistungsgesellschaft und den siasten. Mit Bafög und Kindergeld allein Möglichkeiten mancher, die in ihr heranlasse sich das Leben doch nicht genießen. wachsen, ist grausam. In Nordrhein-WestDie beiden haben Glück; ihre Eltern dul- falen soll nun „Kaoa“ Abhilfe schaffen. den den Nebenerwerb nur, solange die No- „Kein Abschluss ohne Anschluss“, ein Proten stimmen. Ein Großteil der Väter und gramm des Arbeitsministers, wird mit bis Mütter aber zeigt wenig Interesse am zu 60 Millionen Euro vom Bund gefördert Schulalltag. Zugleich legen viele Wert da- und soll die Strukturen für den Übergang rauf, dass ihr Nachwuchs ein Kolleg für zwischen Schule und Beruf vereinfachen und dabei keinen Jugendlichen „zurückWirtschaft und Verwaltung besucht. „Vor allem Eltern mit Migrationshinter- lassen“. Im Kölner Kollegium gilt lange schon grund wollen vermeiden, dass ihr Kind einmal ähnlich dreckige Arbeit verrichten der Grundsatz, niemanden verloren zu gemuss wie sie“, sagt die Pädagogin Güler ben. Doch der Grat ist schmal: Wo liegt Almering, die selbst ein Kind türkischer die Grenze? Wann wird aus Unterstützung Einwanderer ist. „Sie denken an Jura oder eine Erziehung zur Unselbstständigkeit? BWL. Sie formulieren Zielbiografien, die In fast jeder Pause schwirrt die Diskussion mit den Fähigkeiten ihrer Kinder oft nichts im Lehrerzimmer. Manchmal fragt der Rektor sich, ob zu tun haben – und manchmal auch mit Schule nicht längst auch ganz andere Fäihren eigenen Wertvorstellungen nicht.“ Eine muslimisch erzogene Schülerin der higkeiten vermitteln müsse. Einer seiner höheren Handelsschule darf kein Prak- Kollegen im Ruhrgebiet bietet für Jungen tikum im Einzelhandel antreten, weil sie und Mädchen der zehnten Klasse nur Unalkoholhaltige Getränke in die Regale räu- terricht in Lebensbewältigung an: Wie lässt men müsste. Andere Familien untersagen sich billig und gesundheitsbewusst im Suihren Töchtern, einen Pflegeberuf zu er- permarkt einkaufen? Wie streckt man eine lernen; der hätte Zukunft, aber die Töchter Hartz-IV-Rate über einen Monat? „Eine Wahrheit“, sagt Rektor Wohlgekämen mit unbekleideten Männern in Kontakt. Die nächsten Jugendlichen schließlich muth, „eine Wahrheit ist doch auch, dass wagen selbst nicht den Sprung. Frau Al- es in unserer computergestützten Dienstmering hat schon Schüler auf Einstellungs- leistungsgesellschaft für zahlreiche junge gespräche vorbereitet, die den Ausbil- Menschen kaum mehr Berufe gibt, denen dungsplatz am Ende ausschlugen, weil er sie gewachsen wären.“ Das, sagt der Schulleiter, ahnten diese auf der anderen Rheinseite und damit in jungen Leute. Und sie könnten sich schon einer ihnen fremden Welt lag. Es sind Beschränkungen, die eine Schu- als Teenager nicht vorstellen, wie sie jele kaum auffangen kann. Die Kluft zwi- mals dagegen ankommen sollten.
FOTO: THEODOR BARTH / DER SPIEGEL
Wirtschaftsgymnasiastin im Unterricht: Trotz linearer Algebra straffe Ruhe
Motto „Steter Tropfen“ Maut Verkehrsminister Dobrindt ärgert mit seinem Konzept die eigenen Leute. Die CDU setzt auf organisierten Widerstand. Und die Heimatfront Bayern bröckelt.
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FOTO: STEPHANIE PILICK / DPA
ur Sicherheit hatten die Verschwörer ihrer Telefonkonferenz einen unverfänglichen „Betreff“ gegeben. Zum Thema „Dringende Mitgliederangelegenheit“ schaltete sich der geschäftsführende Landesvorstand der CDU Nordrhein-Westfalen am vergangenen Dienstag zusammen. Die Angelegenheit war in der Tat dringend, doch mit Mitgliedern hatte sie wenig zu tun. Die CDU-Politiker, darunter Landeschef Armin Laschet, Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und Bundestagspräsident Norbert Lammert, besprachen eine Strategie, wie man das Maut-Konzept von CSUVerkehrsminister Alexander Dobrindt zu Fall bringen könnte. „In der Bewertung dieses unseligen Papiers waren wir einer Meinung“, sagt ein Teilnehmer. „Die Frage war nur: Gehen wir gleich in die Vollen oder machen wir es nach der Methode ,Steter Tropfen‘.“ Man entschied sich für den steten Tropfen. Seit Wochen prasselt Kritik auf den Verkehrsminister herab, der nach langem Brüten das ihm von seinem Ministerpräsidenten aufgegebene Maut-Konzept vorlegte: eine Infrastrukturabgabe für alle deutschen Straßen, von der Autobahn bis zur Dorfstraße. Einen Tag nach der Telefonkonferenz ging Laschet an die Öffentlichkeit. Im Interview mit der Rheinischen Post brandmarkte er die Maut als „schädliches“ Eintrittsgeld für Ausländer und betonte: „Das
Minister Dobrindt „Radikales Umdenken“
ist so nicht im Koalitionsvertrag verabredet.“ Die CDU-Landesgruppe NRW im Bundestag verschickte über ihren Verteiler Mails zum „aktuellen Stand der Mautdiskussion“. Zu anderen strittigen Themen hatte man sich diesen Aufwand gespart. Und das ist erst der Anfang: In den nächsten Wochen wollen die NRWler versuchen, die Gewerkschaften gegen die Maut zu mobilisieren – zum Wohle der Pendler und der Arbeitnehmer kleiner Betriebe selbstverständlich, die wegen der Maut Kundschaft verlieren könnten. Der CDU-Abgeordnete Oliver Wittke, früher Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, soll dem Vernehmen nach den Widerstand in die Bundestagsfraktion tragen und vor allem unter CSU-Kollegen Stimmung gegen Dobrindts Pläne schüren. Diese Idee ist aussichtsreich, denn in der CSU-Landesgruppe sitzen viele, denen Dobrindts Papier suspekt ist. Sie trauen sich nur nicht aus der Deckung. „Ich kann mich nicht erinnern, im Bayernplan für eine Maut gestimmt zu haben, die landauf, landab bis in den letzten Winkel gelten soll“, schimpft ein Mitglied der Landesgruppe, dessen Wahlkreis an die österreichische Grenze stößt. Die Maut-Gegner in der CSU schicken nun Stoßgebete an eine Instanz, die sie normalerweise verteufeln: „Hoffentlich räumt die EU das ab.“ Nicht einmal auf die CSU-Landtagsfraktion in München, wo Ministerpräsident Horst Seehofer das Sagen hat, kann sich Dobrindt noch verlassen. „Wir haben immer Ja zur Maut gesagt, aber nie Ja zu einer Maut überall“, grantelt ein Mitglied der Fraktionsführung. Die Kritiker fühlen sich ermutigt durch Bayerns Verkehrsminister Joachim Herrmann. Ausgerechnet er, den Dobrindt früh in sein Konzept eingeweiht hatte, brachte Ausnahmen für Grenzregionen ins Spiel. Seither ist der Strom der Bürgermeister, Landräte und Hinterbänkler aus dem Landtag vor den Kameras kaum zu bremsen. Zuletzt beschloss der bayerische Landkreistag einstimmig eine Resolution, die „radikales Umdenken“ bei der Maut fordert. Da hilft es wenig, wenn Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner beteuert: „Ganz Bayern profitiert davon, wenn wir ein modernes, gut ausgebautes Straßennetz haben.“ CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sieht sich gezwungen, die CDUKollegen an ihre Koalitionstreue zu erinnern: „Alle müssen jetzt an einem Strang ziehen. Wir lassen uns die Maut nicht zerreden.“ Dass sein eigener Wahlkreis au an die Grenze zu Österreich reicht, ficht Scheuer nicht an: „Für einen neuen Polo kostet die Jahresvignette 24 Euro, das ist verkraftbar.“ Doch ein Maut-kritischer Fraktionskollege ist sich sicher: „Der Andi kommt auch noch zur Vernunft.“ Melanie Amann DER SPIEGEL 31 / 2014
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Verbrechen Eine Hebamme in München soll versucht haben, vier Mütter zu töten. Dass sie schon früher auffällig war, nahm niemand ernst genug.
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ier Frauen sind es, denen die moderne Geburtshilfe im Münchner Universitätsklinikum Großhadern zum Mutterglück verholfen hat. Frauen, von denen einige nicht gewusst hatten, ob sie jemals ein Kind würden austragen können, da ihr Blut nicht so rasch gerinnt wie bei gesunden Menschen. Die Gynäkologen an der Uni-Klinik konnten helfen. Mit Medikamenten und häufiger Kontrolle schafften es alle vier bis zur Entbindung in diesem Frühjahr, eine Frau war mit Zwillingen schwanger. Die Mütter kamen in den Kreißsaal, wegen der Risikoschwangerschaften war bei allen ein Kaiserschnitt nötig. Doch dort sollen sie, so behauptet es die Münchner Staatsanwaltschaft, jener Frau begegnet sein, die sie ermorden wollte. Vor dem Kaiserschnitt soll die 33-jährige Hebamme Regina K. heimlich den Gerinnungshemmer Heparin in eine Infusionsflasche der Patientinnen gespritzt haben, in einem Fall 25 000 Einheiten. Als die Ärzte ihren Schnitt setzten und das neue Leben ans Licht holten, floss das Blut in Strömen und hörte nicht mehr auf. Dass alle vier Mütter überlebten, dass ihre Kinder inzwischen gesund und munter zu Hause sind, ist dem raschen Handeln der Mediziner zu verdanken.
Frauenklinik-Direktor Friese (r.): Nachforschungen misstrauischer Ärzte
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Conny Neumann, Antje Windmann
FOTO: STEPHAN RUMPF / SUEDDEUTSCHER VERLAG
Perfektes Zeugnis
Stimmen die Erkenntnisse von Klinik bei. Hasbargen ließ alle Schläuche, Infuund Staatsanwaltschaft, dann handelte die sionsflaschen und Proben sichern. Kurz darauf befassten sich RechtsmediTäterin auf seltene Weise kaltblütig und perfide. Sie hätte in dem Moment zuge- ziner mit den Beweismitteln. Da war Regischlagen, in dem die Frauen ihr am meis- na K. bereits in den Urlaub gereist. Ein ten vertrauten und ihr wehrlos ausgeliefert Speziallabor in Frankfurt am Main lieferte waren. Regina K. wurde vorvergangenen schließlich den Beweis für die Manipulation Freitag verhaftet. Sie bestritt die Vorwürfe, mit dem Gerinnungshemmer. Heparin war später teilte sie auf Anraten ihrer Anwältin einem Antibiotikum beigemischt worden. Die Klinik erstattete Strafanzeige gegen mit, sie werde sich nicht mehr äußern. Die Ergebnisse der bisherigen Untersu- Regina K. Die Staatsanwaltschaft prüft derchungen deuten darauf hin, dass zwei Müt- zeit, ob der Vorwurf des vierfachen verter mit Blutplättchenmangel und zwei suchten Mordes auf neun Fälle erweitert Frauen, deren Plazenta vor den Mutter- werden muss. Denn dass die Neugeboremund gewachsen war, von April bis Ende nen durch die Manipulationen ebenfalls in Juni Opfer von gefährlichen Heparingaben Lebensgefahr gerieten, ist nicht ausgewurden. Bei ihnen soll der Stoff, den eini- schlossen. Normalerweise verhindert eine ge Schwangere als Thromboseprophylaxe Schranke im Mutterkuchen, dass Heparin bekommen, so starke Blutungen verur- vom Blutkreislauf der Mutter auf den sacht haben, dass bei einer Patientin über Kreislauf des Kindes übergeht. Die Babys Nacht ein Tuch in der Bauchwunde plat- hätten jedoch durch einen Blutungsschock ziert wurde, um das Blut aufzusaugen. der Mutter sterben können. Im Klinikum Großhadern, einer der Zwei Mütter konnten nur durch zahlreiche größten Geburtskliniken Deutschlands mit Transfusionen überleben. Am 20. Juni war der Anästhesist Lorenz rund 4500 Entbindungen jährlich, stehen Frey misstrauisch geworden. Bei der drit- Ärzte, Hebammen und Pfleger unter ten Patientin innerhalb weniger Wochen Schock. Denn obwohl die verantwortliwollten sich Blutungen kaum stoppen las- chen Mediziner das Verbrechen durch krisen. Frey nutzte das Wochenende, um minalistische Kleinarbeit selbst aufdeckten nachzuforschen, und ließ Blutproben der und zusammen mit Polizei und StaatsanMutter untersuchen. Die Werte nährten wälten die Ermittlungen vorantrieben, gibt den Verdacht, dass ihr jemand Heparin es massive Kritik an der Klinik. Denn Regina K., die 2012 nach München verabreicht hatte. In der Datenbank des Perinatalzentrums kam, war bereits an ihrer früheren Arbeitsstießen Frey und der Leiter der Geburts- stelle einer unzulässigen Medikamentenhilfe, Uwe Hasbargen, auf zwei weitere gabe an Gebärende beschuldigt worden. Kaiserschnittpatientinnen, bei denen die Damals, sagt Hasbargen, habe es sich aber Blutgerinnung ebenfalls lebensgefährlich um eine „andere Substanzklasse“ gehangestört war. Sie verglichen die Dienstpläne delt. Das Medikament sei ohne Indikation und sahen, dass nur eine Person bei allen eingesetzt worden. Wäre die Wirkung drei Operationen im Kreißsaal war: die „nicht korrigiert“ worden, hätte auch dort Hebamme Regina K. Noch bevor die Ärzte Gefahr für das Leben von Mutter und Kind ihren Verdacht erhärten konnten, ereigne- bestanden. Die Vorgesetzten von Regina K. an jener te sich der nächste Fall. Am 25. Juni wäre eine Gebärende bei Klinik untersuchten den Vorfall damals. einem Kaiserschnitt erneut fast verblutet. Es gab ein internes Verfahren, der HebamWieder war Hebamme K. im Kreißsaal da- me konnte jedoch keine Verfehlung nachgewiesen werden. K. legte in München ein „perfektes Zeugnis“ vor, wie die Uni-Klinik behauptet. Dennoch, die Vorgeschichte wurde vor eineinhalb Jahren in Großhadern bekannt. Die Leiter der Geburtsabteilung baten K. daraufhin zum Personalgespräch. Dabei, so der Direktor der Frauenklinik Klaus Friese, habe sie alle Bedenken ausräumen können. K. habe argumentiert, dass sie ja wohl kaum ein derart gutes Zeugnis bekommen hätte, wenn die Vorwürfe gestimmt hätten. Das überzeugte offenbar die Vorgesetzten in Großhadern. Ob sie bei früheren Arbeitgebern, unter anderem Kliniken in Bad Soden und in Kiel, nachgehakt haben, wollen die Münchner Ärzte nicht sagen. Das macht nun die Staatsanwaltschaft.
Deutschland
Der Tod der Beamten Zeitgeschichte Während des Kalten Krieges ließ die Bundesregierung mehr als tausend Suizidfälle untersuchen – sie vermutete dahinter Morde des KGB.
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er Tod dreier hoher Beamter innerhalb von wenigen Monaten machte die Regierung misstrauisch: Flottilleniral Hermann Lüdke lag tot in einem Forst beim Eifeldorf Immerath, neben ihm ein Gewehr. Das Leben des Regierungshauptsekretärs Anton S. endete im Erdgeschoss des Bundesministeriums für Verteidigung. S. war aus dem fünften Stock ins Treppenhaus gestürzt. Legationsrat Bernhard von T. starb auf den BahnMarineoffizier Lüdke (r.)*: Im Forst gefunden, neben ihm ein Gewehr gleisen Niederdollendorfs bei Königswinter, überrollt von einem Zug. an den Verfassungsschutz zu liefern. Die teilungsleiter im federführenden InnenDie Todesserie der Staatsdiener im Jahr Ergebnisse wurden vom Inlandsgeheim- ministerium, die Kollegen in anderen Be1968 löste in der Regierung Kiesinger dienst in einer Checkliste festgehalten hörden am 9. Januar 1969 aufforderte, Spekulationen aus. Vor allem das Ableben („Fehlen Unterlagen aus dem Arbeitsbe- Selbstmorde von Bundesbediensteten „ab Lüdkes schien mysteriös. Der iral hat- reich?“). sofort unverzüglich“ dem Inlandsgeheimte zuletzt im Nato-Hauptquartier Dienst Schon bald untersuchten die Staatsschüt- dienst mitzuteilen, wandte ein leitender getan und dort „geheim“ gestempelte Pa- zer 1969 den Tod der jungen Kriminal- Beamter vom Bundespresseamt ein, er halpiere mitgehen lassen. Er galt eigentlich beamtin Susi K., von dem das Innenminis- te dies „für einen zu starken Eingriff in als Sonnyboy, doch vor seinem Tod hatte terium aus der Bild-Zeitung erfuhr („Noch die Privatsphäre“. ihn die Polizei verdächtigt, Spion zu sein. einmal geschminkt – und dann vor den Und im Bundesfinanzministerium weiIm Kabinett kam ein Verdacht auf. Ermor- Zug“). Die Geheimen versuchten, K.s Mo- gerte sich ein Dr. Jürgens zunächst sogar, dete ein östlicher Geheimdienst, etwa das tive ebenso zu ergründen wie ein Jahr spä- Informationen über Suizide weiterzuleiten. KGB, heimlich deutsche Beamte, um deren ter den Fall eines deutschen Nato-Offiziers, Die Personalreferate des Ministeriums würAussagen zu verhindern? Oder nahmen der im belgischen Casteau verblutete. den offiziell nicht über Todesursachen unsich Spione aus Furcht vor Enttarnung das Der Verfassungsschutz prüfte mehr als terrichtet. Offenbar erfuhr man von diesen Leben? tausend Fälle von Selbstmorden und Selbst- Fällen über den Flurfunk. Es sei „nicht unNoch herrschte Kalter Krieg, und so be- mordversuchen, bei hohen Diplomaten bedenklich“, argumentierte Jürgens, solschlossen die Regierenden der ersten Gro- ebenso wie bei kleinen Verwaltungsange- che inoffiziellen Erkenntnisse an den Verßen Koalition mit Kanzler Kurt Georg Kie- stellten, Fallschirmjägern oder Archivaren fassungsschutz weiterzuleiten. singer (CDU), Außenminister Willy Brandt der Bundeswehr. Auch das Verschwinden Der Mann hatte recht: „Die Angehöri(SPD) und Finanzminister Franz Josef eines Ingenieurs des Landwirtschaftsminis- gen von Beamten waren natürlich nicht Strauß (CSU) die „zentrale Erfassung aller teriums erregte die Aufmerksamkeit der verpflichtet, detaillierte Informationen Selbstmordfälle von Bundesbediensteten“. Geheimen; der Mann war vor der Küste über das Ableben ihrer Verwandten zu Aus Gründen „der äußeren und inneren Grönlands von Bord eines Fischereifor- geben“, sagt der Berliner Rechtsprofessor Sicherheit“. schungsschiffs verschwunden. Ulrich Battis. „Ich sehe hierfür keine Eine makabre Geheimoperation begann, Doch so intensiv die Verfassungsschüt- Rechtsgrundlage.“ deren Akten jetzt im Bundesarchiv in zer auch recherchierten: Nirgends fanden Es dauerte bis 1976, ehe die BundesKoblenz zugänglich sind. Jahrelang recher- sie Hinweise auf einen Mord, kein KGB- regierung die Schnüffeleien einstellte. Inchierte der Verfassungsschutz im Auftrag Killer weit und breit. Stattdessen doku- zwischen regierten in Bonn Helmut der Regierung Selbstmordtragödien in Fa- mentieren die Unterlagen seitenweise Schmidt und Hans-Dietrich Genscher. milien deutscher Staatsdiener. Die Staats- tragische Schicksale aus den Amtsstuben: Doch es waren nicht die Skrupel der Reschützer besorgten sich Ermittlungsergeb- Liebeskummer, finanzielle Nöte, Depres- gierenden, die zum Ende der Operation nisse der Polizei, sammelten Abschieds- sionen oder beruflicher Misserfolg trieben führten, sondern das Gejammer der Verbriefe und schnüffelten Informationen aus die Menschen in den Suizid. fassungsschützer. Die Zahl der untersuchZeitungsartikeln hinterher. Immerhin war einigen Staatsdienern ten Selbstmorde und Selbstmordversuche Das Innenministerium hatte zuvor die von Anfang an unwohl dabei, das Leben war auf 1029 angewachsen. Die Erfassung „obersten Bundesbehörden, Bundesober- und Sterben unbescholtener Bürger derart der Suizide sei „für die Abwehrtätigkeit behörden, Bundesmittelbehörden, Bundes- auszuforschen. Als Siegfried Fröhlich, Ab- ohne Bedeutung“, beschwerten sich die behörden mit erhöhtem Sicherheitsrisiko“ Spionageexperten – und viel zu „arbeitsangewiesen, in Suizidfällen Informationen * Mit Bundespräsident Heinrich Lübke in Kiel 1963. intensiv“. Felix Bohr, Klaus Wiegrefe DER SPIEGEL 31 / 2014
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Sechserpack Zur Schreibmaschine (2) wolle er zurückkehren, sagt der Chef des NSA-Untersuchungsausschusses, weil das sicherer sei. Ob Geheimtinte (3) oder Flaschenpost (5), ob Brieftaube (1), Meldehund (4), Pony-Express (6) – die Geschichte kennt viele erprobte Kommunikationsformen, die zu prüfen wären. Noch meldet der Brieftaubenzüchterverband keine erhöhte Nachfrage. Noch?
Marketing
SPIEGEL: Also macht es einen
Warum hat mein Grill einen Namen, Frau Kircher?
Unterschied, ob eine Gießkanne Theo oder Annette heißt? Kircher: Das sind jetzt zwei Vornamen – und Vornamen sind heikel, weil sie oft mit konkreten Personen assoziiert werden. Bei Produkten, die international vermarktet werden, ist es außerdem kaum ersichtlich, ob die Namen positiv belegt sind. SPIEGEL: Sind Nachnamen besser? Wodka Gorbatschow verkauft sich doch ganz gut. Kircher: Schon. Aber einen Wodka Putin kann ich mir nur schwer vorstellen. SPIEGEL: Wie findet man den perfekten Produktnamen? Kircher: Es ist weniger wichtig, dass der Name das Produkt beschreibt. Wichtiger ist, dass er Assoziationen auslöst. Manchmal geht das über den Klang,
Sybille Kircher, 49, Geschäfts-
führerin der Namenfindungsagentur Nomen Deutschland, über die Taufe von Produkten SPIEGEL: Frau Kircher, ein
beliebter Grill heißt „Venezuela“. Was hat das Land Venezuela mit meinen Grillwürstchen zu tun? Kircher: Ich denke, grundsätzlich sind geografische Namen ein Problem, weil man nie weiß, wie sich die Politik in einem Land entwickelt. Aber Produktnamen helfen auf jeden Fall, sich von Konkurrenzprodukten abzuheben. 48
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manchmal über die Bedeutung. Es gibt Wörter, die besonders weich klingen, andere klingen besonders dynamisch. Wichtig ist auch, dass der Name Gefühle transportiert. SPIEGEL: Ihr Unternehmen hat den Namen „Froop“ für einen Joghurt entwickelt. Welche Gefühle soll das denn transportieren?
Kircher
Kircher: Es geht um die Assoziation mit „Frucht“. Das merkt man auch, wenn man den Namen ausspricht. Es ist ein Joghurt, bei dem die Frucht oben liegt. Mit einem Loop, einer Drehung, kann man die Frucht mit dem Joghurt mischen. Daher kommt der Name. SPIEGEL: In der FDP wurde kürzlich darüber nachgedacht, den eigenen Namen auszutauschen. Kircher: Ich würde ihr davon abraten. Der Name hat sich über so viele Jahre eingeprägt. Es ist ja nicht der Name schlecht, sondern die Politik, die gemacht wurde. Ein guter Name kann nicht über schlechte Qualität hinwegtäuschen. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für Parteien. pfa
FOTOS: BPK (1); AKG (2); HENNING KAISER (3); MUSEUMSSTIFTUNG POST UND TELEKOMMUNIKATION (4); BLICKWINKEL (5); UPPA / PHOTOSHOT (6)
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Gesellschaft mernden Tony, „Scary Clairey“ für die exzentrische Claire. Thompson lächelt beinahe ununterbrochen. Er spricht deutlich, wie ein englischer Butler. Er sieht über das Lenkrad auf die Straße vor sich, den Tatort sozusagen: bunte Blumen vor braunen Hän, Möwen auf Schornsteinen, Kopfsteinpflaster. Es war also im Sommer vor zwei Jahren, als er auf dem RückEine Meldung und ihre Geschichte Wie sich weg zur Werkstatt war. Kurz vor dem Einbiegen in die Giles ein Automechaniker aus Schottland Street entdeckte er das Auto von Google Street View. Er sah, wie es ebenfalls in die Giles Street einbog, aber an anderer bei Google Street View unsterblich machte Stelle. Thompson wusste, wenn er jetzt Gas geben würde, könnte er vor dem Google-Auto an der Werkstatt sein. Er hätte an Thompson, der aus England stammt, hat im Laufe 30 Sekunden Vorsprung. Das musste reichen. Dan Thompson hat gar nichts gegen Google, auch nichts geseines Lebens eine eigene Form von Freiheit entwickelt. Sie besteht darin, seinen Einfällen nachzugeben, auch gen moderne Entwicklungen, er ist eher der Typ, der für etwas wenn sie nicht immer sinnvoll sind, im klassischen Sinne: Als ist und nicht gegen etwas. Er nutzt Google Street View selbst, Kind baute er beispielsweise sein Fahrrad manchmal ausein- wenn er eine seiner Wohnungen an Studenten vermietet und ander, er wartete eine halbe Stunde lang und baute es wieder wissen will, aus welchem Elternhaus sie stammen. Und trotzdem, sagt er, habe er in diesem Moment dem Impuls folgen müssen. zusammen. Es ging darum, das zu tun, wozu er Lust hatte. Er war rechtzeitig an der Werkstatt, sah Gary, einen seiner Er hatte somit schon früh einen Weg gefunden, sich selbst zu unterhalten. Seine Eltern arbeiteten viel, sein Vater als Professor Mitarbeiter, er rief: „Schnapp dir den Knüppel, komm raus und für Altphilologie, seine Mutter als Ärztin, und so wuchs Thomp- tu so, als wenn du mir auf die Fresse haust.“ Gary tat, was der Chef ihm son in diesem Haus in Nottingsagte. Als er draußen auf der ham auf, und alles, was er tat, Straße stand, lag Thompson tat er mit einer ausgesprochebereits am Boden, zwischen nen Leichtigkeit: Er bastelte, zwei parkenden Autos, mit tüftelte, machte Scherze. dem Kopf auf dem Asphalt, Er macht das immer noch. beide Arme reglos von sich geUnd vergisst die Scherze streckt, bewegungslos. manchmal auch schnell wieder, Alle zehn Meter macht so so wie den, der ihm kürzlich ein Street-View-Auto ein Foto. die Polizei ins Haus brachte. Es besitzt neun Kameras. Die Thompson hat Technik in Bilder zeigen Straßen und Aberdeen studiert, im Osten Hä, auch Menschen, die Schottlands, weil ihn, sagt er, über Straßen spazieren. Sie besonst niemand genommen hätschreiben das normale Leben, te. Er eröffnete eine Autowerkeinen Mann mit Gummipuppe, statt in Leith, dem HafenvierJapaner mit Taubenmaske tel Edinburghs, mit 28 Jahren oder zwei Samuraikämpfer in und einem Gefühl der ZufriePittsburgh, Pennsylvania. denheit. Morde zeigen diese Bilder Er war ein eitler Mann, groß selten, Späße nicht häufig. In und blond. Seine AutowerkThompson, Mitarbeiter Norwegen verfolgten Taucher statt nannte er nicht „Thompden Google-Wagen, im Anzug, son“, wie er hieß, sondern mit Flossen und Harpune. „Tomson“ nach seinem AutoAuch das zeigte die Seite. kennzeichen: „TOM 50N“. Es dauert dann meist ein Der Name „Tomson“ aber paar Monate, bis die Bilder, war die Pest. Thompson muss die das Google-Street-Viewihn jedem erklären, den BehörVon der Website Heise online Auto aufnimmt, im Internet den, der Telefongesellschaft. Seit 36 Jahren geht das so. Er findet das immer noch lustig, landen, und so kam es, dass Thompson nicht gleich an Google seine Kunden nicht so richtig. Trotzdem wurden es gute Jahre. dachte, als die Polizisten in seiner Werkstatt standen. Sie hatten Er heiratete, hat zwei Kinder. Der Laden lief, Thompson kaufte Bilder dabei. Jemand hatte nach der kleinen Giles Street, in erst drei Hallen, später noch zwei. Sie liegen in der Giles Street, Leith/Edinburgh, gesucht und einen brutalen Mord entdeckt. Thompson erinnerte sich dann wieder, und auch daran, dass die u-förmig verläuft. Im Sommer vor zwei Jahren kam dort gute Einfälle zu Ärger führen können. Er hat mittlerweile aber das Google-Auto entlang. An einem Dienstag in diesem Sommer sitzt Thompson, mitt- gelernt, sich aus der Enge zu quatschen. Das muss einer wohl lerweile 64, in einem orangefarbenen Arbeitsanzug vor diesen können, der denkt, dass das Leben ein Witz ist und regelmäßig Hallen, den Hausnummern 79 bis 81, in seinem Wagen, um das belacht werden will. Nachdem das Google-Auto damals vorbeigefahren war, hatten Gespräch zu führen. Seine Werkstatt besitzt keine Küche, kein Büro, also keinen Stuhl. Sie hat keine Heizung. Thompsons Mit- er und Gary noch lange Spaß. Sie hatten aus einem normalen Tag einen guten Tag gemacht. Sie hatten das Gesicht des arbeiter, vier junge Männer, sind eher robuste Typen. Sie halten sich bei Laune, indem sie ihre Arbeit als ein Spiel Google-Fahrers gesehen. Auch er lachte. Der Mensch lachte verstehen, bei dem sie gewinnen wollen. Sie wollen präziser ar- über die Maschine. Dan Thompson brachte es fertig, dass auch die beiden Polibeiten als andere Werkstätten. Sie sehen das Lustige an den Dingen, sie geben Kunden Namen. „Moany Tony“ für den jam- zisten, als sie gingen, bester Laune waren. Barbara Hardinghaus
Auf die Fresse
FOTO: BARBARA HARDINGHAUS / DER SPIEGEL
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Gesellschaft
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m Mittelalter war Pilgern nicht Sinnsuche, nicht Einkehr, nicht Event; die Menschen hatten richtige Sorgen. Pilgern war ein Deal. Auf der einen Seite die Lauf- und Leidensbereitschaft des Gläubigen, auf der anderen Gottes Erlösungskompetenz. Einer läuft, der andere heilt, vergibt, bewirkt. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Ähnlich wie Bettelmönche trugen Pilger alles, was sie besaßen, an ihrem Körper. Ein Wanderstock, ein Beutel, ein Trinkkürbis und ein Mensch, erfüllt von Gottergebenheit und nicht selten Abenteuerlust. Seit gut tausend Jahren wird das Grab des Heiligen Jakobus in Santiago de Compostela von Pilgern besucht. In ruhigen Jahren und Jahrhunderten waren es ein Dutzend Menschen, in anderen ein paar Tausend. Ruhige Jahre gibt es nun nicht mehr. Mehr als 200 000 Pilger nahmen den Jakobsweg im vergangenen Jahr, und in die-
sem greift eine Nachricht um sich, die Jubel auslöst bei denen, die daran verdienen: Das Buch wird endlich verfilmt. Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg“. Das Erleuchtungsepos, vier Millionen Mal verkauft, über einen sinnsuchenden Komödianten aus Recklinghausen, der sich zum Jakobusgrab quält. Der „efecto Kerkeling“ greift: Seit diesem Buch, das nun im neunten Jahr auf dem Markt ist, stellen die Deutschen die größte Ausländergruppe. Im vergangenen Jahr kamen laut Kirchenstatistik 16 000 Deutsche in Santiago an, ein neuer Spitzenwert. Und nun dreht die ARD, im August. Noch mehr Menschen? Was iert mit dem Weg, wenn ihn Horden gehen? Ein Wanderzirkus mit Globetrotter-Flair? Eine spirituelle Versehrtenkarawane? Ein Konjunkturprogramm für eine der ärmsten
Regionen des kriselnden Spaniens? Tausend Jahre Tradition, die im Getrampel untergehen? Dies ist der Versuch, Antworten zu finden. Ein Suche unter Suchenden.
Saint-Jean-Pied-de-Port, 769 Kilometer bis Santiago de Compostela Pilger haben arm zu sein, diese Vorgabe wirkt bis heute nach. Vor allem im Kopf der Pilger. Nicht bei allen; Spanier, Amerikaner, Franzosen neigen weniger dazu. Die Deutschen umso mehr. Diese Pilger verstehen ihre Reise als Ballastabwurf. Vor allem als geistigen, aber auch als materiellen. Sie verwandeln sich in Wanderasketen, die entschlossen sind, den „camino“ nicht zuletzt als Bescheidenheitswettkampf zu verstehen. Sieben, acht Kilogramm tragen sie und ein Lächeln für die Beladenen, die
Ich bin dann mal hier Einkehr Im Jahr neun nach dem Buch Kerkeling ziehen Hunderttausende den Jakobsweg entlang. Es können noch mehr werden: Nun wird das Buch verfilmt. Lässt sich der Sinn des Lebens suchen, wenn Menschenmassen dasselbe tun? Eine Pilgerreise. Von Juan Moreno 50
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mehr brauchen. Wasser wird vom Dorfbrunnen genommen, wohl wissend, dass „no potable“ nicht trinkbar bedeutet. Im Smartphone wird auf Camino-Blogs geschaut, wo das billigste Weißbrot zu haben ist. „Ich habe Pilger erlebt, die gute Jobs hatten und sich zu viert ein Sandwich geteilt haben“, sagt Wim Koelemeijer, ein freundlicher Holländer, der im Pilgerbüro von Saint-Jean-Pied-de-Port arbeitet. Saint-Jean ist der Startpunkt vieler für die meistbegangene Variante, der sogenannte „camino francés“, der in Frankreich startet und 769 Kilometer lang ist. Koelemeijers Büro liegt im Zentrum des Orts und wird von praktisch allen Pilgern angesteuert, weil sie dort den Pilgerausweis bekommen, der Zutritt zu den Herbergen ermöglicht. Koelemeijer pilgert seit über zehn Jahren. Er ist 74.
„Man kann immer sparen. Beim Essen, beim Kaffee, bei der Übernachtung“, sagt Koelemeijer. Was kostet eine Herbergsübernachtung auf dem Camino? „Vier Euro.“ Es ist nicht der Geiz, der sie treibt, es ist das Prinzip. Armut wird mit Authentizität gleichgesetzt. Pilger sind arm, und es gibt nach Meinung vieler ein „richtiges“ und ein „falsches“ Pilgern. Der richtige Pilger startet nördlich der Pyrenäen, ist zu Fuß unterwegs und geht den Weg in einem Rutsch, nicht in Etappen, die Jahr für Jahr bis nach Santiago fortgesetzt werden. Er läuft vier Wochen lang durch Nordspanien und gibt keine 1000 Euro aus. Und die „erfahrenen richtigen“ Pilger, die vor Kerkeling gegangen sind, ärgern sich über die Schwemme. Als noch eine Handvoll unterwegs war, luden Bauern die
Fremden ein. Es gab Wurst, Wein und Einblick in eine verborgene Welt. Frühe Pilger berichten von herzerwärmender Gastfreundschaft. Damals konnte man für praktisch nichts bis nach Santiago kommen. Auch weil die Bauern, so ziemlich die ärmsten in Spanien, so großzügig waren. Jetzt eröffnen sie Pensionen mit Sat-TV. Für viele Altpilger ist der Camino tot. Es gibt Souvenirläden in Dörfern mit 20 Einwohnern, in denen Jakobsweg-T-Shirts, Jakobsweg-Halstücher, Jakobsweg-Kondome verkauft werden. Cola-Automaten stehen am Wegesrand, Santiagos Kathedrale knallrot leuchtend darauf. Die Bauern von früher haben ihre Enkel gerufen, die Spaniens Wirtschaftskrise arbeitslos gemacht hat, und ermuntern den Nachwuchs, eine Pension zu eröffnen. Für viele Altpilger hat Kerkeling keinen Boom ausgelöst, es war eine Pandemie.
Pilger in der Provinz Lugo
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Wanderer an Erfrischungsstation im galicischen Dorf Ventas de Narón: Gott hat Humor
Ein richtiger Pilger kann durchaus Carbon-Trekkingstöcke für 190 Euro, einen Ultralight-Schlafsack für 500 Euro, GoreTex-Schuhe für 250 oder auch ein „Geocoaching“-GPS-Gerät für 400 Euro besitzen. Dafür verzichtet er verärgert auf den „café con leche“, wenn der 2,20 Euro kostet. Camino-Nepp ist beliebter Pilgertratsch. Die Gesamttagesausgaben pro Pilger auf dem Jakobsweg lagen 2013 im Schnitt bei gut 30 Euro, 200 Millionen Euro wurden umgesetzt. Der Berliner Hauptstadttourismus braucht dafür eine Woche. Allerdings wachsen die Umsätze auf dem Jakobsweg. Das liegt an den falschen Pilgern. Die falschen Pilger schlafen in Pensionen und Hotels, bestellen nicht das DreiGänge-Pilger-Menü, das es inklusive Wein auf dem gesamten Weg für neun bis zwölf Euro gibt. Die falschen Pilger meiden die Herbergen mit ihren riesigen Schlafsälen für 100 Pilger. Das Gepäck lassen sie Etappe für Etappe bis nach Santiago von Taxifahrern vorfahren. Richtige Pilger ärgert das, am meisten, dass ein lächerlicher 100-Kilometer-Spaziergang, das ist die Mindestdistanz, zur selben Urkunde berechtigt wie ein Pilgerabenteuer über Hunderte Kilometer, das in Saint-Jean oder gar in München oder Berlin begann. Die Anlieger auf dem Jakobsweg, die Basken, Kastilier, Galicier meinen: Kann es den ei52
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nen Pilgern nicht egal sein, wie die anderen ihr Gepäck nach Santiago schaffen? Und überhaupt: Sind Gott arbeitslose Taxifahrer lieber?
Pamplona, 700,5 Kilometer bis Santiago de Compostela Sechs Paradiesvögel in knallengen bunten Stretchhosen streifen sich an einem Kreisverkehr Radfahrertrikots über den Bauch. Es sind Italiener aus Rom, die einen weißen Transporter als Versorgungswagen dabeihaben. Sie sind im Schnitt 50, 60 Jahre alt und wollen nach Santiago; auch Radfahren gilt als Pilgern, ab 200 Kilometer Strecke. Pietro, der Chef der Gruppe, befragt nach den Motiven für die Reise, nimmt Haltung an. Wie zur Untermalung bringt eine Böe eine Italien-Flagge im Hintergrund zum Flattern. Man sei wirklich traurig, nur so wenig Zeit zu haben für das Grab des Heiligen Jakob. Eine Woche nur. Und dann, als wäre es eine spontane Eingebung, kündigt er an, dass sich das ändern werde. Man müsse auch mal langsam machen. Aufhören, Getriebener zu sein. Zeit haben zum Nachdenken. Piano, pianino. „Nächstes Mal starten wir in Rom.“ Nach Santiago? „Nein, nach Auschwitz“, sagt Pietro. Auf dem Jakobsweg ist Kirchentagskundschaft eine Minderheit.
Leute wie Pietro sind es eher nicht. Auf dem Camino trifft man mittlerweile alle. Christen, Muslime, Buddhisten, Sportler, Junge, Alte, Dicke, Freaks. Alleinerziehende Manager mit Kind, Babys im Kinderwagen, Bibelkreise auf Mieteseln. Menschen, die den Weg barfuß gehen; Menschen, die barfuß und rückwärts gehen; Menschen, die mit Beatmungsgerät und im Rollstuhl starten; andere, überraschend viele, die wissen, dass sie auf der Reise sterben werden – ihre Kreuze säumen den Weg. 215 000 holten sich im vorigen Jahr in Santiago die von der Kirche herausgegebene Bestätigungsurkunde ihrer Pilgerreise, die „compostela“, ab. Vermutlich waren es mehr, weil nicht alle Lust hatten, sich in die lange Schlange vor dem Pilgerbüro unweit der Kathedrale anzustellen. 215 000 ist der Rekord für ein „nichtheiliges“ Jahr. Fällt der 25. Juli, Namenstag des Heiligen Jakobus, auf einen Sonntag, wird ein Heiliges Compostelanisches Jahr ausgerufen. Das letzte war 2010. 270 000 Pilger kamen. Das nächste wird 2021 sein. Die spanische Politik hat schon anfragen lassen, ob man nicht eins „dazwischenschieben“ könne. Wie viele Pilger waren es 1978? Antwort: 13. Und alle suchen. Trost, Ruhe, Freiheit. Zeit. Ein paar Tage auf dem Jakobsweg, und man ist überzeugt, dass weite Teile der Menschheit ihre normale Existenz als
Gesellschaft
permanenten Diebstahl ihrer persönlichen Zeit empfinden.
FOTOS S. 50/52: MARIA FECK / DER SPIEGEL
Weinbrunnen von Irache, 649 Kilometer bis Santiago de Compostela
Schönste am Seitensprung ist der Anlauf, heißt es. Auf dem Jakobsweg ist er 769 Kilometer lang. Prototypisch in diesem Zusammenhang: Gibrael Rowshanzamir aus Schweden und Monika Szabo aus Ungarn. Er, blendend aussehend, gerade 30 geworden, läuft nicht nur auf Santiago, sondern auf ein Problem zu. Das liegt an Monika, wunderschöne 29 Jahre alt, schlank, Schlapphut, mit einem Lächeln, mit dem sie Eisen zum Schmelzen bringen könnte. Die beiden pilgern seit einigen Tagen gemeinsam, erzählen sie, „weil das Tempo so gut t“. Gerade haben sie den berühmtem Weinbrunnen von Irache erreicht. Die Großkellerei liegt direkt am Jakobsweg in Ayegui, Provinz Navarra, und hat 1991 aus Quadersteinen einen großen Brunnen direkt an den Weg bauen lassen. Die Inschrift be-
ihm eine hinreißende Ungarin gesandt wurde, es gibt doch auch massenweise dicke Italiener auf dem Weg. Eines scheint klar, falls Gott existiert, er hat Sinn für Humor. Die Ungarin scheint entschlossen, den Kampf um Gibrael gegen die gesammelte römisch-katholische Kirche aufnehmen zu wollen. Und Gott hat ihr alles mitgegeben, was es dafür braucht.
Die Hoffnung ist, am Ende vergessen zu haben, warum man am Anfang losmarschiert ist. Die tägliche Pilgerroutine hilft. Unruhige Nacht in der Pilgerherberge, weil immer, wirklich immer, mindestens ein Rabanal del camino, 229,5 Kilometer Pressluftschnarcher anwesend ist, überrabis Santiago de Compostela schend oft eine Schnarcherin, die am Morgen vehementer leugnen wird als jeder Erste Kommerzregel auf dem Jakobsweg: Mann. Aufstehen gegen sechs, Rucksack Wer Geld verdienen will – und bei Gott, packen, im Dunklen loslaufen, manchmal man kann sehr viel verdienen –, muss auf hat bereits ein Café geöffnet, manchmal dem Weg sein. Nicht in der Nähe, nicht muss man erst vier, fünf Kilometer gehen. um die Ecke, nein, direkt dran. Pilger hasDer Anfang ist mühsam, nach einigen Wosen Umwege. Nur weil jemand bereit ist, chen fallen die Etappen körperlich immer vier Wochen durch Nordspanien zu marleichter. Nach 20, 30 Kilometern am frühen schieren, heißt das nicht, dass er einen Nachmittag Ankunft am EtapSchritt mehr als nötig gehen penziel. Herbergsplatz sichern, wird, um eine Postkarte zu kauBlasenversorgung, Dusche, Wäfen. Lage ist alles. Der innigste sche waschen, ausruhen, DorfWunsch des Pilgers: „Lass die oder Stadtbesichtigung, oft BeHerberge am Dorfanfang sein.“ Das idyllische, besenreine such einer Messe, am Abend Schwatz mit Pilgern, die man Bergdorf Rabanal del camino während des Tages getroffen trägt den Jakobsweg im Namen. hat, frühes Abendessen. Dann: Vermutlich aus Dankbarkeit. Die Lage könnte nicht besser waschen, Schlafsaal. Um 22 Uhr muss man in den Herbergen im sein. 1000 Meter über dem Meer, Bett liegen. inmitten einer bewaldeten EinDas Leben verliert Komplexiöde, so unfruchtbar und rau wie tät. Das nennt man dann Erletztlich schön. holung, es macht gelassen, es „Jeder einzelne Euro, der macht den Blick frei. Zum Beihier verdient wird, kommt von spiel für gut aussehende Mitpilden Pilgern“, sagt Pater Javier, gerinnen und Mitpilger. ein freundlicher, humorvoller Hunderte Bücher, Berichte, Mann, mit der sanften Stimme und doch hat sich noch kaum eines Berlin-Mitte-Therapeuten. herumgesprochen, dass ein nicht Er ist Missionsbenediktiner, gezu unterschätzender Reiz des Jasandt von der Erzabtei Sankt kobswegs darin liegt, dass er der Ottilien unweit von München. perfekte Ort zur Partnersuche Er kümmert sich um die Pilgerist. Viele Geschiedene, Alleinseelsorge in Rabanal. stehende, Enttäuschte sind unAls der Jakobsweg-Boom in Freunde Skeesuck, Gray: „Die beste Zeit unseres Lebens“ terwegs. Im Sommer die JüngeSpanien Mitte der Neunzigerjahren, im Frühling und Herbst die Älteren. sagt sinngemäß: „Wir laden dich ein, an re begann, beschlossen die Benediktiner, Das Ganze hat etwas vom InterRail-Spirit diesem Brunnen zu trinken, ohne zu sau- hier ein Kloster zu errichten. Pater Javier der Achtziger. Gelöste Atmosphäre, ge- fen; um den Wein mitzunehmen, musst du und ein Ordensbruder, Pater Pius, ein meinsame Aufgabe, offensichtlich ähnliche ihn kaufen.“ Angeblicher Konsum der Pil- Oberbayer aus dem Chiemgau, nehmen Interessen. Das führt zu ähnlichen Ge- ger: 70 Liter täglich. Kleine Souvenirgläser regelmäßig Reisende auf. Pater Javier ist, sprächsverläufen. Erst ein: Woher kommst gibt es am Automaten gegenüber dem mit kurzen Unterbrechungen, seit Klosterdu? Später, nach einigem Rioja, das Ent- Brunnen für einen Euro. gründung hier. Er kennt die Anfänge, als Tolles Wetter, schöne Ungarin, kosten- noch eine Familie hier lebte, das Dorf nicht scheidende: Sag, warum tust du das? Auf dem Camino schaffen es nicht mal loser Wein. Das Problem? Er will Priester genug Wasser hatte, keinen verlässlichen die größten Misanthropen, Kontakt zu ver- werden. Studiert Theologie. War bereits Strom. hindern. Ernste, tiefe Gespräche sind die in Deutschland im Kloster und nutzt den Der Camino, sagt Pater Javier, hat RabaRegel, selbst wenn sie mit der Frage nach Camino „zur endgültigen Klärung“. nal nicht nur verändert, er hat es gerettet. Die schöne Ungarin trinkt von dem dem bevorzugten Hirschtalg gegen Blasen „Ich glaube nicht, dass Rabanal noch bebegannen. Der Camino strengt an, macht Wein, der kein Fusel ist, nur zu warm, und wohnt wäre ohne den Jakobsweg. Erst mit somit schwach, verletzlich und in der Kon- rollt ihre Bambi-Augen. Sie hat sich gerade den Pilgern kam die erste Herberge, später sequenz sympathisch. Pheromone, massi- von ihrem Freund getrennt. „Willst du die Restaurants, die Läden.“ ver Gewichtsverlust samt neuem Körper- mich betrunken machen?“, fragt sie läRabanal hat heute 33 Einwohner, und gefühl und Triebstau erledigen den Rest. chelnd. Er stützt seinen Kopf auf dem Wan- es kommen viele nur zum Arbeiten dortErfolg ist zwar nicht garantiert, aber das derstock. Vielleicht fragt er sich, warum hin. Es gibt mehrere Herbergen, ein rustiDER SPIEGEL 31 / 2014
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kales Hotel, fünf Geschäfte, mehrere Restaurants, darunter ein italienisches. 400 Leute finden hier ein Bett. „Es gibt Leute im Dorf, die konnten sich früher jedes Jahr einen Audi kaufen“, sagt Pater Javier. Heute nicht mehr? „Zwar kommt der junge Spanier nicht mehr, den hat die Krise verschluckt, dafür aber die Ausländer. Weniger verdient man, weil es jetzt einfach ein größeres Angebot gibt. Man muss sich die Einnahmen teilen. Jetzt dauert es zwei Jahre bis zum nächsten Audi.“ Pater Javier macht aber nicht der Kommerz Sorgen. Selbst bei 400 Pilgern am Tag kann man nicht wirklich von einem überfüllten Camino sprechen. Später, auf den letzten 100 Kilometern, wenn die falschen Pilger kommen, ist das anders. Aber auf dem Großteil der Strecke verläuft sich das. Was sind 400 Pilger auf 30 Kilometern Fußmarsch? Pater Javier stört etwas anderes. Gerade die Jungen, die schreckt nicht der Gedanke, noch zwei Wochen zu laufen, sie schreckt der Gedanke, der Handyempfang könnte nachlassen. Grundlose Furcht. „Vor 15 Jahren stand an den Herbergswänden: Hier Warmwasser. Heute: Free WLAN. Jeder weiß: Kein Netz, keine Pilger.“ Pater Javier ist 44 Jahre alt, iPhone-Besitzer und kein Dogmatiker. Außer: Kein WLAN in seinem Kloster. Viele schreckt das mehr, als die tägliche lateinische Vesper mitzusingen. Vermutlich war er zu oft Zeuge der typischsten aller Pilgerszenen. Pausenbeginn, höhe erreicht, erster Griff: Smartphone. E-Mails, Facebook, News checken. Es kann sich die atemberaubende Pracht der kastilischen Meseta vor einem erstrecken, wichtiger scheint, warum der Toni Kroos Bayern Richtung Madrid verlässt. Das Internet hat das Pilgern verändert. Mehr als jeder Souvenirladen. Abtauchen aus der realen Welt verlangt Mut, es auch gleichzeitig aus der virtuellen zu tun, überfordert viele. Viele merken gar nicht, wie viel Zeit sie auf dem Jakobsweg damit ver54
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bringen, nach Hause zu mailen. Hatte man sich nicht darauf geeinigt: Ich bin dann mal weg?
Palas de Rei, noch 62 Kilometer bis Santiago de Compostela Amerikaner erzählen immer die besten Geschichten. Auch auf diesem Camino. Justin Skeesuck und Patrick Gray sind von Kindheit an Freunde. Beide aus Idaho, beide Trauzeuge des jeweils anderen, beide binnen eines Tages auf die Welt gekommen, was Skeesuck das Recht gab, sich bei den Mädchen als der Ältere und Weisere vorzustellen. Mit 16 erlitt Skeesuck, ein lustiger Kerl, einen Verkehrsunfall, der ihn fast getötet hätte. Er musste alles neu erlernen. Aufstehen, anziehen, schreiben, zeichnen. Er gab nicht auf, wurde Grafiker, heiratete. Die Krankheit jedoch, die gab auch nicht auf. Jahre später erklärten Ärzte Skeesuck, dass der Unfall eine seltene Krankheit ausgelöst haben müsse, eine extrem langsam voranschreitende Autoimmunerkrankung, die sich nach und nach durch seinen Körper frisst und immer mehr Bereiche lahmlegt. An Zeichnen war irgendwann nicht mehr zu denken, an Gehen natürlich auch nicht. Skeesuck kann mit Mühe seine verkrampfte Hand etwas heben. Er wird ohne Frage daran sterben. Eher früher als später. Im Frühling 2012, damals konnte er noch die Fernbedienung halten, zappte er durchs Fernsehprogramm und blieb bei einem Beitrag über den Jakobsweg hängen. Der Sprecher sagte darin, dass viele Pilger behaupteten, der Camino habe sie gerufen, was stimmt. Justin Skeesuck rief Patrick an. Sie sind Nachbarn. Patrick hörte sich die Fakten an. Nordspanien, über die Pyrenäen, sehr hügelig, 500 Meilen, wenig Asphalt, nur zu Fuß, richtige Pilger also. Seine Antwort wird der Titel des Films sein, den ein Kamerateam gerade mit ihnen über ihre Reise dreht. „I’ll push you.“
Santiago de Compostela Was ist das Geheimnis: Warum wiederholen so viele diese Reise? Warum schimpfen alle über den Kommerz, und trotzdem würden die meisten gleich weiterlaufen? Sie finden einen Weg vor, den die katholische Kirche mit ihrer 2000 Jahre alten Missionierungskompetenz spirituell klug besetzt hat. Menschen, die suchen, die sich gerade den großen Fragen widmen, freuen sich über niederschwellige Angebote in prächtigen Kathedralen, über mehrsprachige Gottesdienste, die immer kurz sind, über bewegende gregorianische Gesänge in romanischen Kapellen aus dem 12. Jahrhundert. Matthias Müller, Ingenieur bei BMW in München, daheim gestartet und nach exakt 100 Tagen am Ziel, bezweifelt, dass es der Camino ist. „Es ist die Zeit, die man sich nimmt. Das verändert sogar Typen wie
FOTO: MARIA FECK / DER SPIEGEL
Zielort Kathedrale von Santiago: Welchen Hirschtalg nimmst du? Warum machst du das alles?
