„Die Leiden des jungen Werther“, eine Interpretation von M. Leis
© Reclam Verlag, Stuttgart
1. Biografische Impulse
Der junge Anwalt Johann Wolfgang Goethe folgt dem Rat seines Vaters und reist im Mai 1772 nach Wetzlar, um dort am Reichskammergericht als Praktikant seine Kenntnisse zu erweitern. Ohne dieses Intermezzo wären die Leiden des jungen Werther nie entstanden, denn in der hessischen Kleinstadt erlebt Goethe Entscheidendes. Am 9. Juni 1772 lernt er auf einem Ball im nahe gelegenen Volpertshausen Charlotte Buff kennen. Schon am nächsten Tag besucht der junge Jurist Buff in Wetzlar im Deutschen Haus (22) und verliebt sich in sie. Das ist problematisch, zumal Fräulein Buff mit dem bremischen Gesandtschaftssekretär Johann Christian Kestner verlobt ist. Zunächst verstehen sich die drei recht gut, man unterhält sich, geht gemeinsam spazieren und feiert Feste. Doch im August 1772 bekommt das Freundschaftsverhältnis die ersten Risse. Charlotte Buff gesteht ihrem Verlobten, dass der Freund ihr einen Kuss gegeben habe, Kestner ist zunächst erbost. Doch dank seiner noblen Haltung kann die Krise beigelegt werden. Inzwischen weiß Goethe jedoch, dass er chancenlos bleiben wird, deshalb flüchtet er am 11. September 1772 aus Wetzlar, ohne sich von seinen Freunden zu verabschieden. Seine Reise führt ihn zunächst nach Ehrenbreitstein, dort besucht er die Dichterin Sophie von La Roche. Zu ihrer Tochter Maximiliane fühlt er sich hingezogen, doch eine Verbindung mit der jungen Dame ist unmöglich. Schließlich reist er ab und begibt sich wieder nach Frankfurt. Im Herbst 1772 wird er noch einmal an seine Erlebnisse in Wetzlar erinnert. Am 30. Oktober erschießt sich dort der Legationssekretär Carl Wilhelm Jerusalem, weil er unglücklich in die verheiratete Elisabeth Held verliebt war. Das letzte Motiv zur Niederschrift des Werthers gibt im Januar 1774 die Vermählung Maximilianes von La Roche mit Peter Anton Brentano. Es kommt zum Streit zwi1
schen den beiden Männern, weil Goethe sich immer noch mit der jungen Dame trifft, anschließend zieht sich Goethe für vier Wochen zurück und schreibt im Februar und März 1774 den Werther. Lehrer und Schüler sollten sich trotz des biografischen Hintergrundes des Werthers vor Augen halten, dass der Roman nicht das reale Intermezzo zwischen Goethe und Charlotte Buff wiedergibt, es handelt sich vielmehr um eine fiktionale Darstellung, in deren Mittelpunkt Werther und Lotte stehen. Goethe selbst hat im dreizehnten Buch seiner Biografie Dichtung und Wahrheit darauf aufmerksam gemacht, dass er „Wirklichkeit in Poesie verwandelt“1 habe.