Es ist nicht leicht, sich mit Skeesuck und Gray auf dem Camino zu sehen und nicht in Tränen auszubrechen. Skeesuck, ein wunderbarer, ruhiger Erzähler, hängt wie ein Sack Kartoffeln auf dem schweren AluRollstuhl. Gray, ein kräftiger Mann mit kurzen ergrauten Haaren, schiebt 250 Pfund. So viel wiegen der Geländerollstuhl aus Aluminium und sein Freund. Immer wieder versank der Rollstuhl während des Dauerregens, der früher oder später jeden Pilger trifft, handtief im Matsch. Gray schulterte seinen Freund und schob den leeren Wagen. Durch die seit gut vier Wochen nach vorn gebückte Haltung hat er chronische Wadenkrämpfe. Sein Brustkorb hat Muskeln an den unmöglichsten Stellen ausgebildet. „Die beste Zeit unseres Lebens“, sagen beide. In zwei Tagen werden sie in Santiago die Kathedrale erreichen. Ihre Frauen werden da sein. Vermutlich auch einige Pilger, die sie auf dem Weg getroffen haben. „Kurz vor der letzten heftigen Steigung vor Galicien warteten 17 Pilger aus zehn Ländern auf uns. Sie wussten, dass ich das ohne ihre Hilfe nicht geschafft hätte“, erzählt Justin, der immer wieder sagt, wie unglaublich er das findet. Natürlich wiederholen beide, was der mitreisende Regisseur ihnen vorbetet: Eine Geschichte über Freundschaft sei das. Die Botschaft, Grenzen nicht zu akzeptieren, sondern herauszufordern. Aber je mehr Zeit man mit ihnen verbringt, desto mehr ist man davon überzeugt, dass sie wirklich überrascht sind, dass sie das geschafft haben. Dass sie aufrichtig stolz auf sich sind und bis heute nicht verstehen, warum Pilger ihre Zeitpläne über den Haufen werfen, damit Justin Skeesuck, der Krüppel, Santiago erreicht. Beide sind mittlerweile davon überzeugt, dass der Camino sie gerufen hat.
Gesellschaft
mich.“ Er meint unruhige Typen, die ihren Job wichtiger als alles andere nehmen, bereitwillige Opfer des Zeitdiebstahls. „Ganz ehrlich? Ich hätte auch nach Moskau laufen können.“ Er tat es nicht, weil der Camino eine perfekte Infrastruktur bietet. Man kann die Herbergen nicht reservieren, man muss sich daran gewöhnen, dass es irgendwie schon klappen wird. War nicht leicht für Müller. Er hat die Excel-Tabellen mit den genau getimten Übernachtungsorten, den Nummern, den Kontaktpersonen, Wegbeschreibungen, den ganzen Infos irgendwann hinter der spanischen Grenze weggeworfen. Eine seiner Camino-Erkenntnisse: Das wird schon, auch ohne ExcelListe. Sogar ohne Smartphone. Müller sitzt hundert Meter Luftlinie entfernt in der Hotelbar des Paradors de Santiago de Compostela, dem so ziemlich teuersten Ort, an dem man in Santiago eine Flasche Rioja trinken kann. Es ist kurz nach elf am Abend, Müller ist müde. So lange war er in den vergangenen drei Wochen nicht wach. Er trägt eine blaue Fleecejacke, dennoch ist ihm kalt, weil er kaum noch ein Gramm Fett am Körper hat. Die Reise hat ihn verändert, sagt er. Am liebsten würde er weiterlaufen. Leute, die das erlebt haben, nennen das Pilgertod. Das Ende der Reise und die Erkenntnis, dass sie viel wichtiger war, als man am Anfang gedacht hatte. Es iert wohl jedem. Es ist kaum möglich, jemanden zu finden, der sagt: „Hätte ich mir sparen können.“ Den Kommerz auf dem Weg hat Müller natürlich bemerkt, gerade auf den letzten hundert Kilometern. Allerdings war er wie die meisten anderen schon zu aufgeregt, um sich daran zu stören. Er wollte ankommen und fühlte gleichzeitig eine gewisse Sorge. Der Gedanke, 150 E-Mails am Tag zu bekommen, macht ihm Angst. Er hat auf der Reise gelernt, dass Dinge fast nie so wichtig sind, wie sie tun. Schon gar nicht, wenn sie per E-Mail geschickt werden. Müller ist davon überzeugt, dass die wachsende Zahl der Pilger den Camino nicht zerstören wird. Und zwar aus demselben Grund, aus dem der Kommerz das Skifahren nicht zerstört hat. Das Produkt ist zu gut. Solange es eine Welt gibt, die keine Rücksicht mehr nimmt auf die angemessene Geschwindigkeit des Menschen: das Gehen; und auf die angemessene Kommunikation: Auge in Auge; so lange wird der Camino seinen Reiz nicht verlieren. Diese neue Welt schafft Sehnsucht. Hape Kerkeling hat Konsumenten zu Pilgern gemacht. Der Camino macht aus Pilgern Jünger. Videoreportage: Auf dem Jakobsweg spiegel.de/app312014jakobsweg oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 31 / 2014
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Schatzilein Ortstermin Warum Udo Walz auch mit 70 Jahren Deutschlands bekanntester Friseur sein will und muss
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s geschieht stets nach demselben Muster. Sie gucken, gehen weiter, als wäre nichts gewesen, drehen sich um, vergewissern sich, kommen zurück. Und bevor sie noch fragen können, hat Udo Walz die Antwort parat. Ja, ich bin es. Ja, Sie dürfen (ein Handyfoto machen). Ja, Sie können (einen Termin im Salon bekommen). Udo Walz sitzt an einem verschnörkelten Tisch vor seinem Salon am Berliner Ku’damm, schwarz gewandet, den Bauch in die Sonne gereckt. Er hatte frech behauptet, 98 Prozent der anten würden ihn kennen, dies soll ein Test sein, in seiner Mittagspause.
Stylist Walz: „Et voilà“
Männer in Weltmeistertrikots eilen vorbei, Touristen, Mädchen in kreischenden Grüppchen. Jeder erkennt ihn. „Sind Sie nicht der aus dem TV, der mit der Merkel, mit den Promis?“ Viele wollen ein Foto mit ihm. Walz will auch. Er hört gar nicht auf zu wollen, scherzt, tätschelt Wangen, triumphiert. Udo Walz fürchtet die Unauffälligkeit wie Rapunzel den Haarausfall, er ist Deutschlands beliebtester Friseur, hat sieben Salons in Berlin, zwei auf Mallorca, 90 Mitarbeiter. Laut Google ist er der drittbekannteste Udo der Republik (nach Lindenberg und Jürgens). Auf der Preisliste am Eingang seines Stammsalons an der Charlottenburger Uhlandstraße, in dem er seit 18 Jahren jeden Morgen ab Viertel nach neun seiner Arbeit nachgeht, steht „Udo Walz Coiffeur“. Vor labyrinthischen Spiegeln sitzt die feine Gesellschaft. Aber auch die Nachbarin in Jogginghose, 56
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die Geschäftsfrau mit beginnender Stirnglatze, die 90-Jährige mit flottem Grauhaarbob. Sein Salon ist so etwas wie eine Schnittstelle der Nation. Die Menschen kommen und sehnen sich nach seiner Aufmerksamkeit. Seine Berühmtheit soll abfärben, ein bisschen wenigstens. Der Meister rauscht herein, sagt „Schatzilein“, haucht auf Handrücken, ruft „Ich brauche einen Stuhl!“ und „Die Musik ist schrecklich!“, bis ein Stuhl herangerollt ist und Mozart erklingt. Dann wird Walz überraschend schweigsam und schneidet, in sich versunken; quatschen bei der Arbeit hasst er. Zu guter Letzt wuschelt Walz mit beiden Händen durch sein Werk, „et voilà“. Dann schaut Schauspieler Mathieu Carrière herein, und Barbara Becker blättert durch die druckfrische Ausgabe der Bunten. Ob er drin ist? Ist er, spitze Schreie des Entzückens. Eine Homestory, Walz und Klatschreporter Paul Sahner, als Platon und Sokrates gewandet. „Siehst aus wie der junge Ustinov“, sagt Carrière. „Wie Hemingway ohne Depressionen“, sagt Walz. Jedenfalls philosophieren die beiden in der Bunten über das Leben. Walz’ Leben wirkt wie ein deutsches Sittengemälde. In den Sechzigern flüchtete er aus der schwäbischen Provinz mit Umweg über St. Moritz, wo er Marlene Dietrich frisierte, vor dem Wehrdienst nach Berlin. Anfang der Siebziger verhalf er Ulrike Meinhof, ohne es zu ahnen, zum Gang in den Untergrund, indem er ihr die Haare blond färbte. 25 Jahre später versicherte er eidesstattlich, dass Kanzler Schröder seine Haare nicht färbe. Walz ist ein verlässlicher Handwerker auf den Häuptern der Republik. Er erfand Merkels Helmfrisur. Die Kanzlerin komme alle vier Wochen zum Schneiden. Überhaupt gehöre zum Regieren auch das Frisieren, sagt Walz, das hätten vor allem deutsche Politikerinnen begriffen, die ihre Eleganz endlich nicht mehr versteckten. Was er an Frauen liebe? „Ihre Allüren!“ „Der Preis, den einer wie Udo dafür zahlt, gesellschaftlich akut zu bleiben, ist allabendliche Rastlosigkeit.“ Diesen Satz schrieb SPIEGEL-Autorin Marie-Luise Scherer über Walz vor 38 Jahren. Der Satz ist von zeitloser Schönheit, aber er stimmt so nicht mehr. Heute muss sich Walz nicht mehr auf jeder Party blicken lassen. „Paris Bar geht immer, aber zu viele Menschen auf einem Platz, das schaff ich nicht mehr.“ Udo Walz ist fünf Jahre älter als die BRD, und er ähnelt ihr durchaus: diszipliniert und fleißig, ein bisschen selbstverliebt, feiern kann er auch. Er habe „schwäbische Wurstfinger“, sagt er. Seine Schwiegermutter sitzt hinter der Kasse im Salon. Er ist mehr West als Ost, eine treue Seele, etwas zu dick und immer auf Diät; CDU-Mitglied und Fan der Kanzlerin und klingt in seiner Verehrung für sie manchmal, als müsste sein 26 Jahre jüngerer Ehemann sich Sorgen machen; aber das klingt wohl nur so. Er hatte mal angekündigt, er werde aufhören mit 70, aber das nimmt er jetzt zurück. In der Bar jeder Vernunft wird er jetzt am Montag seinen 70. feiern. Es werde eine Party mit 150 Freunden geben, sagt er, auch welchen aus Hollywood. Er wünscht sich, dass sie deutsche Schlager für ihn singen. Für Deutschland wünscht er, „dass alles so bleibt, wie es ist“. Er wird sich keinen Kater antrinken. Am nächsten Morgen muss er früh raus, muss arbeiten, wie immer. „Ich bin Friseur, ich mache Haare“, sagt Walz, „sonst nichts.“ Seine Schere heißt „Seduction 55“. Nur er selbst darf mit ihr schneiden, er tut es mit links, den kleinen Finger einen Hauch abgespreizt. Fiona Ehlers
FOTO: BRITTA PEDERSEN / DPA
Gesellschaft
Wirtschaft VW
Winterkorn
Streit der Töchter Zwischen den einzelnen Marken des VW-Konzerns wächst der Streit um das geplante Sparprogramm, mit dem VW-Chef Martin Winterkorn die Kosten um fünf Milliarden Euro senken will. Die Töchter Audi und Porsche, die hochprofitabel sind, wollen ihre Investitionen nicht kürzen. Die Marke Volkswagen müsse ihre Kosten endlich senken, fordern Audi- und Porsche-Manager. VW leide unter Missmanagement. So habe die Marke weit über eine Milliarde Dollar in das Werk Chattanooga investiert, das jetzt nicht ausgelastet sei, weil die richtigen Modelle für den US-Markt fehlten. Die Fabrik soll hohe Verluste einfahren. Die Kosten bei Volkswagen seien auch deshalb so hoch, weil im Werk Wolfsburg für mehrere Hundert Millionen Euro neue Produktionsanlagen installiert wurden, die jetzt nur mangelhaft funktionierten. Wegen dieser beiden Probleme müssen Produktionsvorstand Michael Macht und Vertriebschef Christian Klingler wohl um ihre Posten fürchten. Manager von Audi und Porsche kritisieren auch ein Lieblingsprojekt von VW-Chef Winterkorn: die Entwicklung eines sogenannten Low-Budget-Car, das für rund 7000 Euro angeboten werden soll. Das Projekt werde nur wenig Gewinn abwerfen – und so die Konzernrendite weiter senken. haw
Affären
Geldspur zur KfW
FOTOS: SEAN GALLUP / GETTY IMAGES (O.); BMVG / ACTION PRESS (U.)
„Eurofighter“
In der Korruptionsaffäre um den Verkauf von 15 „Eurofightern“ nach Österreich Anfang der Nullerjahre führt eine Spur zur staatlichen Förderbank KfW. Seit mehr als eineinhalb Jahren recherchieren Staatsanwälte in München und Wien den Verbleib von gut 70 Millionen Euro, die von der „Eurofighter“Mutter EADS ab Ende 2004 an die Londoner Briefkastenfirma Vector Aerospace überwiesen wurden. Das geschah angeblich, um Gegengeschäfte in Milliardenhöhe im Zuge des Kampfjet-Geschäfts zu organisieren. Von Vector flossen Millionen in ein meh-
rere Dutzend Briefkastenfirmen umfassendes Netzwerk auf den British Virgin Islands, den Bahamas, der Isle of Man und in Asien. Geld ging unter anderem an eine Orient China Investment mit Sitz in Hongkong. Die überwies am 22. April 2010 jeweils 3,75 Millionen Euro auf die Liechtensteiner Konten zweier auf den British Virgin Islands registrierter Firmen namens Goldberg Corporate Limited und Harris Corporate Limited. Laut eines Rechtshilfeersuchens der österreichischen Ermittler an Liechtenstein gehören die inzwischen gelöschten Firmen dem mongolischen Staatsbürger Achitsaikhan B. Auf der Website der KfW wird der Doktor der Politikwissenschaften als „Lokaler Experte“ der Bank in ihrem Büro in der Mongolei geführt. B.s Name taucht zudem, zusammen mit dem eines Hamburger Geschäftsmannes, in weiteren Briefkastenfirmen auf, die über Vector fragwürdige Zahlungen
von EADS erhalten haben. Münchner Fahnder vermuten, dass dieses Geflecht womöglich zur Bildung schwarzer Kassen gedient haben könnte. Die KfW erklärt, B. sei kein fest angestellter Mitarbeiter der KfW, sondern Berater des Büros in Ulan Bator. B.s Geschäfte über Goldberg und Harris seien der Bank nicht bekannt. Es gebe zu den Firmen „keinerlei Geschäftsverbindung“. B. war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. EADS wollte sich mit Blick auf die laufenden Ermittlungen nicht äußern. Intern räumt man jedoch ein: „Wir haben keinen blassen Schimmer, was für eine Beratung hinter den Zahlungen an die beiden Firmen stand.“ mhs, js
Löhne
EZB auf Kurs der Bundesbank Die EZB unterstützt die Forderung der Bundesbank nach höheren Löhnen in Deutsch-
land. In manchen Krisenländern der Eurozone mit hoher Arbeitslosigkeit seien aktuell eher „niedrige Lohnabschlüsse erforderlich, um Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen“, sagt EZBChefvolkswirt Peter Praet. In Staaten wie Deutschland dagegen, in denen „die Inflationsrate niedrig und der Arbeitsmarkt in guter Verfassung ist“, seien höhere Verdienststeigerungen angemessen. Beides trage dazu bei, die Handels- und Kapitalströme in der Währungsunion auszugleichen und „die durchschnittliche Lohnentwicklung im Euroraum mit dem Inflationsziel der EZB von annährend zwei Prozent in Einklang zu bringen“, sagt das EZB-Direktoriumsmitglied. Vertreter der Bundesbank hatten jüngst bei Gesprächen mit Gewerkschaftsfunktionären angeregt, den gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum bei künftigen Tarifabschlüssen möglichst auszuschöpfen (SPIEGEL 30/2014). msa DER SPIEGEL 31 / 2014
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Risse im Fundament Konjunktur Noch schwelgt Deutschland im Wir-sind-WeltmeisterGefühl, doch die Unternehmen schlagen Alarm. Enttäuscht von der Politik der Großen Koalition fahren sie ihre Investitionen zurück. Eine neue Studie zeigt: Die Basis des Wohlstands ist bedroht.
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o viel lässt sich jetzt schon sagen: die Volkswirtschaft den Neid der NachDeutschland erlebt einen Sommer, barn. Das US-Magazin Newsweek hat schon an den sich die Bürger noch lange erinnern werden. Das liegt nicht nur am jetzt „das deutsche Jahrhundert“ ausgeruWM-Sieg, der selbst dem Nationaltorwart fen, die Erfolgsformel laute ganz nüchtern Manuel Neuer nach eigener Auskunft nun „Probleme erkennen, sie analysieren und jeden Morgen ein Grinsen ins Gesicht zau- lösen“. Das könnte auch aus einer Regiebert. Es liegt auch nicht allein an der tage- rungserklärung der Kanzlerin stammen lang ersehnten Nachricht, dass Joachim und klingt in etwa so dröge wie „SystemLöw bis 2016 Bundestrainer bleiben will. analyse und Programmentwicklung“, der Die Deutschen haben ohnehin allen ursprüngliche Name von SAP. Aber aus dem badischen Softwarehaus ist ja auch Grund, endlich einmal zu lächeln. Sie können entspannt in den Urlaub etwas geworden. Selten zuvor fühlte sich die Wirtschaftsfahren, ihr Arbeitsplatz ist sicherer denn je. Die meisten verdienen endlich wieder nation so stark, ja beinahe unbezwingbar. etwas mehr, und sie geben das Geld sogar Doch mitten in das kollektive Wohlgefühl aus. Der Konjunkturmotor läuft rund, und platzt nun eine Studie des Deutschen Inmit ihren erfolgreichen Industrien weckt dustrie- und Handelskammertages (DIHK),
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die es in sich hat. In ihrem zehnseitigen Papier zeichnen die Autoren das Bild einer Ökonomie, um die es ganz anders bestellt ist, als es nach außen scheint: Die Fassade glänzt, aber die Fundamente bröckeln. Es geht um die zentrale Qualitätsgröße einer Volkswirtschaft, die Summe der Investitionen. Sie entscheidet darüber, wie innovativ die Unternehmen sind und ob sie Wachstum und Arbeitsplätze schaffen. In Deutschland wird laut der Untersuchung inzwischen viel zu wenig investiert, weit weniger jedenfalls, als dies Staat und Unternehmen in anderen Industrieländern tun. Diese Entwicklung, heißt es in der Studie, „gibt Anlass zur Sorge“. Die gefährliche Lücke beträgt nach DIHK-Rechnung rund drei Prozent des
Wirtschaft
BASF-Chemieanlage in den USA Wunschdestination deutscher Unternehmen
Deutsche Lethargie Anteil der Investitionen an der Wirtschaftsleistung in Prozent 2010
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2012
21,4
2014
20,8 Zum Vergleich: Durchschnitt anderer Länder, gewichtet* *Australien, Belgien, Kanada, Tschechien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Island, Italien, Mexiko, Niederlande, Österreich, Slowakei, Schweden, USA Quellen: DIHK, OECD
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FOTOS: DETLEF W. SCHMALOW / BASF
Deutschland
2012
17,5
2014
17,6 2013 u. 2014 geschätzt
Das Ergebnis: Jedes zweite UnternehBruttoinlandsprodukts, in Zahlen ausgedrückt rund 80 Milliarden Euro. Das men zögert demnach aus Gründen, für die Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in erster Linie die Politik verantwortlich (DIW) in Berlin ist kürzlich zu einem ähn- ist. Vor allem Chemie- und Pharmafirmen lichen Ergebnis gekommen (SPIEGEL ziehen sich zurück und engagieren sich 27/2014). Die Stimmung in Deutschland, eher im Ausland. „Die Umfrage ist ein so sagt DIHK-Präsident Eric Schweitzer, ernstes Signal“, warnt Schweitzer. Die Enterinnere ihn an die „Titanic“: „Überall ist scheidungen der Großen Koalition würden Party, aber niemand sieht die Gefahr des „zur Gefahr für den Standort“. Es sind Töne, wie man sie so deutlich Eisbergs, der plötzlich auftauchen kann“ und scharf schon lange nicht mehr aus dem (siehe Interview Seite 61). Die Investitionsschwäche könnte sich Unternehmerlager gehört hat. Erstmals zur Bedrohung für den Wohlstand aus- seit Jahren positionieren sich die Arbeitwachsen. Schweitzer vertritt rund 3,6 Mil- geber wieder unmissverständlich gegen lionen Unternehmen in Deutschland, mehr eine Bundesregierung. Ihre Klage gilt nicht als tausend von ihnen hat seine Organisa- nur bekannten Kritikpunkten wie der Rention nach den Gründen für deren Zurück- te mit 63, dem Mindestlohn oder der Mietpreisbremse. Die Unternehmen vermissen haltung gefragt.
vor allem einen Plan, wie das noch immer viertgrößte Industrieland der Welt seine Zukunft sichern kann. „Ich sehe die Gefahr, dass die Lage für die Unternehmen in Deutschland schlechter wird“, klagt Reinhold Festge, Präsident des Maschinenbauverbandes VDMA. Dabei hatte vor elf Jahren Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 die Weichen neu gestellt. Das Programm war auch eine Reaktion auf die Standortdebatte, die Mitte der Neunzigerjahre das Land bewegte. Nach dem Fall der Mauer traf die beschleunigte Globalisierung die deutsche Industrie mit voller Wucht. Die Unternehmen verlagerten Produktion ins Ausland; Deutschland mit seinen relativ hohen Löhnen und Sozialkosten war nur bedingt wettbewerbsfähig und als „kranker Mann Europas“ verschrien. Inzwischen hat der Patient diese Malaise überwunden, dafür diagnostizieren die Unternehmen neue Schwächen. Dass sie über hohe Steuern und Abgaben (fast 80 Prozent) oder ein starres Arbeits- und Tarifrecht (mehr als 70 Prozent) klagen, klingt dabei noch wie das übliche Lobby-Lamento. Alarmierender sind jene Punkte, die nun hinzugekommen sind. Sie haben das Zeug, eine neue Standortdebatte auszulösen. So spielt mittlerweile der Fachkräftemangel eine wesentliche Rolle bei Investitionsentscheidungen – und die Bundesregierung tut alles dafür, das Problem sogar noch zu verschärfen. Schließlich könnte die Rente mit 63 allein in diesem Jahr voraussichtlich rund 240 000 ältere Erwerbstätige in den vorzeitigen Ruhestand locken. Für die Unternehmen besonders bitter: Vor allem die erfahrenen Facharbeiter in der Metall- und Chemiebranche dürften die nötigen 45 Beitragsjahre gesammelt haben und können sich aus dem Berufsleben verabschieden. Die Rente mit 63 sei „ein Flop, eine gigantische Fehlentscheidung“, schimpft VDMA-Präsident Festge. „Man nimmt uns damit aktiv die Fachkräfte weg.“ Ein weiterer Punkt, der früher wenig Beachtung fand: Fast drei Viertel der befragten Unternehmen betrachten die gestiegenen Energiekosten mittlerweile als Investitionsbremse erster Güte. Gerade jene Branchen, die viel Strom oder Brennstoffe benötigen, die Baustoffindustrie beispielsweise, die Metallverarbeitung oder Chemieunternehmen, wagen es deshalb kaum noch, Geld in deutsche Standorte zu stecken. Sie wachsen. Aber sie wachsen inzwischen anderswo. Vor allem die USA haben sich zur Wunschdestination deutscher Unternehmen entwickelt, seit der Fracking-Boom die Energiepreise jenseits des Atlantiks purDER SPIEGEL 31 / 2014
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UMFRAGE Investitionsklima Unternehmer wurden gefragt:
„Würde eine Verbesserung bei folgenden Standortfaktoren in Ihrem Unternehmen zu mehr Investitionen im Inland führen?“ Antworten „mehr Investitionen“ und „deutlich mehr Investitionen“ in Prozent 0 20 40 60
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Steuern und Abgaben Flexibilität des Arbeits- und Tarifrechts Energiekosten Planungs- und Genehmigungsverfahren Verfügbarkeit geeigneter Fachkräfte Quelle: DIHK
zeln ließ. So prüft etwa der Chemiekonzern BASF die bislang größte Einzelinvestition in seiner Geschichte nicht etwa am Heimatstandort Ludwigshafen, sondern an der amerikanischen Golfküste. Rund eine Milliarde Euro will das Unternehmen in eine neue Großanlage stecken, die Propylen herstellen soll, eine Grundchemikalie, die in Lacken oder Kunststoffen verwendet wird. Schließlich koste Erdgas in den USA nur rund ein Drittel so viel wie in Europa, hatte Vorstandschef Kurt Bock auf der Hauptversammlung im Mai erklärt. Der Technologiekonzern Siemens wiederum wagt den radikalen Schnitt und will künftig gleich sein Energiegeschäft von den USA aus steuern. Eigens dafür hat Siemens die ehemalige Shell-Managerin Lisa Davis abgeworben, die nun Kunden in der amerikanischen Öl- und Gasindustrie auftun soll. Auch andere Unternehmen konzentrieren zunehmend Aktivitäten jenseits der Grenzen. So hat der Industriegasespezialist Linde angekündigt, seine Synthesegasanlage in Texas zur weltgrößten Produktionsstätte auszubauen. Autobauer wie BMW und Daimler weiten ihre Herstellung vor allem in Nordamerika und China aus. Und in der vergangenen Woche erst hat der Chemiekonzern Evonik angekündigt, eine Anlage für spezielle Kieselsäuren in Brasilien zu errichten. Oft stehen strategische Beweggründe hinter diesen Entscheidungen: der Wunsch, neue Absatzmärkte zu erschließen, am Wachstum aufstrebender Wirtschaftsnationen teilzuhaben oder näher am Kunden zu produzieren. Doch die DIHK-Umfrage offenbart, dass Unternehmen auch aus Kostengründen wieder im Ausland investieren. Dieses Motiv hatte in den Befragungen seit 2003 kontinuierlich an Wichtigkeit verloren. Nun nimmt seine Bedeutung wieder zu. Der „erlahmte Reformwille der politischen Akteure hinterlässt hier seine Spuren“, schlussfolgern die Verfasser der Stu60
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die. Es sei ziemlich mühsam geworden, deutsche Unternehmen oder gar internationale Konzerne zum Investieren zu bewegen, sagt Christof Günther. Der Mann sollte es wissen. Günther ist Geschäftsführer des Industrieparks Infraleuna, der flächenmäßig größten Ansammlung von Chemiebetrieben in Deutschland. Am Standort in Sachsen-Anhalt tummeln sich Konzerne wie BASF, Linde oder Total, mit insgesamt 9000 Beschäftigten gehören die Unternehmen zu den größten Arbeitgebern in der Region. Und Günther hofft, dass das auch so bleiben wird. „Wir beobachten, dass unsere Kunden hohe Investitionen tätigen – aber leider nicht hier“, sagt Günther. „Wir sind schon froh, wenn sie hier ihren Anlagebestand pflegen.“ Viele Gespräche hat der 45-Jährige mit der Chemiebranche geführt, um neue Produktionsstätten nach Leuna zu locken. Sie waren vergebens. „Am Ende entschieden sich viele Interessenten dann doch für die USA oder China.“ Es seien nicht nur die vergleichsweise hohen Energiekosten, die globale Konzerne abhielten, sich in Deutschland anzusiedeln, sagt Günther. Einem ausländischen Unternehmen das verworrene System deutscher Energiepreise mit seinen Umlagen, Abgaben und Ausnahmen nahezubringen sei inzwischen fast unmöglich geworden. Vor allem aber schrecke die Manager die Unsicherheit ab: „Bei all dem Hin und Her weiß doch kein Mensch, wie die deutsche Energiepolitik in fünf Jahren aussieht“, schimpft der Geschäftsführer. Und wo keine Sicherheit, da auch keine Investitionen. Der Rückstand hat mittlerweile besorgniserregende Größenordnungen erreicht. Deutschland investiert deutlich weniger als der Durchschnitt der Industrieländer, heißt es in dem DIHK-Papier (siehe Grafik). Und wenn herausgerechnet wird, was allein für den Erhalt des Kapitalstocks nötig ist, fällt der Abstand noch größer aus. In der Bundesrepublik werden danach nur
drei Prozent der Wirtschaftsleistung für neue Fabriken und Produktionsanlagen ausgegeben. In Schweden und Finnland sind es doppelt, in Österreich sogar dreimal so viel. Dabei fällt die Investitionsschwäche in eine Zeit, in der ohnehin bereits Warnsignale für die Konjunktur auftauchen. Von April bis Juni dieses Jahres ist die Wirtschaft offenbar nicht vom Fleck gekommen, die Volkswirte der Bundesbank rechnen für das zweite Quartal mit einer Stagnation. Das Münchner Ifo-Institut registriert, dass der Geschäftsklimaindex zum dritten Mal in Folge gesunken ist. Die Unternehmen zögerten, neue Mitarbeiter einzustellen. Die weltpolitischen Krisen dieser Tage verschlechtern die Perspektiven zusätzlich. Viele Unternehmen treibt die Angst vor den Folgen um, wenn der Westen die Sanktionen gegenüber Russland weiter verschärft (siehe Seite 68). Gleichzeitig erinnern die Turbulenzen um die portugiesische Bank Espírito Santo daran, dass die Schuldenkrise in Europa keinesfalls ausgestanden ist, auch wenn die Problemstaaten zwischenzeitlich wieder an den Kapitalmarkt zurückgekehrt sind. Nichts deutet jedenfalls darauf hin, dass Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, schon bald die Liquiditätsflut wieder eindämmen wird. Je länger aber die Niedrigzinsphase anhalte, „desto mehr werden sich die Schuldner an das billige Geld gewöhnen“, argumentiert der Kölner Vermögensverwalter Bert Flossbach. Umso schmerzhafter werde dann der Weg zurück zur Normalität. So lauern verschiedene große Risiken für Konjunktur und Wohlstand. Die Basis des deutschen Wohlstands erodiert, das Produktivkapital der Unternehmen genauso wie die staatliche Infrastruktur. Schon um das heute bestehende Netz an Brücken, Straßen und Schienen instand zu halten, müsste der Staat jährlich rund 60 Milliarden Euro investieren, heißt es in der Studie. Tatsächlich gäben Bund, Länder und Gemeinden dafür aber nur 42 Milliarden Euro aus. Dabei sei der finanzielle Spielraum für einen Ausbau vorhanden, immerhin flössen die Steuereinnahmen üppig. Dazu bedarf es allerdings erst einmal der Einsicht in Berlin, dass überhaupt mehr Engagement nötig ist – was schwerfallen mag, wenn überall versichert wird, wie fantastisch alles läuft. DIW-Präsident Marcel Fratzscher beobachtet mit Sorge „eine gewisse Überheblichkeit“, so der Ökonom. „Die Stimmung ist besser als die Lage.“ Tatsächlich weise die Volkswirtschaft „fundamentale Schwächen“ auf, lautet Fratzschers Diagnose. „Deutschland“, warnt der Wissenschaftler, „lebt von der Substanz.“ Alexander Jung, Cornelia Schmergal
Wirtschaft
„Auf der ,Titanic‘“ Interview Eric Schweitzer, 49, Präsident des DIHK, über die trügerische Sicherheit des Wohlstands SPIEGEL: Herr Schweitzer, die Konjunktur
brummt, die Zinsen sind auf ein Rekordtief gefallen – wie kommt es, dass die Unternehmen trotzdem nur so wenig in Deutschland investieren? Schweitzer: Die Unternehmen müssen in ihren Standort Vertrauen haben – das ist die Grundlage für Investitionen und damit für Beschäftigung und Wohlstand. Derzeit meint die Bundesregierung aber, sie könne die Betriebe mit Maßnahmen wie der Rente mit 63, dem Mindestlohn oder mit steigenden Energiekosten weiter belasten. Deshalb glauben viele Unternehmen nicht mehr daran, dass es sich lohnt, hierzulande zu investieren, zumal die Unsicherheit bei der Erbschaftsteuer hinzukommt. Wir verfrühstücken die Basis unseres Wohlstands. SPIEGEL: Eine Umfrage des DIHK zeigt, dass es deutsche Unternehmen verstärkt ins Ausland zieht. Drohen Sie der Politik mit Abwanderung? Schweitzer: Wir drohen nicht. Die Umfrage ist ein ernstes Signal dafür, dass der Standort Deutschland an Attraktivität verliert. Zum ersten Mal seit Jahren wächst die Zahl der Unternehmen, die aus Kostengründen in anderen Ländern investieren – und nicht etwa, weil sie dort neue Märkte erobern wollen. Wenn
wir an der Wurzel eines Baumes sägen, wird er irgendwann umkippen. SPIEGEL: Viele Betriebe verdienen doch prächtig, die Börse ist in Hochstimmung. Sie jammern auf sehr hohem Niveau. Schweitzer: Es stimmt, noch läuft die Konjunktur, noch geht es uns in Deutschland gut. Aber zurzeit agiert die Regierung innenpolitisch, als gäbe es kein Morgen. Es ist ja fast wie auf der „Titanic“: Überall ist Party, aber niemand sieht die Gefahr des Eisbergs, der plötzlich auftauchen kann. Die Agenda 2010 brauchte einige Jahre, um ihre positive Wirkung zu entfalten. Aber nun dreht die Bundesregierung entscheidende Reformen zurück – und davor warnen wir. SPIEGEL: Die Wirtschaft hat applaudiert, als die Große Koalition gebildet wurde. Haben Sie sich so getäuscht? Schweitzer: In einer Demokratie muss die Wirtschaft jedes Wahlergebnis respektieren. Inzwischen sehen wir aber, dass die Entscheidungen der Großen Koalition zur Gefahr für den Standort werden. Jetzt muss Schluss sein mit dem Geldverteilen. SPIEGEL: Die Große Koalition tut nur das, was sie vor der Wahl versprochen hat. Wollen Sie eine Regierung schelten, weil sie zu ihren Ankündigungen steht?
FOTO: MICHAEL BRUNNER / DAVIDS
Unternehmer Schweitzer
Schweitzer: Normalerweise gewinnt nach
einer Wahl der Realismus die Oberhand. Von der Großen Koalition kann man das nicht behaupten. Die Rente mit 63 hat die SPD nur deshalb bekommen, weil die Union unbedingt ihre Mütterrente durchsetzen wollte. Dabei hatte die SPD als zentrales Wahlkampfversprechen doch vor allem auf den Mindestlohn gesetzt. Und schon der ist gefährlich genug und wird Arbeitsplätze kosten, vor allem unter jungen Menschen und im Osten. Die Deutschen sind eines der reichsten Völker der Welt; aber das ist nicht gottgegeben, das steht auch nicht im Grundgesetz. Dafür müssen wir weiter hart arbeiten. SPIEGEL: So ähnlich sagt das auch die Kanzlerin. Schweitzer: Dann sollte sie auch so handeln. Es ist gut, dass die Bundesregierung bis 2017 neun Milliarden Euro mehr in Bildung und Forschung investieren will. Davon abgesehen gibt die Regierung aber zu viel Geld für Konsum aus und schwächt damit die Wettbewerbsfähigkeit. SPIEGEL: Die FDP ist seit der letzten Wahl nicht mehr im Parlament vertreten, und die Union orientiert sich stark an der SPD. Haben Sie überhaupt noch einen Ansprechpartner in der Regierung? Schweitzer: In der Tat gibt es derzeit niemanden, der sich als wirtschaftspolitisches Gewissen der Union in der Regierung profiliert. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat die Euro-Krise gut bewältigt. Aber die Haushaltskonsolidierung ist überwiegend eine Folge sprudelnder Steuereinnahmen und niedriger Zinsen. Für die Union dürfte es irgendwann zum Problem werden, dass sie im Kabinett keinen originären Wirtschaftspolitiker mehr hat. SPIEGEL: Dafür gibt es mit SPD-Chef Sigmar Gabriel einen Wirtschaftsminister, der die Investitionen zu seinem Thema machen will. Schweitzer: Ich habe Sigmar Gabriel – wie übrigens auch die Kanzlerin – als verlässlichen Gesprächspartner kennengelernt. Bei der Energiewende hat er die Baustelle mit Brüssel so geschlossen, dass die Wirtschaft damit insgesamt leben kann. Und von Steuererhöhungen ist auch keine Rede mehr. Das sind Signale, die wir sehr wohl registrieren. Interview: Michael Sauga, Cornelia Schmergal
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Wirtschaft
Angriff der Heugabeln Arbeitsmarkt In den USA formiert sich eine neue Bürgerbewegung, die gegen die soziale Spaltung und für einen Mindestlohn von 15 Dollar kämpft. Ihr Anführer ist ein Superreicher mit schwäbischen Wurzeln.
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as ihn einst reich machte, hat Nick Hanauer ständig im Blick, an der Wand seines Büros, schwarz gerahmt und hinter Glas. Es ist die Amazon-Aktie Nummer 0007. Hanauer war der erste Amazon-Investor, der nicht zur Familie des Firmengründers Jeff Bezos gehörte. 45 000 Dollar hat er vor fast 20 Jahren in das Online-Warenhaus investiert und später seine Anteile für mehr als hundert Millionen Dollar verkauft. „Nicht schlecht, oder?“, sagt er. Hanauer steht an einer Fensterfront im 28. Stock seiner Investmentfirma „Second Avenue Partners“. Von hier aus hat er einen großartigen Blick auf den Hafen von Seattle und die olympischen Berge hinter der Bucht. Seattle ist eine weltoffene, boomende Großstadt im äußersten Nordwesten der USA; Heimat so weltbekannter Firmen wie Boeing, Starbucks und Amazon. Hanauer hat diese Aussicht jeden Tag, aber wenn Besuch da ist, zeigt er sich noch immer begeistert. So wie er sich für seinen Amazon-Deal begeistert. Oder für den noch größeren Deal mit Microsoft: Im Jahr 2007 verkaufte er seine Firma Aquantive für 6,4 Milliarden Dollar an den Softwareriesen. Seitdem, das gibt der 55-Jährige zu, schwimmt er im Geld und hat sich all die Spielzeuge zugelegt, die Reiche in den Vereinigten Staaten gern zeigen: Jacht, Flugzeug, mehrere Villen. Er sei ein stolzer Kapitalist und schäme sich nicht für seinen Wohlstand, sagt er. Gleichzeitig denkt Hanauer aber auch ganz anders als die meisten Vertreter seiner Klasse. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Politico richtete er einen offenen Brief an seine Millionärsfreunde, über den nun halb Amerika diskutiert. „Die Heugabeln kommen – zu uns Plutokraten“, warnt Hanauer. Der Text wurde inzwischen bei Facebook fast 300 000-mal empfohlen und bei Twitter mehr als 12 000-mal retweetet. Das ist, selbst für US-Verhältnisse, eine Wucht. Hanauer, dessen begeisterte Art zu erzählen ebenso an Bill Clinton erinnert wie seine Knollennase, war Gast in mehreren TVShows und am 15. Juli bei Radiolegende Diane Rehm im National Public Radio (NPR). Hanauer sieht die USA in einem vorrevolutionären Zustand. Die soziale Ungleichheit habe ein solches Ausmaß angenommen, dass das Land langsam zu einem feudalen Staat verkomme, sagt er. Die Mil62
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liardäre hätten durch ihre Spenden gefährlich viel politischen Einfluss und könnten ihre Interessen durchsetzen. Wer, wie er, zu den obersten 0,1 Prozent der Gesellschaft gehöre, werde immer noch reicher. Die Mittelklasse rutsche dagegen in die Armut, und das alles erinnere ihn an die Zeit vor der Französischen Revolution, als die Besitzenden sich ebenfalls prächtig amüsierten und die gegen sie gerichteten „Heugabeln“ nicht kommen sahen. „Idiotisch“ und „selbstzerstörerisch“ nennt Hanauer vor allem die Wirtschaftspolitik des „trickle down“: Seit Reagan seien die neoklassischen Ökonomen davon ausgegangen, dass der Wohlstand irgendwann nach unten durchsickere, wenn die Vermögenden nur immer reicher würden. Hanauer aber sagt: „Ich kann jedes Jahr auch nur zehn Hosen oder ein Auto kaufen.“ Das kurble die Wirtschaft nicht an.
Amerika könne nur dann wieder auf die Beine kommen, wenn die breite Masse konsumiere. „Wir Geschäftsleute wollen, dass unsere Kunden Geld haben, unsere Beschäftigten aber möglichst wenig verdienen. Das ist ein Widerspruch.“ Wie ungleich die Einkommensentwicklung seit der Reagan-Ära tatsächlich ist, zeigte vielen Amerikanern zuletzt der Dokumentarfilm „Inequality for all“ („Ungleichheit für alle“), in dem auch Hanauer auftritt: 1978 bezog demnach das oberste eine Prozent der Gesellschaft ein Jahreseinkommen von durchschnittlich 394 000 Dollar, 2010 waren es 1,1 Millionen. Im gleichen Zeitraum sank das Einkommen eines durchschnittlichen männlichen Arbeiters dagegen kaufkraftbereinigt von 48 000 auf 34 000 Dollar. Nun könnte man Hanauer als Spinner abtun, das Wirtschaftsmagazin Forbes hat
FOTOS: BRIAN SMALE / DER SPIEGEL (O.); DAVID RYDER / REUTERS (U.)
Treppe der Hoffnung das auch gemacht – aber das ficht ihn nicht an. Er weiß, dass er gegen die herrschende ökonomische Lehre argumentiert, aber er spürt auch, wie groß die Aufmerksamkeit ist, die ihm neuerdings zuteilwird. Nicht nur, dass er die neue Debatte über Mindestlöhne prägt wie kein anderer. Auch in Washington, D. C., lauschten ihm vor Kurzem zwei Dutzend demokratische Senatoren einen Abend lang. Die Mappe auf seinem Schreibtisch sei voller zustimmender Briefe von Kongressabgeordneten und Senatoren, sagt Hanauer. Einer seiner Anhänger ist Robert Reich, Arbeitsminister unter Bill Clinton und eine Ikone der US-Linken. Reich hat sich auf die Seite von Hanauer geschlagen und eine eigene Petition initiiert für die Erhöhung des landesweiten Mindestlohns von derzeit 7,25 auf 15 Dollar pro Stunde. Produktivität und Inflation seien in den vergangenen Jahren so sehr gestiegen, dass 15 Dollar nun angemessen wären, schreibt Reich in seiner Petition. „Überall in Amerika wächst die Zahl der Menschen, die arm sind, obwohl sie einen Job haben.“ Was Reich mit Worten fördert, unterstützt Hanauer mit Geld: Im vorigen Jahr hat er eine Kampagne für den 15-Dollar-
Wie der gesetzliche Mindestlohn in Seattle steigen soll in Dollar, je Arbeitsstunde
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Mindestlohn in der Kleinstadt SeaTac mitfinanziert. Hier arbeiten die Beschäftigten des Flughafens meist zu Dumpinglöhnen. Es kam zu einer Volksabstimmung, in der die Anhänger des 15-Dollar-Lohns mit 77 Stimmen Vorsprung hauchdünn siegten. Doch das Votum von SeaTac war nicht das Ende, es war der Anfang einer neuen Bewegung, die erst die Großstadt Seattle erfasste – und seither das ganze Land. Als Ende vergangenen Jahres in Seattle ein neuer Bürgermeister gewählt wurde, drehte sich der Wahlkampf so sehr um den 15-Dollar-Mindestlohn, dass beide Kandidaten sich für ihn aussprachen. Gewonnen hat der Demokrat Ed Murray, ein schwuler Katholik, der sofort eine Kommission be-
„Seit der Occupy-Bewegung stellen die Menschen immer mehr Fragen zur sozialen Ungleichheit.“ Kshama Sawant, erste sozialistische Abgeordnete in Seattle seit 1916
Multimillionär Hanauer
auftragte, Pläne für die Umsetzung des Mindestlohns auszuarbeiten. Die noch größere Überraschung war jedoch, dass in Seattle bei der gleichzeitigen Wahl zum Stadtparlament eine Sozialistin gewählt wurde, deren Wahlkampf ebenfalls nur ein Thema kannte: den Mindestlohn. Mit Kshama Sawant hat Seattle nun zum ersten Mal seit 1916 wieder eine sozialistische Abgeordnete. Nicht nur der Geheimdienstenthüller Glenn Greenwald ist ein begeisterter Anhänger der gebürtigen Inderin. Mittlerweile hat die 41-jährige Sozialistin ihr Büro im Rathaus von Seattle bezogen, nebenan hat sich derzeit für einige Wochen die deutsche Linken-Politikerin Lucy Redler, 34, einquartiert, um von Seattle zu lernen. Fragt man Sawant, wie es dazu kam, dass die Stadt nun den höchsten Mindestlohn der USA habe, spielt sie die Rolle Hanauers etwas herunter und erklärt, es sei ein Erfolg der Beschäftigten in den FastFood-Restaurants gewesen, die stets wieder dafür gestreikt hätten. „Seit der Occupy-Bewegung stellen die Menschen immer mehr Fragen zur sozialen Ungleichheit“, so Sawant. In diesem Punkt gibt Erzkapitalist Hanauer der Sozialistin recht: Nicht Ökonomen wie Joseph Stiglitz, Paul Krugman oder Thomas Piketty hätten die Stimmung im Land gedreht, sondern die Occupy-Bewegung. Sawant verweist auf Meinungsumfragen, die dem politischen Establishment gezeigt hätten, dass 70 Prozent der Bevölkerung für einen höheren Mindestlohn seien. Neben Hanauer und Sawant berieten auch Gewerkschafter, lokale Geschäftsleute und Vertreter der Handelskammer den Bürgermeister. Sie einigten sich im Mai darauf, dass der Mindestlohn in Schritten steigt: Firmen mit mehr als 500 Beschäftigten müssen von April 2015 an 11 Dollar, später 13 Dollar und 2017 dann 15 Dollar zahlen. Firmen mit weniger als 500 Mitarbeitern haben bis 2019 Zeit. Leisten kleine Firmen Zuschüsse zur Krankenversicherung, verlängert sich ihre Frist bis 2021. Bis 2025 klettert der einheitliche Mindestlohn für alle dann auf 18,13 Dollar pro Stunde – ohne Ausnahmen. Widerstand? Ist in Seattle kaum zu entdecken. Zwar gibt es mit „Forward DER SPIEGEL 31 / 2014
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Milliarden Dollar Gewinn, die Beschäftigten wären dann aber nicht mehr auf staatliche Hilfen angewiesen.“ Würden alle Unternehmen ihre Mitarbeiter anständig bezahlen, würde Walmart vermutlich gar keinen Gewinnrückgang erleiden, weil die Menschen dann in der Lage wären, sehr viel mehr einzukaufen – auch bei Walmart. US-Präsident Barack Obama hat bereits vorgeschlagen, den nationalen Mindestlohn von 7,25 Dollar auf 10,10 Dollar zu erhöhen. Doch die Republikaner im Kapitol lehnten das unter Verweis auf eine Stellungnahme des Kongress-Haushaltsbüros ab, wonach ein höherer Mindestlohn 500 000 Jobs vernichten könnte. Wie zutreffend diese Berechnungen sind, ist umstritten. Tatsächlich gibt es eine Reihe neuer Untersuchungen, die zeigen, dass ein höherer Mindestlohn keine Arbeitsplätze vernichtet. So haben die Wirtschaftswissenschaftler David Card und Alan Krueger in den Nachbarstaaten New Jersey und Pennsylvania die Beschäftigungssituation untersucht, nachdem 1992 der Mindestlohn in New Jersey um fast 20 Prozent erhöht wurde, der in Pennsylvania aber nicht. Das Ergebnis war, dass die Beschäftigung in New Jersey trotz Erhöhung des Mindestlohns nicht zurückging, sondern sogar leicht anstieg. Auch Seattle und San Francisco, die schon heute Mindestlöhne weit über dem US-Durchschnitt zahlen, verzeichnen mehr Wirtschaftswachstum und geringere Arbeitslosigkeit als der Rest der USA. Hanauers Vater besaß einst in der Nähe von Stuttgart eine Kissenfabrik, musste aber vor den Nazis fliehen und übernahm in Seattle die Pacific Coast Feather Company. In den USA hergestellte Kissen können Menschen aber nicht kaufen, die nur 7,25 Dollar verdienen, sagt Hanauer. Das ist nach seiner Ansicht der Grundfehler der Linken: Sie hätten immer nur über eine Erhöhung des Mindestlohns von 50 Cent sprechen und ihn aus Mitleid erhöhen wollen. „Die Amerikaner wählen aber nicht jemanden, der ihnen Mitleid verspricht“, sagt Hanauer, „sondern Wirtschaftswachstum.“ Markus Grill
Fast-Food-Beschäftigte Thompson, Sohn „15 Dollar sind wirklich toll“
Gier frisst Hirn Onlinebetrug Im Internet tauchen zunehmend gefälschte Bahntickets zu Schnäppchenpreisen auf. Der Schaden für den Konzern geht in die Millionen.
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amburg, Anfang Juli: Maskierte Beamte der Bundespolizei durchsuchen neun Wohnungen in der Hansestadt, im niedersächsischen Seevetal und in Gadebusch in Mecklenburg-Vorpommern. Mehr als 200 Beamte sind im Einsatz. Sie beschlagnahmen Mobiltelefone, Computer, EC-Karten und Dokumente. Vier Verdächtige zwischen 18 und 26 Jahren werden festgenommen. Nur ein paar Tage zuvor ein ähnlicher Einsatz in Berlin: 111 Beamte stürmen sechs Wohnungen und mehrere Geschäftsräume, nehmen Rechner und Aktenordner mit. Sie stoßen auf verdeckte Briefkästen, mit deren Hilfe die mutmaßlichen Täter kommunizierten. Zwei Personen sitzen seither wegen Verdunklungsgefahr in Untersuchungshaft. Bei den Einsätzen ging es allerdings nicht um Rockerbanden, islamistische Terrorzellen oder Drogenhändlerringe. Es bestand auch keine Gefahr für Leib, Leben oder gar den Rechtsstaat. Die Ermittler suchten nach etwas eher Profanem: Zugfahrkarten. Seit Wochen ermitteln Staatsanwälte in Hamburg und Berlin wegen des Verdachts auf „banden- und gewerbsmäßigen Computerbetrug zum Nachteil der Deutschen Bahn“. Die Täter sollen einen Schaden von einigen Hunderttausend Euro verursacht haben. Allein der Berliner Bande werfen die Ermittler vor, in über 600 Fällen mit falschen Kreditkartendaten über das Onlineportal der Bahn Fahrscheine gebucht und diese dann an ahnungslose Kunden weiterverkauft zu haben. Und das sind keine Einzelfälle. Insgesamt hat die Bahn seit 2011 mehr als 100 000 Fälle von Ticketbetrug registriert. Der Schaden lag allein im vergangenen Jahr bei sieben Millionen Euro, Tendenz steigend. Das Prinzip funktioniert, weil es Bahnfahrkarten nicht nur auf der offiziellen Internetseite der Bahn zu kaufen gibt, sondern auch über Plattformen wie Ebay oder über die Seiten von Mitfahrzentralen – zu sehr verlockenden Preisen. Hier werden Billigtickets etwa als „Sonderkontingente der Bahn“ angeboten. Als Kunde muss man dem Verkäufer meist Name, Geburts-
FOTO: MARCUS YAM / THE SEATTLE TIMES
Seattle“, eine Gruppe von Geschäftsleuten, die einen niedrigeren Mindestlohn von 12,50 Dollar anregen, doch die Initiative fand so wenig Unterstützer, dass der Vorschlag nicht mal zur Abstimmung bei der nächsten Wahl zugelassen ist. Eine der Arbeiterinnen, die bald mehr verdienen wird, ist Crystal Thompson. Die 33-jährige Mutter von zwei Söhnen arbeitet bei der Fast-Food-Kette Domino’s Pizza. Sie nimmt Bestellungen entgegen, kocht, serviert, kassiert und räumt auf. An manchen Tagen ist sie allein verantwortlich. Thompson arbeitet meist 32 Stunden die Woche und kommt auf 1250 Dollar monatlich. Aber das reiche hinten und vorn nicht, sagt die alleinerziehende Mutter. Sie wohnt in einem Vorort von Seattle. Keine gute Gegend, sagt sie, viele Drogen und Kriminalität, einmal sei jemand vor ihrem Haus erschossen worden. Die Miete von 800 Dollar teilt sie sich mit einer Mitbewohnerin. Ihr 8-jähriger Sohn schläft auf der Wohnzimmercouch. Für den 15-Jährigen ist kein Platz mehr, er wohnt bei seiner Tante in der Stadt. Wann sie zuletzt ein Geschenk für die Kinder gekauft habe? Thompson blickt beschämt zur Seite. Nein, sagt sie, für so was habe sie kein Geld. Sie bezieht staatliche Lebensmittelmarken, ab und zu könne sie etwas Pizza mit nach Hause nehmen. Dass sie in zweieinhalb Jahren 60 Prozent mehr als heute verdienen soll, kann sie kaum fassen. „Ich wäre auch mit 12 Dollar zufrieden, aber 15 sind wirklich toll.“ Die sozialistische Abgeordnete Sawant weitet derweil die Bewegung von Seattle aufs ganze Land aus. Sie hat die Website 15now.org ins Leben gerufen, die den Kampf für den Mindestlohn koordiniert. Inzwischen gibt es landesweit 20 Aktionsgruppen, die für die 15 Dollar kämpfen, unter anderem in New Orleans, Chicago, Philadelphia und New York City, dessen neu gewählter linker Bürgermeister Bill de Blasio ebenfalls mit der Kampagne sympathisiert. In Los Angeles sollen Hotelangestellte bald 15 Dollar bekommen, San Francisco stimmt im November ab, der Bürgermeister unterstützt das Vorhaben. Hanauer versucht unterdessen Konservative mit dem Argument zu überzeugen, dass ein höherer Mindestlohn die Staatsausgaben senke. Walmart zum Beispiel ist mit 1,3 Millionen Beschäftigten der größte Arbeitgeber in den USA. Der Konzern bezahlt seine Mitarbeiter aber so schlecht, dass viele auf die staatliche Krankenversicherung Medicaid und auf Lebensmittelmarken angewiesen sind. Gleichzeitig machte Walmart zuletzt 27 Milliarden Dollar Gewinn vor Steuern im Jahr. Hanauer sagt: „Wenn Walmart einer Million Mitarbeiter, die am wenigsten verdienen, 10 000 Dollar im Jahr mehr bezahlt, macht das Unternehmen immer noch 17
FOTO: FABRIZIO BENSCH / REUTERS
datum und seine Kreditkartennummer beziehungsweise Kontonummer oder die letzten vier Ziffern seiner Personalausweisnummer zur Identifizierung übermitteln. Die Tickets erhält man dann per Mail zum Ausdrucken. So boten Betrüger vor Kurzem etwa die Strecke Hamburg–München für sagenhafte 44,90 Euro an – normalerweise kostet der Fahrschein 142 Euro, selbst im bahneigenen Sparangebot ist die Strecke selten unter 95 Euro zu kriegen. Dass der Preis gar zu günstig sein könnte, scheint den Kunden dabei nicht aufzustoßen – Gier frisst Hirn. Und sie denken auch nicht darüber nach, dass der Kauf gefälschter Tickets Konsequenzen haben kann: Die Karten sind ungültig, wer erwischt wird, muss zusätzlich zu einem neuen Fahrschein Strafe für das Schwarzfahren zahlen – und auch sonst für den entstandenen Schaden aufkommen. Der tausendfache Verkauf gehackter Tickets ist längst nicht nur für die Bahn ein Problem. Auch Fluggesellschaften, Konzertveranstalter oder Mobilfunkanbieter sind davon betroffen. Und immer sind gestohlene Kreditkartendaten der Ausgangspunkt der Betrügereien: Für ein paar Euro pro Datensatz werden diese eigentlich hochsensiblen Informationen im weltweiten Netz gehandelt. Der Schaden jedoch, den Kriminelle damit anrichten, geht in die Milliarden. Allein 2012 sollen es weltweit rund 1,3 Milliarden Euro gewesen sein, 15 Prozent mehr als noch im Jahr davor. Für Konzerne wie Verbraucher ist der Kreditkartenbetrug damit nicht nur ein lästiges, sondern auch ein teures Thema. Doch zumindest Fluggesellschaften schlugen Mitte April dieses Jahres zurück.
Bei einer gemeinsamen Aktion mit anbietern wie beispielsweise dem ReiseEuropol und Kreditkartenanbietern wie portal HRS nutzen. Wie aber soll der KunAmerican Express, Mastercard und Visa de da wissen, ob das Schnäppchen im Netz gingen den Fahndern 183 Menschen ins von der Bahn oder von Kriminellen einNetz, die mit illegal gekauften Tickets un- gestellt wurde? „Grundsätzlich gilt: Der Preis, der auf terwegs waren. Auch die Bahn kann inzwischen Erfolge dem Ticket steht, ist auch der richtige“, melden. Im April wurde in Stuttgart ein sagt Kai Brandes, Leiter Zahlungsverfah23-jähriger Informatikstudent zu drei Jah- ren der DB Vertrieb. Würden Fahrkarten ren und neun Monaten Haft verurteilt, zu einem anderen Preis angeboten, sei weil er Kreditkartendaten auf dem Inter- Vorsicht geboten. Er empfiehlt, einfach die netschwarzmarkt gekauft und mithilfe der Hände wegzulassen von Angeboten, die Daten gefälschte Bahnfahrscheine auf ei- mit Begriffen wie „Sonderaktionen“, ner Internetplattform angeboten hatte. Es „Bahn-Mitarbeiter-Vergünstigungen“ oder ging um mehr als 800 Tickets, Schaden für „Bonusprogrammen“ werben. Diese sind auf Ebay und anderen Verkaufsplattfordie Bahn: 120 000 Euro. In Berlin wurde im vergangenen Jahr men zu sehen. Seit Anfang Juli versucht die Bahn zuein Duo zu drei Jahren und drei Monaten verurteilt, das gehackte Tickets im Wert dem, den Ticketbetrügern auch technisch von 400 000 Euro verkauft hatte. Die bei- etwas entgegenzusetzen: Künftig kann den Täter hatten sich über eine Internet- beim Onlinekauf über Kreditkarte auch plattform kennengelernt, auf der sich an- nach einem wort gefragt werden, einer sogenannten 3-D-Secure. Das soll den gehende Betrüger austauschen. Trotzdem ist die Bahn angesichts der Fahrscheinkauf mit geklauten Kreditkarsteigenden Fallzahlen alarmiert. „Die Ge- ten erschweren, denn die Kombination fahr, dass Kriminelle die Anonymität des legt der Karteninhaber über seine Bank Netzes für ihre illegalen Geschäfte ausnut- fest. Kriminelle Datenklauer sollen an ihn zen, ist erheblich größer geworden“, sagt nicht herankommen können. Der neue Sicherheitschef Gerd Neubeck. Das gilt Code wird allerdings nicht bei jeder Buchung abgefragt, sondern nur, wenn der auch für die Bahn. Mehr als 25 Millionen Onlinetickets hat Bahnrechner von einer Hacker-Anfrage die Bahn im vergangenen Jahr verkauft, ausgeht. Auch in der Sicherheitsabteilung des schon heute wird jede zweite Zugfahrkarte Schienenkonzerns weiß man allerdings, im Fernverkehr online ausgestellt. Dass die neuen Vertriebswege zu Miss- dass das allein nicht reichen wird, um den brauch führen, liegt aber auch an der Bahn: Betrug mit den Onlinetickets einzudämDer Konzern selbst bietet immer wieder men. Auch den Bahn-Oberen ist klar, dass günstige Fahrscheinkontingente an, etwa die Betrüger sofort nachziehen und neue über große Lebensmittelketten oder über Wege finden werden. „Es ist und bleibt“, Partner wie L’Tur oder Opodo. Außerdem seufzt ein Konzernermittler, „ein Katzwill die Bahn künftig Portale von Dritt- und-Maus-Spiel.“ Jörg Schmitt DER SPIEGEL 31 / 2014
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Slum mit Aussicht
Nigeria
Stadt der Terroristen Zum ersten Mal hat die islamistische Terrormiliz Boko Haram offenbar eine Großstadt unter ihre Kontrolle bringen können: Damboa im Nordosten des Landes. Zuletzt wurde die Stadt nur noch von einer Bürgerwehr aus zumeist Jugendlichen verteidigt – bis am Ende die Munition ausging. Über den Dächern der Stadt im Bundesstaat Borno wehen seit Anfang voriger Woche die schwarzen Fahnen der Gotteskrieger. Zigtausende Bewohner flüchteten in Nachbarorte. „Die Stadt ist menschenleer“, sagt Yusuf 66
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Mahmud, einer der letzten Verteidiger, der sich ins 90 Kilometer nordöstlich gelegene Maiduguri retten konnte. Die Stadt Damboa ist von be-
sonderer strategischer Bedeutung: Sie ist ein Handelszentrum der Region und liegt am Rande des riesigen und undurchdringlichen SambisaTSCHAD
NIGER
Borno Maiduguri
Landesteil mit Scharia-Gesetzgebung BENIN
Abuja
Damboa
N I G E R I A AFRIKA
KAMERUN 300 km
Waldes – der Hochburg von Boko Haram. Noch dementiert die Armee die vollständige Einnahme. „Wir werden Boko Haram keinen einzigen Teil des Landes überlassen“, sagte ein Armeesprecher. Wirklich helfen kann wohl nur ein konzertiertes Vorgehen mit den Nachbarländern – denn die Islamisten operieren auch von der kamerunischen Seite der Grenze aus. Zum ersten Mal haben die Regierungen von Nigeria und Kamerun nun direkte Gespräche aufgenommen. Es geht dabei auch um gemeinsame Grenztruppen und grenzübergreifende Aktionen bei der Verfolgung der Terroristen. mer
FOTO: JORGE SILVA / REUTERS
Noch können diese Bewohner des wohl höchsten Slums der Welt die Aussicht auf Caracas genießen. Bis zu 3000 Menschen halten seit 2007 den Rohbau des 45 Stockwerke hohen „Torre de David“ besetzt. Er war als Bürozentrum geplant und wurde zum Symbol für die gescheiterte Politik des inzwischen verstorbenen Hugo Chávez. Nun veranlasst die Regierung Venezuelas die Räumung, in den letzten Tagen wurden die ersten 160 Familien umgesiedelt. mer
Ausland Spanien
Lieferservice für Marihuana In Katalonien, Madrid und im Baskenland florieren private Klubs zum Konsum und Anbau von Marihuana. Allein in Barcelona sind seit 2011 bis zu 300 solcher Vereine entstanden, etwa die Hälfte mit Genehmigung der Behörden. Die Mitglieder von Cannabis-Klubs müssen volljährig sein und monatliche Beiträge zahlen, dann können sie zum Eigengebrauch legal die Pflanzen anbauen und deren getrocknete Blätter und Blüten konsumieren. Weil die gemeinnützigen Vereine bisher kaum kontrolliert wurden, machen einige Mil-
Brasilien
Ende des Friedens Nach dem Ende der Fußballweltmeisterschaft versuchen Drogengangs in Rio de Janeiro, die Elendsviertel von der Polizei zurückzuerobern. Die Sicherheitskräfte hatten in den vergangenen Jahren über 300 Favelas besetzt. Die Mordrate ging daraufhin drastisch zurück, eine sogenannte Friedenspolizei sollte für die Sicherheit der
lionengeschäfte auch als Lieferservice für Kiffer: Sie rekrutieren im Internet Mitglieder für einen Tag und liefern die Ware ins Haus. Unlängst wurden der Präsident des 11 000 Mitglieder zählenden Vereins Airam und drei Helfer in Barcelona verhaftet: In
Wahrheit, so die Ermittler, habe der Klubpräsident Drogenhandel betrieben. Nun haben die Regierungen von Katalonien und dem Baskenland angekündigt, noch in diesem Jahr eine neue gesetzliche Regelung für die Kifferklubs zu finden. hzu
Kiffer in Madrid
Bewohner sorgen – und nicht zuletzt für Ruhe während der Fußballweltmeisterschaft. Nun kehren die alten Bilder von Blut und Gewalt zurück. Im Complexo do Alemāo, einem riesigen Slum im Norden von Rio de Janeiro, kommt es beinahe täglich zu Schießereien zwischen Rauschgiftgangs und Polizei. Zuletzt feuerten Drogengangster auf eine Polizeiwache und zündeten mehrere Streifenwagen an, es gab ei-
nen Toten. Viele Geschäfte blieben geschlossen, in den Schulen der Region fiel der Unterricht aus. In diesem Viertel hatte das Comando Vermelho, die größte Verbrecherorganisation von Rio, früher ihr Hauptquartier. Nach Ansicht von Experten wird sich hier deshalb auch entscheiden, ob das Sicherheitskonzept der Behörden aufgeht oder ob die Stadt erneut in einen Strudel der Gewalt gezogen wird. jgl
Fußnote
FOTOS: ANTONIO NAVIA/DEMOTIX/CORBIS (O.); MARIO TAMA/GETTY IMAGES (U.)
133 kommunale Einrichtungen und öffentliche Betriebe Griechenlands weigern sich hartnäckig, die Zahl ihrer Beschäftigten und die Höhe der Gehaltszahlungen amtlich erfassen zu lassen – aus Angst vor Spar- und Reformmaßnahmen. Die Regierung in Athen versucht seit drei Jahren vergebens, die Daten einzusammeln, um die von der Troika geforderten Reformen in der aufgeblähten Verwaltung umsetzen zu können. mer
Polizeieinsatz in Favela in Rio
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Spätes Erwachen Sanktionen Es musste eine Boeing mit fast 300 Menschen an Bord abgeschossen werden, ehe die EU-Staaten zu ersten echten Wirtschaftssanktionen gegen Russland fanden. Ob das Wladimir Putin beeindruckt, ist offen. Die Amerikaner wollen in jedem Fall mehr.
Konvoi von Leichenwagen am Flughafen von Eindhoven
Titel
FOTOS: REMKO DE WAAL / DPA (L.); MIKHAIL KLIMENTYEV / AFP (R.)
E
s waren die Bilder. Tumb tätowierte prorussische Kämpfer, Zigarette im Mund, Kalaschnikow unter dem Arm, stapfen im Leichen- und Trümmerfeld der Absturzstelle herum, als gingen sie die toten Kinder aus der abgeschossenen Boeing nichts an. Experten halten sich die Nase zu, als sie einen Eisenbahnwaggon voller toter Körper öffnen. Die schier endlose Kolonne von Leichenwagen verlässt den Flughafen Eindhoven. Wladimir Putin, der russische Präsident, verzieht keine Miene. Es sind meistens die Bilder. Zum mitunter zynischen Geschäft politischer Experten gehört, eine solche Tragödie, die endlos im TV wiederholten Aufnahmen des Leides Unschuldiger, einen „game changer“ zu nennen. Jenen Moment, der den Lauf einer Krise in „vorher“ und „nachher“ teilt, weil Öffentlichkeit und Politik gemeinsam den Atem anhalten und sich neu besinnen. Doch zu den Besonderheiten der Europäischen Union gehört, dass sie sich im Nachher oft noch eine Zeit lang so verhält wie im Vorher. Wer das nicht geglaubt hat, musste am vergangenen Dienstag, fast eine Woche nach dem Abschuss der malaysischen Boeing, Flug MH 17, nur diesem Dialog zuhören: „Machen wir doch wenigstens ein Waffenembargo“, sagte der britische Außenminister Philip Hammond. „Nein, ihr könnt ja nicht einmal Finanzsanktionen“, antwortete der Franzose Laurent Fabius im Verhandlungssaal des Brüsseler Ratsgebäudes. Vor den Türen hatten sich die Außenminister tief betroffen gezeigt. Dahinter ging es offenbar nicht so sehr darum, wie man Putin nun endlich zum Einlenken bewegen könnte, sondern vor allem darum, wie man die jeweils eigene heimische Wirtschaft am besten schonen könnte. Es schrie zum Himmel. Ranghohe Vertreter osteuropäischer Mitgliedstaaten zweifelten in den Tagen danach an ihren satten Vettern aus dem Westen der EU. Es sei „einfach lächerlich“ gewesen, sagte einer von ihnen. „Seid nicht feige, lasst mich hinter den Baum“, hätten die Minister sich zurufen müssen. Wären sie denn ehrlich gewesen. Doch am Ende der vergangenen Woche kam Europa im Nachher an. Der „game changer“ hatte gewirkt. Wie man jetzt so gut wie sicher weiß, wurde Flug MH 17 mit Raketen aus russischen Beständen abgeschossen, die ohne Billigung Putins wohl kaum in die Ukraine gelangt wären. Die 28 EU-Botschafter einigten sich im Prinzip auf erste harte Wirtschaftssanktionen gegen Russland, am Dienstag wollen sie abschließen. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy forderte die Regierungschefs in einem Brief auf: „Ich würde Sie bitten, Ihren Botschafter so anzuweisen, dass wir am Dienstag eine Einigung hinbekom-
Präsident Putin: Keine Miene verzogen
men.“ Verlässt sie nicht doch wieder die Entschlossenheit, „dann kann man jetzt Russland und Putin sehr kontrolliert den Hahn zudrehen“, heißt es in Berlin. Ende dieser Woche werden vermutlich die Staats- und Regierungschefs selbst die neuen Sanktionen gegen russische Banken, Konzerne und Privatpersonen offiziell beschließen. Die Bundesregierung hofft trotz Sommerpause auf einen Sondergipfel in Brüssel. Offenbar will man Putin auf großer Bühne den Handschuh hinwerfen. Es geht auch um Symbole, ja, um Bilder, die vor jenen der Boeing-Trümmer politisch bestehen können. Praktisch dreht sich alles um Öl, Gas, Waffen, Hightech und sehr viel Geld. Wären nicht jeden Tag Tote in der Ostukraine in einem echten Krieg zu beklagen, man müsste von einem möglichen „Wirtschaftskrieg“ sprechen. Ist Wladimir Putin so zu stoppen? Was wird seine Antwort sein? Die EU fordert, dass Russlands Präsident umgehend die Grenze zur Ukraine für den Nachschub der Separatisten schließt; sie entwaffnet; die ukrainische Führung anerkennt und den OSZE-Beobachtern Bewegungsfreiheit verschafft. Das deutsche Außenministerium wünscht sich noch mehr: eine zeitlich und in der Sache klar begrenzte Uno-Polizeimission zur Aufklärung des Absturzes von Flug MH17. „Dazu finden bereits Gespräche mit unseren holländischen und australischen Partnern statt“, heißt es im Auswärtigen Amt. Ein Beschluss im Uno-Sicherheitsrat ist dafür nötig, also auch das Ja Putins. Es wäre ein erster Test, ob der neue Mut der Europäer den Präsidenten beeindruckt. Wie zu Zeiten der Kreml-Astrologie im Kalten Krieg versucht der Bundesnachrichtendienst (BND), der Meinungsbildung in Putins Umfeld auf die Spur zu kommen. Man sieht Anzeichen dafür, dass im Kreml
Hardliner und Wirtschaftsführer heftig um Einfluss bei Putin kämpfen. Anders als westliche Geheimdienste noch zu Beginn der Ukraine-Krise dachten, scheinen sich Brüche in Putins Machtblock zu zeigen. Das jedenfalls berichtete der Chef des BND, Gerhard Schindler, jüngst in einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Ähnliches soll er kurz darauf auch im Kanzleramt, bei der wöchentlichen „Nachrichtendienstlichen Lage“, mitgeteilt haben. Aus Sicht des BND ist es durchaus möglich, dass einige der Oligarchen bald schon wirtschaftliche über politische Interessen stellen und Putin zu bremsen versuchen. Einer der einflussreichsten Hardliner, die das Gegenteil wollen, ist Sergej Glasjew, 53, Berater Putins. Im Kreml ist Glasjew zuständig für die Beziehungen zur Ukraine und die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft. Den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko nennt Glasjew einen „Nazi“, und er fordert Luftangriffe gegen die ukrainische Armee. Er hält Europa für degeneriert, die USA für einen Feind, der heimlich so viel Geld drucken lässt, dass er Russland damit wahlweise aufkaufen oder ruinieren könne. Sein Land will Glasjew deshalb abschotten und auf wichtigen Feldern autark machen. Und bei dieser Abkehr von der westlichen Welt kommen Putin-Vertrauten wie Glasjew die EU-Sanktionen sogar zu. Ginge es nach ihm, würde Moskau seine Devisenreserven von 472 Milliarden Dollar ohnehin nicht länger in US-Währung oder Euro halten, würden „Eurasische Kreditkarten“ Visa- und Mastercard ersetzen und China Europa als Russlands wichtigsten Partner. Bereits jetzt dürfen russische Beamte und Politiker keine Konten, Firmen oder Hä mehr im Ausland besitzen, vier Millionen Polizisten, Militärs und GeheimDER SPIEGEL 31 / 2014
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dienstler nicht mehr im Westen Urlaub machen. Und alle russischen Beamten sollen in Zukunft nur noch in der Heimat gebaute Dienstwagen fahren. So entsteht eine Welt, wie Putin sie heute sieht. Eine Welt, in der das vermeintlich vom Westen gedemütigte Russland alte Größe wiederfindet – und sei es nur, weil außer eurasischen Satelliten nicht mehr viel anderes zu dieser Welt gehört. Der Moskauer Politologe Stanislaw Belkowski erinnert an Putins Interview-Biografie „Aus erster Hand“ aus dem Jahr
legenheit. Mehr als ein Dutzend Maschinen wurde abgeschossen. Mit seinen teils verstiegenen, teils verlogenen Reaktionen auf den Tod der fast 300 Flugagiere hat Putin zugleich allen politischen Kredit in Europa und den USA verspielt. Vieles kann ihm deshalb egal sein, härtere Sanktionen gehören vermutlich dazu. Auch der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Eckhard Cordes, warnt: „Zu viel Druck von außen kann in der jetzigen Situation das Gegen-
Nur wenn Russland von den internationalen Finanzmärkten abgeschnitten wird, trifft es Putin wirklich. 2000. Der heutige Präsident sagt darin: „Eine Ratte darf man nie in die Ecke treiben.“ Und da man keinen Druck auf Putin ausüben dürfe, weil er kein flexibler Mensch sei, „kann man von ihm jetzt alle möglichen aggressiven Entscheidungen erwarten“, so Belkowski. Bislang hat der Präsident eine direkte militärische Einmischung in der Ukraine vermieden. Nach westlichen Erkenntnissen ließ er schweres Militärgerät über jene drei Grenzübergänge rollen, die die Rebellen einnahmen, als die ukrainische Zentralregierung vor Kurzem eine mehrtägige Waffenruhe ausrief. Und mit den Luftabwehrraketen haben die Separatisten den militärisch wichtigsten Vorteil der ukrainischen Armee ausgeglichen, die Luftüber-
teil von dem bewirken, was erwünscht ist. Es ist niemandem geholfen, wenn wir Putin völlig in die Ecke drängen.“ Diese Aussicht alarmiert nicht wenige in der russischen Wirtschaft. Den Oligarchen mag es dabei auch um die eigenen Milliarden und ihre Villen auf Zypern, an der Côte d’Azur oder in London gehen. Sie wissen aber zugleich, dass Russlands Wirtschaft ohne Maschinen und Know-how aus dem Westen zum Abstieg verurteilt ist. Das öffentlich zu sagen trauen sich ganz wenige, einer von ihnen ist Exfinanzminister Alexej Kudrin, 53, ein Liberaler. Aufrüstung, militärische Einmischung in der Ostukraine und Sanktionen könnten Russland binnen weniger Jahre bis zu 20 Prozent der Wirtschaftskraft kosten, so
rechnete er vor. Noch deutlicher wurde der ehemalige russische Ministerpräsident Michail Kassjanow: „Wenn es Sanktionen gegen den gesamten russischen Finanzsektor gäbe, würde unsere Wirtschaft in sechs Wochen zusammenbrechen.“ So weit wird die Europäische Union diese Woche nicht gehen. Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier wollen auf keinen Fall den Zusammenhalt der 28 EU-Staaten gefährden. Außerdem soll der deutsche Draht nach Moskau nicht abreißen (siehe Interview Seite 71). Und natürlich gilt jener Vorbehalt weiter, den einer im Berliner Regierungsviertel so formuliert: „Es soll bei denen weh tun, aber nicht bei uns.“ Sicher ist deshalb vorerst nur, dass 15 Personen neu auf die schwarze Liste kommen, 72 standen zuvor schon drauf. Die Vermögenswerte der Betroffenen werden in der EU eingefroren, für sie gelten Einreisebeschränkungen. Dazu kommen noch eineinhalb Dutzend Firmen und Organisationen, vor allem aus der Ostukraine. Groß schrecken wird das den Kreml nicht. Einer der Betroffenen ist ein Wein- und Sekthersteller von der Krim. Wichtige Gefolgsleute Putins fehlen dagegen auf der Liste. Beim Londoner Fußballklub FC Chelsea darf Roman Abramowitsch weiter Hof halten, der seinen Reichtum den guten Verbindungen zu Putin verdankt. Auch Gazprom-Chef Alexej Miller bleibt verschont. Sein Unternehmen versorgt weite Teile Europas mit Gas. „Ver-
Großer Nachbar, kleiner Markt Anteil des Russlandhandels am Außenhandel der EU-Staaten
Deutsche Ausfuhrgüter
FINNLAND 13,9
nach Russland, in Milliarden Euro 2013
2013, in Prozent SCHWEDEN 3,3
8,1
Maschinen ESTLAND 8,7
DÄNEMARK 1,6 LETTLAND 11,7 NIEDERLANDE 3,9 IRLAND 0,6 BELGIEN 2,2
DEUTSCHLAND
3,7
POLEN 8,7 TSCHECHIEN 4,4
ÖSTERREICH 2,8 FRANKREICH 1,9
Datenverarbeitungsgeräte, elektrische und optische Erzeugnisse
2,5
Elektrische Ausrüstungen
2,5
SLOWAKEI 6,8 UNGARN 5,7
RUMÄNIEN 3,6
SLOWENIEN 3,3 KROATIEN 5,7
SPANIEN 2,2
BULGARIEN 0,8
ITALIEN 4,1
Pharmaprodukte u. ä.
Quelle: Eurostat nach SITC, Destatis
ZYPERN 0,2
2,1
Metallerzeugnisse
1,4
Nahrungs- und Futtermittel
1,3
GRIECHENLAND 9,4 MALTA 0,6
3,2
Chemische Erzeugnisse
LITAUEN 24,8
LUX. 0,5
PORTUGAL 1,2
7,6
Kraftwagen, Kfz-Teile
GROSSBRITANNIEN 1,4
Gesamtvolumen
36,1 Milliarden Euro
„Wir nehmen die Sorgen der Wirtschaft ernst“
FOTO: THOMAS KOEHLER / PHOTOTHEK VIA GETTY IMAGES
Interview Außenminister Frank-Walter Steinmeier, 58, über die Wucht der neuen Sanktionen gegen Moskau SPIEGEL: Die EU will die Sanktionen Schritt um Schritt verschärfen. Was lässt Sie hoffen, dass die Fortsetzung einer Politik, die seit mehreren Monaten nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hat, nun doch zum Erfolg führt? Steinmeier: Garantien gibt es in der Diplomatie nicht, schon gar nicht in Krisenlagen. Dass eine nachhaltige Deeskalation noch nicht gelungen ist, beweist doch nicht, dass ein anderer Kurs erfolgreicher gewesen wäre. Ob Russland unser Partner oder unser Gegner sein will, weiß ich nicht. Das werden wir sehen. Europas Nachbar wird es aber sicher bleiben. Und mit Nachbarn muss man reden können. Deshalb ist unser Kurs richtig: Wir verstärken den Druck, stehen aber weiter für Verhandlungen mit Russland zur Entschärfung des Konflikts bereit. Nach der Tragödie von MH 17, dem Tod von fast 300 Unbeteiligten und völlig Unschuldigen und dem unwürdigen Treiben von marodierenden Separatisten an der Absturzstelle waren wir alle überzeugt, dass neue, substanzielle Maßnahmen die richtige Antwort auf die mangelnde Bereitschaft Russlands sind, die Grenze zur Ukraine abzudichten und auf die Separatisten einzuwirken. SPIEGEL: Die EU-Staaten auf einem gemeinsamen Nenner zusammenzuhalten bedeutet praktisch, die Sanktionen immer nur im Gleichschritt verschärfen zu können. Ist das auch nach dem Abschuss der Boeing und bei unvermindertem Fortgang der militärischen Auseinandersetzungen noch die richtige Strategie? Steinmeier: Wir sind doch längst weiter. Wir haben im Kreis der Außenminister die Marschroute vorgegeben und in großer Geschlossenheit entschieden, den Druck zu erhöhen. Bereits am Freitag sind die Sanktionslisten erweitert worden, erstmals auch um Unternehmen und staatliche Institutionen. In wenigen Tagen haben wir auch die förmliche Grundlage für Sanktionen gegen Strippenzieher und Unterstützer. Zu den wirtschaftlichen Maßnahmen liegen die Vorschläge auf dem Tisch. Wir wollen die Lasten fair verteilen und zielgerichtete Regeln, die schnell nachgeschärft, aber auch schnell wieder zurückgeführt
Minister Steinmeier Keine Garantien
werden können, wenn Russland sich bewegt. Wir wollen dazu schon in den kommenden Tagen Entscheidungen treffen können. SPIEGEL: Warum will die Bundesregierung nicht auf eigene Faust die Sanktionen verschärfen? Steinmeier: Nur wenn alle 28 an einem Strang ziehen, ist das für Moskau die notwendige klare Botschaft. Bei Rüstungsgeschäften sind wir in Deutschland übrigens schon vor Monaten in Vorlage getreten. SPIEGEL: Drängt die deutsche Wirtschaft die Bundesregierung, bei den Sanktionen maßzuhalten? Steinmeier: Das Primat der Politik steht außer Frage. Die Wirtschaft trägt unsere Linie zu hundert Prozent mit, hat Eckhard Cordes, der Chef des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, jüngst gesagt. Aber natürlich tauschen wir uns mit der Wirtschaft aus und nehmen ihre Sorgen bei unseren Entscheidungen ernst. SPIEGEL: Gefällt sich die Bundesregierung in der Rolle der letzten Brücke zu Wladimir Putin auch deshalb, weil das als Grund gelten kann, bei der EU-internen
Debatte über die Verschärfung zurückhaltender aufzutreten als viele osteuropäische Staaten? Steinmeier: Wer unter dem Joch der Sowjetunion leben musste, hat einen anderen Blick auf Russland als unsere westeuropäischen Partner mit Atlantikküste. Wir stehen mit unserer eigenen Geschichte als geteiltes Land dazwischen und gehen mit dieser Rolle verantwortungsvoll um. Wir haben immer Kontakte nach Moskau gehalten und halten daran fest, weil wir sie brauchen. Ich werde nicht müde zu betonen, dass unsere europäische Friedensordnung auf dem Spiel steht. Dieser Konflikt kann für ganz Europa unabsehbare Folgen haben. SPIEGEL: Gibt es aus Ihrer Sicht einen Punkt, an dem verschärfte EU-Sanktionen die russische Seite zu einer militärischen Reaktion animieren könnten? Steinmeier: Was wir von der russischen Führung erwarten, ist weder neu noch zu viel verlangt, nämlich die Souveränität der Ukraine zu respektieren und ihre territoriale Integrität nicht zu untergraben. Was wir brauchen, sind eine wirksame Kontrolle der Grenze zur Ukraine, um das Einsickern von Kämpfern und Waffen zu unterbinden, und ein nachhaltiger Waffenstillstand, der Verhandlungen über eine politische Lösung möglich macht. Ich bin sicher: Wenn die Unterstützung von außen mit Geld, Kämpfern und Waffen gestoppt wird, dann wird der Widerstand der Separatisten in sich zusammenbrechen. Noch sicherer bin ich, dass die Bevölkerung der Ostukraine erkennt, dass diese Soldateska nicht ihre Interessen vertritt. SPIEGEL: Warum greifen die Amerikaner zu schärferen Sanktionen als die Europäer? Steinmeier: Aufgrund einer anderen Rechtskultur ist Präsident Obama freier in seinen Entscheidungen. Bei uns reicht nicht die Einigung zu 28. Unsere Beschlüsse müssen einer rechtsstaatlichen Überprüfung bis hin zum EuGH standhalten. Dass die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verknüpfungen Europas mit unserem russischen Nachbarn ungleich enger sind, kommt noch hinzu. Interview: Nikolaus Blome DER SPIEGEL 31 / 2014
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stehen Sie doch“, sagt einer aus der Regierungsmannschaft am Telefon. „So einfach ist das alles nicht.“ Es gibt noch viele, viele Fragen oder Einschränkungen, die gleichsam als Fußnoten nationaler Eigeninteressen unter der Einigung stehen: Mit Rücksicht auf den Verkauf zweier französischer Hubschrauberträger an Russland gilt das Waffenembargo nur für künftige Geschäfte. Wie weit genau die Einschränkungen bei Hightech-Lieferungen an die für Russland enorm wichtige Ölindustrie reichen, ist offen. Ebenso, was auf die Liste mit verbotenen Gütern kommt, die zivil und militärisch zu nutzen sind. Hier hat auch die deutsche Wirtschaft Interessen. Es geht um Spezialmaterialien, bestimmte Werkzeugmaschinen und Hochleistungscomputer. Alles in allem, so schätzt die EU-Kommission, stehen jährlich vier bis fünf Milliarden Euro an Handelsvolumen auf dem Spiel.
Obwohl die ersten Sanktionsstufen kaum direkte Folgen für sie bedeuteten, hatten viele Manager davor gewarnt – und sich damit nicht nur bei der Kanzlerin ziemlich unbeliebt gemacht. Jetzt schwenken sie um, und Ost-Ausschuss-Chef Cordes sagt: „Die Sanktionspolitik der EU ist bislang verantwortungsvoll. Für die deutsche Wirtschaft gilt der Primat der Politik: Wenn Wirtschaftssanktionen beschlossen werden, werden wir diese mittragen.“ Ähnlich denkt der Mittelstand. „Für mich ist es furchtbar, aber die Politik muss handeln“, sagt ein Familienunternehmer, der viele Geschäfte in Russland macht. Beim Umdenken hat vermutlich ein Blick auf die eigentlichen Zusammenhänge geholfen. „Deutsche Firmen exportieren vor allem deshalb immer weniger nach Russland, weil dort die Wirtschaft in die Rezession rutscht“, sagt Klaus Mangold, Aufsichtsratschef der Bank Rothschild.
Die Amerikaner verlieren zusehends die Geduld: mit Wladimir Putin, aber auch mit den Europäern. „Vor allem müssen wir die Oligarchen treffen“, sagt Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. „Das muss uns kommende Woche gelingen.“ Auf deren Schultern stehe die russische Politik, so Gabriel. „Wir müssen ihre Konten in den europäischen Hauptstädten einfrieren und ihre Einreiseerlaubnisse widerrufen.“ Die deutsche und die europäische Wirtschaft würden die Folgen von Sanktionen spüren, räumt er ein. „Aber welche Folgen hätte es, wenn Europa aus Angst vor wirtschaftlichen Einbußen dem Bürgerkrieg und dem Tod von Unschuldigen tatenlos zusehen würde?“ Auch andere SPD-Politiker verlieren die Geduld – und nebenbei sogar die mit Gerhard Schröder. Im Lichte der jüngsten Ereignisse sei der Exkanzler gut beraten, seine Auftritte und sein Engagement beim Gazprom-Konzern zu überdenken, sagt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. Auch Schröder müsse wissen, wie sensibel etwa Balten und Polen die Putin-Schröder-Allianz beobachteten. Noch deutlicher wird der außenpolitische Experte Dietmar Nietan: „Ich habe dem ehemaligen Bundeskanzler nichts zu raten. Aber ich würde mich freuen, wenn er in Moskau in klaren Worten deutlich macht, dass eine rote Linie überschritten ist.“ Die Deutschen sehen es ähnlich. Nach einer Umfrage für den SPIEGEL sind 52 Prozent der Deutschen für härtere Sanktionen, selbst wenn das „viele Arbeitsplätze“ in Deutschland kosten würde. 39 Prozent sind dagegen. Für einen Alleingang der Bundesregierung sind immerhin noch 40 Prozent, 54 Prozent lehnen das ab. Auch die Wirtschaft hat begriffen. 72
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Wegen der unsicheren Aussichten scheuen sich russische Unternehmen, deutsche Maschinen, Ausrüstungsgüter und Baustoffe zu bestellen. In den ersten fünf Monaten 2014 sanken die deutschen Ausfuhren nach Russland um knapp 15 Prozent. Im Juni verschlechterte sich die Lage massiv weiter. Aber die Geschäfte mit Russland machen nur knapp vier Prozent des deutschen Außenhandels aus. Auch die europäische Wirtschaft insgesamt hatte unter den bisherigen EU-Sanktionen kaum zu leiden. Lediglich einige Banken verloren den einen oder anderen russischen Kunden, der sein Geld auf ausländischen Konten gebunkert hatte. Das würde sich freilich ändern, wollte man Russland bei der Finanzierung des Staates und der Industrie treffen. „Geld ist der Nerv des Krieges“, sagte einst Julius Caesar, ein sehr früher Europäer. „Die Einschränkung der Rüstungsexporte wird den Russen wenig anhaben, das schütteln sie ab“, schätzt Bankier Mangold. Vor allem die amerikanischen Sanktionen gegen die Gazprom-Bank und die Entwicklungsbank VEB „werden Russland äußerst empfindlich treffen“, so Mangold. Die Gazprom-Bank ist das drittgrößte Finanzinstitut Russlands und gehört zu 36 Prozent dem gleichnamigen Energiekonzern. Die VEB spielt in dem Land eine ähnlich bedeutende Rolle wie die KfW, die staatliche deutsche Förderbank. Insgesamt vier Institute sind nun vom Geldzufluss amerikanischer Investoren abgeschnitten. Für die russische Wirtschaft ist das dramatisch. Bis zu insgesamt 150 Milliarden Dollar sollen russische Unternehmen in den nächsten 30 Monaten neu an den Finanz-
märkten aufnehmen müssen, um ihre Verbindlichkeiten regelmäßig zu begleichen, rund ein Drittel davon brauchen vier von US-Sanktionen betroffene russische Banken. Die europäischen Banken hätten einen noch größeren Hebel – natürlich auch ein größeres Risiko. Russische Schuldner stehen mit rund 155 Milliarden Dollar an Krediten bei ihnen in der Kreide. Allein französische Institute haben 47 Milliarden Dollar an russische Kunden ausgeliehen. Deutsche Kreditinstitute haben rund 17 Milliarden Dollar in Russland ausstehen. „Wenn die EU-Staaten mit ähnlichen Maßnahmen wie die USA nachziehen, wird es für viele russische Firmen sehr eng“, sagt Mangold. Wenn sie es tun. Nach ersten Beschränkungen der Kreditvergabe der Europäischen Investitionsbank und der Osteuropabank erreichten die EU-Botschafter jedoch nur die Grundsatzeinigung, russischen Unternehmen, die mehrheitlich dem Staat gehören, den Zugang zum europäischen Kapitalmarkt zu verwehren. Was die EU noch weiter treiben könnte, ist der Druck von Präsident Barack Obama, der zusehends die Geduld verliert: mit Putin, aber auch mit Europa. Heather Conley, Europachefin der einflussreichen Denkfabrik Center for Strategic & International Studies (CSIS) in Washington, sagt: „Wenn die Europäer bei Sanktionen nicht Schritt halten, könnten sie durch die Hintertür dazu gezwungen werden, weil US-Behörden sonst Strafmaßnahmen verhängen könnten, sollten EU-Firmen weiter mit geächteten russischen Finanzinstituten zusammenarbeiten. Das würde neue Spannungen zwischen den USA und Europa garantieren.“ Schon jetzt wirkt der im Juli verschärfte US-Druck auch auf europäische Banken. Weil sie Strafzahlungen in Amerika fürchten müssen, wenn sie sich nicht an USSanktionen halten, fahren sie ihre Russlandkredite zurück. „Das Geschäft mit den russischen Banken auf der US-Liste kommt praktisch zum Erliegen“, sagt ein deutscher Bankvorstand. Das ist kein Wunder. Jüngst haben USBehörden eine Neun-Milliarden-Dollar-Strafe gegen die französische Großbank BNP Paribas verhängt. Sie hatte US-Sanktionen gegen Iran, Kuba und Sudan verletzt. Diese Form von „soft power“ wendeten die USA inzwischen häufig an, sagt ein wichtiger deutscher Bankchef. Sie ersetzten damit militärische Einsätze, also „hard power“, zu denen die kriegsmüde Supermacht nicht mehr in der Lage sei. Heißt: Die Amerikaner haben von den Europäern gelernt. Jetzt müssen es die Europäer nur noch den Amerikanern nachmachen. Benjamin Bidder, Nikolaus Blome, Martin Hesse, Horand Knaup, Christian Neef, Christoph Pauly, Michael Sauga, Jörg Schindler, Gregor Peter Schmitz
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Leere Hä Niederlande Das Land ist unter Schock, viele fordern nun ein scharfes Vorgehen gegen Russland. 57 Milliarden Euro Handelsvolumen stehen gegen 193 Tote.
FOTO: OLIVER TJADEN / DER SPIEGEL
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or dem Backsteinhaus der Familie Smallenburg in Hilversum hält ein schwarzer Volvo. Ein alter Mann mit weißem Haar und Hornbrille steigt aus und geht auf das offene Gartenzauntörchen zu. Mit beiden Armen umklammert er einen Plastikkübel voller Blumen. Er will sie zu den anderen legen, zu all den Sträußen, Kränzen, Kerzen und Plüschtieren, die vor dem Haus seines Sohnes, seiner Schwiegertochter und seiner beiden einzigen Enkel liegen. Die Familie Smallenburg ist tot, ausgelöscht auf einen Schlag: Vater Charles, 55 Jahre alt, Mutter Therese, 50, ihre Tochter Carlijn, 15, die Leichtathletik liebte, und ihr Sohn Werther, 12, das Fußballtalent. Am vorvergangenen Donnerstag wollten sie in den Sommerurlaub fliegen; wie 294 andere Menschen waren sie in der Unglücksmaschine MH 17. Von den 193 niederländischen Opfern kamen 13 aus Hilversum: neben der Familie Smallenburg das Ehepaar van Heijningen-Mastenbroek mit Sohn Zeger, die fünfköpfige Familie Allen und der Student Quinn Schansman. Außer Amsterdam hat kein anderer Ort in den Niederlanden so viele Tote zu beklagen wie diese Kleinstadt mit 86 000 Einwohnern. Und ausgerechnet hier, in Hilversum, soll das Unglück aufgearbeitet werden, sollen alle Leichen untersucht werden. Der Großvater bückt sich mit Mühe und legt seine Blumen nieder. Dann steht er da und blickt auf das Blumenmeer, als wüsste er nicht, was das alles bedeutet. Eine Woche nach ihrem Tod sieht das Haus der Smallenburgs noch immer aus, als wären sie nur verreist. Die Rollläden sind halb heruntergezogen, die Sträucher im Garten ordentlich gestutzt. Nur die Bewohner fehlen. Es ist nicht einmal klar, wo ihre Leichen sind. „Wenn jemand stirbt, plant man normalerweise die Beerdigung und tut Dinge wie einen Sarg aussuchen“, sagt Herman Lam, der Onkel von Charles Smallenburg, der den Großvater begleitet. Seine Familie fühle sich ohnmächtig, sagt Lam. Unerträglich sei diese Ungewissheit, das unwürdige Gerangel um die Toten. Es ist Mittwoch vergangener Woche, die Regierung in Den Haag hat einen Tag der nationalen Trauer ausgerufen. Das zeigt, wie tief dieser Flugzeugabsturz, der die
Niederlande ins Zentrum eines geopolitischen Machtspiels katapultiert hat, die Menschen trifft. Ministerpräsident Mark Rutte bezeichnete ihn als „die größte Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg“. Wie tröstet man Menschen, die alles verloren haben? Wie heilt man ein traumatisiertes Land? „Wir werden nicht ruhen, bis alle Fakten bekannt sind und für Gerechtigkeit gesorgt ist“, versprach Außenminister Frans Timmermans in einer bewegenden Rede vor dem Uno-Sicherheitsrat. Er beschwor die Welt, sich vorzustellen, was die Familien der Opfer durchmachten: „Zuerst erfahren Sie, dass Ihr Ehemann getötet wurde, und zwei, drei Tage später sehen Sie Bilder von irgendeinem Gangster, der ihm den Ehering vom Finger stiehlt. Das könnte Ihr Ehepartner sein!“ Timmermans traf das Gefühl seiner Landsleute. Mit jedem Tag, an dem die Toten bei über 30 Grad auf ukrainischen Feldern lagen, während Rebellen den Zugang zu ihnen behinderten und seelenruhig ihre Habseligkeiten durchwühlten, wuchs in den Niederlanden die Wut. Doch der Außenminister achtete darauf, allzu konkrete Schuldzuweisungen zu vermeiden. Die Regierung bleibe in den bilateralen Beziehungen mit Russland diplomatisch,
sagt Ko Colijn, Direktor des ClingendaelInstituts für Internationale Beziehungen in Den Haag. Sie überlasse es den großen Mächten in der Europäischen Union, den Ton zu verschärfen. Spätestens seit dem Gezerre um die Leichen sei jedoch die niederländische Illusion zerstört, eine besondere Beziehung zu Russland zu haben. „Es ist ein Weckruf“, sagt Colijn. „Manche von uns dachten, wir lebten wie in der Schweiz, abgeschirmt von der Welt und den Pathologien internationaler Politik.“ Ausgerechnet in den Niederlanden zeigt sich nun das Dilemma der Europäer in besonderer Schärfe: Außer Deutschland hat kein anderes europäisches Land so enge wirtschaftliche Beziehungen mit Russland. Die Niederlande sind nach China Putins wichtigster Handelspartner und einer der größten Finanzplätze. Zu den Großkunden niederländischer Banken gehören staatliche Konzerne wie Gazprom und Rosneft. Außerdem importieren die Niederlande massenhaft russisches Öl und verkaufen das meiste davon an andere Europäer. 57 Milliarden Euro Handelsvolumen stehen gegen die Leben von 193 Staatsbürgern. Als das erste der beiden Militärflugzeuge am Mittwoch um 15.48 Uhr in Eind-
Trauernde in Hilversum: Unwürdiges Gerangel um die Toten DER SPIEGEL 31 / 2014
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hoven landet, sitzt die Familie Gatenburg in Hilversum vor dem Fernseher in ihrem Wohnzimmer. Anouschka, die 15-jährige Tochter, geht in dieselbe Schule, die auch Carlijn Smallenburg besuchte. Wie die meisten Bewohner von Hilversum fühlen sich die Gatenburgs betroffen. Sie seien froh, sagen sie, dass die Regierung sich so vorsichtig und diplomatisch verhalte. „Das Wichtigste ist jetzt, dass wir unsere Toten zurückbekommen“, sagt Simonet Gatenburg, die Mutter. Das Fernsehen zeigt König WillemAlexander, Premierminister Rutte und andere Würdenträger, die mit versteinerter Miene am Rollfeld sitzen. Es gibt eine Schweigeminute. Dann stimmt ein Hornist „Reveille“ an, eine Melodie, die in den Niederlanden bei militärischen Gedenkfeiern gespielt wird. Die Gatenburgs erheben sich vor ihrem Fernseher. Millionen von Niederländern tun es ihnen in diesem Moment gleich. Eisenbahnen und Busse, Autos und Lastwagen halten an, in Cafés und Geschäften wird die Musik ausgeschaltet. In Freibädern steigen die Menschen aus dem Wasser. Selbst die Windmühlen stehen still. Es ist ein tröstlicher Moment. Drei Stunden später haben sich Hunderte Menschen vor der „Korporaal van Oudheusdenkazerne“ in Hilversum versammelt. Auch Floris Voorink ist da, der Zweite Bürgermeister, er will mit seinen Mitarbeitern Spalier stehen, wenn die Leichenwagen eintreffen. „Das Einzige, was wir tun können, ist da sein und zuhören“, sagt er. Die ersten 40 Leichen werden an diesem Abend erwartet, alle übrigen sollen bald folgen. 200 Forensiker werden in den kommenden Wochen und Monaten in der Kaserne von Hilversum die Leichen untersuchen und identifizieren. In den ersten Tagen nach dem Unglück fuhren bereits 150 Mitarbeiter des Nationalen Forensischen Teams durch die Niederlande, um DNA-Proben, Fingerabdrücke und Informationen über besondere Merkmale der Opfer zu sammeln. Die Kaserne liegt in einem Wald am südlichen Rand der Stadt, direkt gegenüber befindet sich ein Campingplatz. Urlauber sitzen vor Wohnmobilen, das lauteste Geräusch ist Vogelgezwitscher. Hinter der Kaserne grasen Pferde. Die Umgebung, in der sich die Forensiker auf ihre grausame Aufgabe vorbereiten, könnte zauberhafter nicht sein. Und dann kommen sie. Eine Prozession von 40 schwarzen Leichenwagen, einer nach dem anderen, sie biegen vorsichtig um die Kurve und verschwinden durch das Kasernentor. Die Zuschauer klatschen spontan, und sie hören nicht mehr auf, bis schließlich der letzte Leichenwagen vorbeifährt. Danach klatschen sie noch lauter. Samiha Shafy 74
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Europas Ground Zero Ukraine An der Absturzstelle von Flug MH17 herrscht eine bizarre Ruhe. Doch rundherum wird wieder gekämpft, geschossen und gelogen. Von Christian Neef
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lexander Hug sollte jetzt nicht hier Himmel, und dann wird auch noch der Zusein, nicht an diesem Tag, an die- gang zum Katastrophenort behindert.“ Der Schweizer Alexander Hug ist Vizesem Ort. Seine Familie ist für einen Kurzurlaub nach Kiew gekommen. Schon chef der OSZE-Mission in der Ukraine, er mehrere Wochen lang hat er seine Frau beobachtet seit Monaten, was am östund die drei Kinder nicht gesehen, drei lichen Rand Europas iert, in den von und vier Jahre sind sie alt, das jüngste ist prorussischen Separatisten ausgerufenen erst neun Monate. Stattdessen steht er nun „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. auf dieser Straße, 650 Kilometer von Kiew Die 57 Mitgliedstaaten der Organisation entfernt im Osten der Ukraine, zwischen für Sicherheit und Zusammenarbeit in Weizen- und Sonnenblumenfeldern. Das Europa erwarten von Hug ein objektives nächste Dorf ist knapp einen Kilometer Bild. Aber welches Bild bietet sich ihm hier, entfernt, Hrabowe heißt es. Es ist der Ort, über dem vor anderthalb am Rand von Hrabowe, wo es mitten im Wochen die agiermaschine mit der Rebellengebiet zu einer Katastrophe geFlugnummer MH 17 auseinanderbrach, ge- kommen ist, wie sie bisher unvorstellbar erschien? Und was lässt sich aus dem troffen wohl von einer Rakete. „Ich war in den Balkankriegen und in schließen, was am 17. Juli gegen 16.20 Uhr Nahost, aber das hier ist schon ziemlich Ortszeit an dieser Stelle geschah? Hug war 24 Stunden nach dem Absturz außergewöhnlich“, sagt der 42-Jährige mit dem Understatement eines Schweizers. der Boeing 777 zum ersten Mal an diesem Aber dann kann er sich doch nicht beherr- Ort. Seitdem fährt er jeden Tag aus dem schen. „Das hier ist eine unglaubliche Tra- 60 Kilometer entfernten Donezk nach Hragödie immensen Ausmaßes“, sagt er. „Ein bowe. Heute begleitet er drei Experten der Flugzeug stürzt über einem Kriegsgebiet Malaysia Airlines; es sind die ersten Exab, völlig unbeteiligte Urlauber fallen vom perten, die sich ins Kriegsgebiet getraut
Absturzstelle von Flug MH 17 bei Hrabowe „Überall menschliche Fetzen und Körperteile“
haben, das nur mit Zustimmung der Rebellen betreten werden darf. Der Abschuss der Boeing ist an diesem Dienstag vergangener Woche bereits fünf Tage her. Die Überreste aller 298 Toten sind eingesammelt worden, behaupten die Rebellen. Doch der Leichengeruch scheint das Gegenteil zu beweisen. Er steht weiter über dem Absturzort: da, wo die verbrannten Reste der Triebwerke und des Fahr-
neues Haus, „Vrijstaande Woning in Hoofddorp“, der zum Greifen nahe Traum einer jungen Familie aus den Niederlanden. Der hier zerschellte. Hrabowe ist Europas Ground Zero, es ist ein Verbrechen, das aufgeklärt werden muss. Denn davon hängt ab, wie Europa künftig mit einem Russland umgehen wird, das einen Krieg selbst ernannter Separatisten in der Ostukraine schürt, bezahlt und ausstattet. Aber niemanden hier scheint das so richtig zu kümmern, bis auf Hug, den Zweimetermann mit dem blaukarierten Hemd, der schusssicheren Weste und der weißen OSZEBinde am Arm, der jetzt die Journalistenmeute dirigiert. Und bis auf die drei schweigsamen Malaysier, die mit Rucksack und Fotoapparat durch die Felder streifen. Abgesehen von Hug und den Malaysiern liegt die Absturzstelle da wie seit Tagen schon: keine Bewacher, keine Untersuchungsteams, der Zugang für jeden frei, für Trümmertouristen und Plünderer. Die Rebellen haben Flugzeugteile weggeschleppt und an kilometerweit entfernten Checkpoints aufgestellt wie Trophäen. Die Welt draußen, außerhalb der Ostukraine, mag von dieser Katastrophe erschüttert sein. Der Uno-Sicherheitsrat hat in seltener Einmütigkeit eine internationale Untersuchung gefordert. Doch hier ist davon wenig zu sehen. Bisher gibt es wenig Aufklärung, sondern gegenseitige Verdächtigungen, Unterstellungen, Schuldzuweisungen. Der Tod von 298 Menschen hat eine neue Runde in der Schlacht um die Ukraine ausgelöst. Jede Seite fühlt sich nun in ihrer Position bestätigt. Man spürt das bereits zehn Kilometer von Hrabowe entfernt, dort, wo die ersten Rumpfteile und Gepäckcontainer liegen. Dorfbewohner haben an der Landstraße Plakate aufgestellt: „Schluss mit dem Völkermord im Donbass“, steht auf ihnen. Oder: „Rettet unsere Kinder vor der ukrainischen Armee!“ Und auf der Straße vor Hrabowe taucht zwischen den Feldern plötzlich eine Frau
FOTO: MAXIM ZMEYEV / REUTERS
Bei den Separatisten haben längst nicht mehr örtliche Kräfte das Sagen, sondern Führungsleute aus Moskau. werks liegen; da, wo das Heckteil niedergegangen ist; und da, wo die linke Tragfläche im Kornfeld liegt. Alexander Hug sagt, er habe „überall noch menschliche Fetzen und Körperteile“ gesehen. Wer genau genug hinschaut, bekommt ein Gespür für die Tragödie, die hier stattgefunden hat: Der Reiseführer über Bali liegt noch da, auch das Kinderspielzeug, das man bereits im Fernsehen gesehen hat. Und die Mappe mit den Entwürfen für ein
im Sommerkleid und mit High Heels auf, sie hält einen Geschosssplitter in der Hand. Dann sagt sie zu den Medienvertretern aus aller Welt, sie komme aus der Kreisstadt Schachtarsk, die die ukrainische Armee gerade mit solchen Geschossen bombardiert habe, das bitte solle man aufklären, das sei viel wichtiger. Wie sie aus dem 20 Kilometer entfernten Schachtarsk hierhergelangt ist, und dann noch genau ausgerechnet in diesem Moment, bleibt ungeklärt.