2. Sturm und Drang
Entscheidend für das Verständnis des Romans sind die Zeit und die literarische Strömung, in der er geschrieben wurde. Die künstlerische Bewegung, in der Goethe den Werther verfasste, ist der Sturm und Drang. Die Künstler des Sturm und Drang nehmen eine antisystematische Haltung ein. Wurde Dichtung bisher von ausgeklügelten Regelpoetiken bestimmt, so ignorieren die Stürmer und Dränger diese Vorschriften. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Forderung nach uneingeschränkter Freiheit; diese wird vor allem vom Genie verwirklicht. Das Genie ignoriert die Regelpoetiken, es wird zum „Original“, weil es ursprünglich nur aus sich selbst heraus eine neue Welt erdichtet; sein Schaffen stellt so die unmittelbar sinnlich-individuellen Empfindungen dar. Die Stürmer und Dränger kritisieren auch die Gesellschaftsordnung mit ihren Ständeschranken und ihren veralteten Konventionen. Im Mittelpunkt ihres Programms stehen die individuelle Selbsterfahrung und die Befreiung des Individuums aus der spießbürgerlichen und zweckrationalen Ständegesellschaft. Gegenüber der Vernunft wird vor allem der Wert des Gefühls, der Sinnlichkeit und der Spontaneität betont. Auch die Natur wird aufgewertet, sie ist das Fundament alles Schöpferischen. Im Genie erscheint die Natur als Gipfelpunkt des Individuellen, in ihm offenbart sich die schöpferische Natur einmalig und unmittelbar. Wie nun erkennt das Genie den Gang der Natur? Das Herz ist der Ort, wo die wahren, d.h. hier die natürlichen, Gefühle und die ästhetisch2
genialischen Fähigkeiten ihren Ursprung haben. Das unverstellte Fühlen wird höher bewertet als Rationalität. Werther, der sich für ein Genie hält, betont nicht umsonst ständig die unvergleichliche Erkenntniskraft des Herzens; gleichzeitig wertet er vernunftbestimmte Personen wie Albert ab.
3. Außergewöhnliches Werk
Selten hat ein Buch unmittelbar nach seiner Veröffentlichung so viel Ablehnung und gleichzeitig euphorische Zustimmung erfahren wie der Werther. Man kleidete sich bald wie Werther mit einem blauen Frack, gelber Weste und braunen Stulpenstiefeln. Die Identifikation mit ihm ging so weit, dass sich mehrere Leser nach der Lektüre umbrachten. So ist überliefert, dass Christine von Laßbergs Leichnam am 16. Januar 1778 in der Ilm in Weimar gefunden wurde; in ihrer Kleidung entdeckte man ein Exemplar des Werther. Der literarische Selbstmord Werthers und der reale Freitod einiger Enthusiasten riefen die Kritiker auf den Plan, und so wurde das Buch zum Beispiel 1775 in Leipzig verboten: immerhin galt es, so ein Zeitgenosse, als „Lockspeise des Satans“.2
4. Werkaufbau
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Den Leiden des jungen Werther ist eine knappe Notiz des Herausgebers voran gestellt, dann beginnt der eigentliche Briefroman, der sich in zwei Bücher gliedert. Im Folgenden wird die Struktur des Werthers anhand des Schaubildes dargestellt:
5. Interpretationsansätze
Egozentrischer Werther und Briefform
Der Briefroman schildert bis zur letzten Konsequenz die Leiden des jungen Werther. Sein Leid ist vielgestaltig: Er leidet an der Gesellschaft, an der unerfüllten Liebe zu Lotte, an sich selbst und seiner Melancholie. Werther ist, und das ist zentral für das Verständnis des Romans, zu intensiv auf sich selbst fixiert. „Wie froh bin ich, dass ich weg bin!“ (5), so lautet der erste Satz des Romans. Er verdeutlicht durch die doppelte Hervorhebung des „ich“ Werthers egozentrische Fixierung. Auch der Name Werther, der sich von Wert 3 (Flussinsel) ableiten lässt, zeigt, dass er eine isolierte, inselähnliche Existenz führt. Außerdem besteht Werther ausdrücklich auf die Verwirklichung seiner Identität, und zwar aus sich selbst heraus: „Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!“ (12). Weil Werther seine Subjektivität radikal in den Vordergrund stellt, distanziert er sich
zwangsläufig
von
der
regelkonformen
Gesellschaft.