Dann marschiert ein exotisch uniformierter „Presseoffizier“ der Rebellen die Straße entlang und spricht von den Verbrechen der westlichen Welt. „Die übliche rhetorische Polemik“, sagt der Schweizer Alexander Hug. Zur gleichen Zeit tagt in Moskau der russische Sicherheitsrat, der sich ebenfalls mit dem Absturz von MH 17 befasst. Und Putin wiederholt den Vorwurf, in Kiew hätten „neofaschistische, fundamentalistische Kräfte bewaffnet die Macht ergriffen“. Die Separatisten dagegen seien „Teil der Bevölkerung“, die nicht mit der Entwicklung der Ukraine einverstanden sei. Der unzufriedene Teil der ukrainischen Bevölkerung, von dem Putin spricht, wird vor Hrabowe von der Dame im Sommerkleid vertreten und von zehn schwer bewaffneten Männern der „Volksrepublik“, die die OSZE-Leute schützen, vor allem aber wohl kontrollieren sollen. Die Bewaffneten tragen nagelneue Tarnuniformen mit Aufnähern, auf denen „Heldenstadt Sewastopol“ steht und „Frühling auf der Krim“. Einer von ihnen, ein junger Mann mit Stirnband und langem Haar, mit Kalaschnikow in der Hand und Pistole am Koppel, erzählt einem Team des russischen Fernsehens, dass auch er aus Moskau sei. Woher genau? Aus dem Tscherjomuschki-Stadtbezirk, sagt er. Was er dort so mache? Er singe im Kirchenchor, sagt der junge Mann, er meint es ernst, er hat auch die Stimme und das Aussehen dafür. „Ich bin freiwillig hier“, fügt er hinzu. Er ist so wenig Ukrainer wie der ebenfalls aus Moskau stammende Russe Alexander Borodai, der sich „Premierminister“ der „Donezker Volksrepublik“ nennt und den die Malaysier bei der Übergabe der Flugschreiber vorsichtshalber „Seine Exzellenz“ nannten. Borodai hat sich selbst vorige Woche als „Teil der Hilfe des russischen Volkes für den Donbass“ bezeichnet. Das Sagen in den Separatistenrepubliken haben längst nicht mehr örtliche Kräfte, sondern Führungsleute aus Moskau. Das wird weder von Putin noch von russischen Medien thematisiert. Im Gegenteil: Die öffentliche Diffamierung der Ukraine hat nach dem Absturz von MH 17 einen neuen Höhepunkt erreicht. Auch in Hrabowe ist das zu spüren. Der Korrespondent des russischen Fernsehsenders Erster Kanal spricht am Rande des Trümmerfelds einen Aufsager für die Abendnachrichten. Er sagt, die Regierung in Kiew habe alles getan, damit keine internationalen Experten an die Absturzstelle gelangen konnten. Eine russische Agentur meldet, auch die malaysischen Luftfahrtexperten und ihre OSZE-Begleitung seien auf dem Weg zum Wrack von ukrainischen Kampfjets beschossen worden. Weder das eine noch das andere stimmt. Es stimmt so wenig wie das meiste, was aus den russischen Fernsehsendern jeden DER SPIEGEL 31 / 2014
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OSZE-Beobachter Hug (M.) in Tores*: „Tragödie immensen Ausmaßes“
Tag in die Separatistenrepubliken zurück- dementiert das später, aber die Aufzeichgesendet wird. Zum Beispiel, dass die Flug- nung des Interviews beweist: Er hat es tatkontrolle im 270 Kilometer entfernten sächlich genau so gesagt. Dnipropetrowsk unter dem Einfluss des Alexander Hug, der Schweizer OSZEdortigen Kiew-freundlichen Gouverneurs Mann, hat fast jeden Tag mit den Rebellen stehe und den Flug MH 17 umgelenkt habe, zu tun. Zweimal hat er seit April westdamit er von ukrainischen Fliegern leichter liche Geiseln aus ihrer Hand befreien abgeschossen werden könne. Die europäi- müssen. sche Flugsicherung hat das längst demenEr sagt, er rede nur noch mit Borotiert, das Flugzeug war auf seinem geplan- dai oder seinem Stellvertreter, deren Wort ten Kurs. Aber das will zwischen Moskau gelte meist, „zu einem gewissen Grade“. und Donezk kaum jemand hören. Selbst Denn, sagt er, „wir wissen seit Langem, die größten Absurditäten, wie etwa die dass es Streitereien unter den Rebellen gibt Behauptung, dass an Bord nur Leichen ge- und Unterschiede zwischen der politischen wesen seien, werden geglaubt. In fast je- Ebene und ihren Streitkräften“. Das sei ein der Sendung wird dieses Märchen wieder- „großes Dickicht von Verbänden“, und vieholt. le handelten auf eigene Faust.
14 Flugzeuge haben die Separatisten davor schon vom Himmel geholt. Die Last der Indizien ist erdrückend. Die Separatisten und natürlich auch Moskau haben empört zurückgewiesen, dass eine Rakete aus einem Buk-Luftabwehrsystem MH 17 vom Himmel geholt habe, und erst recht, dass sich diese im Besitz der Rebellen befunden haben könnte. Beweise in Form von Fotos und Gesprächsmitschnitten der Ukrainer und Amerikaner seien gefälscht. Aber dann sagt am Mittwoch Alexander Chodakowski, einer der Rebellenführer von Donezk und Chef des berüchtigten „Wostok“-Bataillons, der Nachrichtenagentur Reuters, dass die Rebellen Buk-Raketen gehabt hätten und sie aus Russland geliefert worden sein könnten. Chodakowski * Vor einem Kühlzug mit den Überresten der Opfer.
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In diesem Moment beginnt heftiger Beschuss, etwa 20 Kilometer von Hrabowe entfernt bei Snischne, von dort sollen die Rebellen das Flugzeug abgeschossen haben. Vom Trümmerfeld aus kann man die Einschläge der Raketen sehen. Der Krieg geht weiter. Bereits einen Tag später werden die Rebellen in der Nähe erneut zwei Kampfjets vom Typ Su-25 der ukrainischen Luftwaffe abschießen. 14 Flugzeuge haben sie damit in den vergangenen Wochen schon vom Himmel geholt. Die Last der Indizien ist erdrückend, dass sie ebenfalls für den Boeing-Abschuss verantwortlich sind. Das alles hat zu einer politischen Radikalisierung auch in der Ukraine geführt. Präsident Petro Poroschenko ordnet zum
dritten Mal eine Teilmobilmachung an, er braucht 60 000 Männer für die Ostukraine. Gleichzeitig erhält er die Gelegenheit zu Neuwahlen: Die Parteien, die ihn unterstützen, kündigten die Regierungskoalition auf. Nun werden wohl auch die letzten Abgeordneten der Partei von Wiktor Janukowytsch abgewählt. Die Kommunistische Partei, in den Separatistengebieten noch immer stark, soll per Gericht verboten werden. In Moskau, hinter den Kreml-Kulissen und jenseits der offiziellen Fernsehpropaganda, breitet sich derweil offenbar Unsicherheit aus. Bei seinen Fernsehauftritten wirkt Putin nun fahrig und nervös. Auch in Russland werden die Stimmen lauter, die die russische Einmischung in der Ostukraine für ein Desaster und den Abschuss von MH17 für einen Wendepunkt halten. Von einem „russischen Lockerbie“ spricht die Kolumnistin Julija Latynina. Der Herausgeber der Nesawissimaja gaseta prognostiziert Putins Abstieg zum politischen „Paria“, weil Putin die ostukrainischen Rebellen aufgerüstet habe. Eine Sendung des halbwegs unabhängigen Radiosenders Echo Moskwy kommt vorige Woche zu dem Schluss, dass Putin von der Situation überfahren worden sei. Bis zum Abschuss von Flug MH 17 habe der Präsident ziemlich optimistisch gewirkt, meint der Politologe Stanislaw Belkowski: Die Separatisten hätten die Armee südlich von Donezk eingekesselt, und Putin habe geglaubt, er könne nun den Westen zu Verhandlungen über das Schicksal der Ukraine zwingen. Das sei, so Belkowski, von Anfang an das Ziel seiner Einmischung in der Ukraine gewesen. Der Abschuss habe die Lage geändert, nun habe Moskaus Unterstützung für die Rebellen 298 unschuldige Menschen das Leben gekostet. „Damit ist endgültig klar geworden, dass Putin sich von den Separatisten nicht mehr lösen kann.“ Alexander Hug steht noch immer an der Absturzstelle, das Wrack im Blick, und will sich zu alldem nicht äußern. „Die OSZE hat keine politische Agenda, das ermöglicht es uns, im Kampfgebiet der Rebellen zu sein.“ Seine wichtigste Mission sei es, sagt er, der Welt endlich den Zugang nach Hrabowe zu ermöglichen. Die Unterstützer der Separatisten leben derweil in ihrer eigenen Wirklichkeit. Auf dem Weg zurück nach Donezk, das bereits unter Raketenfeuer der ukrainischen Armee liegt, freut sich ein junger Mann schon: Er sei sich ganz sicher – noch diese Woche werde Putin mit seinen Truppen „hier einmarschieren. Endlich“. Video: Reporter Christian Neef an der Absturzstelle von MH 17 spiegel.de/app312014ukraine oder in der App DER SPIEGEL
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Bergung einer Leiche im Viertel Schadschaija: Es gibt in Gaza keinen Ort mehr, der Schutz bietet
Kinder des Krieges Nahost Mit Israels Einmarsch in Gaza hat ein blutiger Krieg begonnen. Die Bilder der Toten gehen um die Welt, brutal und ungefiltert. Wird der Druck einen Waffenstillstand erzwingen?
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hmed hat Hunger, er umklammert die Brust seiner Mutter und trinkt, die Augen geschlossen, nichts stört ihn dabei. Nicht das Rattern des Ventilators, der bedrohlich schief hängt, nicht die dumpfen Schläge, die die Wände zittern und Marwat al-Asasma, 18, die Mutter, zusammenzucken lassen. Manchmal bebt sein Körper, und die kleinen Hände ballen sich zu einer Faust. Etwas über drei Kilogramm wiege ihr Sohn jetzt, sagt Marwat al-Asasma; er sei gesund, er nehme sogar zu. Sie klingt, als könne sie es kaum glauben. 15 Tage ist Ahmed alt, geboren in der Nacht, als die Israelis ihre ersten Panzer an die Grenze des Gaza-Streifens schickten. Ahmed ist ein Kind des Krieges und eines seiner Opfer. Zehn Tage nach seiner Geburt hat er seinen Vater, seine Großeltern und seine Heimat verloren. Wie viel vom Haus der Familie
noch übrig ist, weiß seine Mutter nicht. Sie erinnert sich nur an Rauch und Staub, aber eigentlich will sie sich gar nicht erinnern. Gemeinsam mit ihren Geschwistern lebte sie in Schadschaija, einem Vorort im Osten von Gaza-Stadt. Dort lebt jetzt niemand mehr, Schadschaija liegt in Ruinen, ganze Straßenzüge wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die israelische Armee nannte Schadschaija eine Hochburg der Hamas, ein Zentrum des Widerstands; sie schickte Panzer und Kampfeinheiten. Mindestens hundert Palästinenser sind bei diesem bisher blutigsten israelischen Angriff am Sonntag vor einer Woche ums Leben gekommen. Die Video: Julia Amalia Heyer über den Krieg in Gaza spiegel.de/app312014gaza oder in der App DER SPIEGEL
genauen Opferzahlen sind unbekannt; das Rote Kreuz rechnet mit wesentlich mehr Toten, verbrannt, zerquetscht und begraben unter dem Schutt der eingestürzten Hä, von denen einige noch Tage später schwelen. Es ist schwierig, die Leichen zu bergen, denn es wird noch immer gekämpft. Schadschaija ist zum Symbol geworden für die Menschen in Gaza: für die Brutalität und Unerbittlichkeit dieses jüngsten Krieges, dem sie nicht entrinnen können. Denn es gibt in Gaza, in diesem abgeriegelten Streifen, keinen Ort mehr, der Schutz bietet, an dem der Wahnsinn von Tod und Elend nicht spürbar ist. Bevor Schadschaija von der Armee unter Beschuss genommen wurde, hatten sich dorthin Tausende Menschen geflüchtet, die noch näher an der Grenze gelebt hatten, um Schutz zu suchen vor den anDER SPIEGEL 31 / 2014
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rückenden Panzern. Jetzt sind diejenigen, die sich retten konnten, noch weiter von der Grenze geflohen, nach Gaza-Stadt hinein, in dieses dichte Gewirr von Gassen und Hochhän. Die Zahl der Menschen, die sich hier aufhalten, hat sich laut Uno fast verdoppelt, statt 600 000 sind es jetzt mehr als eine Million. Schätzungsweise 100 000 Menschen haben ihr Zuhause verloren, manche nur vorübergehend, andere für immer. Sie leben jetzt in Hauseingängen, auf Parkplätzen, in Schulen. Und nicht mal hier sind sie sicher, wie der Tod der deutsch-palästinensischen Familie
Dort sitzen die beiden Schwestern jetzt in einem weiß getünchten, fensterlosen Gewölbe auf dem Steinboden, 30 Quadratmeter, die sie sich mit 20 Frauen und Kindern teilen. Die Jüngsten schlafen in Pappkartons, es gibt nicht genügend Matratzen für alle. Als eine Bombe den Friedhof nebenan traf, haben sie überlegt, ob sie weiterziehen sollten. „Aber wohin?“, fragt Nura al-Asasma. „Nirgendwo ist es sicher.“ Ein kleiner Junge lutscht an seinem Zeh, er imitiert den Widerhall der Einschläge. Presst die Lippen aufeinander, lässt sie auseinanderschnalzen. Nura al-Asasma hat so-
Die israelische Armee brüstete sich mit „170 getöteten Terroristen“, doch es starben auch 200 Kinder. Kilani zeigt, die nach einer israelischen Warnung aus dem Norden in eine Wohnung in Gaza-Stadt gezogen war. Wenig später wurde das Haus von einer Bombe zerstört. An jenem Sonntag, als die Geschosse zuerst die Nachbarn und dann ihr Haus trafen, konnte Marwat al-Asasma kaum gehen, sie war noch zu schwach von der Geburt. Ihre Schwester Nura steckte Ahmed, den Säugling, in einen Rucksack; ihre Schwester und ihre eigene Tochter setzte sie in einen Leiterwagen. Den zog sie zwei Kilometer weit durch die Trümmer, bis zu einer Kirche. 78
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gar Angst, ihre fünfjährige Tochter Mariam zur Toilette in den Hof zu bringen. Angst, auf dem Weg dorthin getötet zu werden. Die Frauen aus Schadschaija, die sich mit ihren Kindern in diese Kirche geflüchtet haben, wünschen sich nichts sehnlicher als einen Waffenstillstand. Beide Seiten müssten das Töten stoppen, sagt Nura alAsasma. „Wir sind keine Pufferzone, wir sind Menschen.“ Für die Hamas hat sie nur Verachtung übrig. „Wenn Ismail Hanija und Chalid Maschaal so leben würden wie wir, würden sie sich zweimal überlegen, ob sie diesen Krieg weiterführen.“ Stattdessen sitze der ehemalige Regierungschef
jetzt gut geschützt in einem Bunker, und Maschaal, der Anführer, sitze im reichen Katar im sicheren Exil. Es ist nicht lange her, ein paar Wochen erst, da hofften die Schwestern noch auf bessere Zeiten. Darauf, dass die Einheitsregierung, die Fatah und Hamas beschlossen hatten, auch die Situation in Gaza verbessern würde. Aber es kam anders, und die Schwestern glauben, Israel habe diesen Krieg begonnen, um ein erträglicheres Dasein der Palästinenser zu verhindern. Auf beiden Seiten steigt die Zahl der Toten, bis vergangenen Freitag starben 35 Israelis, davon 3 Zivilisten. Und in Gaza kamen fast 900 Palästinenser ums Leben, laut Uno sind davon drei Viertel Unbeteiligte. Die israelische Armee brüstete sich am Donnerstag mit „170 getöteten Terroristen“, doch es starben in diesem Krieg auch 200 palästinensische Kinder. Während der drei Wochen, die dieser Krieg andauert, haben die Frauen gelernt, die Bedrohung einzuordnen: Sie erkennen das donnernde Grollen der F-16-Kampfflugzeuge, und sie unterscheiden die hallende Detonation einer aus der Luft abgeworfenen Bombe vom dumpfen Schlag eines Panzergeschosses. Die Schiffe vor der Küste feuerten immer im Dreiklang mit gespenstischem Echo. Ist es ruhig in GazaStadt, surren die Drohnen in der heißen Luft wie nervöse Insekten. Aber es ist sel-
FOTOS: SALEH JADALLAH / DER SPIEGEL
Flüchtling Marwat al-Asasma in der Kirche in Gaza-Stadt: Ahmed wurde geboren, als der Krieg begann, zehn Tage später verlor er seinen Vater
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ten ruhig, jede vereinbarte Waffenruhe wird so gut wie sofort wieder gebrochen. Bisher vergebens bemühen sich US-Außenminister John Kerry und Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon seit Tagen um ein Ende der Kämpfe. Ihr Ziel ist eine mehrere Tage dauernde humanitäre Feuerpause, während der ein Abkommen ausgehandelt werden soll, das einen dauerhaften Waffenstillstand garantiert. Die Hamas soll sich darin verpflichten, ihre Angriffe auf Israel einzustellen. Israel soll seine Armee ein Stück weit zurückziehen. Und die Ägypter sollen den Grenzübergang von Rafah zum Sinai öffnen, damit Bewohner und Waren wieder ieren können. Doch am Freitagabend lehnte die israelische Regierung den Vorschlag für eine längere Feuerpause vorläufig ab. Die Mehrheit der Minister forderte eine Fortsetzung und sogar die Verstärkung der Angriffe. Am Wochenende sollte zudem eine hochrangige Nahostkonferenz in Paris stattfinden, an der auch Kerry teilnehmen wollte. Beide Konfliktparteien scheinen an der Fortsetzung dieses Krieges ein Interesse zu haben: Die Hamas setzt ohne Rücksicht auf Verluste alles auf die Karte Widerstand – und jedes tote Kind treibt den Preis für Verhandlungen noch höher; jeder Tag, an dem der Ben-Gurion-Flughafen nicht angeflogen wird oder das Leben in Tel Aviv stillsteht, ist für sie ein kleiner Sieg. Israel hingegen ist mit der Bodenoffensive so weit gegangen, dass sich mittlerweile auch moderatere Regierungsmitglieder wie Justizministerin Zipi Livni einen „vernichtenden Schlag gegen den Terror“ wünschen. Obwohl das Land seit dem Libanonkrieg 2006 nicht mehr so viele Gefallene zu beklagen hatte, ist der Rückhalt in der Bevölkerung ungebrochen. Im Gegensatz zum Rest der westlichen Welt, die ihrem Entsetzen über den Tod so vieler Unschuldiger, so vieler Kinder, Ausdruck in den sozialen Netzwerken verleiht. Denn längst ist dieser Krieg auch zu einem Duell der Bilder geworden – und anders als auf dem Schlachtfeld befindet sich die palästinensische Seite hier im traurigen Vorteil. Da mögen die Regierenden von Washington bis Berlin noch so oft ihr Verständnis für das Recht Israels auf Selbstverteidigung beteuern – die Öffentlichkeit bildet sich inzwischen eine eigene Meinung. Wer will, sieht auf Twitter und Facebook verstörende Fotos von toten Kindern und liest unter #GazaUnderAttack Augenzeugenberichte aus dem Kampfgebiet. Premier Benjamin Netanjahu hat ja recht, wenn er von den „telegenen toten Palästinensern“ spricht. Er weiß, dass Israel diesen Krieg der Bilder nicht gewinnen kann. Zum ersten Mal sehen viele Menschen in den USA und Europa die Realität in Gaza derart ungefiltert; nicht in geschnittenen und moderierten Beiträgen von Journalisten, in de-
„Es ist völlig inakzeptabel, was hier pasnen zu krasse Bilder aussortiert werden, sondern unmittelbar gefilmt und fotogra- siert“, sagt die Kanadierin Pernille Ironside, 40, die das Büro von Unicef in Gaza fiert, vielfach von den Opfern selbst. Fast zwei Millionen Mal wurde allein leitet. Die israelische Armee zerstöre die ein Video auf YouTube angesehen, aufge- zivile Infrastruktur – und nicht nur die nommen mit einer Handykamera. Es zeigt Tunnel und Waffenlager der Hamas. Sie einen jungen Mann in einem türkisfarbe- sitzt vor einem Kleiderständer voller nen T-Shirt, der in den Trümmern von schusssicherer Westen in Uno-Blau und Schadschaija nach seinen Angehörigen rauft sich die Haare. Sie hat davor im Ostsucht und dabei von einem israelischen kongo und im Jemen gearbeitet, aber: „Gaza ist schlimmer.“ Sie schätzt, dass Scharfschützen erschossen wird. Der Schmerz über den Verlust eines Kin- etwa 120 000 Kinder direkt von diesem des ist der Gleiche, egal ob in Tel Aviv Krieg betroffen sind, viele von ihnen oder in Beit Hanun. Doch das Leiden an schwer traumatisiert. Sie unterstützt den Uno-Menschenrechtsrat in seinem Anliegen, eine Kommission mögliche Kriegsverbrechen der israelischen Armee im GazaStreifen untersuchen zu lassen. Vergangene Woche warnte die Armee sogar vor einem Luftschlag auf das SchifaKrankenhaus. Israel rechtfertigt selbst Angriffe auf Krankenhä und Schulen damit, dass sie von der Hamas als Waffenlager missbraucht würden. Seit Jahren gibt es das Gerücht, unter dem Schifa-Krankenhaus befände sich eine geheime Kommandozentrale der Hamas, doch Belege gibt es dafür nicht. Allerdings schießen die Extremisten in Gaza tatsächlich Raketen aus bewohntem Gebiet ab, und auch viele der von ihr für Anschläge auf Israel angelegten Tunnel beginnen in Privathän. Hamas benutze die Bevölkerung als Arzt Gilbert: Von Tromsø in den Krieg menschliche Schutzschilde, sagt daher Nediesem Krieg ist nicht das Gleiche, dafür tanjahu, er bezichtigt die Islamisten eines muss man nicht einmal die Opferzahlen Kriegsverbrechens, da das Völkerrecht solvergleichen. Es gibt in Gaza keinen Alltag che Taktiken verbietet. Aber im Umkehrmehr, anders als in Israel, wo die meisten schluss heißt das wiederum nicht, dass der trotz Raketenalarm zur Arbeit und an den Angriff ziviler Einrichtungen erlaubt ist, Strand gehen. Es leidet vor allem die Be- weil man dort den Feind vermutet. „Man darf keine Krankenhä bomvölkerung, die der Gewalt schutzlos ausgeliefert ist. Die Straßen sind menschen- bardieren“, sagt auch Mads Gilbert, 67, leer, das Leben konzentriert sich auf kleine Professor für Notfallmedizin, der im türInseln, allesamt Trugbilder der Sicherheit, auf Krankenhä, Schulen, internationale Einrichtungen. Am vorigen Donnerstag kamen bei einem israelischen Angriff auf Beit Lahija Erez eine Uno-Schule, in die sich viele Familien Dschabalija geflüchtet hatten, 16 Menschen ums Leben, Gaza-Stadt mehr als 200 wurden verletzt. Beit Hanun Nussierat
Schadschaija
Gaza-Streifen Chan Junis israelische Luftangriffe israelische Bodenoffensive von der israelischen Armee eingerichtete Pufferzone Grenzübergang Tunnel, die von der Hamas genutzt und deshalb zerstört wurden palästinensischer Angriffsversuch über das Meer
Rafah Rafah
ÄGYPTEN
ISRAEL
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kisfarbenen OP-Kittel in der Einfahrt des Schifa-Krankenhauses steht, seine Stimme schneidet durch Sirenen, Durchsagen und die Schreie von Verwundeten. Der Geruch von Desinfektionsmitteln wird fast völlig überlagert von den Ausdünstungen Hunderter Menschen. Es ist heiß, und es stinkt, doch es gibt kaum Wasser zum Waschen. Vor knapp drei Wochen ist Gilbert aus dem norwegischen Tromsø nach Gaza gereist, seither arbeitet er hier in der Notaufnahme, manchmal anderthalb Tage am Stück. In Gaza werde jeder fast zwangsläufig zum Schutzschild, sagt Gilbert. Das müsse die Hamas nicht einmal planen. Es gebe einfach zu viele Menschen und zu wenig Platz. Aber genau aus diesem Grund dürfe man weder Kliniken noch Schulen bombardieren, von denen die israelische Armee ja genau wisse, dass Zivilisten in diesen Gebäuden Schutz suchten. Auch während der beiden vorherigen Kriege im Winter 2008/2009 und 2012 hat der Arzt in Gaza gearbeitet, doch so schlimm wie jetzt sei es noch nie gewesen. Diesmal, sagt er, gebe es vor allem viele schwer verletzte Kinder. Nach dem Angriff auf Schadschaija haben die Ambulanzen ganze Wagenladungen von Toten und Verletzten gebracht. „Wir haben sie nur herausgezogen und auf den Boden gelegt, irgendwo, wo gerade Platz war.“ Es gibt keinen Platz mehr im SchifaKrankenhaus, nicht auf den Stationen und auch nicht im Garten oder auf den Parkplätzen. Hier haben heimatlos gewordene
Familien Kartons ausgelegt und Teppiche, sind vier nicht mehr zugänglich, weil sie sie wohnen jetzt hier. „Wo sollen wir denn im umkämpften Grenzgebiet liegen. Drei hin?“, fragt eine Frau, die sich nur Um seiner Männer hat er im Dienst verloren, Abulata nennt, die Mutter von Abulata. getötet bei israelischen Angriffen. Die Armee, sagt Salim, hätte die RohrAuch sie ist aus Schadschaija geflohen, erst zu ihrem Großvater, und als dessen Haus teile, die sie auswechseln wollten, wohl bombardiert wurde, zu ihrer Tante. Drei- mit Raketen verwechselt. Er ist ein höfmal ist sie umgezogen in den vergangenen licher Mann, deshalb verpackt er seine Krivier Tagen, jetzt lebt sie auf einem Stück tik in eine Frage: „Warum machen sie alles Schaumstoffmatratze unter der Treppe im kaputt, sodass wir hier nicht mehr leben Seitenflügel des Krankenhauses. Sie hofft, können?“ Gaza sei schon vorher alles andere als paradiesisch gewesen, aber jetzt dass sie hier nun wenigstens sicher ist. Abgesehen davon, dass sie hofft, der sei es die Hölle. „Wir sind doch keine GegKrieg möge aufhören, hat Um Abulata ei- ner für die, wir kommen hier ja nicht raus.“ Zweimal hat Israel das einzige Elektrigentlich nur einen Wunsch: dass sie sich nicht mehr jeden Morgen im Meer wa- zitätswerk des Küstenstreifens angegriffen, schen muss, sondern irgendwann wieder jetzt gibt es höchstens drei Stunden Strom in einem Haus mit fließend Wasser woh- am Tag. Doch ohne Strom funktionieren nen kann. Das allerdings könnte dauern, auch die Kläranlagen nicht. „Die Israelis denn mittlerweile sind 70 Prozent der Ein- sagen, sie jagen Terroristen. Warum treffen wohner von Gaza von der Trinkwasser- sie dann vor allem die Zivilisten?“ Es werversorgung abgeschnitten. Die Hauptwas- de grausamer, von Krieg zu Krieg, sagt Saserleitungen sind durch das Bombarde- lim. Bereits im vergangenen Jahr warnte die Uno, Gaza sei auf dem besten Weg, ment zerstört. Es wäre eigentlich Mahir Salims Aufga- unbewohnbar zu werden. Salim fürchtet, dass die Menschen in be, sie zu reparieren, aber die Schäden seien irreparabel, sagt der Ingenieur mit dem Gaza bald um Wasser kämpfen könnten. sauberen weißen Hemd unter der orange- „Stellen Sie sich vor, ein Baby überlebt den farbenen Leuchtweste. Salim, 48, ist ver- Krieg und stirbt danach an Durchfall, weil antwortlich für die Wasserversorgung in es kein sauberes Wasser mehr gibt.“ Wenn Gaza-Stadt; er hat in Hannover studiert. die Kämpfe vorbei seien, sagt er, dann fanJetzt sitzt er in seinem Büro vor einem Re- ge das langsame Sterben erst an. gal voller gelber Leitz-Ordner, gleich muss Julia Amalia Heyer er wieder los. „Um ehrlich zu sein, wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen“, Lesen Sie weiter zum Thema sagt er. Von den sechs Brunnen, die den Seite 125 Der Schriftsteller Meir Shalev Gaza-Streifen mit Trinkwasser versorgen, über Mitgefühl und Hass in Israel
Brief aus Gaza
„Dieses Mal fallen die Bomben überallhin“ Das Ehepaar Ahmed, 16, und Tamara, 15, lebt mit Ahmeds Familie im Norden von Gaza-Stadt, in Beit Lahija. Im Juni veröffentlichte der SPIEGEL Briefe des Paares und erzählte seine Geschichte (Nr. 24/2014). Wie sie den Gaza-Krieg erleben, haben die beiden aufgeschrieben und den Text mit der Hilfe einer palästinensischen Journalistin an die Redaktion übermittelt.
Ahmed, Tamara
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verlassen. Wir sind wieder in der Schule von Dschabalija, da waren wir auch das letzte Mal. Wir hören immer Bomben. Es sind mehr Bomben, als wir das kennen, und dieses Mal fallen sie überallhin, nicht nur an eine Stelle. Wir sind zusammen, noch ist uns nichts iert, aber wir fühlen uns nicht sicher, obwohl wir in der Schule sind. Und meine Mutter ist an der Hand verletzt von einer Rakete. Meine Schwestern weinen die ganze Zeit. Nachts schlafen wir nicht wegen der Explosionen. Tagsüber sind die Männer draußen, auf dem Schulhof. Tamara und die anderen Frauen bleiben in den Klassenräumen, das ist sicherer. Ich habe eigentlich immer Hunger. Wir haben
nicht genügend Wasser zum Trinken, und wir können nicht duschen.“ Tamara: „Wir sind gesund, aber was
sollen wir machen? Sie wollen uns töten. Fast alle unsere Nachbarn sind mit in die Schule gekommen. Zwar habe ich noch keine israelischen Soldaten gesehen, aber ich höre sie, ihre Bomben. Ich habe immer Angst. Am Tag koche ich für die anderen in der Schule und mache sauber, zusammen mit der Frau von Ahmeds Bruder. Das lenkt mich ab. Ich bin auch immer noch nicht schwanger, aber ich wäre es so gern. Ich weiß nicht genau, wie es Ahmed oder den anderen geht. Wir reden hier nicht viel, meistens flüstern wir nur. Wir wollen überleben.“
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Ahmed: „Wir haben unser Haus wieder
Im kalten Paradies Flüchtlinge Zehntausende Kinder und Jugendliche fliehen aus Mittelamerika in die Vereinigten
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as Schlimmste am Paradies ist die teuflische Kälte. Olga Arzu hat die Arme vor der Brust verschränkt, sie reibt sich die Haut mit den Händen. Sie zittert. Sie hatte sich gefreut auf die Ankunft im neuen Leben, das ein besseres sein sollte. Aber jetzt ist da nur die Kälte der Klimaanlagen. Und die Kälte des Systems. Willkommen im kalten Paradies. Arzus Sohn Daylan umklammert ihr Bein, er trägt einen Kapuzenpulli, auch er zittert. In ihrer Heimat, der honduranischen Hafenstadt La Ceiba, mag ihr Leben mühsam und bedroht gewesen sein. Aber wenigstens gab es keine Klimaanlagen. Vor drei Tagen sind Olga Arzu, 28, und Daylan, 4, auf einem Floß über den Rio Grande in die USA getrieben – am Ende einer Reise durch Mittelamerika und Me82
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xiko, 20 oder 30 Tage lang, so genau weiß sie das nicht mehr. Irgendwann hat sie das Gespür verloren für hell und dunkel, für Tage und Wochen. Am anderen Ufer liefen sie US-Grenzbeamten in die Arme. Man sperrte sie in eine kleine Zelle, zusammen mit Dutzenden anderen Frauen und Kindern, drei Tage lang, ohne Bett, ohne Matratze, ohne Decke oder Handtuch. Am Körper die Kleider der langen Flucht. Einmal fragte Olga einen Polizisten, ob man die Klimaanlage ein wenig wärmer schalten könne. Dann würde es auch in ihren Büros wärmer, antwortete der Polizist. Und das hätten die Kollegen nicht so gern. Sie schliefen auf dem Steinboden und dachten, sie würden sterben. An der Kälte der Klimaanlage oder der Kühle des Grenzregimes. „Mama, lass uns weggehen von
hier“, sagte Daylan. Er weinte die ganzen drei Tage lang. Bis sie entlassen wurden. Das ist nun zwei Stunden her. „Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren“, so steht es auf dem Sockel der Freiheitsstatue. Das Gedicht von Emma Lazarus beschreibt den Gründungsmythos der USA, die Idee eines Landes, das es ohne seine Einwanderer nicht gäbe. Es sieht nicht so aus, als sei der Satz von Emma Lazarus noch aktuell. Das Problem sind nicht die illegalen Einwanderer an sich – die Zahl der an der Grenze Aufgegriffenen war zuletzt so niedrig wie lange nicht. Doch nie zuvor kamen so viele Kinder und Jugendliche in die USA, allein 60 000 überquerten die Grenze seit vergangenem Oktober ohne Beglei-
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Staaten, aus Angst vor Gewalt. Sie kommen mit ihren Müttern oder allein – und treffen auf ein überfordertes, verunsichertes Amerika. Von Markus Feldenkirchen und Jens Glüsing
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Festgenommene an der mexikanisch-texanischen Grenze
tung eines Erwachsenen. Die meisten aber reisen wie Daylan mit ihrer Mutter. Sie kommen aus Mexiko, vor allem aber aus Honduras, El Salvador und Guatemala, aus Ländern, in denen der Staat die Kontrolle an brutale Gangs verloren hat. Diese Kinderwanderung aus Mittelamerika scheint die Vereinigten Staaten zu überfordern. Es gibt zu wenig Personal, um den Ansturm an der Grenze zu stoppen, zu wenige Einrichtungen, um sie zu versorgen. Was aber vor allem fehlt, ist eine Antwort auf die Frage, ob die USA noch immer Einwanderungsland sein wollen. Oder ob sie längst zum Abschiebungsland geworden sind. Der Streit beginnt beim Namen: Handelt es sich bei den Menschen um Immigranten oder Flüchtlinge? Immigranten, sagen die
Republikaner. Sie wollen das Problem lö- der Sesamstraße. Daylan lacht. Es ist sein sen, indem sie die Grenze undurchdring- erstes Lachen seit vielen Tagen. 2500 Kilometer südlich von Texas sitzt lich machen: mehr Polizisten, höhere Zäune; und wer trotzdem durchschlüpft, soll ein Mann im Trikot der honduranischen Nationalmannschaft und sagt, dass er seine gleich wieder abgeschoben werden. Die Republikaner werfen Präsident Ba- Frau und seinen Sohn vermisse. Seine Aurack Obama vor, den Anreiz für die Flucht gen sind schmal, sein Blick wirkt traurig erhöht zu haben. Tatsächlich weist ein Ge- und leer. Vor sechs Jahren hätten Olga und setz aus seiner Amtszeit an, Kinderflücht- er geheiratet, erzählt David Palacios in eilinge weniger streng zu behandeln – und nem kleinen Internetcafé der Hafenstadt sie, wenn möglich, mit ihrer Familie im La Ceiba. „Seit sie in den USA ist, haben Land zusammenzuführen. Schlepperban- wir keinen Kontakt mehr.“ Er wäre seiner Frau gern gefolgt, aber den griffen das auf und verbreiteten das Gerücht, die USA würden die Kinder Mit- ihm fehlte das Geld. Ein Schlepper, der ihn in die USA bringen könne, verlange telamerikas willkommen heißen. Der Präsident geisterte lange wie ein 7000 Dollar. David Palacios arbeitet in eiUnbeteiligter durch die Krise. Seine Regie- nem Sägewerk am Stadtrand, zwölf Stunrung wirkt überrascht von dem Andrang, den am Tag, für zehn Dollar Lohn. Für obwohl es in der Vergangenheit genügend Frauen und Kinder ist die Reise billiger. Hinweise gab, dass die Lage eskalieren Olga Arzu zahlte 3600 Dollar an ihren werde. Sinnbild für Obamas Umgang da- „Coyoten“, wie die Schlepper heißen. Eimit war seine Texas-Reise vor zwei Wo- nen Teil des Geldes lieh ihr eine Schwester, chen, bei der er zwar an Spendengalas teil- die schon vor Jahren in die USA geflohen nahm, aber einen Bogen um die Grenz- war, den Rest erhielt sie von einem Verregion machte. Erst langsam scheint er zu mittler. Sie muss es zurückzahlen, sobald merken, dass die Krise ein größeres Enga- sie in Amerika Arbeit gefunden hat. „Wenn nicht, wird der Coyote das Geld gement erfordert. „Ich danke Gott, dass es vorbei ist“, sagt bei uns eintreiben“, sagt ihr Mann. David Palacios redet langsam, er wirkt Olga Arzu über die Tage im Gefängnis. Sie steht in der Turnhalle der Sacred-Heart- eingeschüchtert, als hätte er Angst vor unKirche von McAllen, Texas, nahe der Gren- sichtbaren Mächten. Das Internetcafé, in ze zu Mexiko und hält sich Hosen zur An- dem er sitzt, wird von den Schwestern seiprobe vor den Bauch. Freiwillige Helfer ner Frau geführt, es liegt in Colonia Mirahaben spontan ein Lager errichtet, in dem sich Mütter und Kinder von Flucht und Gefängnis erholen können. Sie haben alte Kleidung gesammelt, Zelte auf dem Parkplatz errichtet, Duschen aufgestellt. Ständig kommen neue Mütter mit ihren Kindern, an manchen Tagen sind es mehr als 200 Menschen. Ende der Anprobe. Olga entscheidet sich für eine schlabbrige Stoffhose, dazu eine pinkfarbene Bluse und eine hellblaue Cordjacke. Sie nimmt an einem der Tische neben den Kleiderbergen Platz. Was also sucht sie in den USA? Ohne eigene Kleider? Ohne ihre Familie, ohne Flüchtlinge Arzu, Daylan ihren Mann David, den Vater von Daylan? „Lass uns weggehen“ Wo sie herkomme, sagt Arzu, wüte die Armut. Es gebe zwar auch Reiche, die kor- mar, einem der Viertel, in denen der Staat rupten Politiker, die Geschäftsleute und vor den Gangs kapituliert hat. Olga Arzus Schwester Carla Isabel, 25, die Bosse der Gangs, aber die meisten seien arm wie sie. Und für arme Leute sei zeigt mit dem Finger aus dem Fenster, es das Leben in Honduras teuer. Einen Job folgt eine kleine Geschichte des Viertels, konnte sie nicht finden. Ihre Eltern sind die eine Geschichte der Gewalt ist. Den an Aids gestorben. Das Schlimmste aber Jungen mit dem neuen Samsung-Handy sei die Gewalt. Früher hätten die Gangs knallten sie drüben an der Ecke ab, weil er nur die Reichen bedroht, heute bedrohten es nicht hergeben wollte. Mehrere Kugeln sie auch die Armen. Sie sagten ihr: „Wenn durchlöcherten sein Gesicht. Die Alte vom du uns keine Kriegssteuer bezahlst, töten Kiosk in der Straße nebenan wurde ermorwir deinen Bruder und deine Nichte.“ Ei- det, weil sie kein Schutzgeld zahlen wollte. nes Tages, fürchtete Arzu, würden sie auch Die zehnjährige Enkelin des Schnapsladenbesitzers musste sterben, weil ihr Großvaihren Sohn umbringen. Daylan ist auf den Schoß seiner Mutter ter die „Kriegssteuer“ nicht abgeführt hatte. „Wir haben Angst, dass wir die Nächsten geklettert. Die Kirchenfrauen reichen ihm ein Malbuch mit Elmo, dem Monster aus sind“, sagt Carla Isabel Arzu. Deshalb verDER SPIEGEL 31 / 2014
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zichtet sie auf Werbung für ihr Internetcafé, nur ein kleines Schild weist auf den Laden hin. „Wir wollen nicht auffallen“, sagt sie. „Die Mareros können jeden Tag hier aufkreuzen.“ Mareros heißen die Mitglieder der Maras, der gefürchteten Jugendgangs des Landes. Sie entstanden Anfang der Neunzigerjahre in den Gettos von Los Angeles und Chicago. Als dort die Gewalt eskalierte, schoben die USA die Gangmitglieder ab, nach El Salvador, von da aus eroberten sie Mittelamerika. Heute beherrschen sie die Gefängnisse und kontrollieren den Drogenhandel, seit einigen Jahren machen sie ihr Geld auch mit Erpressung. Carla Isabel Arzu lebt mit drei Geschwistern und ihrem Schwager David Palacios im Haus neben dem Internetcafé, bis zu ihrer Flucht wohnten auch Olga und Daylan hier. Die Arzus sind in der Colonia Miramar aufgewachsen; sie gehören zur afrohonduranischen Minderheit, daher finden sie noch schwerer einen Job. Früher war die Colonia Miramar keine schlechte Adresse. La Ceiba lebte vom Export der Bananen und Ananas, die der US-Konzern Dole im Hinterland anbaut. Der verfallene Palast der Zollbehörde und der prachtvolle Hauptplatz erinnern an diese Zeit. Heute stehen viele Hä zum Verkauf oder verfallen, ihre Bewohner sind in die USA geflüchtet. Abwasser stinkt in Pfützen und Gräben. Vor den Fenstern der Hä sind Gitter, auf den Mauern liegt Stacheldraht. Selbst die katholische Kirche ist mit Brettern verrammelt. Aus Furcht vor den Gangstern. „Viele sehen auf den ersten Blick aus wie normale Jugendliche“, sagt Carla Isabel Arzu. Früher erkannte man die Mareros an ihren Tätowierungen, mittlerweile lassen sich die Gangster die Erkennungszeichen auf die Innenseite der Unterlippe brennen. In der Colonia Miramar operieren sie von einem Gelände aus, auf das sich selbst die Polizei nicht mehr wagt. „Die Mareros sind besser bewaffnet“, sagt Carla Isabel Arzu. Die Rauschgiftkartelle rüsten die Maras mit modernen Pistolen und Gewehren aus. Das Kokain kommt mit Schnellbooten aus Kolumbien und Venezuela, in Honduras schmuggeln oft 13-jährige Drogenkuriere den Stoff über die Grenzen. Das Land ist die wichtigste Drehscheibe für den Kokainhandel auf dem Kontinent. Seit dem Putsch gegen den linkspopulistischen Präsidenten Manuel Zelaya vor fünf Jahren habe sich die Situation drastisch verschlechtert, sagt Carla Isabel Arzu. Die Stadt San Pedro Sula, drei Autostunden von La Ceiba entfernt, hat die weltweit höchste Mordrate. Jeden Tag sterben mehr Menschen als in so manchem Krieg, 2013 gab es 1400 Morde. Wenn es dunkel wird in Colonia Miramar, sind die Straßen wie ausgestorben, die 84
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Arzu. Der jüngste Bruder Henry, 22, träumt ebenfalls von der Flucht in die USA: „Hier haben wir keine Zukunft.“ Doch ob ihre Schwester Olga eine Zukunft in den USA haben wird, ist ungewiss. Am Tag nach ihrer Entlassung stehen Olga Arzu und der kleine Daylan zwischen Dutzenden Landsleuten am Busbahnhof von McAllen. In der Hand hält sie eine Busfahrkarte nach New York, wo eine weitere Schwester lebt. Ausgestellt hat das Ticket die Einwanderungsbehörde. Wer wie Olga nachweisen kann, dass er Verwandte hat, die in den USA leben, darf vorerst bei ihnen wohnen. Die Behörden sind überfordert damit, sich um all die Flüchtlinge zu kümmern und sie unterzubringen. Das Tal des Rio Grande im Süden von Texas ist dieser Tage im Ausnahmezustand. In den Anzaluas-Park, vier Meilen von McAllen entfernt, kamen die Amerikaner bislang, um seltene Vögel zu beobachten. Es gibt Spielplätze, Grillplätze, Picknickwiesen, doch die einzigen Besucher sind Grenzpolizisten. Über ihnen kreisen Hubschrauber. Wo früher der American Way of Life zelebriert wurde, sieht man nun den American Way of Angst. Hier in der Nähe ist auch Olga Arzu mit Daylan auf dem Floß über die Grenze gelangt und wenige Tage vor ihnen ein MädArzu-Schwester Carla Isabel chen aus ihrer Nachbarschaft in La Ceiba. „Wir haben Angst“ Die 14-jährige Jacqueline Ramírez lebte in Rushhour der Gewalt beginnt. Dann verbar- einer der Hütten am Strand, sie teilte sich rikadiert sich Familie Arzu im Haus, gerade ein Zimmer mit fünf Geschwistern. Wie hat sie ein neues Gitter vor die Tür setzen Olga hat auch sie keine Eltern mehr, die lassen. Aber die Schüsse, die nachts durch sind vor Jahren an Diabetes gestorben. Eidie Straßen peitschen, hören sie trotzdem. nes Tages lauerte dem Mädchen ein Mare„Wenn ich genügend Geld zusammen- ro auf, er hielt ihm eine Pistole an die Stirn habe, gehe ich auch“, sagt Carla Isabel und forderte Geld. „Sie bringen jeden um, der sich weigert“, sagt Jacqueline Ramírez. Sie gab ihm, was sie hatte. Es war wenig, Kinder auf der Flucht doch für sie war es viel. An der US-Grenze aufgegriffene Minderjährige Danach fasste sie den Entschluss zu ohne Begleitung, nach Heimatland, flüchten, ohne Schlepper, ganz allein. * 2009 bis 2014 Nicht mal ihre Schwestern weihte sie ein. 16546 Als sie am 5. Mai ihren Rucksack packte, träumte sie von einem Job. „Putzfrau, Wäscherin, ich würde alles machen.“ Eine 14086 Freundin hatte ihr vom Leben in Amerika 13301 vorgeschwärmt. Sie nahm den Bus nach San Pedro Sula, von dort fuhr sie nach Guatemala, dann Honduras El Salvador Guatemala weiter als blinde agierin auf einer Fähre nach Mexiko. Dort kletterte sie auf einen Frachtzug Richtung Norden und klammerte sich auf dem Dach fest. Sie wurde von der Polizei festgenommen, freigelassen, wartete, fuhr weiter mit dem Zug bis an die Grenze zu Texas. „Überall auf den Waggons saßen Kinder und Jugendliche aus Honduras. Wir haben uns gegenseitig geholfen.“ Als sie kurz vor dem Paradies vom Zug kletterte, blickte sie in die Mündung einer Waffe. Die Kidnapper sperrten sie und an* Fiskaljahre: 1. Okt. – 30. Sept.; 2014 bis 30. Juni dere Kinder in ein Lagerhaus, verprügelten Quelle: U. S. Customs and Border Protection
FOTOS: JUAN CARLOS
Arzu-Ehemann Palacios bei der Arbeit in La Ceiba: „Seit Olga in den USA ist, haben wir keinen Kontakt mehr“
sie und verlangten nach Telefonnummern von Verwandten in den USA, um von denen Lösegeld zu erpressen. Aber Jacqueline hatte keine Nummer dabei, sie kennt niemanden in den Vereinigten Staaten. Das war ihr Glück, man ließ sie gehen. „Viele Mädchen wurden vergewaltigt“, sagt sie. Bevor sie den Rio Grande überquerte, warf Jacqueline ihren Rucksack fort. Das Wasser reichte ihr bis zum Hals. Dann war sie drüben, wie all die anderen Kinder und Jugendlichen, die seit vergangenem Oktober allein die Grenze überquert haben. Sie sind es vor allem, die das routinierte Einwanderungssystem der USA in diesen Wochen hilflos erscheinen lassen. Überall im Land protestieren Bürger gegen die Errichtung von Auffanglagern in ihrer Nachbarschaft. Verzweifelt suchen die Behörden nach Betreuern, um den Zustrom zu bewältigen. Denn anders als Kinder, die wie Daylan mit ihrer Mutter flüchten, dürfen die Unbegleiteten nicht aus der Betreuung des Staates entlassen werden. Im Industriegebiet von McAllen wurde gerade ein weiteres Lager für tausend Kinder und Jugendliche eröffnet. Ihr neues Zuhause ist eine verlassene Lagerhalle. Die Grenzpolizei hat einen Sichtschutz und Drahtzäune um das Gelände errichtet, Dutzende Streifenwagen sichern den Eingang und die angrenzenden Straßen. Es sieht aus, als bewachten sie einen Todestrakt. Die ersten Bilder, die heimlich ins
Internet gelangten, erinnern an die Zustände in afrikanischen Flüchtlingslagern. In der Nachbarschaft stehen Verkehrsschilder mit der Aufschrift: „We love our children. Please slow down“. Zwei Wochen verbrachte Jacqueline Ramírez in einem solchen Lager. Nun war es ihr Pech, dass sie keine Verwandten in den USA hatte. Denn wer zu seiner Familie reist, wird selten deportiert. Jacqueline aber war allein, man schob sie ab in ein Lager in Mexiko. 20 Tage war sie dort, sie weinte viel. Dann fesselte man sie an Händen und Füßen und setzte sie in einen Reisebus zurück nach Honduras. Kurz nach der Ankunft in San Pedro Sula sitzt sie in der Nähe des Busbahnhofs in einem Imbiss und erzählt ihre Geschichte. Plötzlich wird ihr schlecht. Der Hamburger. Es ist ihr peinlich, sie entschuldigt sich. Seit drei Wochen lebe sie von Müll und Dreck. Etwas anderes sei ihr Magen wohl nicht mehr gewohnt. Am Busbahnhof von McAllen warten Olga Arzu und Daylan noch immer auf die Abfahrt Richtung Bronx. Es ist offen, wo ihre Odyssee durch Amerika enden wird und ob und wo sie ihren Mann David eines Tages wiedersehen wird. Binnen zweier Wochen muss sie vor einem Einwanderungsgericht in New York erscheinen und Gründe für einen Aufenthalt in den USA vorbringen. Versäumt sie dies, können sie und ihr Sohn ausge-
wiesen werden. Wenn sie aber den Regeln folgt, wenn sie hingeht, wird sie den Richter überzeugen müssen, dass sie und ihr Sohn Anspruch auf Asyl haben. Doch die Gewalt von Gangs ist als Asylgrund bislang nicht vorgesehen. Und einen Anwalt wird Olga Arzu vermutlich auch nicht haben. Die meisten Flüchtlinge müssen sich allein vor dem Richter verteidigen – und scheitern. In Olgas Gepäck steckt ein Lunchpaket für die fast 24-stündige Reise, das Schwester Norma von der Sacred-Heart-Kirche organisiert hat. Die alte Dame hat schon viele Flüchtlinge durch ihre Kleinstadt ziehen sehen. Früher seien die Menschen vor der staatlichen Gewalt oder wegen der wirtschaftlichen Lage geflohen. Diesmal, sagt sie, sei alles anders. Diesmal gehe es um die Gewalt der Gangs. Und es kämen mehr Kinder als je zuvor. Mit ihren Müttern. Oder ganz allein. „Die Gerichte müssen das Asylrecht endlich neu definieren“, sagt Schwester Norma. Und dann müsse ihre Regierung sich endlich mit den Verantwortlichen in den Herkunftsländern zusammensetzen. Man brauche eine gemeinsame, eine große Lösung. „Wir sind doch alle Amerikaner! In ganz Amerika müssen die Menschen sicher leben können. Nicht nur in den USA“, sagt die Nonne. „Und wenn wir uns sicher fühlen, können wir alle zu Hause bleiben.“ Es ist ein einfacher, wahrer Satz. DER SPIEGEL 31 / 2014
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Die Empörten Global Village Warum ein Spanier in Berlin eine Gewerkschaft gegründet hat
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iguel Sanz Alcántara sagt, er habe kein Heimweh. Doch in der Kneipe in Kreuzberg mit den andalusischen Kacheln und Plakaten fühlt er sich wie zu Hause. Das Dekor erinnert ihn an Jerez de la Frontera, seinen Geburtsort – berühmt für Sherry und Flamenco, aber auch dafür, dass viele junge Menschen dort keinen festen Job haben. Auch Miguel Sanz hat seinen verloren, im Jahr 2011, er leitete als Umwelttechniker fünf Jahre lang ökologische Projekte. Dann brach die Baubranche ein, sein Arbeitgeber musste Personal entlassen. Danach zog Sanz mit seiner deutschen Freundin zunächst nach London und vor einem Jahr nach Berlin, wie viele junge Spanier. Die deutsche Hauptstadt ist für
Gewerkschaftsgründer Sanz „Politisches Erdbeben“
sie zum Sehnsuchtsziel geworden, seit die Finanz- und Wirtschaftskrise in Südeuropa die Hoffnung einer ganzen Generation zerstört hat, in ihrer Heimat Karriere machen zu können. Berlin ist jung, es ist international und bekannt für niedrige Lebenshaltungskosten. Dorthin kamen seit 2012 mehr als 6000 Spanier; Ende 2013 waren hier insgesamt 13 231 Spanier gemeldet. Und mit den Arbeitsuchenden hält nun auch der Arbeitskampf Einzug. Sanz, der sich schon in seiner Heimat gewerkschaftlich engagiert hat, will mit seiner Erfahrung den Landsleuten und anderen Einwanderern helfen – daher hat er eine „Gewerkschaftliche Aktionsgruppe“ gegründet. Sanz ist 34 Jahre alt, ein blasser, schlanker Mann mit Brille. Er hat in Berlin schon vieles gemacht, um Geld zu verdienen: Er hat in Restaurants zwölf Stunden am Tag Teller gewaschen, Pizza gebacken und in Bars gekellnert. Im Moment hält er sich mit einem Minijob als Grafiker, mit dem er alle zwei Monate 500 Euro verdient, über Wasser, außerdem bekommt er Hartz IV. Er sagt, das habe er sich anders vorgestellt. 86
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Als er in den Norden aufbrach, hatte er bereits die Idee, in Berlin „eine Gewerkschaft für uns erzwungene Emigranten aufzuziehen“, erzählt er. Sanz ist erfahren im Arbeitskampf. Seine Eltern standen während der Franco-Diktatur der verbotenen Kommunistischen Partei nahe. Er ist Mitglied einer kleinen Gewerkschaft, die aus der andalusischen Landarbeiterbewegung hervorgegangen ist. Für sie koordinierte er die Ortsgruppe in Sevilla. Vor zwei Jahren hat er dort auch die Protestmärsche gegen die Sparpolitik der Regierung mitorganisiert, die mit Besetzungen von Fincas und Banken weltweit Aufsehen erregten. Nun hilft er den Neuankömmlingen in Berlin: Es sind viele Spanier, aber auch Griechen, Portugiesen oder Italiener, die mit großen Erwartungen angekommen sind, aber schnell merken müssen, dass einige Arbeitgeber versuchen, sie auszunutzen. Sanz und seine freiwilligen Mitarbeiter beraten, wie man eine Wohngemeinschaft findet, sie erklären, was die Schufa ist und wo man Wohngeld und Unterhaltszuschüsse beantragen kann. Und er ermutigt die Einwanderer, sich gemeinsam gegen allzu dreiste Arbeitgeber zu wehren. Denn im vermeintlichen Jobparadies Deutschland werden Ausländer oft diskriminiert. Da hat etwa ein spanischer Koch einen Vertrag über 22 Wochenstunden unterschrieben, muss aber doppelt so lange am Herd stehen. Da wurde ein Zimmermädchen entlassen unter dem Vorwand, Schuhe eines Gastes weggeworfen zu haben – und soll dafür obendrein noch Schadensersatz leisten. In einem Bürohaus im Osten Berlins hört sich ein deutsch-spanischer Anwalt an einem Nachmittag pro Woche solche Fälle an. Er hilft dem Koch, Überstunden einzuklagen, und übernimmt die Vertretung des Zimmermädchens. Sanz kann von vielen Fällen erzählen: von spanischen Pflegekräften, die in ihrer Heimat mit großen Versprechungen angeworben wurden – und in Deutschland in Zwölf-StundenSchichten, mindestens eine Woche am Stück, Schwerkranke betreuen sollen. Dazu müssen sie oft putzen, Kinder hüten oder den Hund ausführen. Obwohl das nicht ihrer Hochschulausbildung entspricht. Dafür bekommen sie 9,50 Euro Stundenlohn, während Deutsche bis zu 15 Euro verdienen. Wer vor Ablauf der vertraglich festgelegten zwei Jahre abbrechen will, muss bis zu 6600 Euro zahlen. Angeblich für einen sechsmonatigen Sprachkurs. Der Deutschunterricht aber sei bis Jahresbeginn vom Europäischen Sozialfonds finanziert worden, erzählt Sanz. Er hat jetzt seine deutschen Kollegen von der Gewerkschaft Ver.di eingeschaltet. Miguel Sanz ist stolz auf das, was seine Minigewerkschaft in den ersten fünf Monaten erreicht hat. In vier Unternehmen „haben wir den Arbeitskonflikt eröffnet“, sagt er, in zwei weiteren Betrieben seien jeweils 50 ausländische Arbeiter ebenfalls dabei, sich zu organisieren. Es fällt ihm nicht schwer, Gleichgesinnte zu finden unter den jungen Spaniern in Berlin. Sie haben in die neue Heimat ihre Empörung und ihren Kampfgeist mitgebracht: „Los Indignados“, die Empörten, hatten sich seit Mai 2011 in Massendemonstrationen gegen die Kürzungen von Sozialleistungen erhoben. Viele junge Arbeitslose haben so einen Sinn für Solidarität entwickelt. „Politisches Erdbeben“ nennt das Sanz. Ein klein wenig erschüttert es nun vielleicht auch Berlin. Er will nicht undankbar erscheinen, vor allem angesichts von fast zwei Millionen Familien ohne jedes Einkommen in Spanien, deshalb betont er: „Wir fühlen uns im Großen und Ganzen gut aufgenommen.“ Aber man könne sich nicht alles gefallen lassen. Schließlich schadeten sich die Deutschen selbst. Wenn verzweifelte Zuwanderer bereit seien, sich zu Dumpinglöhnen zu verdingen, würden sich in der Folge die Bedingungen für die Einheimischen ebenfalls verschlechtern. Vielleicht hat seine Gewerkschaft bald auch deutsche Mitglieder. Helene Zuber
FOTO: ESPEN EICHHÖFER / DER SPIEGEL
Ausland
Sport Klettern
maligen Brauerei geklettert, in Weiden in der Oberpfalz in einem alten Gewächshaus. Der Deutsche Alpenverein geht von rund 200 000 Boulderern hierzulande aus. Die Besten treten in spektakulären Wettkämpfen an. Dabei bewegen sie sich wie Geckos an der Wand, halten sich mit einem Finger an Überhängen fest oder überwinden schwierige Abschnitte mit einem Sprung. Ende August findet in München die Weltmeisterschaft statt, über 200 Kletterer aus 35 Ländern werden starten. Favorit ist der Kölner Jan Hojer, 22, der kürzlich den Weltcup gewann. „Beim Bouldern geht es nicht nur um Maximalkraft, sondern auch darum, für ein Problem die richtige Lösung zu finden, kreativ zu sein“, sagt Hojer. Für Profis wie ihn ist Bouldern die Quintessenz des Kletterns: Es gibt keinen Steinschlag, keinen Wetterumschwung, die Bewegung steht im Mittelpunkt. Hojer nennt es „die Reduktion aufs Wesentliche“. le
Kreative Geckos Bouldern war früher bloß eine Trainingsform für Sportkletterer. Inzwischen hat sich daraus eine eigene Disziplin entwickelt, die Hobby- und Leistungssportler anzieht. Bouldern ist Klettern an großen Felsblöcken oder künstlichen Wänden, an denen Griffe und Tritte aus Kunstharz angebracht sind. Geklettert wird ohne Seil und Sicherung, die Wand ist rund fünf Meter hoch, wer abstürzt, landet auf einer Weichbodenmatte. Das Verletzungsrisiko ist gering, deswegen eignet sich Bouldern auch für Freizeitsportler. Es gilt als Alternative zum Fitnessstudio, weil der ganze Körper beansprucht wird. Vor rund zehn Jahren entstanden in Deutschland die ersten Boulder-Hallen, mittlerweile gibt es davon mehr als 50. Im bayerischen Beilngries wird in einer ehe-
Psyche
SPIEGEL: Der ehemalige FC-
„Das ist verheerend“
St.-Pauli-Profi Andreas Biermann hat sich am 18. Juli mit 33 Jahren das Leben genommen. 2009 hatte er publik gemacht, unter Depressionen zu leiden. Sie betreuen viele depressive Spitzensportler: Haben Sie je einem empfohlen, sich öffentlich zu seiner Krankheit zu bekennen? Markser: Niemandem. Und das werde ich auch weiterhin nicht tun. SPIEGEL: Warum? Markser: Psychische Krankheiten werden in der Gesellschaft nach wie vor stigmatisiert. Jeder, der seine psychischen Belastungen präventiv zu behandeln versucht, gilt unweigerlich als Problempatient. Eine solche Klassifizierung führt dazu, dass es kaum möglich ist, eine private Berufsunfähig-
Der Kölner Facharzt für Psychotherapie Valentin Markser, 61, bis zu dessen Tod Betreuer von Fußballtorwart Robert Enke, über den Umgang des Leistungssports mit depressiven Athleten
FOTO: HEIKO WILHELM / MAMMUT (O.)
Boulder-Profi Hojer
keits- oder Lebensversicherung abzuschließen. Für den Patienten heißt das: Durch Vorsorge droht mir ein wirtschaftlicher Schaden. Das ist verheerend. SPIEGEL: Biermann sagte, er habe keinen Profivertrag mehr bekommen, nachdem er seine Krankheit publik gemacht hatte. Grenzt der Spitzensport Athleten mit psychischen Erkrankungen aus? Markser: Natürlich. Das wird auch so lange ieren, wie wir diese Erkrankungen nicht anerkennen. Ein Spitzensportler wird außerdem häufig über seine mentalen Stärken definiert, obwohl das gefährlich ist. Ich kenne viele Sportler, die am Wettkampftag ihre Leistungen regelmäßig abrufen und sich trotzdem seit Jahren in Behandlung befinden. Robert
Enke hat noch wenige Tage vor seinem Selbstmord eine Weltklasseleistung gegen den Hamburger SV gezeigt. SPIEGEL: Hat sich seit Enkes Tod etwas verändert? Markser: Nach der anfänglichen allgemeinen Betroffenheit und Trauer wenig. Das ist ein langfristiger Prozess. SPIEGEL: Was wäre nötig? Markser: Wir brauchen eine medizinische Erweiterung, neben Sportmedizinern, Sportpsychologen und Physiotherapeuten auch gut ausgebildete Sportpsychiater. Über 60 Prozent der Menschen mit Depressionen klagen zunächst über körperliche Probleme wie Rückenoder Kopfschmerzen. Im Leistungssport ist das noch ausgeprägter. Sportpsychiater können diese Frühsymptome am ehesten erkennen. rab DER SPIEGEL 31 / 2014
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Kabine des FC Bayern im April
Rakete auf der Rampe D
er Ort, von dem aus die Bayern die Neue Welt erobern möchten, ist 120 Quadratmeter groß und liegt in einem Wolkenkratzer in der Lexington Avenue in New York City, Midtown Manhattan. Das Büro befindet sich im 21. Stockwerk, direkt unter der US-Vertretung der BayernLB. Vier Angestellte arbeiten für den Fußballklub in Übersee, die Büromöbel sind in Rot und Weiß gehalten. Rudolf Vidal, 43, ist der Managing Director, er sitzt hinter einem massiven Schreibtisch und blickt auf seinen Computerbildschirm. An diesem Morgen ist die 88
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neue Internetpräsenz des Klubs online gegangen, eine englischsprachige BayernWebsite, „mit Content, der auf die Bayern-Fans in den USA zugeschnitten ist“, sagt Vidal, „das ist einzigartig“. Auf der Seite liest man ein Porträt des Bayern-Profis Julian Green, der für das amerikanische Nationalteam spielt. Es gibt Bilder vom Testspiel der Bayern in Memmingen und die FC Bayern News mit einem amerikanischen , der die Nachrichten eher schreit als spricht. „Die Website schlägt voll ein“, sagt Vidal, „in der ersten Stunde wurde sie in den
sozialen Medien über tausendmal empfohlen.“ Vidal wurde in Colorado geboren, hat aber auch einen deutschen . Er war Torwart in der Bayern-Jugend, später arbeitete er als Manager für Puma und die Deutsche Telekom. Seit April leitet er das Bayern-Büro in New York. Er sei seitdem nie allein essen gewesen, sagt Vidal. Es gehe darum, Kontakte zu knüpfen, Entscheider zu treffen, auf Konferenzen zu sprechen, allen davon zu erzählen, dass der FC Bayern jetzt in Amerika angekommen sei.
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Fußball In dieser Woche reist die Mannschaft des FC Bayern München in die USA. Hinter dem Trip steckt der Plan, den Klub zur Weltmarke aufzubauen. Doch andere europäische Vereine sind schon weiter.
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Sport
Zum ersten Mal hat ein deutscher Fußballverein eine Vertretung im Ausland eröffnet. Der FC Bayern will einsteigen in den globalen Wettstreit der großen Vereine um Fans und Trikotverkäufe, um Sponsoren, Fernsehrechte und Marktanteile. Das erste Ziel sind die USA, der meistumkämpfte Sportmarkt der Welt. Die Bayern möchten zur großen Nummer werden in einem Land, in dem Fußball nicht Football heißt, sondern Soccer; einem Land, in dem sich Sportfans viel mehr für Touchdowns und Homeruns begeistern als für Tore. Kann das funktionieren? Lässt sich Amerika vom FC Bayern bekehren? „Wann, wenn nicht jetzt?“, fragt Vidal und zieht die Augenbrauen hoch. In den USA habe sich das Interesse am Fußball rasant entwickelt. „Barack Obama hat WM-Spiele in der Air Force One geschaut, nach dem Finale erstrahlte das Empire State Building in Schwarz-RotGold. Wenn ich hier in Sportbars gehe, dann sitzen dort neuerdings Leute mit
Trikots aus aller Welt, und es läuft Fußball.“ Auf Vidals Schreibtisch liegt ein Blatt Papier, das aussieht wie der Stundenplan eines Grundschülers. Die Felder sind gefüllt mit Terminen: Empfänge, Pressekonferenzen, Interviews. Es ist der Ablaufplan der Mannschaftsreise. In dieser Woche kommt das Team für neun Tage in die USA, zwei Freundschaftsspiele stehen auf dem Programm. Die Bayern werden in New Jersey gegen den mexikanischen Traditionsklub Deportivo Guadalajara spielen, später treten sie in Portland gegen das Allstar-Team der Major League Soccer (MLS) an. Dieses Spiel wird in 130 Länder übertragen. Der FC Bayern gehört zu den florierenden Fußballklubs, mit über 430 Millionen Euro Jahresumsatz hat er kürzlich Manchester United überholt. Nur Real Madrid und der FC Barcelona nehmen noch mehr ein. Voriges Jahr verkauften die Münchner schon über eine Million Trikots weltweit, dennoch ist ihre Sehnsucht nach Wachstum groß. Der Chef der neuen Marketingoffensive heißt Jörg Wacker, 46, ein Mann mit rundem Gesicht und nach hinten gegeltem Haar. Früher arbeitete er für einen Sportwettenanbieter, seit 2013 ist er Vorstand für Internationalisierung beim FC Bayern. Wacker hat sein Büro in der Geschäftsstelle an der Säbener Straße in München, er hat in einem Ledersessel Platz genommen und sagt: „Nokia!“ Nokia? Wacker rutscht nach vorn: „Das war mal der größte Handyhersteller der Welt. Dann stand er plötzlich vor dem Aus. Sowohl in der Wirtschaft als auch im Fußball darf man sich nicht auf seinen Lorbeeren und Erfolgen ausruhen. Der FC Bayern ist zwar derzeit in einer Top-Position, trotzdem müssen wir uns weiterentwickeln, wir dürfen nicht sagen: Das reicht doch. Sonst laufen wir Gefahr, wirtschaftlich und sportlich
Fußballfans in den USA „Wann, wenn nicht jetzt?“
ins Stottern zu geraten. Das kann nicht unser Anspruch sein.“ 300 Millionen Sympathisanten habe der Klub weltweit, sagt Wacker, das habe die neueste Marktforschung ergeben. „Wir wollen, dass diese Sympathisanten echte Bayern-Fans werden. Und wir haben bei unserer Internationalisierungsstrategie natürlich auch monetäre Ziele.“ Was Wacker damit meint: Aus Sympathisanten sollen zunächst Fans werden, dann Kunden. Nicht nur in den USA, bald will er ein Büro in China eröffnen, auch über Südamerika und Russland wird in München bereits nachgedacht. Um sein Konzept zu erklären, nimmt Wacker ein Blatt Papier zur Hand. Er malt mit einem Stift eine Pyramide auf, unterteilt sie in drei horizontale Abschnitte. Die Basis seiner Pyramide nennt Wacker „das Grundrauschen“, er möchte die amerikanischen Sportfans unter Dauerfeuer setzen, mit Neuigkeiten, Interviews, Trainingsbildern aus dem Bayern-Kosmos. Neben der US-Website haben seine Mitarbeiter eine App entwickelt, es gibt einen eigenen YouTube-Kanal und einen US-Online-Store mit über hundert Fanartikeln und eigener Logistik, damit die Lieferung nicht mehr von Deutschland aus verschickt werden muss. Der zweite Schritt: Public Viewings bei allen Bayern-Spielen, Fußballcamps für Kinder, ein Besuch des Frauenteams. Dann tippt Wacker mit dem Finger auf die Spitze seiner Pyramide. Das „Ober-Highlight“, wie er es nennt, sei der anstehende Trip der Mannschaft. Sechs Bayern-Profis haben mit dem Nationalteam die WM in Brasilien gewonnen, die Partie in Portland wird ihr erster Auftritt danach sein. „Mit dem WM-Titel ist der FC Bayern so attraktiv wie noch nie in seiner Geschichte“, sagt Wacker. Mit den Sponsoren lässt er sich gerade Marketingaktionen einfallen, um Spieler wie Bastian Schweinsteiger und Manuel Neuer in den USA besonders in Szene zu setzen. „Die Fans sollen merken: Wir sind für sie da, wir betreuen sie“, sagt Wacker, und manchmal schlägt seine Begeisterung in Hybris um. „Jeder wird ständig mit Pushup-Nachrichten, E-Mails und Werbung zugeschüttet. In der Flut von Informationen brauchen die Menschen Orientierung, zum Beispiel durch eine vertraute Marke wie den FC Bayern. Dann sehen die Leute unser Logo und sagen: Ja, das kenne ich, das finde ich gut.“ Dass Fußballklubs ihr Geschäft im Ausland ankurbeln, ist kein Trend mehr – es ist Standard. In den Gesamteinnahmen der Klubs machen Stadiontickets und TV-Rechte einen immer kleineren Anteil aus. Das größte Wachstumspotenzial sehen die Vereine in der Fremde, in noch fußballarmen Regionen. Wer konkurrenzfähig bleiben DER SPIEGEL 31 / 2014
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FOTO: STEPHAN RUMPF / PICTURE ALLIANCE / SÜDD. VERLAG
Andrew Zimbalist, Sportwill, muss nach Omnipräsenz streben, seit 1994 Fanbefragungen ökonom aus Massachusetts, ist durch, demnach ist Fußball unmuss zur Weltmarke werden. ebenfalls skeptisch. „Es gibt „Die Gehälter für die Profis schießen in ter den 12- bis 24-Jährigen bein den USA kein spezielles die Höhe. Das setzt Fußballklubs unter reits der zweitpopulärste Sport Interesse an deutschem Fußenormen Druck, neue Einnahmequellen zu hinter American Football. ball“, sagt er. „Alles, was hier finden“, sagt Wes Harris, Wirtschaftsanalyst Der FC Barcelona hat in über ihn bekannt ist, sind die aus Chicago und Chefredakteur der Web- den USA schon mehr Facerelativ niedrigen Gehälter, die site Business of Soccer. Die Vereine würden book-Fans als in Spanien. Superstars wie Messi, Ronalregelrecht „zur Globalisierung gezwungen“. 2013 zählte Lionel Messi zu do und Suárez davon abhalManchester United, der Klub aus der den zehn beliebtesten Sportten, in die Bundesliga zu englischen Premier League, gilt als Krösus stars der US-Fans, als erster wechseln.“ der Auslandsvermarktung. Seit den Neun- Fußballer überhaupt. Bei der Englische und spanische zigerjahren schickt der Verein seine Mann- Weltmeisterschaft in Brasilien Bayern-Vorstand Wacker Klubs hätten einen „kulturelschaft zu Testspielen nach Südafrika, Chi- kauften US-Amerikaner die meisten Tickets nach den Brasilianern, und len Vorteil“, sagt er. Premier-League-Spiena, Thailand, Singapur und in die USA. Es geht nicht nur darum, auf der ande- zu den MLS-Partien kommen im Schnitt le müssten für den US-Markt nicht erst übersetzt werden, und spanischsprachige ren Seite der Welt Trikots zu verkaufen. 19 000 Zuschauer. Den Wachstumsmarkt haben vor den Einwanderer würden sich eher für die PriRichtig lukrativ wird das Engagement durch Deals mit regionalen Sponsoren. Bayern allerdings auch viele andere für mera División interessieren. Demografen sich entdeckt. Der frühere gehen davon aus, dass sich die Zahl der Manchester United hat einen KommerzFußballprofi David Beckham Hispanics in den USA bis 2050 verdoppeln Pool von knapp 40 Werbepartwill in Miami ein neues Team wird. „Es wird schwierig für den FC Baynern weltweit. Darunter FirWeltmeister aufbauen, samt neuer Arena. ern, hier eine Nische zu finden“, sagt Zimmen wie Kansai Paint, Japans Jahresumsätze der Arsenal London hat ein Fan- balist. größten Farbenhersteller, und europäischen Top-Klubs netzwerk in den USA, mit In seinem Büro in München lehnt sich den US-Autokonzern Chevroin Mio. Euro, 2012/13 über 50 Zweigstellen. Der FC Bayern-Vorstand Wacker in seinem Sessel let, der knapp eine halbe MilTicketverkäufe Chelsea reiste zuletzt regel- zurück und lächelt. Ständig werde er geliarde Euro über sieben Jahre Übertragungsrechte mäßig nach Amerika, Real fragt, was sein Klub in den USA wolle, bezahlt. Sponsoring und Madrid bereits 16-mal. Gerade sagt er. Doch Wacker hat gelernt, Zweifel Die Premier League erlöst Merchandising tritt der Champions-League- auszuräumen und mit Verve davon zu jährlich 560 Millionen Euro im Sieger in den USA beim In- sprechen, dass es auf der anderen Seite Ausland, die Deutsche Fußball der Welt Menschen gebe, die auf den Liga (DFL) kommt gerade mal Real Madrid ternational Champions Cup an, einem Turnier mit acht FC Bayern warten würden. auf 70 Millionen. Deswegen „Grundlage für unser Handeln sind beMannschaften, das in 13 Mewollen die DFL-Vermarkter 211,6 119,0 stimmte Werte, die für uns enorm wichtig tropolen ausgetragen wird. aus den Bundesligisten Globe„Der FC Bayern ist spät sind. Wir wollen damit den Leuten vertrotter machen. Klubs, die in 518,9 dran“, sagt Jack Bell, Fußball- mitteln, für was der FC Bayern steht. Zum China, Russland oder den reporter bei der New York Beispiel für Erfolg, Familiensinn, TradiUSA Gastspiele organisieren, 188,3 Times, „viele Klubs aus dem tion, Heimatverbundenheit, Innovation bekommen bis zu 300 000 Euro Ausland machen hier Lärm. und gesundes ökonomisches Handeln. Mit Unterstützung von der Liga. Es reicht nicht mehr aus, ein- diesen Werten erreichen wir die Menschen Allein in diesem Jahr zieht es FC Barcelona mal im Jahr zu kommen, mit in den verschiedenen Regionen auf der zwölf Erstligisten ins Ausland – dem Ufo zu landen, ein biss- ganzen Welt“, sagt Wacker. ein neuer Reiserekord. 176,8 117,6 Chinesen würden Zuverlässigkeit schätchen Fußball zu spielen und Derweil steigt bei Fernsehzen, US-Amerikaner eher Trachten und Autogramme zu schreiben.“ sendern das Interesse an deut482,6 Das einzige Team aus das Oktoberfest. Wer Wacker reden hört, schem Fußball. Ab 2015 strahlt Übersee, das den US-Markt könnte meinen, seine Werte ließen sich der amerikanische TV-Konzern 188,2 „richtig anpackt“, sagt Bell, so leicht verkaufen wie Autos oder 21st Century Fox die Top-Spiesei Manchester City. Der Ver- Smartphones. Dabei ist der FC Bayern le der Bundesliga live in 90 Milein aus England hat sich für kein Industriekonzern, sondern ein Sportlionen US-Haushalte aus. Bayern 100 Millionen Dollar mit einer verein, der sich über Siege, Titel und PoBesonders in den USA München Mannschaft in die MLS einkale definiert. herrscht GoldgräberstimOhne Erfolge auf dem Rasen wird Wagekauft. Der neu gegründete mung, dabei entzog sich 237,1 87,1 Klub namens New York City ckers Mission scheitern. Zum Finale der Nordamerika lange der AllFC wird ab 2015 in der Liga Champions League im Mai wollte der Marmacht des Fußballs. Firmen, 431,2 mitmischen. Die Heimspiele ketingstratege ein Public Viewing verMedien und Sportfans schie107,0 trägt das Team im Baseball- anstalten, im Paulaner-Brauhaus in New nen immun gegen das Spiel. York. Paul Breitner sollte eingeflogen werstadion der Yankees aus. Fußball galt als Mannschafts„Der Verein ist ein Trichter, den, als Markenbotschafter. sport light, er taugte den Amis Manchester in den neue Fans von ManDann warf Real Madrid die Bayern im zum Zeitvertreib in Parks, United chester City fallen werden“, Halbfinale aus dem Wettbewerb. aber nicht als ernst zu nehglaubt Bell. Der FC Bayern mender Profisport. Lukas Eberle 177,9 127,3 hat ein Büro in der Stadt – Experten wie der SportAnimation: So verdient Manchester City hat bereits soziologe Rich Luker glauben 423,8 der FC Bayern sein Geld einen eigenen Klub dort. Dajedoch, dass Fußball in den ran erkenne man den AbUSA „eine Rakete auf der Quelle: spiegel.de/app312014fcbayern 118,6 oder in der App DER SPIEGEL stand, sagt Bell. Startrampe“ sei. Luker führt Deloitte
Sport
In der Zockerhöhle Affären FBI-Agenten haben ein Syndikat ausgehoben, das in Asien auf Spiele der Fußball-WM gewettet hatte. Der Einsatz: rund 350 Millionen Dollar.
FOTO: NEIL STODDART
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as Caesars Palace in Las Vegas ist ein Luxusresort, das seinen Besuchern kaum einen Gefallen verwehrt. Die Wunschliste der acht Asiaten, die Anfang Juni dort auftauchten, machte die Hoteldirektion allerdings stutzig – die Gäste verlangten, dass ihre drei reservierten Villen mit Laptops, Computern, Bildschirmen, zusätzlichen Fernsehgeräten und DSL-Leitungen ausgestattet würden. Das Equipment wurde wie gewünscht geliefert und installiert. Doch die Sicherheitsabteilung des Caesars Palace, in dem auch eines der glamourösesten Kasinos der Welt untergebracht ist, informierte umgehend die Überwachungsbehörde des Staates Nevada für Glücksspiel. Der vage Anfangsverdacht: illegales Glücksspiel. Fortan observierten FBI-Agenten die Hä, die für mehrere Wochen angemietet waren, ein Fahnder verschaffte sich als vermeintliche Hilfskraft des Hotels unerkannt Zugang. Am 9. Juli rückten die Ermittler zu einer Durchsuchung an – und stellten jede Menge Beweismaterial sicher. Was den Strafverfolgern bei der Razzia in die Hände fiel, verschafft ihnen einen spektakulären Einblick in die Praktiken asiatischer Wettsyndikate. Die acht Verdächtigen aus Hongkong, China und Malaysia hatten sich im Caesars Palace offenbar ihr Hauptquartier eingerichtet, um in großem Stil illegal auf Spiele der FußballWM in Brasilien zu setzen – „Hunderte von Millionen von Dollar“, wie es in dem Ermittlungsbericht heißt. Verfasst hat dieses Dokument ein FBIMann, der seit 15 Jahren zu einer Sondereinheit zur Bekämpfung organisierter Kriminalität gehört. Demnach ergab die Auswertung beschlagnahmter Chatprotokolle, Mails und SMS-Nachrichten, dass die Zocker-Gang aus Asien bis zum 5. Juli – dem Tag, an dem die Viertelfinal-Partien in Brasilien gespielt waren – mehr als 2,7 Milliarden Hongkong-Dollar platziert hatte. Rund 350 Millionen US-Dollar. Erst vier Tage nach der Razzia, am Tag des WM-Finales, wurden die Glücksspieler in einer Hotellobby festgenommen: wegen Fluchtgefahr. Der Boss ist Wei Seng Phua, 50, Spitzname Paul, ein schmächtiger
Mann mit Brille und kahl rasiertem Kopf. Millionensummen auf Spielergebnisse Phua, der aus Malaysia stammt, gilt in der oder -ereignisse zu setzen. Weil die Seiten der beiden Wettfirmen Poker- und Glücksspielszene als sogenannter high roller – als einer, der am ganz gro- im US-Bundesstaat Nevada nicht zugelasßen Rad dreht. Seine Geschäftsbeteiligun- sen sind, hatten Phua und seine Komplizen gen an Kasinos und Wettbüros in Südost- im Caesars Palace technisch aufgerüstet. asien, die milliardenschwer sein sollen, Wie aus den Ermittlungsakten hervorgeht, sind so undurchsichtig wie seine politi- benutzten sie Programme, mit denen sie schen Verbindungen: Phua besitzt einen von Las Vegas aus Zugriff auf Computer Diplomaten der Republik San Marino, hatten, „die auf den Philippinen stationiert die er als Botschafter in Montenegro ver- sind“. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Spietritt. Das FBI hält Phua, so steht es in dem Report, für ein „hochrangiges Mitglied“ le in Brasilien, auf die Phua und seine der 14K Triade, einer berüchtigten Gang Komplizen setzten, manipuliert waren. Das Kalkül war ein anderes: Weil eine Fußder chinesischen Unterwelt. Wenige Tage nach Beginn der Fußball- ball-WM im tippverrückten Asien das WM war Phua in seinem Privatflieger von Wettereignis schlechthin ist und die Umden USA aus noch zu einem Kurztrip nach sätze boomen, konnten Profizocker wie Macau gejettet, einer westlich von Hong- Phua auch Millionenbeträge setzen, ohne kong gelegenen Sonderverwaltungszone dass die Quoten dadurch sofort in den KelChinas. Sein Ziel: ein Kasino. Bereits dort ler rauschten. Es sollen vornehmlich Live-Wetten gewar Phua, wie es in den FBI-Akten heißt, „wegen illegaler Sportwetten auf Spiele wesen sein, auf die Phua und seine Leute der Fußball-WM festgenommen worden“. spekulierten, Wetten wie diese: Wer sieht Keine zwei Tage später allerdings befand die nächste Gelbe Karte? Wer schießt den der Gambler sich wieder auf freiem Fuß – nächsten Freistoß? Wer den nächsten Eckund f seiner Gulfstream G550 zurück ball? Wer das nächste Tor? Sie setzten auch in die Vereinigten Staaten. Am 23. Juni auf Halbzeitresultate oder auf die Anzahl landete Phua auf dem McCarran Interna- erzielter Tore, Over/Under Wetten. Auch in jenem Moment, in dem die Ertional Airport von Las Vegas, „um mit seinen Komplizen im Caesars Palace ohne mittler am 9. Juli mit der Aufforderung Einverständnis des Kasinos weiter illegal „Hände hoch!“ die Zockerhöhlen im Caesars Palace stürmten, lief gerade ein Spiel auf Spiele der Fußball-WM zu wetten“. Platziert hatten die Zocker ihr Geld in auf den Bildschirmen: das Halbfinale ArAsien, laut den Ermittlungen vornehmlich gentinien gegen Holland. Phua bestreitet den Vorwurf des illegabei den Anbietern SBO und IBC in Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Die zwei len Glücksspiels ebenso wie den, einer kriWettanbieter gehören zu den umsatz- minellen Vereinigung anzugehören. Das stärksten der Welt, und anders als auf dem Gericht entließ ihn aus der Haft, nachdem Wettmarkt in Europa ist es dort möglich, Phua zwei Millionen Dollar Kaution hinterlegt und sein 48 Millionen Dollar teures Flugzeug als Sicherheit hinterlassen hatte. Er gab sich einverstanden, unter Hausarrest gestellt zu werden, eine elektronische Fußfessel zu tragen, kein Internet zu benutzen und sich täglich bei den Behörden zu melden. Als Verteidiger hat Phua sich den Staranwalt David Chesnoff aus Las Vegas genommen, der die Unschuld seines Mandanten betont: „Phua ist ein sehr kultivierter Mann, der sich verteidigen will.“ Am Montag kommender Woche ist Phua zu einer Anhörung geladen. Er wird dem Richter auch erklären müssen, warum er für sich und seine Komplizen im Ceasars Palace exklusiv einen Spielsalon angemietet hatte. Zwischen dem 9. Mai und dem 27. Juni waren auf den eigens dafür eingerichteten Kasino-Konten der Gang in sieben Tranchen knapp 21 Millionen Dollar eingegangen. Das Geld kam von Bankkonten der Zocker in China. Die FBI-Ermittler sind überzeugt, dass es sich dabei um „Schwarzgeld aus illegalen Wettgeschäften handelt, das gewaschen werden soll“. Wettpate Phua Technisch aufgerüstet
Rafael Buschmann, Michael Wulzinger DER SPIEGEL 31 / 2014
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Wissenschaft+Technik Länger schlafen in der Steinzeit Unsere Vorfahren waren wohl Langschläfer. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Forschern der Universität Freiburg, die jetzt im Journal of Clinical Sleep Medicine erschienen ist. Drei Frauen und zwei Männer haben acht Wochen lang gelebt wie im Neolithikum: Sie schliefen in einem Pfahlbau auf Betten aus Reisig und Fell. Ihre Nahrung mussten sie auf einem Feld ernten, fließendes Wasser gab es nicht, und vor allem: keinen Strom. Ohne künstliche Beleuchtung, Computer, Handys (und Wecker) gingen die Steinzeit-Laien-
Weltraum
„Dümmer als ein Toaster“ Achim Vollhardt,
38, ist Physiker an der Universität Zürich und Mitglied der deutschen Amateurfunksatelliten-Vereinigung (Amsat-DL). Gemeinsam mit amerikanischen Kollegen hat die Gruppe einen alten Satelliten im All gekapert. SPIEGEL: Sie versuchen derzeit,
eine ausrangierte Nasa-Sonde zu steuern. Wie kam es dazu? Vollhardt: Diesen Sommer kam „ISEE-3“ der Erde wie-
Satellit „ISEE-3“ (Illustration)
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Probanden bei Urzeit-Simulation
spieler rund zwei Stunden früher ins Bett, wachten aber nur geringfügig früher auf. Ihre Schlafzeit erhöhte sich im Schnitt um anderthalb Stunden pro Nacht, von 5,7 Stunden auf 7,2 Stunden. Zwar sind fünf Probanden
der so nah, dass man ihn anfunken konnte. Aber die Nasa entschied, ihn aus Kostengründen ziehen zu lassen. Erst unsere Kollegen in den USA konnten die Agentur überreden, stattdessen uns den Satelliten zu überlassen. SPIEGEL: Wie gelang Ihnen der Kontakt? Vollhardt: Man muss die Sprache der Sonde kennen, in der die Kommandos formuliert werden. Glücklicherweise hatte der damalige Missionsleiter noch eine Menge Dokumente in seinem Keller. SPIEGEL: Was lässt sich von der Sonde nach 36 Jahren im All noch erfahren?
nicht gerade viel, wie die Forscher einräumen; andererseits dürfte es schwerfallen, wesentlich mehr Leute zu rekrutieren, die sich auf eine so umfassende Lebensveränderung einlassen. Doch die Freiburger Ergebnisse bestätigen andere Studien, zum Beispiel ein amerikanisches Experiment, für das Probanden wochenlang in den Rocky Mountains zelteten. Schon lange nehmen Wissenschaftler an, dass die Industrialisierung und künstliches Licht den Schlafrhythmus des Menschen durcheinandergebracht haben. Schlafmangel, mahnen die Freiburger Forscher, ist auf Dauer ungesund. Er könnte Fettleibigkeit und Depressionen begünstigen. lh
Vollhardt: Zugegeben, der Satellit ist dümmer als ein Toaster. Er hat nicht mal einen Bordcomputer. Aber zumindest das Magnetometer an Bord ist noch intakt, mit dem sich das Magnetfeld der Erde messen lässt. Derzeit sind wir aber vor allem damit beschäftigt, den Kurs zu korrigieren. SPIEGEL: Wo soll’s hingehen? Vollhardt: Wir wollen die Anziehungskraft des Mondes ausnutzen, um den Satelliten in eine Erdumlaufbahn zu bringen. Dazu müssen wir den Mond in nur 50 Kilometer Höhe überfliegen. Am Sonntag, dem 10. August, wird es sich entscheiden: Fliegen wir dichter vorbei als geplant oder höher? Oder macht es einfach peng? SPIEGEL: Der Satellit könnte am Mond zerschellen? Vollhardt: Möglich wäre es. Wir müssen exakt planen, wann und für wie lange wir das Treibstoffventil öffnen. Leider haken die Triebwerke. SPIEGEL: Warum überhaupt diese Mühe? Vollhardt: Warum besteigt man einen Berg? Weil er da ist. Im All gibt es viele alte Satelliten, für die kein Geld übrig ist, die aber noch senden. Es wäre schade, wenn wir es uns nicht mehr leisten könnten zuzuhören. lh
Fußnote
64 % von über 600 befragten Wissenschaftlern haben bei der Feldforschung schon einmal sexuelle Belästigung erlebt. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung, die jetzt im Fachjournal Plos One erschienen ist. Teilgenommen hatten vor allem Anthropologen und Archäologen. Frauen waren mit 71 Prozent stärker betroffen als Männer (41 Prozent), auch fühlten sie sich häufiger als Opfer tätlicher Übergriffe (26 Prozent; Männer: 6 Prozent).
FOTOS: REGINA RECHT / VISUM (O.); AFP (U.)
Medizin
Selfies in 3-D Hier hat sich jemand seine eigenen Püppchendoubles erschaffen: 115 Sensoren haben dafür den Körper des Mannes in weniger als einer Viertelstunde von allen Seiten vermessen, ein 3-D-Drucker erzeugte die Kopien – so exakt, dass sogar die Hemdfalten zu erkennen sind. Der Scanner steht in Prag; er gehört der Firma „3D gang“.
Kommentar
Drei Eltern und ein Baby Von Andreas Bernard
FOTO: MICHAL KAMARYT / PICTURE ALLIANCE / DPA
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ie britische Regierung hat vergangene Woche ihre Empfehlung für ein neues reproduktionsmedizinisches Verfahren ausgesprochen. Bei der „Drei-Personen-IVF“, die nach Abstimmung des Parlaments im Herbst erlaubt werden soll, wird der Kern einer gespendeten Eizelle entnommen und durch den Kern der mütterlichen Eizelle ersetzt. „IVF“ steht für „In-vitro-Fertilisation“, so heißt die Befruchtung im Labor. Dieser Austausch kann vor oder nach der Befruchtung mit dem Spermium des Vaters geschehen. Von dem Eingriff profitieren Paare, die aufgrund von Schädigungen in den Mitochondrien der mütterlichen Eizelle bislang das Risiko eingingen, schwerstbehinderte Kinder zu zeugen. Die Mitochondrien – nicht Teil des Zellkerns, aber Träger eines Erbguts von 37 Genen – werden von der gesunden Spenderin bereitgestellt und schalten damit das Risiko einer Krankheitsübertragung durch die Mutter aus. Die „Drei-Personen-IVF“ könnte in Großbritannien fortan rund hundert Paaren pro Jahr
ein tragisches Schicksal ersparen. Erkauft wird diese Vorsorge aber mit einem scharfen Eingriff in die Entstehung von Leben. Denn die unbefruchteten oder bereits befruchteten Eizellen der Spenderin sind in diesem Verfahren nichts als ausschlachtbare Ersatzteillager; sie werden, trotz ihrer genetischen Restinformation, als bloße Hülle für den neuen Kern menschlichen Lebens genutzt. Zudem würde es zu einer Manipulation der Keimbahn kommen. Unliebsames Erbgut wird mithilfe der Mitochondrien Dritter ausgemerzt – der eugenische Traum vom perfektionierten Menschen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird wahr. Nur dass heute kein totalitärer Staat mehr notwendig ist, um diese Eingriffe zu veranlassen. Sie geschehen in aller Freiwilligkeit, im Namen von Sicherheit und Gesundheit. Bernard, 44, ist Kulturwissenschaftler an der Leuphana Universität in Lüneburg und Autor des Buches „Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie“.
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Giraffenverfütterung im Zoo Kopenhagen
„Raubtiere brauchen Fleisch“ SPIEGEL-Streitgespräch Der Philosoph Jörg Luy und der ehemalige Zoodirektor Gunther Nogge reden über das schlechte Gewissen beim Zoobesuch, Tierparks als Archen für bedrohte Arten sowie ein Verbot, Menschenaffen und Delfine in Gefangenschaft zu halten.
Delfinarium in Nürnberg
FOTOS: PEDERSEN RASMUS FLINDT / AP / DPA (L.O.); DANIEL KARMANN / PICTURE ALLIANCE / DPA (L.U.); S. 95: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL (2)
Wissenschaft
SPIEGEL: Herr Nogge, in Ihren ersten Jahren als Zoodirektor in Köln wären Sie beinahe von einem Schimpansen namens Petermann getötet worden. Was denken Sie heute über diesen Unfall? Nogge: Ich habe den Petermann damals verstanden und verstehe ihn bis heute. Er hat nur getan, was Schimpansen nun einmal tun. Menschenaffen kennen die Menschen, die sie täglich sehen, und ordnen sie in ihre Vorstellung von Rangfolge ein. Als Zoodirektor rangiert man da sehr weit oben. Damals hatte ein Tierpfleger versehentlich die Gehegetür aufgelassen … SPIEGEL: Und was geschah dann? Nogge: Petermann und das mit ihm verbandelte Weibchen Susi sahen mich. Sofort ergriffen sie die Gelegenheit, mir meinen Rang streitig zu machen. Die Affen stürzten sich auf mich und bissen zu. So ein Angriff ist heftig, weil uns Schimpansen kräftemäßig weit überlegen sind. Als sie von mir abließen, konnte sie ein vertrauter Tierpfleger, der als gleichrangig angesehen wurde, wegführen. SPIEGEL: Petermann und Susi wurden später erschossen. Nogge: Ja, auf der Flucht. Die beiden hatten sich wieder losgerissen, und meine Mitarbeiter haben sie leider nicht mehr lebend zu fassen gekriegt. Ich war nicht mehr einsatzfähig, lag blutüberströmt da. Im Krankenhaus haben mich die Ärzte in einer acht Stunden dauernden Operation wieder zusammengeflickt. SPIEGEL: Herr Luy, was denken Sie, wenn Sie so eine Geschichte hören? Luy: Der Zoo hat korrekt und, wie ich denke, ethisch angemessen gehandelt. Ein frei umherlaufender Schimpanse stellt eine Gefahr dar. Allerdings finde ich es schwierig, überhaupt Menschenaffen zu halten. SPIEGEL: Was spricht dagegen? Luy: Zwischen Schimpansen und Menschen besteht in Bezug auf die Psyche kein kategorialer Unterschied. Die Tiere sind kognitiv so hoch entwickelt, dass eine artgemäße, ethisch unproblematische Zoohaltung kaum realisierbar wäre. Nogge: Aber die Haltung von Menschenaffen hat sich während der letzten Jahrzehnte doch enorm verbessert. Es gibt inzwischen großartige Gorillagehege wie zum Beispiel das im Affenzoo Apeldoorn in den Niederlanden. Dort geht es den Gorillas sicher besser als in Afrika, wo sie gejagt werden und ihr Lebensraum immer weiter eingeengt wird. SPIEGEL: Was fasziniert den Menschen daran, in einen Zoo zu gehen? Nogge: Es entspricht einem menschlichen Urbedürfnis, Tieren zu begegnen. Deswegen umgeben wir uns mit Hunden oder Katzen, die wir ja nicht essen oder sonst Das Gespräch moderierten die Redakteure Philip Bethge und Simone Salden.
nutzen, sondern die uns nur Freude machen. Aus dem gleichen Grund gehen mehr als 60 Millionen Besucher jedes Jahr in Zoos und Wildparks. Luy: Ich denke, Bewunderung spielt eine große Rolle. Wir bewundern Tiere für ihre Eigenschaften, die wir nicht besitzen, insbesondere wenn wir sie bei uns selbst vermissen. In vielen Kulturen hat man sich das Fell des Tieres, die Federn oder die Krallen umgehängt und gehofft, damit eigene Defizite kompensieren zu können. Andererseits haben wir auch ein perfides Bedürfnis, unsere eigene Überlegenheit zu spüren und uns als das rationalere Wesen zu fühlen. SPIEGEL: Viele Zoogänger haben dennoch ein schlechtes Gewissen. Warum tun wir uns so schwer damit, Tiere einzusperren? Luy: Unser Gerechtigkeitsempfinden ist an spontan entstehendes Mitgefühl gekoppelt. Sehen wir, wie im Zoo, von Menschen verursachtes oder in Kauf genommenes Leiden, ist das für uns schwer zu ertragen. Da gelten für manche Arten sogar fast die gleichen Maßstäbe wie für Menschen. Allerdings werden die Tiere in der ganzen Zoodebatte nicht differenziert genug betrachtet. Die einen finden Zoos gut, die anderen fordern ihre Abschaffung. Das ist die falsche Alternative. Wir müssen uns vielmehr fragen: Welche Aufgaben hat ein Zoo, und welche Tiere lassen sich dort ethisch korrekt halten? SPIEGEL: Sie haben sich sehr kritisch über den rechtlichen Rahmen von Tierhaltung geäußert: „Ginge es hier um die Lebensund Arbeitsbedingungen von Menschen, würde man wohl von ,Sklaverei‘ reden.“ Gilt das ohne Ausnahme? Luy: Bei freiwillig im Zoo siedelnden Tierarten sehe ich keine Probleme. Nehmen Sie etwa die Sittiche, die im Rheintal wild in den Zoos leben. Bei diesen Tieren ist klar: Wenn es ihnen im Zoo nicht mehr gefällt, sind sie weg. Von der ethischen Seite her ist das ideal. Eine zweite Gruppe sind Tiere, bei denen es weder tierärztliche noch ethologische Anzeichen für ein eingeschränktes Wohlbefinden in Gefangenschaft gibt. Dann gibt es aber auf der anderen Seite eingesperrte Tiere, die im Zoo Verhaltensstörungen zeigen, die apathisch
Gunther Nogge, 72, ist Zoologe und leitete 25 Jahre lang den Kölner Zoo. Der Tierarzt und Philosoph Jörg Luy, 47, war bis September 2013 Chef des Instituts für Tierschutz und Tierverhalten an der FU Berlin und berät heute Politik und Wirtschaft in Fragen der Tierethik.
sind oder Fortpflanzungsschwierigkeiten haben. Für deren Haltung im Zoo braucht es eine besondere Rechtfertigung. SPIEGEL: Wie rechtfertigen Sie die Haltung von Zootieren, Herr Nogge? Nogge: Zoos dienen der Bildung und Erholung, der Forschung und dem Artenschutz. Zoos schaffen ein Bewusstsein für Naturund Artenschutz. Wenn dies gelingt, ist auch die Tierhaltung gerechtfertigt. Luy: Das überzeugt mich nicht. Die Erholung des Menschen rechtfertigt kein Tierleid. Und schließlich gibt es heute viel bessere Bildungsangebote, etwa sensationell gemachte Tierfilme, aber auch zoologische Museen wie das Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn mit großartigen Tierpräparaten in naturgemäß nachempfundener Umgebung. Nogge: Natürlich sollen Tiere im Zoo nicht leiden. Aber es macht doch einen Riesenunterschied, ob Sie einen Tierfilm sehen oder hautnah eine zwölfköpfige Gorillagruppe erleben, die auf der Wiese nach Nahrung sucht. Die persönliche Begegnung erlaubt ein unvergleichbares Erlebnis. SPIEGEL: Würden Sie denn die Haltung von Tieren im Zoo für richtig halten, wenn dies hilft, vom Aussterben bedrohte Arten zu schützen, Herr Luy? Luy: Zoos werben ja gern damit, als Archen für bedrohte Arten zu dienen. In der Tat wäre das eine ethisch akzeptable Begründung. Die Frage ist nur, auf wie viele Zootiere das wirklich zutrifft. Nogge: Bei einer Reihe von Artenschutzprojekten sind wir doch sehr erfolgreich. Nur weil wir in Köln und in anderen Zoos unsere Nachzuchten zur Verfügung gestellt haben, lebt heute das Przewalski-Pferd wieder in der Mongolei und die Weiße Oryx-Antilope in Arabien. Wenn es uns nicht gelungen wäre, im Laufe der letzten 30 Jahre durch Zucht wieder sich selbst erhaltende Populationen vieler bedrohter Arten aufzubauen, wären diese Tiere für immer vom Planeten verschwunden. Für viele Arten existieren in den Zoos heute Reservepopulationen, die für Wiederauswilderungsprojekte zur Verfügung stehen. Luy: Das stimmt. Andererseits gibt es immer noch viel zu viele Tiere in den Zoos, die gar nicht vom Aussterben bedroht sind und nur gehalten werden, weil sie vermeintlich Zuschauer anlocken. Der gemeine Löwe beispielsweise gehört einfach nicht in den Zoo. Mein Anspruch wäre, dass sich Zoos auf Tierarten beschränken, die wirklich bedroht oder ethisch unproblematisch zu halten sind. SPIEGEL: Das Bundeslandwirtschaftsministerium hat Anfang Mai ein neues Gutachten über die Mindestanforderungen bei der Haltung von Säugetieren vorgelegt. Geht das in die richtige Richtung? Luy: Der Geburtsfehler dieses Gutachtens besteht darin, dass es eben nicht diskutiert, DER SPIEGEL 31 / 2014
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Wissenschaft Haltungen in Deutschland*
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Löwen
Elefanten
Schimpansen
*Zahl der Einrichtungen inkl. Wild-, Safari- oder Freitzeitparks und Aquarien; Quelle: Zootierliste
mit welcher Begründung die Tiere im Zoo Im Frühjahr hat ja schon das Töten einer gehalten werden dürfen, sondern nur, wie Giraffe im Zoo in Kopenhagen große Proteste hierzulande ausgelöst. die Tiere gehalten werden sollen. Nogge: Ich hielte es aber auch für falsch, SPIEGEL: Warum war die Empörung über wenn der Staat den Zoos vorschreiben die Giraffenschlachtung so groß? würde, welche Tiere sie halten dürfen und Nogge: Ich glaube, weil die Giraffe persowelche nicht. nifiziert war, einen Namen hatte. Das Luy: Vorschreiben vielleicht nicht. Aber macht einen großen Unterschied. Wenn das Tierschutzgesetz legt fest, dass wir das Sie eine Impala-Gruppe mit 30 Antilopen in jedem Einzelfall rechtfertigen müssen. haben und da werden am Ende der Saison Ich wünsche mir bei der Zootierhaltung 5 geschlachtet, nimmt niemand Notiz daeine ähnliche Abwägung wie bei Tierver- von. Bei der Giraffe Marius war das anders. suchen. Für Tiere, die ich nur halte, weil Der Tierarzt im weißen Kittel hat ihn seich glaube, dass sie mir viele Besucher brin- ziert und den Besuchern gezeigt, warum gen, gelten andere Maßstäbe als für Tiere, das Herz so groß sein muss und dergleidie wirklich vom Aussterben bedroht sind. chen mehr. Hierzulande gab es einen AufSPIEGEL: Welche Tiere würden Sie in Zoos schrei. Aber bezeichnenderweise wurde der Zoodirektor in Dänemark gerade zum verbieten? Luy: Grundsätzlich keine. Aber bei Men- „Kopenhagener des Jahres“ gewählt. schenaffen und Delfinen beispielsweise SPIEGEL: Welche Tiere dürfen im Zoo getökann ich die aktuelle Haltung aus ethischer tet werden, Herr Luy? Sicht nicht gutheißen. Die Zoos sind bis- Luy: Das hängt sehr von den Umständen lang den Beweis schuldig geblieben, dass ab. Mich hat der Fall Marius weit weniger diese Tiere sich bei ihnen wohlfühlen. beschäftigt als die Tötung von Löwen weNogge: In Lagunen, wie es sie seit wenigen nige Wochen später … Jahren zum Beispiel in Nürnberg gibt, geht SPIEGEL: … der Kopenhagener Zoo schläes den Delfinen gut. Das sind ja nicht mehr ferte Löwen ein, weil sie der Bildung eines trostlose Becken in irgendeiner Halle; viel- neuen Rudels im Wege standen. mehr handelt es sich um eine strukturierte Luy: Ja, es wurden zwei Alttiere und daLandschaft mit Flachwasserzonen, Inseln rüber hinaus auch noch zwei zehn Monate und tiefen Becken. Die Tiere pflanzen sich alte Jungtiere getötet. Das war nicht gefort, sodass der Import von Wildfängen rechtfertigt. Die Jungtiere hätte es nämlich nicht mehr nötig ist. gar nicht erst geben müssen. Der ZooLuy: Aus Menschensicht ist das ganz nett, direktor hat die Tiere instrumentalisiert. aber sehen das die Tiere auch so? Wir Erst hat er sie zur Welt kommen lassen, wissen es nicht. Für manche Spezies sind dann als Publikumsmagnet genutzt – und Zoogehege immer zu klein. In solchen schließlich entsorgt. Das ist etwas, was die Tiergruppen ergeben sich fast automatisch Leute nicht mögen und das Gerechtigkeitssoziale Spannungen. Rangniedere Tiere empfinden verletzt. haben in Gehegen gar keine Chance, SPIEGEL: Im Magdeburger Zoo wurden 2008 irgendwohin auszuweichen. Außerdem drei Tiger mit der Begründung getötet, sind gerade kognitiv anspruchsvolle Tiere sie seien nicht reinerbig und deshalb nicht schnell unterfordert. für das Europäische ErhaltungszuchtproSPIEGEL: Es gibt Experten, die als artgerech- gramm verwendbar. Vier Zoomitarbeiter tes Beschäftigungsprogramm empfehlen, den Tieren die ungehinderte Fortpflanzung zu erlauben. Nogge: Ganz so einfach ist das nicht. Eine Löwin zum Beispiel zieht in der Natur in ihrem Leben zwei Junge groß; damit bleibt die Population im Wesentlichen stabil. Im Zoo dagegen kann die Löwin, wenn man sie lässt, 30 bis 40 Nachkommen haben. Populationsbegrenzende Selektionsfaktoren wie Krankheit, Nahrungsmangel, Infantizid, Beutegreifer gibt es im Zoo nicht. Also müssen wir diese ersetzen, denn was Przewalski-Pferde in der Mongolei sollen wir mit den ganzen Löwen machen? 96
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sind wegen des Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz verurteilt worden, das ein Töten von Wirbeltieren „ohne vernünftigen Grund“ verbietet. Nogge: Ich finde das Urteil bedenklich. Denn daraus folgt, dass Artenschutz kein vernünftiger Grund ist, Tiere zu töten. Wenn wir aber eine stark gefährdete Unterart wie den Sibirischen Tiger bewahren wollen, sollte der beschränkte Platz im Zoo denjenigen Tieren vorbehalten sein, die für die Zucht infrage kommen. SPIEGEL: Herr Luy, kann Artenschutz es rechtfertigen, Tiere zu töten? Luy: Durchaus. Beim Magdeburger Tigerurteil lag der Fall aber ein wenig anders. Das Gericht hat nicht bemängelt, dass die Tiere überhaupt getötet, sondern dass sie zu früh getötet wurden. Offenbar wäre es möglich gewesen, die Tiger noch eine ganze Weile im Zoo unterzubringen. Akute Platznot gab es nicht. Wären die Tiere am Leben geblieben, hätten sich später noch Alternativen zur Tötung ergeben können. SPIEGEL: Herr Nogge, was geschieht normalerweise mit Tieren, die ein Zoo nicht mehr benötigt? Werden sie verfüttert wie die Giraffe in Kopenhagen? Nogge: Eine Giraffe habe ich selber noch nicht verfüttert, aber bei anderen überzähligen Huftieren ist das gang und gäbe. Und das ist auch legitim. Raubtiere brauchen Fleisch, daran müssen wir erboste Zoobesucher immer wieder erinnern. Und die gleichen Leute essen dann abends Schweinekotelett aus der Massentierhaltung. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Luy: Wir hatten in Berlin den Fall der Halsbandpekaris, die Wildschweinen ähneln. Sie sollten geschlachtet und verfüttert werden, weil sich für sie kein Platz mehr fand. Doch die Besucher, Tierschutzorganisationen und Medien machten einen Riesenaufstand. Dabei ist es doch nur logisch, dass Zoos, die Beutegreifer halten, eine bestimmte Menge Fleisch monatlich brauchen. Und mir ist es allemal lieber, wenn diese Pekaris, von denen ich weiß, dass sie – ganz anders als Schweine aus der Mastanlage – im Zoo ein für sie herrliches Leben hatten, an Löwen verfüttert werden. SPIEGEL: Warum machen die Leute den Unterschied zwischen Schweinen im Schlachthof und Schweinen im Zoo? Luy: Ich befürchte, es findet eine Tabuisierung statt. Die Leute denken das einfach nicht zu Ende. Sie sagen: „Augenblick, das kann doch nicht sein, der Zoo ist doch der Tierfreund, da kann er doch nicht einfach die Tiere töten.“ Zoos haben ja ausprobiert, wie Besucher reagieren, wenn plötzlich ein geschlachtetes Gnu im Raubtiergehege liegt. Das geht nur gut aus, wenn sie die Leute rechtzeitig informieren und aufklären. SPIEGEL: Herr Nogge, Herr Luy, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
FOTO: FRANS LANTING
Die Stars der Zoos
Historischer Basar in Aleppo 2007 und 2013, Innenhof der Umajjaden-Moschee Aleppos 2009 und 2013: Von Bomben pulverisiert
Die Hüter des Schatzes Archäologie Der Krieg in Syrien ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe, die Kämpfe zerstören auch das Kulturerbe des Landes. Forscher versuchen jetzt zu retten, was zu retten ist.