Werthers
egomanischer Zentrierung kommt die Form des Briefromans entgegen. Zwar knüpft Goethe an die Tradition des europäischen Briefromans an, doch während dort verschiedene Personen erfolgreich miteinander kommunizieren, steht hier nur Werther im Mittelpunkt. Bis auf zwei Briefe richtet er alle Briefe an seinen Freund Wilhelm, dessen Antworten werden jedoch nicht abgedruckt, Wilhelm dient ihm lediglich als zuverlässiger Zuhörer. Es handelt sich deshalb hier, und das ist das Neue an Goethes Briefroman, um einen monologischen Text. Werthers spontane nur von seinen Empfindungen gelenkte Äußerungen
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spiegeln sich auch formal in der Diskontinuität des Briefromans wider: Werther schreibt manchmal wochenlang keinen Brief, dann gleich zwei an einem Tag.
Die Natur als Rettung?
Werther versucht, sein genialisches Gefühlsleben auf unterschiedliche Weise auszudrücken, so auch über die Natur. Werther ist glücklich, weil er die Stadt verlassen hat: „Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur“ (6). Die Stadt ist ihm Sinnbild der verhassten Gesellschaft, denn dort müssen Gesetze und Konventionen eingehalten werden. Die Natur dagegen verspricht das Gegenteil, denn sie diktiert keine Regeln, das bestärkt ihn, sich „künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich und sie allein bildet den großen Künstler“ (15). Er benutzt die Natur als Projektionsfläche für seine Stimmungsschwankungen. Er beseelt sie aus seinem Inneren heraus, sie wird zum Spiegelbild seiner jeweils aktuellen Gefühlslage. Exemplarisch für diese höchst subjektive Naturbeschreibung ist der Brief vom 10. Mai 1771. Werthers „ganz Seele“ (7) ist von einer „wunderbare[n] Heiterkeit“ (7) eingenommen. Emphatisch beschreibt er in dem Brief die Natur auf pantheistische Weise; er fühlt in der Natur „die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden“ (7). Werther möchte eins mit der Natur werden, er legt sich deshalb in das Gras, um jede Regung der Natur sinnlich zu erfahren, und er hofft, dass „die Welt“ (7) und „der Himmel ganz in [seiner] Seele“ (7) ruhen könnten. Aber schon hier wird deutlich, dass Werther nicht in der Lage ist, den Überreichtum dieser Eindrücke sinnstiftend zu kanalisieren: „Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen“ (8). Neben Werthers emphatisch-göttlichem Naturerlebnis tritt ein idyllisches. Im Brief vom 12. Mai 1771 beschreibt er einen typischen locus amoenus: Mädchen, die Wasser holen, Bäume, ein Brunnen und eine Quelle. Aber diese Idylle erweist sich als Phantasiegebilde Werthers, denn es ist „die warme himmlische Phantasie in [seinem] Herzen“, die ihm „alles rings umher so pa5
radiesisch macht“ (8). Er übersieht, dass der normale Alltag des gemeinen Volkes alles andere als einfach ist. Es dauert nur wenige Monate und Werther erlebt, nachdem Albert aufgetaucht ist, die Natur als Bedrohung, sie wird ihm „jetzt zu einem unerträglichen Peiniger“ (60) und „Ungeheuer“ (62). Als Werther erkennt, dass seine Liebe unerfüllt bleiben wird, wächst seine Verzweiflung, die sich auch an der tristen Jahreszeit ablesen lässt, zunehmend: „Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her“ (93). Am 12. Dezember 1772 irrt der sichtlich Verstörte hinaus in die Natur, der Fluss ist über die Ufer getreten, er verliert wie Werther seine ursprüngliche Fassung. Die Natur wird nun zur Bedrohung: „Ein fürchterliches Schauspiel“ (122). Wenige Tage später bringt sich Werther um.
Literatur als Hilfestellung?