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heikhmous Ali schiebt eine Schachtel mit Kugelschreibern quer über den Tisch. Sein Freund Ahmad zieht sie zu sich heran, stutzt, dann lacht er laut. Der beleibte Syrer steckt sich einen der Stifte an die Brusttasche seines blauen Shirts. „Und du meinst, das funktioniert?“, fragt Ahmad. Ali, ein zierlicher Mann mit Brille, nickt. „Und ob“, sagt er. Der Archäologe ist stolz auf das, was er sich da ausgedacht hat: In den Kugelschreibern stecken Mini-Digitalkameras. „Die Qualität ist nicht super“, sagt Ali. „Aber für unsere Zwecke okay.“ 98
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Die beiden Syrer sitzen an diesem heißen Sommertag auf der Restaurantterrasse im ersten Stock eines Einkaufszentrums in der südtürkischen Stadt Gaziantep. Unter ihnen ist eine Media-Markt-Filiale, neben ihnen eine vierspurige Hauptstraße und 60 Kilometer weiter der syrische Bürgerkrieg. In wenigen Tagen wird Ahmad, ausgerüstet mit seinem James-Bond-Kugelschreiber-Set, in Richtung Idlib im Nordwesten Syriens fahren. „Eine normale Kamera wäre zu riskant“, erklärt Ali, der die FotoKugelschreiber vor ein paar Tagen in ei-
nem Elektromarkt im französischen Straßburg besorgt hat, seinem Exil. Wer in Syrien filmt oder fotografiert, erweckt Misstrauen – sowohl bei den Soldaten der Regierungsarmee als auch bei den Rebellen. Ahmads Mission ist lebensgefährlich. Er könnte als vermeintlicher Spion entführt, gefoltert oder erschossen werden. Trotzdem wird er für Ali dokumentieren, was in Syrien gerade geschieht: mit den altehrwürdigen Moscheen, den Kreuzfahrerburgen und den Museen, in denen Kunstschätze aus der vorchristlichen Ge-
FOTOS: LYNSEY ADDARIO / VII / CORBIS (O.L.); SCA BORRI (O.R.); OLIVER GERHARD / IMAGEBROKER / OKAPIA (U.L.); MOLHEM BARAKAT / REUTERS (U.R.)
Wissenschaft
schichte, den Zeiten der Byzantiner und der Römer liegen. Auch die Schmuggler will er filmen. Ali, 35, ist nicht vom Schlage eines Indiana Jones. Er ist auf Leute wie Ahmad angewiesen, die Informationen für ihn heranschaffen. Nur so kann er Rettungspläne für antike Stätten, Museen und Moscheen entwerfen und ein Archiv anlegen, um Restaurierungsarbeiten zu erleichtern für die Zeit nach dem Krieg. Association for the protection of Syrian Archaeology (Apsa) heißt die Organisation, die Ali nach Ausbruch des Krieges gegründet hat und zu der mittlerweile zwei Dutzend Forscher und Journalisten wie Ahmad gehören. Einige von ihnen leben noch immer in Syrien, andere in Frankreich, manche pendeln zwischen der Türkei und Syrien. Dreh- und Angelpunkt für sie alle ist Gaziantep. Je mehr historische Stätten von Bomben pulverisiert werden, je mehr Mosaiken von den Wänden bröckeln, desto mehr verblasst die Geschichte und Identität Syriens. „Wir verkraften nicht auch noch das“, sagt Ali, der Syrien schon 2003 verließ, um seine Doktorarbeit über Architekturdarstellungen in der Steinschneidekunst im Vorderen Orient der Antike an der Université de Strasbourg zu schreiben. Seit 2011, als der Aufstand gegen Machthaber Baschar al-Assad ausbrach, wagt sich Ali nicht mehr in sein Land. Mehr als 160 000 Menschen sind in den vergangenen drei Jahren im Bürgerkrieg gestorben. Städte wie Homs und Aleppo haben sich in apokalyptische Landschaften verwandelt. Und während fast drei Millionen Menschen in libanesischen, türkischen oder jordanischen Flüchtlingslagern auf ein besseres Leben warten, zerfallen ihre Heimatstädte und -dörfer bis zur Unkenntlichkeit – ein Verlust nicht nur für das syrische Volk, sondern auch für Archäologen und Historiker weltweit. Die Gegend gilt als die Wiege der Zivilisation. In Tell Brak und Uruk fanden Wissenschaftler Überreste der ältesten Siedlungen der Menschheitsgeschichte. Die Spuren reichen bis ins 8. vorchristliche Jahrtausend zurück. Wie gut diese Funde, Juwelen der Forschung, noch erhalten sind, ist in vielen Regionen unklar. Die Unesco hat mittlerweile alle sechs Weltkulturerbestätten Syriens als gefährdet eingestuft, darunter die Kreuzfahrerburg Krak des Chevaliers aus dem 12. Jahrhundert, die antike Oasenstadt Palmyra und die Innenstadt Aleppos. Am Tag des Treffens mit Ahmad bahnt sich Cheikhmous Ali seinen Weg durch das Basargewimmel Gazianteps. Seinen Rucksack hat er wie ein Schuljunge geschultert. Kupferpfannen und Töpfe stapeln sich vor den Ladeneingängen. Män-
nerstimmen vermischen sich mit Kindergeschrei und dem Klopfen von Schmiedehämmern auf Metall. „Gegen Aleppo ist das hier nichts“, sagt Ali. „Der Basar dort war Jahrhunderte älter, schöner, und er war wichtiger.“ Von dem historischen Souk in Aleppo ist nur noch Schutt geblieben. Die Marktgeschäfte mit ihren schmucken Holztüren sind 2012 in Flammen aufgegangen, als sich die Regierungsarmee eine Schlacht mit den Rebellen lieferte. Auch vor dem steinernen Dachgewölbe des Basars hat die Zerstörungswut des Krieges nicht haltgemacht. Aleppo gehört noch immer zu den umkämpften Städten. „Mein Sohn wird nie die Chance haben, Syrien so zu sehen, wie ich es gesehen habe“, sagt Ali. Er ist mit einer Französin verheiratet; sein Kind ist erst ein paar Monate alt.
Stätten des Weltkulturerbes, die von Zerstörung und Plünderung bedroht sind Mardin Gaziantep
TÜRKEI
Urfa Tell Brak
Tote Städte Aleppo
Mittelmeer
Idlib
SYRIEN
Krak des Chevaliers
Homs Palmyra
LIBANON Damaskus
IRAK 100 km
Bosra
JORDANIEN Aufgewachsen ist Ali in einem kleinen syrischen Ort etwa 40 Kilometer von der Türkei entfernt. Vor zwei Jahren ist er, so nahe es ging, an die syrische Grenze herangefahren. „Ich habe von da aus sogar die Lichter meiner Stadt gesehen“, erzählt der Archäologe. Damals habe er geweint. Nach Hause gegangen ist er trotzdem nicht. „Zu gefährlich“, sagt er. Dutzende Ausgrabungsorte liegen derzeit verlassen und ungeschützt in der Sonne der nördlichen Levante. Tell Brak zum Beispiel. Ein 40 Meter hoher und einen Kilometer langer Hügel, nicht weit von Alis Heimatdorf. Vor 6000 Jahren haben sich dort erstmals Menschen niedergelassen. Tell Brak war eine der ersten Städte der Welt. „Ich bin mit so viel beeindruckender Geschichte vor der Haustür aufgewachsen“, sagt Ali. „Ich hätte gar nicht anders gekonnt, als Archäologe zu werden.“ In Tell Brak arbeitete bis zum Ausbruch der Kämpfe ein britisches Archäologen-
team. Nach Angaben der syrischen Antikenbehörde ist das Camp längst ausgeraubt, das Werkzeug und die Keramiken, die dort lagerten, fielen Plünderern in die Hände. Wo einst Wissenschaftler mit Pinseln Scherben und Münzen vom Staub der Jahrtausende befreiten, sind nun Leute mit grobem Gerät und großer Gier unterwegs. Entdeckt hat die Überreste der antiken Siedlung der Archäologe Max Mallowan. Er leitete ab 1937 die ersten Ausgrabungen, seine Frau, die Krimiautorin Agatha Christie, half ihm dabei. Sie säuberte die Fundstücke und fotografierte sie. Das Ehepaar entdeckte auch die berühmten Augenidole in den Fundamenten eines Tempels. Sie sollen mehr als 5000 Jahre alt sein. Lange waren die Skulpturen ein Highlight im Nationalmuseum von Aleppo. Wie viele der drolligen Alabasterfiguren mit ihrem trapezförmigen Körper und den überdimensionierten Augen noch dort sind, ist unklar. Der internationale Museenrat hat sie deshalb auf die Rote Liste der bedrohten Kulturobjekte Syriens gesetzt. Genauso wie Relieffiguren aus Palmyra, eine Bronzelampe aus der Region um Damaskus oder Goldschmuck aus Aleppo. Die Museumsexperten hoffen, dass Polizeipatrouillen in der Türkei, in Jordanien oder im Libanon über diese Rote Liste eine Vorstellung davon bekommen, was Schmuggler derzeit über die Grenzen schleppen. Vieles von dem, was Flüchtlinge und Schwarzhändler versuchen, zu Geld zu machen, landet bei Händlern in Gaziantep, Urfa oder Mardin, die es wiederum nach Europa oder in die USA verkaufen. „Die Motivation der Schmuggler ist ganz unterschiedlich“, sagt Ali. Manche machten es aus Not, um überhaupt Geld für Essen zu haben, andere aus reiner Habsucht. Viele der Erlöse – manche der Antiken sind Hunderttausende Euro wert – fließen direkt in den Kauf von Waffen und Munition. Beständig füllt die Islamistenmiliz IS ihre Kriegskasse durch den Handel mit Antiquitäten. Schmuggelgut, das die türkische Polizei aufgreift, landet meistens in gesicherten Depots. Erst wenn der Bürgerkrieg vorbei ist, will die türkische Regierung die Antiken zurück nach Syrien schicken. Die Türken kooperieren eng mit der syrischen Opposition, also den Gegnern Assads. Die Oppositionellen haben ihren ExilRegierungssitz in einem weißgetünchten Wohnhaus in Gaziantep eingerichtet. Ali ist dort häufig zu Besuch, um sich im zweiten Stock mit dem Kulturminister zu besprechen. Etwa wenn es darum geht, ob es sich bei Schmuggelgut um authentische Objekte handelt oder um Fälschungen. Anfang des Jahres hat die türkische Polizei wieder einmal eine ganze Ladung DER SPIEGEL 31 / 2014
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syrischer Kulturobjekte konfisziert. Ein Innenstadt Aleppos für seine Organisation sonsten wird von Syrien nichts mehr übrig sein“, sagt er. „Wer sind wir dann noch?“ Schmuggler hatte in der Nähe Mardins ver- unterwegs war. Während er erzählt, schiebt er das kinnWard Furati, 26, und sein Kumpel haben sucht, mit dem Auto mehr als 300 Siegel und Schmuckstücke über die Grenze zu alle bisherigen Aktionen ihrer Gruppe un- lange Haar mit seiner schwarz umrandeten bringen. Das Diebesgut lagert nun im Mu- verletzt überstanden. Bevor sie mit Ali Brille zurück. Er trägt Jeans und ein Hemd, seum in Mardin – zum Ärger des Assad- über weitere Einsätze sprechen wollen, be- manchmal checkt er nebenbei auf dem Regimes, das die Rückgabe aller Artefakte stellen sie sich Kaffee und einen American Smartphone seinen Facebook-. Furati hat einmal Architektur an der Cheesecake. Wie die beiden da so sitzen, fordert. Archäologie in Syrien hat dieser Tage sehen sie wie Studenten aus, die Pause Universität von Aleppo studiert. Als er zwischen zwei Vorlesungen machen. während des Arabischen Frühlings gegen immer auch mit Politik zu tun. Länder wie der Libanon halten sich an „Wenn ich mit einem Sandsack auf dem Assad demonstrierte, landete er im Gedie Forderungen der Assad-Leute. Im ver- Rücken über einen Platz renne, obwohl fängnis; das war 2011. Nach seiner Freigangenen Sommer etwa übergab das da Scharfschützen stehen“, sagt Furati, lassung war von Aleppo nicht mehr viel libanesische Direktorat für Antiquitäten „frage ich mich schon manchmal selber: übrig – und auch von seiner Uni nicht. Seitdem verbringt er seine Zeit wochenden syrischen Behörden 18 Mosaiken, die Bist du dumm oder was?“ Und dann mache er trotzdem weiter, weise bei Bekannten in Gaziantep oder in der Zoll bei einer Routinekontrolle entdeckt hatte. Die Beamten hatten einen Sandsack für Sandsack, bis die alte Son- Aleppo. Viele Wohnhä stehen leer. Reisebus gestoppt, in dessen Gepäckfach nenuhr vor Schüssen geschützt ist. „An- „Man findet leicht einen Schlafplatz“, sagt Furati. Diesen Namen hat er zusammengerollte Stoffbahnen sich selbst nach dem Arabilagen – darin mehr oder wenischen Frühling gegeben. Klarger gut erhaltene Kunstwerke. namen benutzt keiner der AkNach Einschätzung von Expertivisten mehr. ten stammen sie aus NordGemeinsam mit seinen Mitsyrien und bilden unter andestreitern hat Furati den Minbar, rem Szenen aus Homers „Odyssee“ ab. also die Kanzel, der UmajjadenDer libanesischen TageszeiMoschee abgebaut und „an eitung al-Akhbar zufolge sind die nen sicheren Ort“ gebracht. Sie Diebe professionell vorgeganretteten Bücher aus der alten gen: Zunächst bedeckten sie Bibliothek eines belgischen die Mosaiken im Fußboden mit Diplomaten und vermauerten speziellen Stoffbahnen, deren eine hölzerne Nische mit Koranlinke Seite eine ähnliche Beversen aus dem 13. Jahrhunschaffenheit hat wie klebrige dert, um sie vor EinschussFliegenfänger, die in Kuhställen löchern zu bewahren. von der Decke hängen. Dann Fast zwei Stunden lang diskuhaben sie auf die Steinchen getieren Ali und Furati, wie eine hämmert, bis diese sich aus ihZusammenarbeit der beiden Orrem uralten Kitt lösten und an ganisationen aussehen könnte. dem Material haften blieben. Als Gemeinschaftsprojekt wolDie Teilchen, die nicht am len sie dokumentieren, wie es Stück zu lösen waren, haben etwa um die „Toten Städte“ im die Schmuggler zusammengenordsyrischen Kalksteinmassiv kratzt und dazugeworfen. bestellt ist. Es sind Hunderte „Das Schlimme ist also nicht Ruinen. „Wenn wir darüber einur, dass diese Kriminellen die nen guten Überblick haben, Werke klauen, sie machen sie Augenidole aus dem Nationalmuseum Aleppo: Mehr als 5000 Jahre alt können wir die nächsten Schritauch noch kaputt“, schimpft te machen“, sagt Ali. SchutzvorAli. Und manchmal verfälschrichtungen bauen zum Beiten sie die Mosaiken zu allem spiel – oder irgendwann sogar Übel noch, indem sie fehlende einige der Stätten restaurieren. Steine durch neue ersetzten. Ali schreibt Zahlen in sein Der Archäologe wartet vor Notizbuch, auch Furati rechnet. dem Starbucks in Gaziantep Um das Projekt zu starten, auf zwei Kontaktmänner aus brauchten sie 180 000 Euro, Aleppo, die mit ihm kooperieschätzt der Archäologe. Sie ren wollen. Die beiden gehören müssten die Aktivisten bezaheiner ähnlichen Gruppe wie len, benötigten Fahrzeuge und Alis Apsa an. Allerdings verMaterial. „Dann könnten wir halten deren Mitglieder, zehn wirklich etwas bewegen“, sagt an der Zahl, sich bei ihren Misder Wissenschaftler. Besonders sionen weniger vorsichtig als optimistisch wirkt er nicht. die Apsa-Leute. „Die Jungs geAli weiß, wie schwer es ist, hen wirklich in den KugelGeld für solche Zwecke zu samhagel“, erzählt Ali. Einer von meln. Wer interessiert sich ihnen sei im vergangenen Jahr schon für alte Steine, wenn Menumgekommen, als er in der schen sterben? Archäologe Ali in Gaziantep: Nicht vom Schlage eines Indiana Jones Katrin Elger 100
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FOTOS: AKG / DE AGOSTINI PICTURE LIBRARY (O.); MATHIAS DEPARDON / DER SPIEGEL (U.)
Wissenschaft
Alle gleich eklig Sucht In Australien dürfen Zigaretten nur in abstoßenden Einheitspackungen verkauft werden. Weil das wirkt, findet die Idee jetzt Nachahmer in Europa.
FOTO: CAMERON SPENCER / GETTY IMAGES
A
lle drei Jahre erforscht Australiens Regierung des Volkes dunklere Seiten. Dann bekommen Zehntausende Bürger Fragebogen nach Hause geschickt, auf denen sie sich anonym, frank und frei zu ihren Sünden bekennen können: wie oft sie Kokain schniefen, ob sie Ecstasy schlucken, wie viel sie wirklich rauchen und trinken. Jetzt hat Australien die Ergebnisse der Drogenbeichte von 2013 veröffentlicht – und manche davon sind so sensationell, dass sie weltweit Folgen haben könnten. Der Anteil der regelmäßigen Raucher an der Bevölkerung ist zuletzt so stark gesunken wie seit 20 Jahren nicht, von 15,1 Prozent im Jahr 2010 auf nunmehr noch 12,8 Prozent – aus Sicht der Tabakkontrolleure ein sehr beachtlicher Erfolg. Der Rückgang ist bemerkenswert, denn Australien ist seit Ende 2012 Schauplatz eines gewagten Experiments. Seither dürfen dort Zigaretten nur in Einheitsverpackungen verkauft werden. Ob Marlboro oder Camel, die Schachtel sieht immer gleich aus und immer unappetitlich: schlammschwarz, der Markenname in schlichter Standardschrift. Ins Auge springen nur wechselnde Schockbilder, hier ein Zungenkarzinom, da „Bryan, 34“, eine Schreckensgestalt kurz vor dem Krebstod. Die Einheitspackung scheint zu wirken. Von den jungen Australiern zwischen 18 und 24, der wichtigsten Zielgruppe der Tabakkonzerne, haben mehr als drei Viertel noch nie geraucht, ein Rekord. Die Jugendlichen, die es doch tun, sind bei der ersten Kippe immerhin fast 16 Jahre alt und damit älter als zuvor – 1995 lag das Einstiegsalter der Teenager noch bei 14 Jahren. Die verbliebenen Raucher konsumieren jetzt weniger Zigaretten, was teils an den abstoßenden Packungen liegen mag, teils aber auch daran, dass eine Schachtel Marlboro umgerechnet 14 Euro kostet. Bisher hatten die Tabakkonzerne stets behauptet, dass Einheitsschachteln keine Auswirkung hätten auf ihre Kunden und die Maßnahme daher überzogen sei. Doch das Gegenteil ist der Fall. Forscher der australischen University of Newcastle haben Raucher vor und nach
Tabakregal in Australien: Keine ist eleganter, keine cooler, keine interessanter
der Einführung der neutralen Schachteln reits vom Kabinett gebilligt, im Augenblick intensiv befragt. Ihre Ergebnisse, jetzt liegt es dem Parlament vor. Der zuständige Minister James Reilly, erschienen im Journal Health Education Research, künden von einer nahenden ein Mediziner, hat Vater und Bruder an Katastrophe für die Tabakkonzerne. Rau- den Folgen der Nikotinsucht sterben sehen. cher empfinden ihre neu gewandeten Ziga- Die neutrale Schachtel, so Reilly, werde retten demnach als nicht mehr so reizvoll Leben retten, denn sie nehme der Tabakwie zuvor. Viele schwören, dass die Tabak- industrie die letzte Möglichkeit, ihr tödqualität ihrer Lieblingsmarke gelitten habe, liches Produkt zu bewerben. Großbritannien berät ebenfalls ein entund andere urteilen, dass Zigaretten jetzt sprechendes Gesetz. Eigentlich wollte die irgendwie alle gleich schmeckten. Der Gestaltungshoheit beraubt, können konservativ-liberale Regierung das nicht, Australiens Tabakkonzerne den Zauber ih- doch dann führten Experten überzeugende rer Marken nicht mehr entfalten. Zigarette Belege dafür an, dass gerade Kinder beist gleich Zigarette – keine ist eleganter, sonders empfänglich sind für jene Werbekeine cooler, keine interessanter. In das botschaften, die von Zigarettenpackungen Image ihrer Marken haben die Tabakkon- ausgehen. Analysten der Citigroup nehzerne aber Milliarden investiert. Daher men die australischen Erfolge zum Anlass wehren sie sich mit allen Mitteln gegen die für die Prophezeiung, dass es auf den InEinheitsschachtel, die ihrer Meinung nach seln ab 2017 keine erkennbaren Zigarettenmarken mehr geben werde. einer Enteignung gleichkommt. Sogar Frankreich erwägt nun ein VerAustralien muss sich in mehreren internationalen Verfahren und vor Institutionen bot – das Land, dessen Popkultur von Niwie der Welthandelsorganisation WTO kotinromantikern wie Serge Gainsbourg verteidigen. Der Ausgang dieser Prozesse geprägt ist. Und Deutschland? Hier, wo jeder Vierte regelist offen, und womöglich muss Täglicher mäßig raucht und jährlich mehr das Land die Industrie mit Milliardensummen entschädigen. Konsum als 110 000 Menschen an den Unterdessen macht jedoch das 1993 Anteil der Folgen sterben, droht den Ta25% australische Exempel Furore. Raucher in bakkonzernen keine Gefahr. Neuseeland hat sich vorgeAustralien* Die Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU) will an nommen, bis 2025 rauchfrei zu die Einheitsschachtel nicht ran, werden. Bis dahin soll der Andenn diese werde von der Bunteil der Raucher auf unter fünf 2013 desregierung nicht nur rechtlich Prozent sinken, und die Ein12,8 % „als höchst problematisch“ geheitspackung soll dabei helfen. sehen. Sie will sich aber dafür Die Regierung in Wellington einsetzen, die allgegenwärtige will sie einführen, sobald AustraZigarettenwerbung auf Plakalien die juristischen Auseinanten zu verbieten. Australien hat dersetzungen überstanden hat. dies schon vor über 20 Jahren Irland war der erste Staat der getan. Welt, der 2004 das Rauchen am Arbeitsplatz verboten hat. Jetzt Alles in allem, so lobte Mortler orientieren die Iren sich am kürzlich, sei Deutschland in der australischen Vorbild: Das Ge- *ab 14 Jahren Drogen- und Suchtpolitik „richQuelle: AIHW setz zur Einheitspackung ist betig aufgestellt“. Marco Evers DER SPIEGEL 31 / 2014
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ten Totschlags in elf Fällen und Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen. Die Staatsanwaltschaft wirft Aiman O. vor, in der Uni-Klinik Göttingen Angaben seiner Patienten manipuliert zu haben. O. bestreiMedizinrecht Im Göttinger tet das. Prozess um manipulierte OrganEs ist das erste Mal, dass einem Arzt ein transplantationen wirkt der Tötungsdelikt vorgeworfen wird, weil er Richter überfordert – auch wegen Patientendaten gefälscht haben soll. Oberstaatsanwältin Hildegard Wolff beschreitet des Rauswurfs eines Schöffen. mit ihrer Anklage juristisches Neuland. Im Prozess tritt sie kampfeswillig auf, auch ans-Jürgen Krume, 71, hat es idyl- die Anwälte von O. setzen in ihrer Verteilisch in seinem Garten. Tisch und digungsstrategie auf Härte. Der Vorsitzende Richter Ralf Günther Stühle für den Nachmittagskaffee stehen im Schatten eines Apfelbaums. In scheint bei diesem aggressiv geführten Vereinem Gewächshaus sprießen Orchideen. fahren bisweilen den Überblick zu verlieKrume hat wieder Zeit für sein Hobby: ren. Er bringt oft seine Sätze nicht zu Ende, „Seit sie mich aus dem Prozess geschmis- er hat Mühe, die Konflikte zu schlichten, sen haben, habe ich ja nichts anderes zu und bei der Affäre, die Rentner Krume das Schöffenamt kostete, machte Günther tun.“ Bis vor zwei Monaten war der Rentner eine unglückliche Figur. Die Posse um den Schöffen begann, als Schöffe in einem aufsehenerregenden Strafprozess. Er gehörte zur Strafkammer der im Oktober 2013 im Gericht stolperte, des Göttinger Landgerichts, vor der sich rücklings die Treppe herunterfiel und mit Professor Aiman O. verantworten muss. einer zersplitterten Speiche des rechten Der Chirurg ist angeklagt wegen versuch- Unterarms ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Drei Operationen folgten, fortan saß der Rentner mit Gips am Richtertisch. Ehemaliger Schöffe Krume Drei Finger sind noch immer taub. Ende April traf Krume in einer Verhandlungspause im Fahrstuhl auf den Angeklagten. O. gibt sich im Gerichtsgebäude stets freundlich, er erkundigte sich nach Krumes Gesundheit. Der Schöffe antwortete, seine Hand schmerze, es gehe ihm „beschissen“. O. bot an, die Adresse eines Handchirurgen zu vermitteln. Krume war fast fünf Jahre lang Schöffe, seine Frau war zuvor acht Jahre Beisitzerin bei Gericht. Er wusste um die Brisanz des Angebots. Deshalb, so sagt er, habe er Richter Günther gefragt, ob er auf das Angebot eingehen dürfe. Der Vorsitzende habe geantwortet, so versichert Krume, das sei „kein Problem“. Daraufhin habe er O. einige Tage später angerufen und von ihm den Namen eines Experten in Hannover erhalten. Irgendwann erzählte jemand dem Richter, wie der Angeklagte dem Schöffen Krume geholfen hatte. Günther rief daraufhin Krume an. „Ich sollte ihm eine E-Mail über den Vorgang schreiben“, erinnert sich der Rentner. Er habe ihm auch gesagt, so erzählt Krume, „ich solle darin nicht erwähnen, dass er selbst sein Okay gegeben habe“. Der Richter leitete Krumes E-Mail an die Oberstaatsanwältin weiter, die einen Befangenheitsantrag gegen den Schöffen stellte. Wie könne jemand unbefangen über die ärztliche Kompetenz des Angeklagten richten, wenn er sich medizinischen Rat bei ihm einhole? Wenige Tage später teilte Richter GünRichter Günther ther dem Schöffen Krume mit, er brauche nicht mehr im Prozess zu erscheinen. Der
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ehemalige Handelsvertreter war sich keiner Schuld bewusst, weil er glaubte, die Rückendeckung des Richters für seinen Anruf bei O. gehabt zu haben. Erbost rief er die Oberstaatsanwältin an. Sie bat ihn, ihr den Vorgang schriftlich mitzuteilen. Als sie Krumes E-Mail las, stellte sie einen zweiten Antrag wegen Besorgnis der Befangenheit, diesmal gegen den vorsitzenden Richter – was ein Strafverfolger äußerst selten tut. Der Befangenheitsantrag t zu einem Prozess, der während der mehr als 40 Verhandlungstage eskaliert ist. Das Verfahren zieht sich viel länger hin als geplant. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen mehrere Zeugen wegen des Verdachts der Falschaussage. O.s Anwälte haben zudem Verantwortliche der Bundesärztekammer wegen des Verdachts des Totschlags angezeigt – weil deren Richtlinien, die im Prozess eine Rolle spielen, Alkoholkranke von Organtransplantationen zum Teil ausschlössen. Einer von O.s Anwälten verlangt von der Staatsanwältin eine strafbewehrte Unterlassungserklärung samt Kostenerstattung in vierstelliger Höhe, weil sie im Prozess kritisiert hatte, dass er einen Zeugen vor dessen Gerichtsaussagen angerufen haben soll. Die Staatsanwältin nahm nichts zurück und zahlte nicht. Nun drohte das gesamte Verfahren wegen der Folgen von Krumes Sturz zum Stillstand zu kommen. Es stehen zwar Ersatzschöffen und ein Ersatzrichter bereit, doch die müssten sich erst in die komplizierte Materie einarbeiten. Richter Günther setzte eine dienstliche Erklärung auf, in der er dem Schöffen widersprach: Er habe Krume weder gesagt, es sei kein Problem, O. anzurufen, noch habe er Krume am Telefon gebeten, eine Stellungnahme wegzulassen. Krume habe ihm zwar vom Angebot des Angeklagten erzählt, er sei aber zunächst davon ausgegangen, dass er darauf nicht reagiert habe. Die Kollegen aus Günthers Kammer wischten wenig später den Befangenheitsantrag gegen ihn vom Tisch, weil der Antrag der Oberstaatsanwältin „nicht unverzüglich“ gestellt worden sei, wie es in der 22-seitigen Begründung heißt. Krume hatte der Anklägerin seine Version am 3. Juni am Telefon erzählt. Am nächsten Tag wiederholte er in einer E-Mail seine Angaben. Am darauffolgenden Tag brachte die Oberstaatsanwältin ihren Antrag um 14.13 Uhr bei Gericht ein. Zu spät, meinten die Richter, und so durfte Günther ihr Vorsitzender bleiben. Nach den Befangenheitsanträgen sind die Emotionen weiter hochgekocht. Am vergangenen Freitag ging die Schlacht vor Gericht weiter. Es wurden vier neue Beweisanträge gestellt. Der Prozess wird nicht vor Herbst enden. Udo Ludwig, Antje Windmann
FOTOS: STEFAN THOMAS KROEGER (O.); STEFAN RAMPFEL (U.)
Wissenschaft
Lauerjäger im Badesee Tiere Sie beißen Achillessehnen durch und zerfetzen Fische: Schnappschildkröten machen sich in deutschen Weihern breit. Nun werden Fallen aufgestellt.
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ie entscheidende Sichtung gelang laut Polizeiprotokoll in der Abenddämmerung des 6. Juli. Ein Ehepaar war zu später Stunde an einem Karpfenteich am Stadtrand von Erlangen spazieren gegangen, als es eine gewaltige Schildkröte mit dicken Hornschuppen und einem Papageienschnabel erblickte. Reglos saß das dunkelköpfige Wesen am Ufer, mindestens zehn Kilogramm schwer. Während der Gatte losrannte, um die Ordnungshüter zu alarmieren, harrte seine Frau vor Ort aus. Zwar verschwand das Ungetüm kurz vor Eintreffen der Exekutive gluckernd im Morast. Der Ermittlungsbericht stuft die Schilderung der Augenzeugen, die selbst Reptilien besitzen, jedoch als „absolut glaubwürdig“ ein. Seitdem herrscht in Erlangen Echsenalarm. Bereits am Tag darauf wurden Warnschilder aufgestellt mit der Bitte, „umgehend die Feuerwehr“ zu informieren, falls das Panzerwesen je wieder aus dem Weiher lugen sollte. Das ist bislang nicht geschehen. Der Unhold Suarez – getauft auf den Namen des 104
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beißfreudigen uruguayischen Fußballspielers – macht sich rar. Die Behörden beschlossen, spezielle reusenartige Lebendfallen zu bauen. Die Drahtkörbe werden in dieser Woche aufgestellt. Doch noch ist der Störenfried frei und das Unbehagen groß. Chelydra serpentina stammt ursprünglich aus Nordamerika; das Tier kann leicht Finger durchtrennen. Meist sitzt der Lauerjäger in schlammigen Verstecken. Nähert sich ein Frosch oder ein Blässhuhn, schlägt er zu. Auch Aas wird vertilgt. Bereits im vorigen Jahr brachte es ein Vertreter dieser Tierfamilie zu Berühmtheit: Lotti aus dem bayerischen Irsee schaffte es bis ins neuseeländische Fernsehen, weil sie einem achtjährigen Jungen beim Baden die Achillessehne durchtrennt hatte. Das Kind musste im Krankenhaus notoperiert werden. Ob sich solche Szenen bald wiederholen? Obwohl Deutschland als einziger Staat der Erde die Haltung von Schnappschildkröten verbietet, drohen die Viecher ausgerechnet hierzulande zur Plage zu werden. Der Grund: Ausgestattet mit dem Ruch des Illegalen, werden zwei-Euro-Stück-große Jungtiere bei Züchtern nachgefragt und unterm Ladentisch verkauft. Haben die possierlichen Minis die Größe von Bratpfannen erreicht, vergeht den Terrarienfreunden meist der Spaß. Anstatt die Exoten in offiziellen Sammelstellen abzugeben, entlassen sie die lästige Brut heimlich in die freie Wildbahn – ihnen drohen Strafen von bis zu 50 000 Euro. Ein Musterbeispiel für überkandidelte Gesetzgebung. Kein Wunder also, dass sich die Sichtungen mehren. Vorvergangene Woche wurde
Video: Eine Schnappschildkröte beißt zu spiegel.de/app312014schnappschildkröte oder in der App DER SPIEGEL
FOTO: ANNE MARTIN / DER SPIEGEL
Eingefangene Schnappschildkröte: Das Ungetüm zu streicheln empfiehlt sich nicht
eine Schnappschildkröte in einem Garten in Kossenblatt (südöstlich von Berlin) mit einem Kescher gefasst. Kurz zuvor ging den Behörden im Raum Friedrichshafen ein Sechs-Kilo-Exemplar ins Netz. Der Wittsee an der niederländischen Grenze hat sich sogar zum veritablen Schnappi-Paradies entwickelt. Dort lebt offenbar eine eigenständige Population. In den vergangenen Wochen gelang es, insgesamt zwölf der tellergroßen Beißer einzufangen. Auch die Reptilienauffangstation München meldet Zustrom. Nach Auskunft des Veterinärmediziners Thomas Türbl befinden sich in dem Pflegeheim rund ein Dutzend jener Panzertiere, alle frisch eingeliefert. Der dickste Koloss dort heißt Bernhard und ist eine Geierschildkröte, eng verwandt mit der Schnappvariante, nur noch größer und mit Kiefern, kräftig wie Schraubzwingen. Das Tier gehörte vormals einem Rentner in Berlin, der den zentnerschweren Burschen nicht mehr heben konnte. Derlei Ungetüme zu streicheln empfiehlt sich nicht. Bei Worms biss jüngst eine angeblich 20 bis 30 Kilogramm schwere Schnappschildkröte in den Stock eines Wanderers. Zu allem Übel sondern die Tiere bei Panik ein stinkendes Sekret ab. Zwar verharmlosen feinfühlige Kriechtierversteher gern die Gefahr. Chelydra serpentina, heißt es, würde nie unprovoziert Menschen angreifen. Doch das beruhigt wenig. Die Schnapper liegen gern stundenlang reglos und gut getarnt im Schlick. Versehentlich auf sie zu treten, werten sie durchweg als Belästigung. Ein Zeh oder Fleischteil aus dem Fuß ist da schnell verloren. Wegen ihrer Liebe zum Verborgenen lassen sich die Lauerjäger nur schwer fassen. Die berüchtigte Lotti wurde über Wochen hin mit Nachtsichtgeräten und von Spürhunden gesucht, eine ganze KescherArmee durchkämmte das Gelände, man versprach 1000 Euro Kopfgeld und pumpte zuletzt den gesamten Weiher ab. Ohne Ergebnis. Stattdessen kehrt nun der Schrecken zurück. Ende Juni meldete sich eine Frau mit einer neuen Spur. Demnach hält sich das Phantom jetzt im ehemaligen Klosterteich im Dorfzentrum auf. Die Augenzeugin will gesehen haben, wie das verhornte Untier eine Ente in die Tiefe zog. Bürgermeister Andreas Lieb hat daraufhin erneut eine mit leckeren Ködern gespickte Lebendfalle aufstellen lassen. Sie ist bis heute leer. Matthias Schulz
Kino in Kürze
D E B AT T E N
„Emotions-Holocaust“ Oliver Polak, 38, jüdischer
Polak: Schwierig. Ein Freund
Stand-up-Comedian, dessen Pointen auch vor dem Holocaust nicht haltmachen, über die antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland
aus England, mit dem ich dort auf ein jüdisch-orthodoxes Internat gegangen bin, hat mich schon gefragt, was los ist bei uns in Deutschland. SPIEGEL: Deutschland lässt also Antisemitismus zu? Polak: Deutschland war immer vorsichtig. Aber es sind jetzt ja nicht nur die paar Hundert Demonstranten. Da könnte man vielleicht noch sagen, dass das eine ziemlich geniale Trottelmischung ist. Das sind nicht unbedingt die Hellsten, die dieses Land zu bieten hat. Aber es geht darüber hinaus: Da sind zum Beispiel deutsche Rapper, die auf ihren Social-MediaSeiten Kommentare wie „Juden + Gas = perfekt“ zulassen, ohne sich davon zu distanzieren. SPIEGEL: In anderen Ländern sind die Ausschreitungen noch heftiger. Sind sie in Deutschland trotzdem besonders ernst zu nehmen? Polak: Mein Vater, der heute 88 Jahre alt ist, war als junger Mensch in mehreren Kon-
SPIEGEL: Herr Polak, fühlen Sie
sich angegriffen, wenn auf antiisraelischen Kundgebungen Demonstranten „Jude, Jude, feiges Schwein“ brüllen, wie in den vergangenen Tagen? Polak: Wie würden Sie sich fühlen, wenn man Sie als SPIEGELRedaktion als feige Schweine beschimpfen würde? Ich bin Deutscher jüdischen Glaubens. Klar, mich verstören diese Ausschreitungen. Der komplette Slogan lautet übrigens: „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“. So entsetzlich ich das finde, kommen mir als Comedian dabei auch absurde und durchaus witzige Gedanken. SPIEGEL: Welche? Polak: Die en hier nicht so richtig hin. SPIEGEL: Können Sie auf so etwas noch mit Humor reagieren? 106
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zentrationslagern. 70 Jahre lang hört er dieses Land mahnen: Wehret den Anfängen! Jetzt sollte man reagieren. Deutschland, wie sieht es aus? Gauck hat sich distanziert, Merkel auch. Fein. Aber was machen wir jetzt? Entschlossen handeln ohne Kompromisse wäre ein erster Schritt. Wenn es so abgeht wie gerade, grenzt das für mich an eine Art EmotionsHolocaust. SPIEGEL: Dürfen wir Deutschen die Politik Israels genauso kritisieren wie die anderer Nationen? Polak: Sie können an der aktuellen Politik Israels so viel kritisieren, wie Sie wollen. Aber Sie sollten sich fragen: Wieso fällt es offenbar vielen Deutschen immer noch schwer, in der Bewertung israelischer Politik ein objektives Maß zu halten? Was muss da noch abgearbeitet werden? Vielleicht sollten sich alle mehr mit der eigenen Identität und persönlichen Geschichte auseinandersetzen. Von den FacebookHobby-Nahostexperten wünsche ich mir, dass sie sich wieder auf ihre Kernkompetenz besinnen: Essen fotografieren und Lanz kritisieren. oeh
Diese Liebe braucht viele Worte. Doch es ist ein Vergnügen, den Figuren des Films „Die geliebten Schwestern“ zuzuhören, wie sie ihre manchmal verworrenen und dann wieder schmerzhaft klar empfundenen Gefühle auf den Begriff zu bringen versuchen. Der Regisseur Dominik Graf erzählt von dem Dichter Friedrich Schiller (Florian Stetter), der im Sommer 1788 die Schwestern Caroline von Beulwitz (Hannah Herzsprung) und Charlotte von Lengefeld (Henriette Confurius) kennenlernt. Es ist die Utopie einer Liebe zu dritt, die sie gegen den Willen ihrer Eltern, den Rat ihrer Freunde und die Konventionen der Gesellschaft zu leben versuchen. In einem ausgedehnten Briefwechsel entwickeln die drei ein erotisches Manifest. Wer das Rascheln des Papiers und das Kratzen des Federkiels nicht als sinnlich empfinden kann, ist in diesem Film verloren. Die lichten Bilder des unbeschwerten Anfangs trüben sich ein, die Weite der Landschaft weicht der Enge der Innenräume, als das neue Liebesmodell an der Realität zu zerbrechen droht. Und so handelt Grafs Film auch von der Schönheit einer Idee, die auf dem Weg vom Kopf ins Herz schwer in Mitleidenschaft gezogen wird. lob
Confurius, Stetter, Herzsprung in „Die geliebten Schwestern“
FOTOS: GERALD VON FORIS (L.); SENATOR ENTERTAINMENT (U.)
Erotisches Manifest
Kultur Verlage
„Totaler Irrsinn“ Hans Barlach ist den Streit satt, aber er kämpft weiter. „Ich kann mich doch nicht auspeitschen und bestehlen lassen“, sagt er. Er habe keine Wut, behauptet er, aber „Lebensqualität“ sei etwas anderes. Es ist eine Geschichte, die nicht aufhören will. Die Beteiligten sind erschöpft, die Beobachter ermüdet, die Standpunkte seit Jahren bekannt. „Der totale Irrsinn“,
worfen hatte. Sie richtete sich gegen die gerichtliche Absegnung eines Insolvenzplans, mit dem Suhrkamp in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden soll. Dabei geht es auch um die Frage, ob Barlach dadurch schlechter gestellt würde. Ohne diese Umwandlung (die im Sinne von UnseldBerkéwicz wäre), so stellte der BGH am Rande fest, hätten bei einer „Veräußerung des Unternehmens“ doch alle Seiten „entsprechend ihrer Beteiligung an dem erzielten Verkaufserlös partizipiert“.
FOTOS: ANDREAS ARNOLD / DPA (M.); ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL
Barlach
findet selbst Barlach. Es geht um Geld, viele Millionen, vielleicht auch um die Ehre. Und nebenbei geht es um einen der wichtigsten literarischen Verlage in Deutschland, um Suhrkamp, um dessen Zukunft, ja Existenz. Es ist ein Machtkampf zwischen Barlach, Minderheitsgesellschafter bei Suhrkamp, und der Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz und ihrer Familienstiftung. In diesen Kampf sind inzwischen diverse Gerichte mit durchaus unterschiedlichen Ansichten involviert. Nun die neueste Entwicklung: Der Bundesgerichtshof (BGH) hat, von Barlachs Medienholding angerufen, das Landgericht Berlin gerügt, weil es eine Beschwerde Barlachs ver-
An Berliner Gerichten stehen darüber hinaus zwei weitere Entscheidungen an. Am 20. August geht es um eventuelle Schadensersatzansprüche Barlachs. Sechs Tage später soll in zweiter Instanz über die von Barlach geforderte Abberufung der Suhrkamp-Geschäftsführung entschieden werden. Barlach träumt bisweilen, als wäre er nicht Kämpfer und Kläger, von einem Happy End. Am liebsten würde er seiner Widersacherin Unseld-Berkéwicz sagen: „Statt den Niedergang des Verlags zu riskieren, könnten wir uns an der Hand fassen und gemeinsam feststellen, dass wir schlecht beraten worden sind.“ vha
Dirk Kurbjuweit Zur Lage der Welt
Gibt es Jesus doch? Was mich nachdenklich macht, ist mein Selbstmitleid im Angesicht extremen Leids. Ich muss dazu eine Geschichte aus der S1 erzählen. Mit dieser S-Bahn fahre ich morgens in die Redaktion und abends nach Hause in den Südwesten von Berlin. Wir von der S1 sind es gewohnt, dass andere Fahrgäste Geld von uns wollen. Es kommen Musikanten, es kommen Männer und Frauen, die Obdachlosenzeitungen verkaufen. Wenn ich das richtig beobachte, sind wir von der S1 nicht besonders großzügig, aber auch nicht brutal geizig. Ich gebe nie etwas bei lauter Musik. Es gibt einen Fahrgast, der uns extrem auf die Probe stellt, und wir versagen alle. Ich sollte das persönlicher sagen: Ich versage. Er kommt in einem Rollstuhl. Seine Haare sind lang und verfilzt, seine Kleidung hat eine undefinierbare Farbe, sie wirkt starr vor Schmutz. Es ist schwer, den Geruch dieses Mannes zu benennen, ohne seine Würde zu verletzen, aber wenn ich sagen soll, wie es ist, dann kann ich nur sagen: Es ist ein höllischer Geruch, ein Geruch nach Exkrementen, wie ich ihn noch nie gerochen habe. Der Mann bewegt sich langsam in seinem Rollstuhl durch den Gang der S1. Manchmal bleibt er stehen und schaut einen Fahrgast bittend an. Seine Hand öffnet sich. Alle schauen weg, ich schaue weg. Alle halten den Atem an, ich halte den Atem an. Er bekommt nichts, er zieht weiter. Der Geruch bleibt noch für eine Weile. Einige Leute stöhnen oder murren, wenn er weg ist. Ich bin nicht religiös, aber selbst mir ist schon der Gedanke gekommen, es könnte Jesus sein. Sein schmales Gesicht, seine langen Haare, er sieht ein bisschen so aus. Will er uns auf die Probe stellen? Ich verwarf den Gedanken, da ich nicht an Jesus glaube. Aber eine Probe ist es. Ich frage mich, was da iert mit mir, mit uns von der S1. Müsste nicht der Elendste das meiste bekommen? Zu unserer Erleichterung können wir den Verdacht haben, dass das Elend nicht so elend ist, wie es aussieht. Wir wissen, dass Leid fingiert, dass Bettelei organisiert sein kann. Aber wer würde dieses Kostüm wählen, sich diesen Geruch aneignen? Wohl niemand (außer Jesus). Damit kann ich mich nicht rausreden. Als er kürzlich bei mir hielt, mich anschaute, hatte ich, ehrlich gesagt, einen Anflug von Selbstmitleid, obwohl er der Leidende ist. Dass er mich mit seinem Geruch einhüllt, dass er mir etwas antut. Vielleicht gebe ich deshalb nichts. Ich glaube aber eher an diese Erklärung: Die Struktur des Mitleids ist so, dass wir denen geben, die uns am ähnlichsten sind, die in einem Leben wie dem unseren scheiterten, sich dann aber ganz gut halten, wie wir das von uns selbst erwarten. Es sind Spenden an unser eigenes Prinzip. Und nun? Ich kann dazu nur das klassische Wort der Verlogenheit sagen: beim nächsten Mal. An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist Claudia Voigt an der Reihe, danach Elke Schmitter.
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Kultur Schwerpunkt: Musik
Allerneueste deutsche Welle Pop HipHop ist die gegenwärtig erfolgreichste Jugendkultur des Landes. Niemand trifft das Lebensgefühl der Generation Selfie besser als die Rapper, die vor Kurzem noch die Schmuddelkinder der Nation waren.
Sänger Cro in Straubing
FOTO: SLAVICA / DER SPIEGEL
S
o viele Mädchen. Es ist Donnerstag- ta-Rap-Freundespaar Bushido und Kay abend im bayerischen Straubing, und One über den Anarcho-Rapper Favorite auf dem Konzertgelände am Rand bis zu den Frankfurter Quasselköpfen Celo der Innenstadt sieht es aus, als bestünde & Abdi und dem Offenbacher Getto-Dichdieser Ort nur aus Mädchen. Es sind meh- ter Haftbefehl. Und sie haben die Hits. Da gibt es „Kids rere Tausend, sie tragen T-Shirts, die einen stilisierten Panda zeigen, und eigenartige (2 Finger an den Kopf)“ des Berliners Marschwarz-weiße Masken, manche haben teria, einen Song über die Langeweile, die das Leben junger Erwachsener ergreifen Stoffbären dabei. Sie warten auf Cro, den gerade erfolg- kann, wenn die Kumpels auf einmal keine reichsten deutschen Rapper. Im Juni ist Zeit zum Kiffen mehr haben. Es gibt Cros sein Album „Melodie“ erschienen, es war „Meine Gang (Bang Bang)“ und „Bad in Deutschland, der Schweiz und Öster- Chick“ – das erste ein sommerleichtes Lied reich auf Platz eins der Charts. Sein Mar- auf die Freundschaft, das zweite eines auf kenzeichen ist eine Pandabärenmaske, die ein Mädchen, das seinen eigenen Willen er fast immer trägt – auf der Bühne und hat. Der Düsseldorfer Angeber-Rapper Farid Bang glänzt in „Lutsch“ mit Zeilen im echten Leben. Cro sieht aus wie eine Zeichentrickfigur wie „Du siehst meinen Rücken und hältst mit der Maske über dem Gesicht, den dün- mich für ’nen V-Mann“. Dann ist da noch Kollegah, ebenfalls aus nen Beinen, die in engen Hipsterhosen stecken, dem schmalen Oberkörper im weiten Düsseldorf. Vor Jahren galt er als bodyT-Shirt und den langen Armen. Lustig und buildinggestählter Erfinder des sogenannirgendwie süß. Der Rapper hat einen Body- ten Zuhälter-Rap. Mittlerweile handeln seiguard, der vor allem dazu da ist, ihn zu ne Stücke nur noch von ihm selbst, tragen warnen, wenn ein Fotograf in einem Mo- Titel wie „Alpha“, „King“ oder „Du bist ment auftaucht, wo er die Maske nicht Boss“ und drehen sich im Wesentlichen trägt. Und Fotograf ist heute fast jeder, ein darum, dass Kollegah der Größte ist. Schönste Zeile: „Alte Homies bitHandy genügt. Dann hält Cro sich ten mich, ihnen anstandshalber ein Handtuch vors Gesicht. Video: So klingt Geld zu leihen / Doch alles, was ich Das Konzert ist seit Wochen ausdeutscher pumpe, sind die Langhanteln aus verkauft, es findet in einem großen HipHop Elfenbein.“ Sein bestes Lied hat Festzelt statt, auf das den ganzen spiegel.de/app Tag die Sonne geschienen hat. 312014HipHop er bloß als Internetvideo veröfKaum hat Cro die Bühne betreten, oder in der App fentlicht. Die großartig-bekloppte läuft ihm schon der Schweiß unter DER SPIEGEL 16-Jährigen-Hymne „Von Salat schrumpft der Bizeps“ dürfte ein der Maske hervor. Ordner schütten Klassiker des Karnevalliedguts werWasser über die Mädchen. Die sinden, ein Wiesn-Hit. gen jedes Lied mit. HipHop ist die neue Volksmusik, Es ist etwas iert in Deutschman traut es sich kaum hinzuschreiland. Wer pubertierende Kinder ben. Was ist da iert? hat, weiß es: Kein Genre im deutschen Pop boomt gerade so wie HipHop. „Die Künstler sind immer besser geworFalls es dafür eines Beweises bedürfte, die- den“, sagt Elvir Omerbegović, 35, Musikmaser Abend wäre einer. Wenn diese Musik nager mit dem schönen Titel „President of in Straubing funktioniert, südöstlich von Rap“ beim Branchenführer Universal. „Und Regensburg, 45 000 Einwohner, dann funk- wir haben gelernt, das Internet zu nutzen.“ tioniert sie überall in Deutschland. Omerbegović ist Kind jugoslawischer Zehn Nummer-eins-Alben aus dem Einwanderer und ein ehemaliger Basketdeutschsprachigen HipHop gab es 2013 in baller aus Düsseldorf, wo er auch lebt. Er den hiesigen Charts, in diesem Jahr sind hat „Selfmade“ auf das rechte Handgelenk es bereits sechs. HipHop boomt, und ein tätowiert, was der Name der Plattenfirma Ende ist nicht abzusehen. Ausgerechnet ist, die er groß gemacht hat, unter anderem diese Musik, um die es Mitte der Neun- mit Kollegah, und die nun einen profitaziger noch großen Streit gab, weil es un- blen Deal mit Universal hat. Zum Spaß klar schien, ob sich auf Deutsch überhaupt rast Omerbegović am Wochenende mit seirappen lässt, und die dann lange als Un- nem Renn-Porsche über Formel-1-Strecken. terschichtsvergnügen verschrien war, ist Selfmade Records sitzen in einem unzur größten deutschen Jugendkultur ge- spektakulären Büro in der Düsseldorfer worden. Innenstadt, nah am Rhein, hier könnte Mit allem, was dazugehört. Einem Star- auch eine Versicherung residieren oder system, das für die verschiedensten Män- eine Importfirma für Toaster. Nur die Golnermodelle Platz hat. Von einem Spaß- denen Schallplatten an der Wand erinnern vogel wie Cro und einem Emo-Poeten wie daran, dass hier Hits gemacht werden. Casper bis zum Ex-Porno-Rapper Prinz Pi. „Im Internet fressen nicht die Großen Von dem mittlerweile verfeindeten Gangs- die Kleinen, sondern die Schnellen die
Kultur Schwerpunkt: Musik
Rapper Kollegah, Marteria: Platz für alle deutschen Männlichkeitsmodelle
Langsamen“, sagt Omerbegović und skiz- mixten und dazu rappten. Ich bin schwarz, ziert, wie seine Firma die Künstler zu Stars ich habe keine Arbeit, und ich habe kein macht. Selfmade arbeitet mit dem Strea- Geld. Aber ich bin da, es gibt mich! Ihr mingdienst Spotify zusammen, viele der könnt nicht so tun, als würdet ihr mich jungen Hörer nutzen ihn. Es gibt immer nicht sehen! So fing es an. noch das Radio und die Liveauftritte der HipHop war damals die erste postindusKünstler. Und, am wichtigsten, die sozialen Netzwerke. Selfmade hat einen ei- trielle Musik. Die Rapper kamen nicht genen YouTube-Kanal mit 750 000 Abon- mehr aus einer rebellischen Arbeiterklasse, nenten und rund drei Millionen Likes bei so wie die Rock-’n’-Roll-Bands. HipHop Facebook, wenn man die Label- und die war der Sound der innerstädtischen Minderheiten, die vom neuen DienstleistungsKünstlerseiten zusammenzählt. „Wir erzählen Geschichten“, sagt Omer- kapitalismus nicht mehr gebraucht wurden, die sich abgekoppelt fühlten von der gebegović. Kollegah etwa hat fast ein Jahr vor der sellschaftlichen Entwicklung. Und jetzt, rund 40 Jahre später, in einer Veröffentlichung seines neuesten Albums angefangen, seine Fans darauf vorzube- ganz anderen Ecke der Welt, taugt ausgereiten. Er hat täglich Filme bei YouTube rechnet diese Geste wie keine andere für eingestellt, sein Leben über Monate do- die Bedürfnisse der Generation Selfie und kumentiert, als Reality-Comedy-Show. die Mechanismen der neuen AufmerksamAls „King“ dann erschien, reichten schon keitsökonomie. Für Jugendliche, die mit die Vorbestellungen für die Nummer eins. den sozialen Netzwerken aufwachsen und Was früher die „Promophase“ war, die einen beträchtlichen Teil ihres Tages damit Phase für die Werbung, ist heute Teil der zubringen, ihr Leben in die virtuellen Welten von Twitter, Instagram und Facebook Show. „HipHop zu machen ist egolastig, rau einzuspeisen, gibt es keine Parole, die so und anstrengend“, sagt Omerbegović. attraktiv wäre wie: Nimm mich wahr! Wer damit zu spielen weiß, hat gewon„Und du kannst es nicht faken. Das merkt nen. ein Fan sofort.“ Auch Cro oder Carlo Waibel, wie der Ein interessanter Gedanke. Tatsächlich ist die Grundgeste dieser Musik ja: Nimm 24-Jährige mit bürgerlichem Namen heißt, mich wahr! Schau mich an! So war es vom ist auf einem ungewöhnlichen Weg zum ersten Augenblick an, als ein paar schwar- Rap-Star geworden. Zunächst verschenkte ze Kids im New York der Siebziger die seine Plattenfirma seinen ersten Hit Beats alter Schallplatten neu zusammen- „Easy“. „Easy“, eine lustige Variante des 110
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Welthits „Sunny“, wurde einer der größten deutschen Pop-Erfolge der vergangenen Jahre – das Video auf YouTube hat mittlerweile über 40 Millionen Klicks, eine irre Zahl, in dieser Größenordnung bewegen sich sonst die US-Superstars, und die bespielen die Welt, nicht nur den deutschsprachigen Raum. Waibel entwarf T-Shirts, bevor er zum Rap-Star wurde. Das macht er auch immer noch. Die sozialen Netzwerke bespielt er mit Geschick: Auf dem Höhepunkt des Konzerts hält er die Musik an und lässt sich mit dem Publikum fotografieren. Das Bild stellt er nach dem Konzert auf seine Facebook-Seite. Kurze Zeit später hat es über 7000 Likes, fast doppelt so viele wie Besucher, die in Straubing da waren. Es ist gar nicht so einfach, sich mit Cro zu unterhalten. Vor allem, wenn ein Klavier in der Nähe ist. In dem Theater beim Konzertgelände, wo er und seine Band untergebracht sind, steht ein Flügel. Er setzt sich an die Tasten und spielt vor sich hin. Im Gespräch daddelt er dann auf seinem Telefon herum. Einmal wird er munter: bei der Frage, wie er seine Hits schreibt. Erst komme die Musik, dann der Beat, dann die Gesangsmelodie. Dann die Wörter. „Es gibt vier Themen, und die erzählt man jedes Mal: Mädchen, Geld, Alltag und Spaß.“ Mehr nicht? Keine Politik, kein Protest? „Das interessiert die Menschen nicht. Ich schreibe über einfache Sachen. Alle Trottel, die versuchen, etwas Komplexes im Pop zu machen, fallen auf die Schnauze.“ „Raop“ hat Cro seinen Stil einmal genannt, eine Mischung aus Rap und Pop. Tatsächlich gibt es wenige, die mit ähnlich leichter Hand Bilder für die Alltagsdramen deutscher Teenager zeichnet. Dafür hat Cro einigen Spott anderer Rapper einstecken müssen – doch dass nicht mehr nur über dicke Autos und willige Frauen gerappt wird, dürfte eher ein kultureller Fortschritt als ein Rückschritt sein. HipHop in Deutschland hat eine eigentümliche Geschichte. In den Achtzigern war er vor allem die Musik der migrantischen Unterschichten und die letzte Besatzermusik – dort, wo die amerikanische Armee ihre Basen hatte, entstanden die ersten Szenen. Zum ersten Mal in die Charts kam HipHop allerdings als Mainstream-Popmusik, die Fantastischen Vier waren es, die deutschsprachigen Rap Anfang der Neunziger massenkompatibel machten. Natürlich gab es auch in den Neunzigern Migrantenkids, die rappten: Die großen Plattenfirmen wollten aber nichts von ihnen wissen und nahmen lieber deutschstämmige Abiturienten unter Vertrag. Ganz ähnlich wie im Fußball spiegelt sich
FOTOS: JUSTIN BRAUN (L.); PAUL RIPKE / SONY MUSIC (R.)
auch im HipHop die schwierige Geschichte der Integration in Deutschland. Erst wurden die Migrantenkinder ignoriert. Als sie schließlich nicht mehr zu überhören waren, wurden sie zu Schmuddelkindern abgestempelt. Anfang der Nullerjahre war das, als der Bürgerkinder-HipHop vom lauten Berliner Gangsta-Rap an die Seite gedrückt wurde. Interessanterweise sind es dann aber die Migrantenkinder, die dieser Musik ihre gefestigte deutsche Identität geben. Sie machen Schluss mit dem Gefühl ängstlicher Unterlegenheit, das viele Bürgerkinder gegenüber den amerikanischen Vorbildern haben – auch, weil sie oft nicht gut genug Englisch können, um die USRapper zu verstehen. Die Straßen-Rapper wollen über das Leben und die Träume in den deutschen Städten erzählen. Dass heute ein Exdrogendealer wie Haftbefehl ein Stück mit Cro macht, wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. Aber HipHop ist am Ende eine Kultur, in der Erfolg die härteste Währung ist. So finden Söhne der Mittelschicht und der Unterschicht zusammen. In den Charts. Die langsame, aber sichere Eindeutschung des HipHop hat dabei fast surreale Nebeneffekte. Die Songs von Prinz Pi etwa haben längst mehr mit deutscher Liedermacherei der Siebzigerjahre zu tun als mit Snoop Dogg, einem der amerikanischen HipHop-Gründerhelden. Der Berliner Sido kommt daher wie ein Wiedergänger von Harald Juhnke. Ein paar der neuen HipHop-Stars klingen also, als gäbe es im Unterhaltungsgeschäft nationale Archetypen – zusammengenommen bildet sich dann aber ein neues Deutschland ab, das mit dem Deutschrock-Elend vergangener Jahrzehnte nichts mehr zu tun hat. Marten Laciny alias Marteria, 31, war einmal Fußballer. Ein ziemlich guter sogar, er war Kapitän der Jugendmannschaften von Hansa Rostock, spielte in der Jugendnationalmannschaft. Dann modelte er eine Weile, lebte in New York und fing an, Musik zu machen. Sein letztes Album, „Zum Glück in die Zukunft II“, kam im Februar auf Platz eins der deutschen Charts. Die heutige Stärke von HipHop in Deutschland, sagt Laciny, sei Ergebnis seiner alten Schwäche. Wer sich immer in eine Ecke gestellt fühle, entwickle irgendwann ein trotziges Selbstbewusstsein. Und in einer Gesellschaft, die immer besser vernetzt sei, in der aber genau deshalb viele aus Angst vor einem Shitstorm die eigene Meinung zurückhielten – da seien Rapper die idealen Popstars. Die, die sich nichts gefallen lassen. Die, die sagen, was sie denken. Die, die den Streit zum Sport gemacht haben. Superhelden. Tobias Rapp
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin buchreport; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Belletristik 1
(1)
Sachbuch
Kerstin Gier Silber – Das zweite Buch der Träume
1
(1)
Wilhelm Schmid Gelassenheit – Was wir gewinnen, Insel; 8 Euro wenn wir älter werden
Diana Gabaldon Ein Schatten von Verrat und Liebe
2
(3)
Susanne Fröhlich / Constanze Kleis Diese schrecklich schönen Jahre
Blanvalet; 24,99 Euro
3
Fischer JB; 19,99 Euro
2
(–)
Gräfe und Unzer; 17,99 Euro
Im achten Teil der HighlandSaga steht die entscheidende Schlacht des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges bevor
3 4 5
(2)
(3)
(5)
4
(2) (5)
5
Jan Weiler Das Pubertier
Kindler; 12 Euro
Donna Tartt Der Distelfink
Goldmann; 24,99 Euro
Kerstin Gier Silber – Das erste Buch der Träume
6
(6)
Marc Elsberg ZERO – Sie wissen, was du tust
7
(9)
Jonas Jonasson Die Analphabetin, die rechnen konnte
(4)
Carl’s Books; 19,99 Euro
9
(7)
Donna Leon Das goldene Ei
Diogenes; 22,90 Euro
John Williams Stoner
10 (10) Hanns-Josef Ortheil Die Berlinreise 11
(8)
6
(6)
Blessing; 19,99 Euro
7
(10)
8
(9)
Guido Maria Kretschmer Edel Books; 17,95 Euro Anziehungskraft
9
(7)
Christian Wulff Ganz oben Ganz unten
19 (17) Martin Walker Reiner Wein
10
(8)
Christopher Clark Die Schlafwandler
DVA; 39,99 Euro
11 (12) Peter Hahne Rettet das Zigeuner-Schnitzel!
13 (16) Glenn Greenwald Die globale Überwachung 14 (11) Axel Hacke Fußballgefühle 15
(–)
Wunderlich; 19,95 Euro
Der Musiker schwört auf die Kraft der Utopie und wettert gegen eine uninspirierte Realpolitik
Eichborn; 19,33 Euro
Wunderlich; 17,95 Euro
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Konstantin Wecker Mönch und Krieger Gütersloher Verlagshaus; 19,99 Euro
cbt; 17,99 Euro
17 (16) Horst Evers Vom Mentalen her quasi Rowohlt Berlin; 18,95 Euro Weltmeister
David Safier 28 Tage lang
C. H. Beck; 19,95 Euro
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13 (13) Veronica Roth Die Bestimmung – Letzte Entscheidung
(–)
Blessing; 19,99 Euro
Luchterhand; 16,99 Euro
Fischer Krüger; 18,99 Euro
18
Dieter Hildebrandt Letzte Zugabe
Quadriga; 10 Euro
12 (11) Graeme Simsion Das Rosie-Projekt
16 (15) IldikÓ von Kürthy Sternschanze
Frank Schirrmacher Ego – Das Spiel des Lebens
12 (14) Florian Illies 1913 – Der Sommer des S. Fischer; 19,99 Euro Jahrhunderts
Kiepenheuer & Witsch; 26,99 Euro
15 (14) Timur Vermes Er ist wieder da
Matthias Weik / Marc Friedrich Der Crash ist die Lösung
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14 (12) Simon Beckett Der Hof
Volker Weidermann Ostende – 1936, Sommer der Freundschaft
Eichborn; 19,99 Euro
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Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro
Fischer JB; 18,99 Euro
8
Roger Willemsen Das Hohe Haus
16 (13) Hillary Rodham Clinton Entscheidungen
Droemer; 28 Euro
17 (15) Peter Sloterdijk Die schrecklichen Kinder der Neuzeit Suhrkamp; 26,95 Euro
18
(–)
Kindler; 16,95 Euro
Joachim Fuchsberger Zielgerade Gütersloher Verlagshaus; 19,99 Euro
Diogenes; 22,90 Euro
20 (18) Romain Puértolas Die unglaubliche Reise des Fakirs, der in einem Ikea-Schrank S. Fischer; 16,99 Euro feststeckte
19 (19) Christine Westermann Da geht noch was Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro
20
(–)
Lukas Podolski Dranbleiben!
Gabriel; 19,99 Euro
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111
„Ohrstöpsel sind unfair“ SPIEGEL-Gespräch Lemmy Kilmister, Chef der Heavy-Metal-Band Motörhead, über das Festival in Wacken, die Beatles und die Frage, warum ihn keine Krankenkasse will
Schwerpunkt: Musik Kultur
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FOTO: PEP BONET / NOOR / LAIF
rei Uhr nachmittags ist eigentlich viel zu früh für Lemmy Kilmister, den Chef von Motörhead. Er hat die Band vor 39 Jahren gegründet, er ist der Einzige von damals, der noch dabei ist. Kilmister lässt warten, eine halbe, eine Dreiviertelstunde lang, bis man in eine hübsch klimatisierte Suite des Berliner Luxushotels Esplanade geführt wird. Wieder warten, dann steht er in der Tür, angezogen wie der Direktor eines Wanderzirkus aus dem 19. Jahrhundert: eine Art Zylinder mit Goldstern, schwarze Uniformjacke mit Goldbeschlägen auf den Schultern, schwere Gürtelschnalle aus Silber, sehr enge Jeans, rote Wildlederschuhe. Kilmister ist 68 Jahre alt. Andere Menschen in diesem Lebensabschnitt lassen es ruhiger angehen, vor allem, wenn sie eine ähnliche Krankenakte haben. Aber der Chef von Motörhead geht auf Tournee, mit neuem Herzschrittmacher. Am 1. August wird er beim größten Heavy-MetalFestival der Welt im schleswig-holsteinischen Wacken auftreten. Im Herbst erscheint „Aftershock“, ein neues Album. Kilmister ist so etwas wie der Pate des Heavy Metal, eine Gründungsfigur der Szene, die wegen ihres Talents, ihrer Kompromisslosigkeit und ihres Humors auch von wesentlich jüngeren und gesünderen Kollegen verehrt wird. Es ist fast vier Uhr, als das Interview beginnen könnte. Aber etwas fehlt noch. Eiswürfel fallen ins Glas, Kilmister trinkt Wodka-Orange. Er blickt mit der Melancholie eines britischen Mopses unter seinem schwarzen Hut hervor. Es ist eben ein sehr früher Morgen für ihn. SPIEGEL: Mr Kilmister, am Wochenende werden Sie in Wacken auftreten beim größten Heavy-Metal-Festival der Welt. Haben Sie sich mit nun 68 Jahren das Recht erworben, Ohrstöpsel tragen zu dürfen? Kilmister: Das wird nie ieren. SPIEGEL: Ihre Band Motörhead gilt als eine der lautesten Bands überhaupt. Kilmister: Wenn man sich entscheidet, diese Art Lärm zu machen, hat man eine gewisse Verantwortung. Nur andere Menschen zuzudröhnen und sich selbst fein rauszuhalten gilt nicht. Ohrstöpsel sind unfair. SPIEGEL: Wacken ist ein Dorf mit 1800 Einwohnern in Schleswig-Holstein. Warum wird Heavy Metal vor allem auf dem Land und in kleinen Städten gehört? Kilmister: Unsere Musik wird überall gehört, vor allem aber von jungen Menschen, die mit lauten Maschinen arbeiten. Das Einzige, was diese Dinger übertönt, ist Motörhead. SPIEGEL: Ihr Publikum besteht überwiegend aus Männern? Kilmister: Mädchen tanzen nun mal gern. Zu unserer Musik geht das nicht. Da kann man nur den Kopf schütteln. Also ja, überwiegend Männer. Auch wenn ich in letzter
Zeit 15- oder 16-jährige Mädchen im Publi- SPIEGEL: Was war Ihre konkrete Erfahrung kum entdeckt habe. nach der Herzoperation? SPIEGEL: In den vergangenen Jahren ist Kilmister: Du wachst im Krankenhaus auf Motörhead geradezu schick geworden. und denkst, Gott sei Dank, es ist nicht das Sogar große Modeketten wie H&M ver- Gefängnis. kauften auf einmal T-Shirts mit dem Motör- SPIEGEL: In Ihrer Musik lugt der Tod immer head-Logo. Fühlen Sie sich geehrt? um die Ecke. „Killed by Death“, „OverKilmister: Ich finde das etwas lächerlich. kill“, „Better off Dead“. Sie selbst weigern Weißes T-Shirt mit schwarzem Schriftzug, sich, über ihn auch nur nachzudenken? ich bitte Sie. Das ist nicht richtig. Kilmister: Vieles an meiner Musik Video: Schwarz muss das Hemd sein, die ist ironisch gemeint. Man braucht Tobias Rapp Schrift in Silber. eine Menge Humor im Leben. über Lemmy SPIEGEL: Richtig reich sind Sie trotz Kilmister und Sonst bringt einen der Tod noch schneller um, als er es normalerweiH&M nicht geworden. seine Musik Kilmister: Motörhead ist ein teures spiegel.de/app se mit einem Menschen tut. 312014 Hobby. Wenn wir auf Tournee geSPIEGEL: Motörhead-Songs erkennt hen, haben wir 25 Angestellte, das kilmister oder man sofort. Warum? in der App kostet. Kilmister: Es ist einfach extrem DER SPIEGEL schneller Rock ’n’ Roll plus meine SPIEGEL: Jahrzehntelang wollten Sie Stimme und die Tatsache, dass ich nicht aus Ihrer Wohnung wegziehen, zwei Zimmer, mietpreisgebunden Bass wie eine Gitarre spiele. den, 900 Dollar pro Monat, in Los Unsere letzte Platte weist zu den Angeles am Sunset Strip. Konnten anderen nur einen kleinen UnterSie sich keine größere leisten? schied auf: Meine Beine waren so Kilmister: Ich habe mich nun doch über- kaputt, dass ich mich beim Singen hinsetreden lassen, eine Wohnung mit drei Zim- zen musste. Ich bin stolz, dass man von mern zu kaufen. Hat mich eine Million ge- diesem Missgeschick null hört. kostet. Aber die alte Wohnung habe ich SPIEGEL: Sie lieben die Beatles. Wie t behalten. So was gibt man nicht auf. Ich das zu Motörhead? lagere dort die Dinge, die ich während mei- Kilmister: Ich kann Heavy Metal eigentlich ner Karriere angehäuft habe. nicht leiden. Die Beatles sind die beste SPIEGEL: Die aktuelle Tournee Ihrer Band Band, die es je gegeben hat und die es je ist die erste, seit Ihnen im vergangenen geben wird. Lennon und McCartney konnJahr ein Herzschrittmacher eingesetzt wur- ten an Gitarre und Klavier Songs schreide. Wie lebt es sich mit so einem Gerät ben, und sie hatten mit Ringo Starr einen der besten Drummer. Es gibt Menschen in bei 140 Dezibel um die Ohren? Kilmister: Das Problem sind meine Beine, unserem Geschäft, die behaupten, er sei da bei mir vor 14 Jahren Diabetes diagnos- eine Flasche am Schlagzeug. Blödsinn, tiziert wurde. Aber meine Stimme, mein sage ich, Ringo ist exzellent. Sie waren die Bass, das läuft. Den Schrittmacher vergesse Ersten in Großbritannien, die als Band aufich die meiste Zeit, nur an Flughäfen fängt traten, nicht als Sänger mit ein paar Bees an zu klingeln, wenn ich in die Nähe gleitmusikern. Sie waren die Ersten, die ihre eigenen Songs kreierten und nicht einder Sicherheitskontrolle komme. SPIEGEL: Es gab lange das Gerücht, Sie hät- fach die Amerikaner kopierten. Außerdem ten keine Krankenversicherung. Haben Sie hatten sie Humor. inzwischen eine? SPIEGEL: Haben Sie die Beatles noch live Kilmister: Die Krankenversicherung, die gesehen? mich nehmen würde, muss noch erfunden Kilmister: Als sie aus Hamburg zurückkamen, werden. bin ich dreimal nach Liverpool getrampt, wo SPIEGEL: Haben Sie den Herzschrittmacher ich sie im Cavern sah. Die Beatles waren toughe Jungs. Das ist ja einer der großen cash bezahlt? Kilmister: Mein Manager hat sich darum ge- Irrtümer der Popgeschichte – die Stones als kümmert, ich habe keine Ahnung, was das die harten Burschen und die Beatles als die Ding gekostet hat. Was soll’s, Geld ist auch Weichlinge. Es war genau andersherum. Die Stones wurden in den Vorstädten von Lonnur Material … SPIEGEL: … das Sie Ihrem Manager über- don verhätschelt, die Beatles boxten sich in Liverpool durch. Glauben Sie mir, es war lassen? Kilmister: Meine Frage an ihn lautet seit kein Spaß, dort aufzuwachsen. über 30 Jahren: „Sind wir jetzt bankrott?“ SPIEGEL: Gitarrist Keith Richards von den Seine Antwort ist immer dieselbe: „Nein, Rolling Stones hat über die frühen Jahre sieht okay aus – okay, für die nächste des Pop einmal gesagt, die Welt sei von Zeit.“ Schwarz-Weiß auf Farbe umgesprungen. SPIEGEL: Hat Sie die Sache mit dem Herzen Können Sie diese Wahrnehmung nachvollziehen? in Angst versetzt? Kilmister: Der Tod ist eine unvermeidbare Kilmister: Keith ist ein smarter Junge. Die Tatsache. Das Leben kann zu Ende gehen, Welt gehörte den anderen, dann kam Pop, schneller als eine Kerze brennt. und sie gehörte uns. DER SPIEGEL 31 / 2014
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„Meine Freundin ist schwarz, ich spiele Rock ’n’ Roll, ich wäre der schlechteste Nazi aller Zeiten.“
Schwerpunkt: Musik Kultur
FOTO: PEP BONET / NOOR / LAIF (L.)
SPIEGEL: Sie haben damals Mitte der Sech-
ziger mit einer Band namens Rockin’ Vickers im Norden Englands gespielt. Was war das Besondere an den Jungs? Kilmister: Wir haben mehrere Jahre lang nicht einen Penny Steuern gezahlt. Als der Typ von der Steuerbehörde kam, musste er an zwei Jaguar-Limousinen und einem Speedboot vorbeigehen, weil diese in der Einfahrt standen. Wir lagen mit einigen Mädchen auf den Sofas. „Ich habe euch Jahr für Jahr einen Steuerbescheid zugeschickt. Was habt ihr damit gemacht?“, fragte der Typ. „Wir haben das Zeug ins Feuer geworfen“, war unsere Antwort. „Schrecklich, was ihr da getan habt“, schimpfte er. Wir haben ihn dann auf ein paar Drinks eingeladen. Er blieb die halbe Nacht, verließ unser Haus völlig betrunken und wurde am nächsten Tag gefeuert. Ich denke, wir haben ihm einen Gefallen getan. Ein menschenunwürdiger Job ist das, Steuereintreiber. SPIEGEL: Warum haben Sie den Job bei den Rockin’ Vickers trotzdem aufgegeben und stattdessen in London als Gitarrenträger von Jimi Hendrix angeheuert? Kilmister: Hendrix war ein zuvorkommender und vernünftiger Mensch. Ich war auch für die Drogenbeschaffung bei ihm zuständig. Wenn ich zehn LSD-Trips beschaffte, gab er mir drei davon als Provision. SPIEGEL: Worüber spricht man mit Jimi Hendrix auf LSD? Kilmister: Na ja, so Drogengerede. Die Welt sieht anders aus, wenn man auf LSD ist. Also sagt man: Guck mal da, wie krass das aussieht. SPIEGEL: Sie sollen Bäume gestreichelt und mit einem Fernseher gesprochen haben, den Sie unterm Arm durch London trugen. Kilmister: Die Sache mit dem Fernseher hatte mit LSD nichts zu tun. Schuld daran war eine Überdosis an echtem Gift. Ich hatte ein Rezept vom Arzt für Amphetaminsulfat zum Apotheker gebracht, der uns anscheinend mit Atropinsulfat eindeckte. Er konnte wohl die Schrift des Arztes nicht lesen. Jeder von uns nahm also einen Teelöffel voll. Wir tanzten mit Bäumen, und dann fielen wir um. Die Ärzte im Krankenhaus sagten uns, dass schon eine viel geringere Dosis hätte tödlich sein können. Sie behielten uns zwei Wochen. Es war die schlimmste Drogenerfahrung meines Lebens – und ich habe fast alles genommen bis auf Heroin und Morphium. SPIEGEL: Viel Einsicht scheinen Sie aus dem Missgeschick nicht gewonnen zu haben. Ihre eigene Band nannten Sie später Motörhead, ein Synonym für Speedkonsumenten, weil die sich mit der Droge so fühlen, als würde in ihnen ein Motor laufen. Kilmister: Die Gruppe musste ja schließlich irgendeinen Namen bekommen. Meine erste Wahl war Bastard. Keine gute Idee, sagte unser Manager. Wenn wir auf Bastard
Kilmister, SPIEGEL-Redakteure* „Ich kann Heavy Metal eigentlich nicht leiden“
bestehen würden, sollten wir uns einen anderen Menschen suchen, der sich um unsere Geschäfte kümmert. SPIEGEL: Warum eigentlich diese Vorliebe für Speed? Galt das nicht als Nazi-Droge? Kilmister: Ich weiß, dass sich die Bomberpiloten im Zweiten Weltkrieg mit Benzedrin in Laune brachten. Ich bekam Speed in den Sechzigern von meinem Hausarzt verschrieben. Es galt als Antidepressivum für Hausfrauen und dicke Menschen. Als die Behörden herausfanden, dass ein ganz anderes Milieu anfing, diese Droge zu genießen, war es bald vorbei mit den Rezepten. SPIEGEL: Was hat Ihnen daran so gefallen, der Euphorieschub, das Gefühl, stark zu sein, unbesiegbar? Kilmister: Kann alles sein. Vor allem aber ist es die richtige Droge, wenn man mit der Band unterwegs ist, 48 Stunden nicht geschlafen hat und nicht die geringste Ahnung, wie man nun auf die Bühne steigen und ein Konzert durchstehen soll. SPIEGEL: In Ihrer Wohnung in Los Angeles sollen Sie eine ansehnliche Sammlung von Memorabilia aus dem „Dritten Reich“ bunkern. Wozu braucht ein Mensch ein Schwert aus Damaszener-Stahl mit einem Hakenkreuz drauf? Kilmister: Mir gefällt so etwas. Vor allem, wenn es noch so eine mysteriöse Geschichte dazu gibt wie zu meinem DamaszenerStahl-Schwert. Es war auf dem Weg zu einem deutschen General in Breslau, als die Russen es abfingen. SPIEGEL: Wozu braucht ein Mensch die Haarbürste von Eva Braun, der Geliebten Adolf Hitlers? Kilmister: Ich besitze neben der Haarbürste auch ein Feuerzeug mit ihren Initialen EB und einen Reiseaschenbecher von ihr. Was seltsam ist, Hitler hasste Raucher. SPIEGEL: Haben Sie in Los Angeles nicht auch ein paar Freunde, die sagen: Lemmy, wir wissen, du bist ein britischer Exzentriker, aber dieser ganze Nazi-Kitsch in deiner Wohnung, das ist zu viel, das ist übergeschnappt? Kilmister: Das Zeug ist ein Vermögen wert. Ein einfaches Jagdmesser von Göring beispielsweise bringt auf Auktionen inzwischen 100 000 Dollar. SPIEGEL: Sehen Sie die Sammlung als Alterssicherung, eine Art Schweizer Bankkonto? * Tobias Rapp und Thomas Hüetlin in Berlin.
Kilmister: In diese Richtung geht es, ja. Nur ist meine Sammlung eine ehrlichere Geldanlage als ein Konto in der Schweiz. SPIEGEL: Stört es Sie, dass es trotzdem Menschen gibt, die Sie für einen seltsamen Nazi-Reliquien-Fetischisten halten? Kilmister: Meine Freundin ist schwarz, ich spiele Rock ’n’ Roll. Ich wäre der schlechteste Nazi aller Zeiten. SPIEGEL: Ihre neue Wohnung durfte nur einen Block von ihrer Stammkneipe The Rainbow entfernt liegen. Warum war Ihnen das wichtig? Kilmister: Alles ist alte Schule dort. Ich habe da meine Ecke, auch wenn sie den einarmigen Banditen abmontiert haben und man jetzt beim Spielen auf einen Bildschirm drücken muss. Frauen kommen vorbei, auch wenn ich jetzt im Alter weniger angesprochen werde. In L. A. existiert ein Lokal durchschnittlich drei Jahre. Das Rainbow gibt es seit 1972, und es ist noch niemand auf die Idee gekommen, einen Comedy Store oder so was daraus zu machen. SPIEGEL: Sie sind selbst erstaunlich zäh. Von den Ramones, einer Punkband, mit der Sie befreundet waren, sind inzwischen alle vier Gründungsmitglieder tot. Kilmister: Es steht nirgends geschrieben, dass man eine Garantie hat zu leben, bis man achtzig ist. Joey, der Sänger und der Ramone, mit dem ich am besten befreundet war, bekam Lymphdrüsenkrebs und starb mit fünfzig. Was kann man da machen? Wenig. SPIEGEL: Hat Sie diese Machtlosigkeit getroffen? Kilmister: Ich war traurig, aber es gibt wenig, was mich schockiert. Ich bin ein eher bodenständiger Typ, und das ist selten in Los Angeles. Die meisten Leute hier haben keine Ahnung, wer sie sind. SPIEGEL: Ist es nicht eher so, dass der Rock ’n’ Roll Ihnen geholfen hat, eine Identität zu erfinden? Kilmister: Meine Identität war immer da. Es gab früher nur noch nicht die richtigen Klamotten dafür. SPIEGEL: Sind Sie religiös? Kilmister: Dünne Geschichte, die christliche Religion. Jungfrau wird schwanger von einem Geist, bleibt aber Jungfrau. Sagt zu ihrem Mann, ich bin schwanger, Darling, aber mach dir keine Sorgen, ich bin ja immer noch Jungfrau. Menschen, die sich so benehmen, verdienen es, in einem Stall übernachten zu müssen. SPIEGEL: Wie lange wollen Sie dieses Musikerleben noch führen? Kilmister: In meinem Beruf gibt es nicht den Zeitpunkt, an dem man in den Ruhestand geschickt wird mit ein paar freundlichen Worten und einer goldenen Uhr. Sehen Sie diese Uhr. Hat mich zehn Dollar gekostet. Ich schätze, sie muss noch ein paar Jahre laufen. SPIEGEL: Mr Kilmister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. DER SPIEGEL 31 / 2014
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Das Gesicht der Wahrheit Nachtleben Sven Marquardt, Türsteher des Berliner Technoklubs Berghain, hat eine berührende Autobiografie geschrieben.
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s ist schwer, Sven Marquardt während des Gesprächs nicht die ganze Zeit in sein Gesicht zu starren. Da ist das Stacheldraht-Dornen-Tattoo, das sich wie eine Rosenranke über Marquardts linke Gesichtshälfte zieht, mit roten Linien mittendrin, die aussehen wie Striemen. Auf die linke Stirnseite hat er sich außerdem mehrere Nachtfalter stechen lassen, dazu am rechten Auge eine blaue Träne und unter den Haaransatz die Satanistenzahl 666. Zwei große Ringe ziehen sich durch die Unterlippe, eine Art gebogener Stab geht durch die Nasen116
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scheidewand. Im Mund hat er einige Goldzähne, in die kleine fünfzackige Sterne geritzt sind. In den Ohrläppchen hängt noch mehr schwerer Schmuck. Die Totenkopfringe an seinen Fingern klappern leise, wenn er seine Hände bewegt. Sven Marquardt, 52, ist Fotograf und Türsteher. Der gegenwärtig wahrscheinlich berühmteste Türsteher Deutschlands, er wacht Wochenende für Wochenende am Eingang des Berliner Technoklubs Berghain. Natürlich sind die Tätowierungen Teil seiner Berufsuniform. Die Autorität, die man an der Berghain-Tür ausstrahlt,
muss etwas Bedrohliches haben, sonst würden die Abgewiesenen ihr Schicksal nicht akzeptieren. Er ist außerdem ein Symbol dafür, wie der radikale Lebenswandel einiger weniger Bewohner die deutsche Hauptstadt für viele andere Menschen aus aller Welt attraktiv und interessant gemacht hat. Sven Marquardt ist ein Berliner Wahrzeichen. Als Klaus Wowereit neulich über eine Modemesse lief und Marquardt sah, scherzte er: „Na, Sven? Hast du dich in der Tür geirrt?“ Was ziemlich lustig ist, aber auch ziemlich schräg – Wowereit ist immerhin der Regierende Bürgermeister, und es sei, erzählt Marquardt, ihre erste Begegnung gewesen. Aber die Tätowierungen und die Ringe sind auch das, was Marquardt morgens als Erstes sieht, wenn er am Waschbecken steht und in den Spiegel schaut. Sein Gesicht. Warum also der Stacheldraht? Wir sitzen vor einem Straßencafé in Prenzlauer Berg, die Sommersonne scheint, und Marquardt sagt: „Stacheldraht an sich hat eine tolle Ästhetik. Aber in meinem Gesicht hat er auch mit Schmerz zu tun. Das ist nicht in einer Sitzung entstanden und war dann fertig. Das dauerte. Da kam ein Stück und dann noch eins. Wie ein Tagebuch. Es hat damit zu tun, Dinge erlebt zu haben.“ Über einige dieser Dinge hat er nun ein Buch geschrieben. Kommende Woche erscheint „Die Nacht ist Leben“, seine Autobiografie, die er zusammen mit der Journalistin Judka Strittmatter verfasst hat, der Enkeltochter des DDR-Schriftstellers Erwin Strittmatter*. Ein überraschendes und anrührendes Buch – das Berghain kommt nur auf den letzten Seiten vor, und auch die Tätowierungen nehmen keinen übermäßig großen Raum ein. Im Grunde ist es ein Künstlerroman. Marquardt ist auch Fotokünstler. Aber sein größtes Kunstwerk ist eben er selbst. Aufgewachsen ist er in Pankow und Prenzlauer Berg, sein Vater war Autobahnbauer, seine Mutter medizinisch-technische Assistentin. Sie trennten sich, als Sven in der ersten Klasse war. Zusammen mit Freunden fing er an herumzustromern. Marquardt beschreibt das Ostberlin seiner Jugend, den heruntergekommenen Prenzlauer Berg der späten Siebziger und frühen Achtziger, als einen eigenartigen Kontinent. Menschenleere Straßenzüge, verlassene Wohnungen, Trümmergrundstücke. Mittendrin er, ein schwuler Punk im spätsozialistischen Osten, davon gab es nicht allzu viele. * Sven Marquardt mit Judka Strittmatter: „Die Nacht ist Leben“. Verlag Ullstein extra, Berlin; 224 Seiten; 14,99 Euro.
FOTO: OLE WESTERMANN
Künstler Marquardt Werden, wer man wirklich ist
Schwerpunkt: Musik Kultur
Er machte eine Ausbildung zum Fotografen und gehörte Ende der Achtziger für einen kurzen historischen Augenblick zu einer Gruppe, die als Hoffnung der ostdeutschen Fotografie galt, 1988 wurde er sogar in den Verband Bildender Künstler aufgenommen. Seine Bildästhetik war damals schon ganz ähnlich wie heute: eine eigentümliche Mischung aus Verfall und Schönheit, aus Einsamkeit, Schmerz und abweisenden Blicken. Wilde Männer auf Friedhöfen und vor Wänden, von denen der Putz herunterbröckelt. Dann fiel die Mauer. Im Westen interessierte sich fast niemand für seine Fotos, und Marquardt verlor bald auch selbst das Interesse. „Die Westmagazine wollten Bilder von frustrierten Menschen vor Schrankwänden. Die hatte ich nicht“, sagt er. Ihn habe manchmal das Gefühl beschlichen, seine träumerischen Bilder seien möglicherweise nur Fantasien gewesen, die er im Osten nicht habe ausleben können. Er legte die Kamera weg, packte sein Archiv ein und stürzte sich ins Nachtleben der wiedervereinigten Stadt: Er wollte die Fantasien jetzt ausleben. Es ist ja bemerkenswert, wie sehr das Bild der sogenannten Prenzlauer-BergSzene bis heute von den Dichtern und Bürgerrechtlern der Achtzigerjahre beherrscht wird. Auf der einen Seite kein Wunder: Sie haben nicht nur die großen Geschichten von Widerstand und Verrat. Sie haben vor allem eine erprobte Sprache, die Mittel des Widerstands in der DDR gewesen ist, aber eben auch das Medium, in dem die, die es konnten, nach dem Ende der DDR ihre Geschichten weitererzählten. Es gab aber noch eine andere Künstlergruppe in Prenzlauer Berg, eine, die we-
Berlin ist eine eigenartige Stadt. Sie niger an die Sprache glaubte, für die auch die direkte Opposition gegen den Staat zieht die europäische Jugend an wie weniger wichtig war als das Leben in einer keine andere und lockt, anders als London eigenen Welt – da gab es etwa die Band oder Paris, eben nicht mit der großen Feeling B, von der einige Musiker mit Karriere, sondern mit dem Versprechen, Rammstein weltberühmt wurden. „Mit nur hier könne man werden, wer man den Dichtern hatten wir ja nicht so viel wirklich ist. Doch dann steht man vor Sven Marzu tun“, sagt Marquardt. „Wir haben über die gekichert. Und die fanden uns natür- quardt. Und muss der Wahrheit ins Gesicht lich doof, mit unseren Hinterhofmoden- blicken. Nicht nur der Wahrheit über die eigene Coolness, der Frage, ob man schauen. Ich dachte immer nur: Video: hineinkommt oder nicht. Du? Ja. Was nehmt ihr euch eigentlich so Sven Du? Auch. Du? Nicht. wichtig?“ Marquardts Auch der Wahrheit über das Viele der Ostpunks landeten Fotografie nach der Wende in der Techno- spiegel.de/app eigene Leben. Folge ich wirklich 312014 meinen Wünschen? Oder beuge ich szene – hier wurde die neue Freiberghain mich den Konventionen? Will ich heit gefeiert. Marquardt arbeitete erst als Schuhverkäufer, fing dann oder in der App das, was ich habe? Oder etwas ganz in einem Tätowierstudio an. Zum DER SPIEGEL anderes? Der Glaube, Berlin habe Antworten auf diese Fragen, treibt Türsteher wurde er eher zufällig, die jungen Leute in die Stadt. sein Bruder war DJ und fragte Marquardt sieht aus, als hätte er ihn, ob er nicht den Einlass in sie für sich gefunden. Deshalb grüßt einem Klub machen könne. So ihn auch der Bürgermeister. landete er schließlich vor dem Es gibt eine Stelle in „Die Nacht ist Eingang des Snax, eines Sexklubs für Männer. Aus den Snax-Partys entstand Leben“, da schreibt Marquardt über sein der Klub Ostgut, aus dem schließlich das erstes Hals-Tattoo und die Entscheidung, damit zukünftig auf einen „seriösen Job“ Berghain wurde. Dort fing er wieder an zu fotografieren. zu verzichten. Die Tätowiererin setzt an, Seine Kollegen an der Tür, einige Gäste, es schmerzt, die Buchstaben SM sollen es die DJs. Mittlerweile fotografiert er auch werden, Marquardts Initialen. Als sie fertig ist, schmerzt es noch mehr, weil er schutzfür eine Modemarke wie Hugo Boss. Und er steht immer noch jedes Wochen- los in die Sonne geht. Andere Tätowierunende an der Tür des Berghain. Seit bald gen folgen, auch im Gesicht. Mit der Zeit zehn Jahren. Es werde ihm nicht lang- werde die „schöne Seite des Schmerzes“ weilig, sagt er. Auch wenn ein wenig feiner allerdings blasser. Vielleicht, „weil man mit Spott mitschwingt, wenn er über die den Jahre dünnhäutiger wird“. So wirkt er gar nicht, Sven Marquardt, „Berghainis“ spricht, all die jungen Leute, deren Vater Marquardt sein könnte, die „der Eisenmann“, wie er auch genannt sich da nachts vor ihm drängeln und wird. Aber so ist es vielleicht, wenn man hineingelassen werden wollen in den seine Haut zur Leinwand seiner Träume gemacht hat. bekanntesten Technoklub der Welt. Tobias Rapp
Redakteur Doerry beim Klavierspiel
In Chillys Schoko-Fabrik Pianisten Der Musiker Chilly Gonzales hat 24 Etüden für all jene komponiert, die dem Klavier untreu geworden sind. Wird man mit diesen Übungen so perfekt wie der Meister selbst? Ein Selbstversuch. Von Martin Doerry
Bühnenkünstler Gonzales
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Schwerpunkt: Musik Kultur
FOTOS: MATTHIAS HASLAUER / DER SPIEGEL (O.); FRANK HOENSCH / REDFERNS VIA GETTY IMAGES (U.)
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roß und einschüchternd steht sie da, die schwarze Kiste mit den 88 Tasten. Das edle Teil will endlich wieder bespielt werden. Aber es geht nicht, seit Monaten schon. Der schöne Bösendorfer mit dem weichen Wiener Klang bleibt stumm. Auch die Noten verstauben im Regal. Chopin und Bach, Mendelssohn und Mozart, Satie und Debussy – sie alle spielen in meinem Leben keine Rolle mehr. Ich mag nicht einmal an sie erinnert werden. Erst neulich schepperte ein Klassikhit von Eric Satie aus dem Handy eines Kollegen. Als Klingelton! Welch Frevel! Aber wann eigentlich hatte ich das kleine Stück zum letzten Mal gespielt? Solche melancholischen Stimmungen können jahre-, jahrzehntelang anhalten. Mangelnde Übung macht alles nur schlimmer. Wer kaum noch spielt, weil er tatsächlich (oder vermeintlich) schlecht spielt, spielt bald noch schlechter – und am Ende gar nicht mehr. Die hier beschriebene Krankheit ist verbreitet, die Therapie allerdings umstritten. Soll man wirklich von vorn anfangen, mit den langweiligen Übungsstücken von Czerny, Clementi oder gar Hanon, dem Schrecken aller Klavierschüler? Ja, helfen würde das schon, sagen die einen. Nein, sagt der Pianist Chilly Gonzales, wer es mit diesen „unspaßigen Notenbüchern“ probiere, höre doch meist schnell wieder auf. Gonzales, 42, ein begnadeter Musik-Entertainer mit legendären LiveShows, hat deshalb ein anderes, ein unterhaltsames Übungsbuch für Wieder-Anfänger komponiert, die „Re-Introduction Etudes“, und er verspricht Unglaubliches: Kunst ohne Quälerei, Spaß ohne Arbeit. Die ersten Besprechungen des neuen Lehrbuchs fielen hymnisch aus. „Hier ist etwas Wunderbares iert“, jubelte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, „ein Klavierlehrer erobert die Welt.“ Und die Süddeutsche Zeitung wagte sogar die kühne Prognose: „Spätestens in ein paar Jahren wird eine ganze Generation von Klavier-Anfängern völlig selbstverständlich mit diesem Notenband unterrichtet werden.“ Aber hat einer der Rezensenten dieses Buch mal selbst durchgespielt? Oder sind sie alle nur dem Charme und Witz des großen Meisters erlegen, der sein Notenbuch vor ein paar Wochen in Berlin in einer Performance vorgestellt hatte? Zu den Konzerten des in Köln lebenden Kanadiers mit dem bürgerlichen Namen Jason Charles Beck strömen Tausende. Seine beiden Soloalben finden sich längst in den MP3-Archiven des gehobenen Bürgertums. Seine minimalistische, zwischen Klassik und Jazz irrlichternde Musik klingt eingängig und schön – nur Hardcore-Klassikfans verspotten ihn als Satie für Arme.
Aber Satie lebt bekanntlich nicht mehr, „Dressed in Green“ wurde, warum auch also besser Gonzales als gar nichts. immer, dem großen Paddy McAloon, dem Bei seinen Auftritten trägt er gern Bade- Mastermind von Prefab Sprout, zugeeigmantel und Pantoffeln. Zuweilen holt er net. Gonzales ist damit nicht nur der MeisAmateurpianisten aus dem Publikum, um ter des schönen Klangs, sondern auch der sie auf der Bühne zu unterrichten und auch des prätentiösen Namedroppings: Er widein wenig zu demütigen. Sein Klaviersche- met jedes seiner kleinen Kunst-Stücke eimel ist so niedrig wie einst der von Glenn nem Star, seiner Freundin Feist zum BeiGould. Seine Handhaltung (so flach wie spiel oder Nina Simone, Thelonious Monk, eine Flunder) würde jeden wirklichen Kla- Maria Callas sowie der Band Daft Punk, vierlehrer verzweifeln lassen. Kein Zweifel und macht damit auch eher Unbedeutenalso, Chilly Gonzales ist ein Genie. des erst richtig bedeutend. Wer möchte Ein paar dahingeperlte Klänge – und nicht von so einem geistreichen Künstlerschon bringt er das Publikum um den Ver- Himmel beschirmt werden? stand. Seine Mischung aus musikalischem Je länger man sich durch das ÜbungsUnderstatement und gepflegter Arroganz buch spielt, desto schöner wird es. Man ist erinnert sogar an den großen Zyniker plötzlich sogar von sich selbst beeindruckt. Frank Zappa. Dessen Weisheit, „Jazz ist Etwa beim impressionistischen „Early nicht tot, er riecht nur schon ein bisschen“, Bird“ und dann vor allem bei „Lefties“, könnte auch von dem über alle einem genialen Stückchen AngebeGenre-Grenzen hinwegspielenden rei, das heißt: viel Sound mit wenig Video: Gonzales stammen. Ohne Jazz Martin Doerry Aufwand – die einzige Etüde übriaber hätte es Zappas Musik nie ge- spielt Chilly gens, in dem meine (wie bei den Gonzales geben. Und die von Gonzales eben meisten Pianisten) eher schwache spiegel.de/app auch nicht. linke Hand ein bisschen gefordert 312014klavier Wer also wollte nicht so cool wie oder in der App wird. Der Meister hat es dem LinksChilly sein? händer Barack Obama gewidmet. DER SPIEGEL Nun aber ran ans schwarze MonsAls Ganzes konsumiert, in einer ter. Die ersten Töne gehen fast wie knappen Stunde durchgespielt, ervon selbst, die Finger stolpern nur innert sein Album dann allerdings etwas wacklig über die Tasten, doch an den Besuch in einer Schokolader weiche Klang wärmt das Herz. denfabrik: Bei so viel Süßem kann Die Kiste klingt. einem schlecht werden. Zumal die Anstrengungen eher gering Gonzales hat das Eröffnungsstück seinem Helden Johannes Brahms gewidmet, ein ho- ausfallen: Alles, was Klavierschüler verher Anspruch – den er definitiv nicht erfüllt. schrecken könnte, rhythmische Finessen Das macht aber nichts. Bis auf ein paar läs- oder virtuose Läufe zum Beispiel, fällt Gontige Gegentakte in der linken Hand lässt zales’ Minimalismus zum Opfer. Wer in seisich das Stück mühelos herunterklimpern. nem früheren Leben mal ernsthaft Klavier Die zweite Etüde ist schon etwas span- gespielt hat, wird hier auch nach längerer nender, offenbar aus Dankbarkeit wurde Abstinenz nicht vor größere Herausfordesie Steve Jobs gewidmet; Apple hatte mal rungen gestellt. Und ebendas dürfte auch eine Dreitonmelodie von Gonzales zu Wer- die – verzeihliche – Schwäche dieses Albezwecken gekauft und millionenfach un- bums sein. Gonzales vermittelt kaum technische Fähigkeiten. In einem Interview mit ter die Leute gebracht. Aber dann. Ein echter Chilly: „Pleading dem Magazin der Süddeutschen Zeitung the Fifth“, ein Stück aus lauter Quinten, hat er verraten, dass er „etwa eine Dreiacht Takte Melodie, danach etwas Ge- viertelstunde Technik am Tag“ übe. Seinen schwurbel, und noch einmal dieselbe Me- Schülern erspart er das. Nicht eine seiner lodie, nur in einer anderen Tonart. Ganz Übungen versetzt den klavierentwöhnten einfach, wie immer bei Chilly Gonzales, Musikfreund wieder in die Lage, ein Präludium von Bach oder gar eine Sonate von ganz einfach und doch schön. Nun werde ich den Vorgaben meines Beethoven zu spielen. Lehrers untreu. Man solle sich beim LerAuch seine fröhlichen Erläuterungstexte nen „amüsieren“, hat er im Vorspann ver- für die einzelnen Stücke sind wenig hilfsprochen. Ab sofort werden die langweili- reich. Im Grunde erklärt er nämlich nur die gen Stücke aussortiert. Übrig bleibt etwa kompositorischen Tricks, mit denen er arjedes zweite, immerhin. beitet. Jede seiner Etüden enthält ein oder „Dressed in Green“ zum Beispiel hat al- zwei von diesen Kunstgriffen, in seinen für les, was ein Ohrwurm braucht. Ein paar die große Bühne komponierten Stücken schräge Akkorde, eine wunderbare Melo- hingegen brennt er ganze Feuerwerke ab. die. Chilly Gonzales führt hier seinen LiebMit seinen Etüden wird man das Klavierlingseffekt, die sogenannte Green Note, spielen also nicht wirklich neu erlernen. vor. Das klingt so schön ökologisch, doch Dass man sich überhaupt wieder an die in Wahrheit handelt es sich nur um einen große schwarze Kiste setzt – das allerdings schlichten Ganztonschritt (im Unterschied ist schon ein Gewinn. zum Halbtonschritt bei der Blue Note). Danke, Chilly. DER SPIEGEL 31 / 2014
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Kultur Schwerpunkt: Musik
Glaubt man Eastwood, geht es beim Jazz wie beim Western um Leben und Tod. Als Eastwood in „Bird“ (1988) das Leben des Jazzsaxofonisten Charlie Parker verfilmte, zeigte er einen Musiker, der seinen Lebensatem aus sich heraus in sein Instrument pumpt, der am ganzen Leib zittert und vibriert wie ein Mann in den letzten Zuckungen. Parker starb im Alter von 34 Jahren. Filmkritik Clint Eastwood zeigt in Wenn Eastwood also in seinen Filmen am Tresen hängt und seinem neuen Film „Jersey Boys“, wie hart es Musik hört, sitzt da ein Mann, der weiß, wie hart es ist, etwas herzustellen, was andere Menschen entspannt. Aus diesem ist, Gute-Laune-Musik zu machen. Grund ist „Jersey Boys“ kein fröhliches Musical über vier Kinostart: 31. Juli Jungs, die einen Hit nach dem anderen erfinden und ständig Groupies verführen. Es ist ein erstaunlich düsterer Film über lint Eastwood wurde zu einem der männlichsten Kino- Pop als Knochenjob. „Aus diesem Viertel kommst du auf drei Arten raus“, sagt stars, obwohl er ein großes Handicap hatte: seine Stimme. Sie klingt fragil, heiser, sie flüstert oft nur, als würde einer der Helden zu Beginn. „Du gehst zur Armee, arbeitest ihre Kraft zum Reden nicht ganz reichen. Diese Stimme ließ für die Mafia oder wirst berühmt.“ Der Zuschauer fühlt sich durchklingen, dass sich hinter all den markigen Helden, die er zunächst fast wie im falschen Film, wie in einem Gangsterepos von Martin Scorsese, in dem die Jungs so breitbeinig wie mögso gern spielte, noch ein ganz anderer Mann verbarg. Nun hat Eastwood einen Film über einen Mann gedreht, der lich über die Straße gehen, weil sie keinen Zweifel daran seine Stimme in ungeahnte Höhen schraubte: Frankie Valli. haben, dass sie ihnen gehört. Eastwood zeigt, wie Frankie (John Lloyd Young) und Mit seiner Band The Four Seasons sang der aus New Jersey stammende Sänger in den Sechzigerjahren Hits wie „Sherry“, Tommy (Vincent Piazza), beide Gründungsmitglieder der Band, nachts versuchen, einen Tresor zu klauen. Sie stellen sich dabei allerdings so ungeschickt an, dass daraus eine Slapstickszene wird. Bis plötzlich ein Polizist auftaucht. Frankie, der Wache steht und ihn sieht, fängt zur Warnung an zu singen. Es ist ein wunderbar irrealer Musical-Moment. Die Hä sind deutlich als Kulissen zu erkennen, der Polizist tapert durch die Szenerie wie das Klischee eines guten Cops aus der NachSzene aus „Jersey Boys“: Singen wie ein Mädchen, gehen wie ein Mann barschaft. Ja, böse Menschen „Big Girls Don’t Cry“ oder „Walk Like a Man“. Von manchen singen keine Lieder, und wer richtig gut singt, kann sogar ein Männern wurde er als Mädchen beschimpft. Doch das konnte Star werden, statt im Knast zu enden. Die Jungs finden einen Produzenten, landen ihren ersten ihm egal sein. Millionen Mädchen hingen an seinen Lippen. Der Film „Jersey Boys“ beruht auf einem Broadway-Musical Hit, und auf einmal sind sie im Fernsehen, in der „Ed Sullivan und rekapituliert die Geschichte der Four Seasons – einer der Show“, die jede Woche von vielen Millionen Amerikanern erfolgreichsten Gruppen vor den Beatles – von ihrer Gründung gesehen wird. Das Musical scheint das Sozialdrama und den in den frühen Fünfzigern bis zu ihrer Aufnahme in die Rock & Gangsterfilm hinter sich gelassen zu haben. Doch bei Eastwood Roll Hall of Fame im Jahr 1990. Es geht um vier Männer, die ist der Glanz dazu da, den Zuschauer zu blenden. Der Triumph mit ihrer Musik möglichst gute Laune verbreiten wollen. Nicht währt nur kurz. Tommy hat mit der Mafia Geschäfte gemacht und schuldet unbedingt ein Eastwood-Stoff, so scheint es. Doch der heute 84-jährige Schauspieler und Regisseur ist ihr ein Vermögen. Die Band muss tingeln und jeden noch so seit je ein großer Musikliebhaber. Der Western und der Jazz kleinen Gig spielen, um das Geld zusammenzubekommen. Doch Eastwood erzählt dies nicht als Chronik eines Nieseien die einzigen originären Kunstformen der USA, Video: dergangs. Für ihn bemisst sich die Bedeutung einer Band hat er mal gesagt. In sehr vielen seiner Filme gibt es eine Szene, in der Eastwood mit einem Bier in der Hand Ausschnitte nicht nach der Größe der Halle, die sie füllt. Er weiß, aus „Jersey welche Intimität zwischen Musikern und Publikum gein einem Saloon, einer Bar oder einem Nachtklub sitzt Boys“ rade in Bars und Klubs entstehen kann. und Musik hört. spiegel.de/app Es sind die Momente, in denen der Held zur Ruhe Der Zuschauer folgt den Helden gern auf ihrem Weg 312014film kommt von den vielen Kämpfen und Schießereien, zu oder in der App durch die Jahrzehnte, bei dem sie ihre Vergangenheit denen die Plots seiner Filme ihn zwingen. In manchen DER SPIEGEL bis ins hohe Alter mit sich tragen. Wer gute Musik madieser Szenen setzt sich Eastwood sogar selbst ans chen will, muss dafür viel geben, vielleicht sogar alles. Klavier und spielt ein paar Takte. Der Zuschauer hat Was er dafür kriegt, ist ungewiss. Eastwood erzählt dies dabei immer das Gefühl, einem Mann dabei zuzusehen, sehr abgeklärt und zugleich voller Bewunderung. Ein wie er in der Musik zu sich selbst findet. Bis er mit dem großer Meister, der anderen Künstlern gebannt wie ein Schießen weitermacht. kleiner Junge bei der Arbeit zuschaut. Lars-Olav Beier
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Medien Satire
Zehn Milliarden Dollar für CNN
Internet
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Teures Löschen Bei Microsoft werden LöschDie Entscheidung des Eurogesuche für die Suchmaschine päischen Gerichtshofs, dass Bing derzeit nur gesammelt, Suchmaschinen Treffer löüber die Regeln für die Beschen müssen, wenn Bürger arbeitung, heißt es dort, sei sich dadurch geschädigt senoch nicht entschieden. Mihen, wird für Google teuer. crosoft will die Zahl der einMehr als hundert neue Mitgegangenen Anträge nicht arbeiter wurden rekrutiert, nennen, doch es handele sich hauptsächlich am Standort Dublin in Irland. Die meisten um erheblich weniger als bei Google. Vergangene Woche von ihnen sind sogenannte traf sich eine Arbeitsgruppe Paralegals, juristische Hilfskräfte, die Anträge prüfen sol- aus Datenschützern und Suchmaschinenbetreibern in len. Über 100 000 LöschgesuBrüssel, bis September sollen che sollen bisher bei Google europaweit eingegangen sein, verbindliche Regeln für die Umsetzung des „Rechts auf die meisten aus Frankreich. Deutschland belegt den zwei- Vergessenwerden“ stehen. ten Platz, Mitte Juli waren es „Wichtig ist, dass wir einen einheitlichen Standard erarhierzulande rund 16 500 Anbeiten und nicht jedes EUträge. Rund ein Drittel lehnt Land den gleichen SachverGoogle nach eigenen Angaben direkt ab, in mehr als der halt anders bewertet“, sagt Hälfte der Fälle wird gelöscht. Johannes Caspar, hamburgi-
Presse
Albrecht wollte sich erklären Aldi-Mitgründer Karl Albrecht, der vorvergangene Woche im Alter von 94 Jahren starb, hatte sich vor seinem Tod zu einer Gesprächsreihe in der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) bereit erklärt. Es wäre das erste
scher Datenschutzbeauftragter und zuständig für Google Deutschland. Strittig sind vor allem zwei Punkte: Tilgt Google einen Suchtreffer bei seinen europäischen Ablegern, ist das Ergebnis nach wie vor außerhalb der EU abrufbar, etwa bei google.com. Datenschützer plädieren dafür, den Treffer auch dort zu entfernen. Strittig ist auch, inwieweit ein Suchmaschinenanbieter den Betreiber einer Website darüber informieren kann, dass eine von ihm erstellte Seite bei der Eingabe von bestimmten, im Text enthaltenen Namen nicht mehr als Suchergebnis ausgewiesen wird. Google informiert derzeit die Betreiber, ohne den Namen des Antragstellers zu nennen. mum
Interview des notorisch pressescheuen Milliardärs gewesen. FAZ-Digital-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron hatte sich mit ihm bereits zu einem langen Vorgespräch getroffen und Albrechts Einverständnis erhalten. In einem Text für die FAZ zum Tode Albrechts hatte Blumencron bereits einige Details aus diesem Gespräch berichtet. bra
Jon Stewart hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er den US-Nachrichtensender CNN scheußlich findet. Stewart, 51, ist einer der bekanntesten Entertainer der amerikanischen TV-Landschaft, seine Late-NightSendung „The Daily Show“ persifliert gern und oft auch das CNN-Programm. Seit vergangener Woche nun wabert seine Kampagne durchs Netz: Unter der Adresse letsbuycnn.com findet sich ein Crowdfunding-Aufruf – zehn Milliarden Dollar sollen zusammengetragen werden, um CNN zu kaufen. Die im Layout der Finanzierungsplattform Kickstarter gehaltene Kampagne ist ein Fake, der Hintergrund aber durchaus ernst. Multimilliardär Rupert Murdoch schickt sich an, die CNN-Mutter Time Warner zu kaufen. Der Deal scheiterte zwar vorerst, doch endgültig vom Tisch ist der Plan noch nicht. Der Wert des Senders wird auf zehn Milliarden Dollar geschätzt. Allerdings würde der Nachrichtenkanal kaum in Murdochs Reich en – dessen eigener Nachrichtensender Fox News gilt mit seiner konservativen Ausrichtung als Feindbild des bei Demokraten beliebten Senders CNN. mum
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Große Depression Humor Comedians und Kabarettisten brechen in ihren Shows die letzten Tabus. Ihre Späße über psychische Erkrankungen und körperliche Behinderung sollen nicht verletzen, sondern Ängste abbauen. Sogar der Tod macht Bühnenkarriere.
Comedy-Figur Tod
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Medien
FOTO: NORMAN KONRAD / DER SPIEGEL
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ypisch Tod, kommt wie immer im der ihn spielt, setzt sich auch ernsthaft mit Leben zu früh. Im Treppenhaus steht ihm auseinander. Besonders fasziniert ihn er plötzlich vor einem. Er trägt eine die mexikanische Tradition, für die Verschwarze Kutte und hat eine Sense dabei. storbenen ein ausgelassenes dreitägiges Seine Hand ist warm, der Händedruck Volksfest zu feiern, aus Dankbarkeit für weich. „Ich habe Kaffee gekocht“, sagt er die gemeinsam verbrachte Zeit. Seine Darmit hoher Stimme und bittet ins Büro sei- stellung des Todes sieht er als Imagekampagne. Manchmal spielt er auch auf Benes Agenten. Überhaupt ist der Tod ein prima Kerl, triebsfeiern von Bestattungsunternehmern. Die Idee, aus dem Tod eine Comedy-Fizuvorkommend und empfindsam. Das könnte daran liegen, dass er noch in der gur zu erschaffen, war ihm vor drei Jahren Ausbildung ist. Denn der Tod ist eigentlich in einer Kinderkrebsklinik gekommen, als ein Familienunternehmen, so erklärt er es, er die Tochter einer Bekannten besuchte. und er, der Junior, soll allmählich ins Ge- „Die Kinder malten Bilder vom Tod. Eines stellte ihn sich als goldenen Drachen vor. schäft hineinwachsen. Wie es ihm dabei ergeht, erfährt man Ein anderes zeichnete ein Prinzessinnenbei seinen Bühnenshows und im Buch schloss, so sah für sie das Paradies aus.“ Außerdem wollte er allen Regisseuren, „Mein Leben als Tod“. Auf seinem YouTube-Kanal treibt er mit seiner Praktikan- mit denen er gearbeitet hatte, zeigen, dass tin Exitussi sein Unwesen, die Serie heißt sie falschlagen. Die Mimik sei das Wichtigste, hatten sie immer gepredigt. Er woll„Todis Welt“. Seinen Job definiert er so: „Einer muss te beweisen, dass es auch ohne geht. Seiner Medienkarriere steht das alleres ja machen, sonst würde die Erde vor Überbevölkerung explodieren. Immerhin dings im Weg. Talkshows wissen wenig hat man mit Menschen zu tun und kommt mit ihm anzufangen. Die Redaktionen von viel rum.“ Wer mit ihm die letzte Reise Markus Lanz und Bettina Böttinger hatten antritt, kann wählen zwischen Floß und sich zwar für ihn interessiert. Doch kam Tunnel. Zuvor wird die „Best-of-your-life- es nie zu einem Auftritt, weil der Tod sich weigert, ohne Maske aufzutreten. Rückfilmschau“ abgespult. Sein Manager, der auch Sarah Kuttner Man möchte dem Tod gern ins Gesicht lachen, aber er zeigt es an diesem Nach- und Klaas Heufer-Umlauf betreut, fragt mittag nicht. Während der anderthalb alle paar Monate bei ihm nach, ob er sich Stunden, die das Gespräch mit ihm dauert, nicht doch mal ohne Verkleidung ins Fernlegt er die Kutte nicht ab und auch nicht sehen wagen wolle. Er sagt, er wolle das die Strumpfmaske mit den Sehschlitzen, möglichst lange durchhalten; ähnlich wie wie sie die Bankräuber bei „Aktenzeichen der Sänger Cro, der bis heute nur als Panda maskiert auf die Bühne geht. XY … ungelöst“ tragen. Zu seinen eindrücklichsten Erlebnissen Das Treffen in Berlin findet statt unter der Maßgabe, dass der Name des Come- zählt der Tod seine Auftritte in Hospizen. dians, der sich unter dem Kostüm verbirgt, Er sagt, die Stimmung unter den Sterbensnicht öffentlich wird. Von wegen Mythos kranken sei jedes Mal gelöst. „Sie sind und so. Bekannt werden darf: Er ist um die froh, wenn sie ihre letzten Tage auch fröhlich verbringen können.“ dreißig, den Tod spielte er erstmals 2011. Eine ähnliche Erfahrung hat Nico SemsSo lange dauerte es, bis sich ein deutscher Comedian anschickte, in dieser Rolle rott gemacht. Wenn er nach seinen AufKarriere zu machen. Zwar gehört der Tod tritten mit Zuschauern spricht, verabzu den ältesten Erfahrungen des Menschen. schieden manche sich schon mal mit dem Aber in westlichen Gesellschaften wird er Hinweis, sie müssten zurück auf ihre psychiatrische Station. Vor einigen Wochen noch immer verdrängt. Nun endlich darf der Tod lustig werden, hat er zum ersten Mal auf Einladung einer der Weg ist frei, denn eine Reihe radikaler psychiatrischen Klinik gespielt, im hessiKomiker hat in den vergangenen Jahren die schen Eltville. Semsrott, 28, macht Depressions-ComeHumorgrenzen der Deutschen gesprengt. Sozialer Stand, Religion, Herkunft – dy. Der Hamburger steht dann einen nichts scheint mehr unantastbar. Cindy aus Abend lang wie geprügelt auf der Bühne, Marzahn brachte die Unterschicht auf die die Augen traurig, die Stimme monoton, Bühne, der jüdische Komiker Oliver Polak und sagt Sätze wie: „Freude ist nur ein machte sich über den Umgang mit dem Mangel an Information.“ Oder: „Die HoffHolocaust lustig, Migranten-Comedians nung stirbt zuletzt. Aber sie stirbt.“ Manchmal erreichen ihn auch empörte kübelten ihren Zuschauern die Vorurteile vor die Füße, mit denen sie sich täglich Zuschriften. Witze über psychische Leiden seien unanständig, heißt es darin. Einer konfrontiert sehen. Zu den verbliebenen Tabus gehörten schrieb, er könne darüber gar nicht lachen: Krankheit, Behinderung und Depression. Er kenne jemanden, der sich umgebracht Nun werden auch sie zum abendfüllenden habe. Depressive allerdings beschwerten Spaß, und mit ihnen der Tod, der ja nach- sich selten, sagt Semsrott. Sie empfänden weislich das Allerletzte ist. Der Comedian, seinen Humor als befreiend.
„Darf man über Depression Witze machen?“, fragt er in seinem Bühnenprogramm. Und antwortet: „Nein, man darf nicht. Man muss.“ Psychische Leiden seien schlimm. „Das Schlimmste ist aber, wenn man depressiv ist und keinen Humor hat.“ Entstanden ist seine Show in einer Zeit, als er selbst unter Depressionen litt. „Ich lag nur im Bett und wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich fühlte mich schwach, einsam und ungeliebt.“ Für einen Poetry-Slam, einen Dichterwettstreit auf offener Bühne, packte er alle Schwermut seines Lebens in einen Text. Auch Selbstmordgedanken kamen darin vor. Anfangs deklamierte er mit großem Ernst. Weil sich das so schrecklich anhörte, gab er dem Ganzen nach den ersten Auftritten einen lustigen Drall. Plötzlich war er Comedian, wurde in die ZDF-Satireshow „Neues aus der Anstalt“ eingeladen und zu Stefan Raab. Eine eigene YouTubeSerie hat er in Vorbereitung. Die Kapuze, die Semsrott bei jedem Auftritt trägt, war zunächst ein Schutz gegen seine große Unsicherheit. „Am Anfang war ich mit dieser ängstlichen Figur identisch. Heute bin ich privat glücklicherweise weit von ihr entfernt.“ Auch die Chronologie seines Scheiterns hat ein Ende gefunden. „Früher habe ich immer alles gleich abgebrochen“, sagt er. Sein Studium der Geschichte und Soziologie beendete er nach sechs Wochen. Praktika bei Zeit online, SPIEGEL ONLINE und der NDR-Satiresendung „Extra 3“ zog er durch, innerlich hatte er aber bereits nach wenigen Tagen gekündigt. Seine Komik versteht er als Systemkritik. Ebenso die ihr zugrunde liegende Krankheit. „Wenn man in dem kapitalistischen Betrieb vereinsamt, ist Depression die einzige Möglichkeit, sich zu wehren.“ Ein neues Geschäftsmodell hat er im Kapitalismus dennoch entdeckt: Der Trübsalbläser verkauft jetzt Unglückskekse. Auf Zettelchen finden sich darin Weisheiten wie „Das Leben ist eine Krankheit, die per Sex übertragen wird und in jedem Fall tödlich endet.“ Oder: „Das Licht am Ende des Tunnels kann auch ein Zug sein.“ Rainer Schmidt hingegen ist schon von Berufs wegen Optimist. Er ist evangelischer Pfarrer, leitete früher eine eigene Gemeinde. Seit 2010 arbeitet er am Pädagogisch-Theologischen Institut in Bonn, wo er Vorträge über die Teilhabe Behinderter am Gemeindeleben anbietet. Schmidt, 49, kam ohne Unterarme zur Welt und blickt auf eine erfolgreiche Laufbahn als Sportler zurück. Bei den Paralympics gewann er viermal Gold im Tischtennis. Inzwischen ist er auch Kabarettist. Entstanden sind die Nummern aus seinen Vorträgen über das ZusammenleDER SPIEGEL 31 / 2014
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ben mit Behinderten, die er derart launig gestaltet hatte, dass Zuhörer sich danach für das „tolle Kabarett“ bedankten. Daraus entwickelte er ein abendfüllendes Programm. Der Titel: „Däumchen drehen“. Schmidt hat keine Finger. Nur einen Daumen, links. Gläser und Flaschen trägt er mit den Armstümpfen, so schreibt er auch. Sein Handy holt er mit dem Mund aus der Tasche. Zu Beginn seiner Auftritte lässt er Zuschauer raten, was er ohne Hilfe nicht kann. Ruft jemand vorsichtig: „Kämmen?“, zieht er einen Kamm heraus und frisiert sich. Bei „Allein anziehen?“ kramt er einen Metallstab hervor mit zwei Krallen, die einen Reißverschluss öffnen können. Bisweilen sind die Leute davon so ermutigt, dass sie rufen: „Den Hintern abwischen?“ Schmidt versichert dann, auch dafür gebe es eine Hilfskonstruktion, auf die Vorführung bitte er zu verzichten. Schmidts Programm besteht aus fiktiven Geschichten aus seinem Leben. Über seine Geburt sagt er: „Wenn du keine Arme hast, geht das wie der Korken aus der Sektflasche.“ Seine Oma habe ausgerufen: „Handwerker wird der mal nicht!“ Um Menschen die Angst im Umgang mit Behinderten zu nehmen, spielt er den Verschmitzten, der seine Defizite ausnutzt: „Früher habe ich mich manchmal mit dem Hut auf die Straße gesetzt. Nach einer Viertelstunde hatte ich so viel zusammen, dass ich alle meine Freunde zum Pizza-Essen einladen konnte.“ Schmidt, der Theologe, sagt, Tabus seien eigentlich etwas Heiliges. Die verbotene Stadt. Der Harem des Sultans. „Absolute Tabus gibt es heute nicht mehr. Aber situative Tabus.“ Wenn ihm Zuschauer nach seiner Show einen Behindertenwitz erzählten, sei das okay. Wenn sich jemand einfach so über einen Behinderten lustig mache, natürlich nicht. Vielleicht sind Schmidt und Kollegen ja ein Zeichen dafür, dass Deutschland im Umgang mit menschlichem Leid Fortschritte macht. Späße über Tod, Depression und Behinderung sollen ja nicht ausgrenzen. Sie machen nicht Personen lächerlich, sondern die Umstände, unter denen sie leben. Es gilt der Satz des Entertainers Thomas Hermanns: „Je größer ein Tabu, desto besser muss der Witz sein.“ Ein Kabinettstückchen von Rainer Schmidt geht so, dass er sich auf der Bühne Handschuhe über die Armstümpfe streift. „Diese Möglichkeit habe ich erst im letzten Winter entdeckt“, sagt er dazu. Seit er die Hände falten könne, würden auch beinahe all seine Gebete erhört. Alexander Kühn Video: „Der Tod" im Interview spiegel.de/app312014comedy oder in der App DER SPIEGEL
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Wankender Fels Essay Solidarität und Hass zwischen Israelis sind so groß wie nie. Wie t das zusammen? Von Meir Shalev
Beerdigung eines Soldaten, Schaulustige auf einem Hügel nahe Gaza: Alles ist diesmal größer, intensiver, umfassender, emotionaler
FOTOS: UPI / LAIF (L.); ANDREW BURTON / GETTY IMAGES (R.)
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ls ich vor vielen Jahren als junger Soldat im Militär diente, war in meiner Einheit ein Freund, dessen Eltern im Ausland lebten. Er hatte eine Großmutter in Tel Aviv, doch wenn wir an den Wochenenden nach Hause fuhren, kam er oft mit mir nach Jerusalem. Heute nennt man jemanden wie ihn auf Hebräisch „einsamer Soldat“. Hinter dieser melancholisch-poetischen Bezeichnung verbergen sich in der Regel Soldaten, die ohne Familie nach Israel eingewandert sind. Die Armee kümmert sich um sie, außerdem werden sie von israelischen Familien „adoptiert“, in Kibbuzim beherbergt und von speziellen Organisationen betreut. Wenn ein solcher Soldat ums Leben kommt, kümmert sich die Armee um die Formalitäten und bringt die Eltern nach Israel. Auch bei der jetzigen Operation „Fels in der Brandung“ sind vorige Woche einige dieser „einsamen Soldaten“ gefallen – doch diesmal ist etwas geschehen, was bislang ohne Beispiel war. Ein paar gute Menschen haben, aus der Befürchtung heraus, diese Soldaten könnten auch einsam zu Grabe getragen werden, die sozialen Netzwerke in Bewegung gesetzt. Das führte dazu, dass Zehntausende den Begräbnissen der „einsamen Soldaten“ beiwohnten, mehr als bei jeder anderen Beerdigung. Dabei kannte kaum jemand von ihnen die Gefallenen persönlich. Ich erzähle das nicht, um uns auf die kollektive israelische Schulter zu klopfen, sondern als Beispiel dafür, was wir derzeit erleben: Alles ist diesmal größer, intensiver, umfassender, emotionaler als sonst. Bürger bekochen die Soldaten auf dem Weg zur Front, sie kaufen ihnen Unterwäsche und Socken, nehmen ihnen die schmutzige Wäsche ab und bringen sie sauber und wohlduftend zum Schlachtfeld zurück. Das ist ein sehr israelisches Verhalten, auf das wir mit Recht stolz sein können. Aber auch
unsere hässliche Seite tritt in diesem Krieg deutlicher zutage. Die Demonstrationen der Rechten sind gewalttätiger, und Aggressionen gegen Andersdenkende sind stärker verbreitet; der Zorn ist explosiver, die Fäuste sind geballter und die Leserkommentare im Internet widerwärtiger. Eine besonders abstoßende Art der israelischen Rechten macht sich breit, die mit ihrer zweifelhaften Vaterlandsliebe eine Vorstufe zu einem unglaublichen und unerhörten jüdischen Neonazismus aufscheinen lässt. Der Mord an dem arabischen Jungen Mohammed Abu Chideir, als Reaktion auf die Ermordung von drei jüdischen Jugendlichen, war der Startschuss. Inzwischen werden arabische Arbeitnehmer gefeuert, weil sie weder Freude über den Krieg noch Solidarität geäußert hatten. Linke werden verprügelt, und wer auf Facebook etwas schreibt, was nicht genehm ist, wird von der rechten Inquisition zur Ordnung gerufen. Nachdem Orna Banai, eine unserer beliebtesten und begabtesten Komikerinnen, ihre Kritik an den tödlichen Schüssen auf palästinensische Kinder am Strand von Gaza geäußert hatte, wurde sie ein Opfer von Hetze, Drohungen und Beschimpfungen. Und weil eben alles extremer ist, findet man auf der anderen Seite des politischen Spektrums auch Linke, die in der Hamas eine Art Facebook-Gruppe von Mutter Teresa sehen und in jedem israelischen Soldaten einen Nachfolger der SS-Schergen. Seit dem Mord an Premierminister Jitzchak Rabin war der Graben durch unsere Gesellschaft nie so tief. Ich kann mich nicht erinnern, dass man sich gegenseitig derart mit Schmutz beworfen hat, dass die Nerven derart blank lagen. Doch die Mehrheit der Israelis befindet sich zwischen diesen beiden Polen, und sie sind sich weitgehend einig. In gewisser Hinsicht gehöre auch ich zu DER SPIEGEL 31 / 2014
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dieser Mehrheit, auch ich bin wie die meisten der Meinung, dass taler Überlegenheit auf dem Schlachtfeld, trotz der unglaublichen man den seit Jahren anhaltenden Beschuss mit Raketen und die Erfolge der „Eisernen Kuppel“ verbergen sich unter all diesen Gefahr durch die Tunnel vom Gaza-Streifen in umliegende Ge- Schichten tiefe jüdische Existenzängste. Während es dem Staat meinden unmöglich hinnehmen kann. Auch ich denke, dass man Israel gelungen ist, die Juden aus dem Exil zu befreien, blieb ihr handeln muss. Aber was genau soll dieses Handeln sein? Für die Geist im Exil gefangen. Doch diese Ängste sind nicht nur auf uneinen bedeutet „Handeln“, Gaza dem Erdboden gleichzumachen. sere von Pogromen und Verfolgung geprägte Geschichte zurückFür die anderen bedeutet „Handeln“, lediglich unterirdische Gän- zuführen. Sie sind auch ein unrühmliches Resultat der Politik, ge und Raketenlager zu zerstören. Wiederum andere, und dazu besonders in der Amtszeit von Premier Benjamin Netanjahu. Er gehöre ich, vertreten die Meinung, man müsse auch politisch zielt mit seiner Politik konsequent darauf, die Ängste der Bürger handeln, denn sonst gibt es jedes halbe Jahr eine solche Opera- zu schüren. Sowohl in der Frage einer iranischen Atombombe, tion. Mit immer neuen, schönen Bildern gegenseitiger Solidarität gegenüber den Palästinensern und auch, indem er überall Antiund weniger schönen Bildern von toten Kindern und ausge- semitismus wittert. Dieses Gefühl der Verfolgung schürt der Staat bombten Flüchtlingen. Jedes halbe Jahr eine Operation, die der auch mit der übertriebenen Verwendung der Schoa bei jeder politischen Debatte und durch die unaufhörlichen Reisen zu den Vervorherigen gleichen wird, nur mit einem anderen Namen. Übrigens, wir haben sehr kreative Bezeichnungen für diese nichtungslagern in Europa. Alle fahren nach Auschwitz. Politiker, Operationen. Vor „Fels in der Brandung“ hatten wir „Früchte Polizisten, Soldaten, vor allem Schüler der Oberstufe, bevor sie zum Militär gehen, um dann an des Zorns“, „Frühling der Jugend“, „Schutzwall“, „Tage der einer weiteren glanzvollen OpeBuße“, „Erster Regen“, „Wolkensäule“ und „Regenbogen“. Diese ration teilzunehmen. Namen sind der Natur, der Literatur und der jüdischen Religion Wie soll das enden? Für Neentnommen. Früher hieß es, die Computer der Armee generierten tanjahu spielt das keine Rolle. Er solche Namen zufällig, aber dann müsste es Namen geben wie leidet an einer Kurzsichtigkeit, „Hängender Bauch“, „Plattfuß“ und „Verlorene Beherrschung“. für die es keine medizinische DeAndererseits könnte es ja sein, dass die Rechten auch den Comfinition gibt: Sein Blick reicht puter so mit Schlägen traktiert haben, dass er ebenfalls eine stramnicht weiter als eine Woche. me Haltung angenommen hat und nun patriotisch rechnet. Doch für die israelische GesellEine der Einheiten, die an dieser Militäroperation teilnehmen, schaft spielt es sehr wohl eine ist die Givati-Brigade. Vor Beginn der Bodenoffensive verfasste Rolle. Man sollte ihre Stärke der Brigadekommandeur für seine Soldaten eine „Kampfbotnicht geringschätzen, aber diese schaft“, die einen Sturm der Entrüstung auslöste, weil sie religiöse Bezüge enthielt. Es hieß darin, die Hamas sei eine „Schmähung, Stärke beruht eben nicht auf den Ängsten, die ihre Anführer zu Lästerung und Beschimpfung des Gottes des Heeres Israels“, und schüren versuchen. Ihre Überlegenheit entstammt nicht der Agdie Operation richte sich gegen einen „gotteslästernden Feind“. gressivität, sondern der gegenseitigen Hilfe, des Humors, der ZweiDie Worte „Gott des Heeres Israels“ stammen aus der Bibel, ge- fel und des Erfindergeists. Und wenn ich die Sirene heulen höre nauer aus einer Rede Davids zu seinem Widersacher Goliath: und sehe, wie die Menschen am Boden in Deckung gehen und „Ich aber komme zu dir im Namen des Herrn Zebaoth, des Gottes die „Eiserne Kuppel“ eine weitere Salve von Raketen aus dem Gaza-Streifen abfängt, bin ich froh, dass hier die Menschen nicht des Heeres Israels.“ Doch wir spielen heute nicht mehr die Rolle Davids, sondern „Allahu akbar“ brüllen, sondern ihre Smartphones hervorholen sind Goliath ähnlicher als dem Jungen mit der Schleuder. Darüber und Selfies mit der kleinen Wolke aufnehmen, die die von der hinaus sagt diese Kampfbotschaft des Brigadekommandeurs, dass „Eisernen Kuppel“ abgefangene Rakete am Himmel hinterlässt. Es gibt im Hebräischen einen schönen Ausdruck, der so beginnt: Gotteslästerung einen Casus Belli darstellt. Mit anderen Worten: Der Kommandeur der Givati-Brigade schickt seine Soldaten in „Jung war ich, nun bin ich alt, und damals sah ich nicht, dass …“ einen kleinen Dschihad nach Gaza. Für diese Sichtweise finden Hier fügt man dann das Thema ein, über das man sprechen will. Da ich diese Woche 66 Jahre alt werde, fühle ich mich berechtigt, sich dort zweifellos manche Gesinnungsgenossen. diesen Spruch zu verwenden. Also, der Junge in mir möchte an eligion, Heiligkeit, Tradition und Geschichte waren schon dieser Operation irgendwie teilnehmen. Das ist eine Art israeliimmer Teil der Kriege in unserer Region. Christen, Juden scher pawlowscher Reflex. Doch der alte Mann in mir hat dafür und Muslime kämpften hier in Gottes Namen, mit Gottes nur Spott übrig, er ist weit weniger konformistisch als der Junge, Hilfe und für Gott. Auch heute gibt es für alles, was iert, eine der er war, und in mancherlei Hinsicht neugieriger, skeptischer antike Parallele. Völlig unbeabsichtigt, so hoffe ich zumindest, und freidenkender. Also, jung war ich, und nun bin ich alt, und findet die derzeitige Operation „Fels in der Brandung“ in der his- noch habe ich keinen israelischen Anführer erlebt, der es versteht, torischen Zeitperiode des jüdischen Kalenders statt, die wir auf seine Bürger in die Zukunft zu führen, die sie sich wünschen. Hebräisch „Tage der Bedrängnis“ nennen. Es sind die Tage zwi- Jung war ich, und nun bin ich alt und weiß, dass die Operation schen der Eroberung Jerusalems durch die Römer und der Zerstö- „Fels in der Brandung“ zu Ende gehen wird. Beide Seiten werden rung des Zweiten Tempels. Es ist eine Zeit, in der auch säkulare ihren Sieg erklären, und dann werden wir uns auf die nächste Juden wie ich innehalten und in sich gehen. Bei mir ist das mit Ge- Operation vorbereiten. Sie wird „Harter Fels“, „Stahlsäule“ oder danken über die Eiferer und Extremisten der damaligen Zeit ver- „Eisenbeton“ heißen, was auch immer die Armeerechner sich bunden, die einen entscheidenden Beitrag zum Untergang des jü- dann ausdenken werden. dischen Staates und zum Gang ins Exil geleistet haben. Ich habe Aus dem Hebräischen von David Ajchenrand über diese Parallele etwas für die Zeitung Jediot Achronot geschrieben. Oft erhalte ich negative Reaktionen auf meine Artikel, aber Shalev, 65, ist einer der bekanntesten israediesmal hatten die Anfeindungen eine neue Qualität: Es waren lischen Schriftsteller und Kolumnist bei der wüste Beschimpfungen, geschrieben mit Schaum vor dem Mund. Zeitung Jediot Achronot. Er wurde 1948, im Doch wie gesagt, diese Anfeindungen an sich sind nicht neu, Gründungsjahr Israels, in einer zionistischen ich wurde auch schon mal bei einer Demonstration von einer Gemeinde im Norden des Landes geboren. In Frau angespuckt. Aber dieses Mal spüre ich, dass die Nerven seinem Roman „Meine russische Großmutter blank liegen, vielleicht weil die Ängste in unserer Gesellschaft und ihr amerikanischer Staubsauger“ bemit jedem Gewaltausbruch an die Oberfläche gelangen. Trotz toschreibt er seine Familiengeschichte.
Beide Seiten werden ihren Sieg erklären, und dann bereiten wir uns auf die nächste Operation vor.
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IRING FETSCHER, 92 In einer Zeit, in der Karl Marx den Zorn der Konservativen oder die Begeisterung linker Studenten weckte, war er einer der wenigen, die den Marxismus nüchtern analysierten. So entstanden Werke wie „Von Marx zur Sowjetideologie“ (1957) und „Karl Marx und der Marxismus“ (1967). Der Politikwissenschaftler wollte die Ideologie durchdringen und dennoch Distanz zu ihr wahren. Dabei half ihm wohl seine eigene Vergangenheit als Offiziersanwärter, die er später selbst kaum nachvollziehen konnte. In seinem Bericht „Neugier und Furcht. Versuch, mein Leben zu verstehen“ arbeitete er dies 1995 auf. Geboren in Marbach am Neckar als Sohn eines Mediziners, war Fetscher als 18-Jähriger zur Wehrmacht gegangen. Nach seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft studierte er in Tübingen und an der Pariser Sorbonne Philosophie, Germanistik und Romanistik, wobei er sich auf politische Theorie und Ideengeschichte spezialisierte. Von 1963 bis 1987 lehrte Fetscher als Professor für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Er war überzeugter Sozialdemokrat, saß in der Grundwertekommission der SPD und beriet die beiden Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt. Iring Fetscher starb am 19. Juli in Frankfurt am Main. lot MANFRED SEXAUER, 83 „Hallo Twen“, begrüßte Sexauer seine Hörer und spielte dann die Beatles oder The Who. Welche Entrüstung das Mitte der Sechziger bei den Eltern seiner jungen Fans auslöste, ist heute kaum noch vorstellbar. Selbst an den SPIEGEL schrieben sie, Sexauers Sendung führe zu einer Verrohung der Jugend. Diese wiederum verehrte den lockeren , der sie von den öden Schlagern im Radio, von Freddy Quinn und Peter Alexander, erlöst hatte. Bedenken seiner Chefs beim Saarländischen Rundfunk ob der negativen Zuschriften konnte er mit Wäschekörben voller Fanpost entkräften. 1972 holte ihn Radio Bremen zum Fernsehen, wo er, zunächst mit Uschi Nerke, zwölf Jahre lang den psychedelischen „Musikladen“ moderierte. Dort ließ er nicht nur die glatten Helden jener Zeit auftreten, sondern lud auch die Metal-Band Motörhead oder die Punkrocker von den New York Dolls ein. Sexauer nahm auch selbst auf: Lange vor den Deutsch-Rap-Pionieren der Neunziger spielte er 1980 den wohl ersten deutschsprachigen HipHop-Song ein, eine Version von „Rapper’s Delight“ – zusammen mit einem blutjungen Thomas Gottschalk. Manfred Sexauer starb am 20. Juli in Saarbrücken. lot
JAMES GARNER, 86 Auf den ersten Blick wirkte er wie ein gewaltiger Nussknacker, groß, eckig und ein wenig steif. James Garner schien wie geschaffen, Männer zu spielen, die aus dem rechten Holz geschnitzt sind, Westernhelden zum Beispiel. Als Pokerspieler, der von Saloon zu Saloon zieht, wurde er in der Fernsehserie „Maverick“ Ende der Fünfzigerjahre zum Star. Doch Garner liebte Figuren, die ihre Probleme nicht mit Kraft oder Gewalt, sondern mit Witz und Raffi-
nesse lösen – wie etwa den legendären Detektiv Rockford, den er zwischen 1974 und 1980 in der gleichnamigen TVSerie spielte. Garner war ein überaus selbstironischer Darsteller, auch im hohen Alter konnte er noch so verschmitzt grinsen wie ein Lausbube. Wenn er in einem Kinofilm auftauchte, etwa in Blake Edwards’ „Victor/Victoria“ (1982) oder Clint Eastwoods „Space Cowboys“ (2000), dann breitete sich um diesen mächtigen Mann eine wunderbare Leichtigkeit aus. James Garner starb am 19. Juli in Los Angeles. lob HANS-PETER KAUL, 70 Er war der erste deutsche Richter am 2002 geschaffenen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag – und dass es den Gerichtshof in dieser Form überhaupt gibt, ist ganz wesentlich sein Verdienst. Dabei trat der Diplomat Kaul sogar gelegentlich undiplomatisch auf: Dort, wo andere bei Widerstand gern mal einlenkten, blieb er hartnäckig und sogar lästig – oft mit Erfolg. So war es vor allem seinem Insistieren als Ver-
treter Deutschlands zu verdanken, dass der Uno-Sicherheitsrat bereits 1995 das von Serben verübte Massaker von Srebrenica verurteilte. Unbequeme Wahrheiten sprach er auch im eigenen Haus offen aus, selbst wenn das seiner Karriere im Auswärtigen Amt nicht immer guttat. Sein Meisterstück waren indes die Verhandlungen zur Gründung des IStGH. Als die USA am vorletzten Tag ein Konzept präsentierten, das den Gerichtshof geschwächt hätte, schaffte es Kaul als deutscher Verhandlungsleiter buchstäblich über Nacht, einen Gegenentwurf zu fertigen – und diesen weitgehend durchzusetzen. Hans-Peter Kaul starb am 21. Juli in Berlin. hip KLAUS SCHMIDT, 60 Er hütete die, wie er selbst behauptete, „ältesten Tempel der Welt“. Fast 20 Jahre leitete der Prähistoriker die Arbeiten am Göbekli Tepe im Südosten der Türkei. Dabei lieferte er völlig neue Erkenntnisse über die „neolithische Revolution“ und die Ursprünge des Häuslebaus. Als Schmidt das rätselhafte Urheiligtum 1998 im SPIEGEL einer breiten Öffentlichkeit vorstellte, mochten es viele kaum glauben. Die Steinpfeiler und Tierreliefs dort sind über 11 000 Jahre alt. Noch vor der Sesshaftwerdung hatten Steinzeitjäger
in der Heimstatt Adams und Evas gleichsam einen grandiosen Sakralbau errichtet. Dass dieser Mann, mitten im Entschleiern und Enträtseln der Urtempel, beim Baden im Meer ums Leben kam, bedeutet einen schweren Verlust auch für die Archäologie. Klaus Schmidt starb am 20. Juli auf Usedom. slz DER SPIEGEL 31 / 2014
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Gut gelaunt im Job Kürzertreten sieht anders aus: Im Juni belegen die Eintragungen im offiziellen Hofkalender des britischen Königshauses an 26 Tagen Aktivitäten von Elizabeth II., 88; meistens absolvierte die älteste amtierende Königin der britischen Geschichte mehrere Termine an einem Tag. Auch im Juli sind bis jetzt viele Empfänge, Besichtigungen und Einweihungen dokumen-
tiert, darunter die Eröffnung des erneuerten Bahnhofs von Reading, an dem jahrelang gebaut worden war. Die Queen erschien, taufte einen Zug, besichtigte das Gelände und traf „einige Mitarbeiter“, wie es im Kalender auf der Website „The British Monarchy“ heißt. Das Foto von der offenbar gut gelaunten Monarchin inmitten nicht minder gut gelaunter Bauarbeiter zeigt: Elizabeth genießt ihren Job königlich. ks
Der innere Affe Er hat einen der wohl seltsamsten Jobs in Hollywood: Terry Notary, 46, ehemaliger Artist beim Cirque du Soleil, bringt Menschen bei, sich wie Affen zu bewegen. Schon für die Neuverfilmung von „Planet der Affen“, die 2001 Premiere hatte, hat er die Hauptdarsteller trainiert. Die Affensaga beruht auf einem Science-Fiction-Roman von Pierre Boulle. Notary mischte nun auch bei „Planet der Affen – Revolution“ mit, der am 7. August in die deutschen Kinos kommt. Die tierischen Hauptdarsteller des
Films sind computergeneriert. Filmaufnahmen von Menschen dienen als Grundlage zur Animation der Affenfiguren. Die Technik heißt
Peer Steinbrück, 67, ehemaliger SPD-Kanzlerkandidat, der wegen gut bezahlter Vorträge unter Druck geriet, macht auf der Suche nach neuen Einnahmequellen auch vor dem einstigen politischen Gegner nicht halt: Er hat bei der Unternehmensberatung des Landshuter CSU-Politikers Wolfgang Götzer angeheuert. Steinbrück kassiert dafür im Jahr 2014 nach Angaben der Bundestags-Homepage bis zu 30 000 Euro. Götzer war bis zum vergangenen Herbst Justiziar der Unionsfraktion im Bundestag. Weder Steinbrück noch Götzer wollten nähere Auskunft zu ihrer Partnerschaft geben. sve
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Motion-Capture. Die Akteure, hier Stuntmen, bekamen von Notary prothesenartige Armverlängerungen, sodass sie affengleich durchs Bild toben konnten. Notary überlegt, ob er die Teile jetzt als Fitnessgerät vermarkten soll. Das Training damit sei nämlich „richtig großartig“ und anspruchsvoll. Die Männer, die im Film als Affenhorde erscheinen, mussten nicht nur sportlich sein. Notary verlangte auch Einfühlungsvermögen: Jeder sollte „seinen inneren Affen“ finden. Dazu empfiehlt der Trainer Atemtechnik und Entspannung. ks
Mit dem Song „La bestia“ kommt der lange Zeit weithin unbekannte US-amerikanische Sänger Eddie Ganz jetzt groß heraus: Sogar CNN hat ihn interviewt. Der Titel des Liedes ist mit dem Spitznamen des Güterzugs identisch, auf dem mittelamerikanische Migranten Mexiko durchqueren, wenn sie in die USA wollen. Sänger Ganz beschwört darin die Gefährlichkeit der Reise: „An den Waggons dieser eisernen Bestie hängend, fahren die Migranten wie Vieh zum Schlachthof.“ Auf seinem Facebook-Profil zeigt sich Ganz, der sein Geld mit Auftritten bei Hochzeiten verdient, begeistert über die Resonanz. Allerdings verschweigt er, dass das Stück im Auftrag der Grenzschutzbehörde U. S. Customs and Border Protection (CBP) ent-
standen ist, die Migranten vom illegalen Grenzübertritt abhalten will. Die CBP steht vor allem für eine schikanöse Behandlung illegaler Einwanderer. Dass sein Ruhm von der Diskussion um die Vorgehensweise der Behörde verdunkelt wird, kann Ganz nicht verstehen, schließlich gehe es ja um eine „humanitäre Botschaft“. red
Alison Jackson, 44, britische Fotokünstlerin, arbeitet an einer Operninszenierung. In „La Trashiata“ werden David und Victoria Beckham, aber auch Lady Gaga und Madonna auftreten – wie bei Jackson üblich, durch Doppelgänger dargestellt. Jackson will ihre Arbeiten kritisch verstanden wissen. Sie zeigte schon ein Double von Prinzessin Diana mit ausgestrecktem Mittelfinger und einen George-W.-Bush-Darsteller bei Schießübungen auf Plakate mit Wladimir Putins Gesicht. Ein Doppelgänger Putins wird wohl „La Trashiata“ eröffnen: zu Klängen von Wagners „Walkürenritt“. ks
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Heimlich berühmt
Personalien
Ikone in Stolperfalle
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Allein durch ihre Präsenz hat Marina Abramović, 67, viele Menschen zum Weinen gebracht. Bei ihrer legendären Performance „The Artist Is Present“ im New Yorker Museum of Modern Art 2010 saßen 1565 Besucher ihr gegenüber, ergriffen bis zur Erschütterung von der Intensität und Ernsthaftigkeit, mit der die serbische Künstlerin ihnen ihre schweigende Aufmerksamkeit widmete. Nun gibt es neue Gründe, erschüttert oder, je nach Veranlagung, auch amüsiert zu sein: Nachdem Abramović in den vergangenen Jahren ihr neues Leben als Kunst-Celebrity meist in der Begleitung von James Franco, Lady Gaga oder Jay Z genoss, hat sie nun für die Sportmarke Adidas anlässlich der WM in Brasilien eine Performance von 1978 reinszeniert. Thema des dreiminütigen Videofilmchens: die Schönheit und Effizienz der Kooperation. Die Darsteller hat sie mit Adidas-Schuhen ausgestattet, Adidas ist aber für seine zweifelhaften Arbeitsbedingungen berüchtigt, weshalb Abramović im Netz massive Proteste erntet. Die enttäuschten Fans liefern auf der Website marfalovesyou.com einen Vorschlag für die ende Antwort der gestürzten Ikone: „Götter entschuldigen sich nicht.“ es
Stephen Crabb, 41, Minister für Wales im umbesetzten Kabinett Großbritanniens, ist der erste halbwegs vollbärtige Minister einer Tory-Regierung seit fast hundert Jahren. Der letzte Konservative mit Bart und Regierungsverantwortung war laut Sunday Telegraph 1905 der 4. Earl of Onslow. Experten meinen, die Mode mit dem Vollbart sei durch George Clooney ausgelöst worden, aber mittlerweile nicht mehr en vogue. Deutschen Regierungsmitgliedern können solche Erwägungen egal sein: In Angela Merkels Kabinett sitzt kein einziger Mann mit behaartem Kinn. red
Barack Obama, 52, US-Präsident, und seine Ehefrau Michelle sind damit beschäftigt, ein Anwesen in Kalifornien zu kaufen, das berichtete die Los Angeles Times. Ein Sprecher des First Couple dementierte. Tatsächlich benötigen die Obamas ab 2016, für die Zeit nach dem Weißen Haus, ein neues Domizil. Das angebliche Wunschobjekt befindet sich in einem Gebiet, das als „Spielplatz der Präsidenten“ bekannt ist. Hier hat schon Gerald Ford gelebt und Sport getrieben. Für Mr Obama gäbe es auf dem Grundstück ein Putting Green, ein Areal zum Golfüben. red
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Hohlspiegel
Der Kölner Express über einen Unfall: „,Der Mann musste vor Ort intubiert und beamtet werden‘, berichtet ein Polizeisprecher.“
Rückspiegel
Zitate Das „Hamburger Abendblatt“ zum SPIEGELBericht „Ende der Bescheidenheit“ über Forderungen der Bundesbank nach kräftigen Lohnsteigerungen (Nr. 30/2014): Das darf man mal eine überraschende Nachricht nennen aus der Kategorie „Mann beißt Hund“ oder „Priester predigt Lasterleben“ oder „HSV gewinnt Titel“. Im aktuellen SPIEGEL plädiert Jens Ulbrich, Chefvolkswirt der Bundesbank, für einen ordentlichen Schluck aus der Pulle.
Straßenschilder im saarländischen St. Ingbert Aus der Neuen Juristischen Wochenschrift: „Horst Seehofer plädierte dafür, Saisonarbeiter und Rentner auszunehmen, Ilse Aigner wollte zusätzlich auch Schüler und Studenten nicht in den Mindestlohn einbeziehen.“
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ zum SPIEGELBericht „Handys bleiben draußen“ über Maßnahmen gegen Abhörpraktiken von Geheimdiensten (Nr. 30/2014): Mehrere Ministerien lassen laut SPIEGEL ihre internen Kommunikationsnetze überprüfen. Interne Handy-Funkmasten für die Ministerien habe die Regierung bereits aufstellen lassen … Die Beamten des Innenministeriums haben ihrem Minister laut SPIEGEL außerdem noch eine weitere Maßnahme vorgeschlagen: Botschaften und Konsulate auch befreundeter Staaten sollten künftig gezielt beobachtet werden.
Aus der Münsterschen Zeitung Das Stuttgarter Wochenblatt Sonntag Aktuell über den Verband Deutscher Haushüter-Agenturen: „Er vermittelt Rentner, die sich um den Garten kümmern, Haustiere und den Briefkasten leeren.“
Schild im Supermarkt auf einem Campingplatz im kroatischen Baška Aus der Rheinischen Post: „In den Norden geht es auch für Stadtdirektor Manfred Abrahams: ,Wir machen eine Nordseetour. Erst eine Woche Sylt, dann eine Woche Rügen.‘“
Aus der Nürnberger Zeitung 134
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Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGEL-Gespräch „Meine Grundtechnik ist: Zerschlagen“ mit Regisseur Frank Castorf (Nr. 30/2014): Es ist schon eine echte Traumtheaterpaarung: Frank Castorf und die Bayreuther Festspiele. Beinahe wäre das einem wieder entfallen, dabei hatte sich der Volksbühnen-Chef zur Premiere seiner „Ring“Inszenierung im vergangenen Sommer herzhaft ins Zeug gelegt. Castorf verglich die Bayreuther Produktionsbedingungen mit denen einer Daily Soap und die Atmosphäre in Wagners Festspielhaus mit der DDR … Was sich dennoch niemand vorzustellen vermochte: wie Castorf in den folgenden Sommern immer wieder nach Franken fahren und artig Weißbier trinkend weiter an seinem „Ring“ feilen würde, in der legendären „Werkstatt Bayreuth“. Der Sommer kam, und es wurde so ruhig um den „Ring des Nibelungen“, dass man der Fassade des Festspielhauses beim Rieseln zuhören konnte. Gespenstisch! Zum Glück hat Castorf sich auf den letzten Drücker doch noch gemeldet vom Grünen Hügel, mit einem langen Interview im SPIEGEL. Und ist umfassend erzürnt. Bereits vier Wochen hatte er geprobt, als er erfuhr, dass Martin Winkler, der Sänger seines Alberich, durch die Festspielleitung ausgetauscht wurde. „Die Stürme haben sich gelegt, die Langeweile hat gesiegt“, ätzt Castorf.