Auch Werthers Lektüre drückt seine aktuelle Stimmung aus: Homer, Klopstock, Ossian und Lessing sind seine bevorzugten Autoren. Wenn er gut gelaunt ist, liest er in Homers Odyssee. Ihn verehrt er als Dichter des idyllischen und ursprünglichen Lebens: „ich brauche Wiegengesang und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer“ (9). Homers Dichtung hilft ihm über einen gewissen Zeitraum, reale Mängel zu kompensieren. Als Werther am 15. März 1772 aus der Adelsgesellschaft des Grafen verstoßen wird, liest er „den herrlichen Gesang [...] wie Ulyß von dem trefflichen Schweinehirten bewirtet wird. Das war alles gut“ (83). Am 16. Juni 1771 verliebt sich Werther auf dem Ball in Lotte, Klopstocks Ode Die Frühlingsfeier dient beiden als Mittel, um ihren leidenschaftlichen Gefühlshaushalt platonisch zu artikulieren. Zwischen beide schiebt sich die Literatur, um die körperliche Leidenschaft zu sublimieren. Noch ist Lotte für Werther unantastbar: „Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart“ (45). Doch diese literarisch-sinnliche Kommunikation verkehrt ihre Vorzeichen. Als Werther ahnt, dass Lotte für ihn unerreichbar bleiben wird, liest er die schwermütigen Gesänge Ossians, die Werthers Todessehnsucht und Melancholie widerspiegeln. Als sich Lotte und Werther zum letzten Mal sehen, liest er ihr 6
aus den Gesängen Ossians vor. Beide sind zutiefst gerührt von dem Vorgetragenen, sie weinen und sind innerlich sehr erregt: „Die Welt verging ihnen“ (142). Es ist bedeutsam, dass die Literatur hier nicht mehr – wie in der Klopstock-Sequenz auf dem Ball – als Schutzschild funktioniert, um die Sinnlichkeit zu bannen, vielmehr bricht dieser Damm nun endgültig, deshalb ist es konsequent, dass Lotte sich mit aller Bestimmtheit von Werther distanziert und ihn in die Schranken weist. Werthers Selbstmord ist damit besiegelt. Die Lektüre, in die Werther unmittelbar vor seinem Tod hineinschaut, ist ein Trauerspiel von Lessing: „Emilia Galotti“ lag auf dem Pulte aufgeschlagen“ (153). Emilia, eine tugendhafte junge Dame, geht freiwillig in den Tod, um ihre Ehre zu retten, - Werther folgt ihr.
Werther ein Künstler?
Werther erfüllt das Programm des Sturm und Drang nur unvollkommen: Die schöpferische Potenz, die Kreativität, die ein Genie auszeichnet, tritt bei ihm in den Hintergrund. Er teilt Wilhelm mit, dass er seine Empfindungen nicht in einem Kunstwerk bündeln kann: „alles schwimmt und schwankt so vor meiner Seele, dass ich keinen Umriß packen kann“ (47). Der Überreichtum seiner seelischen Eindrücke verhindert die künstlerische Umsetzung seiner Phantasien. Er ist hilflos: „Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll“ (47). Er glaubt, und das grenzt schon an ironische Verzweiflung, dass er, wenn er „Ton hätte oder Wachs“ (47), vielleicht etwas zustande bringen würde. Werther ist ohne Zweifel ein Dilettant. Das wird besonders deutlich, als er Wilhelm berichtet, er habe dreimal Lottes Porträt angefangen zu zeichnen, sei aber jedes Mal gescheitert. Schließlich gelingt ihm nur ein „Schattenriss“ (47) von ihr, danach gibt er das Zeichnen und Malen auf. Aber Werther ist bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Herausgeber seine letzten Wochen dokumentiert, ohne Zweifel ein begnadeter, genialer Briefeschreiber. Hier trifft Werther den Ton und die Sprache, die von den Stürmern und Drängern emphatisch gelobt wurden. Neu an dem Stil ist, dass es ihm gelingt, die Intensität seines Gefühlshaushaltes authentisch zu artikulieren. Werthers 7
leidenschaftliche Sprache erreicht ihren Höhepunkt in seinem Abschiedsbrief: „Nein, Lotte, nein – Wie kann ich Vergehen! – Was heißt das? Das ist wieder ein Wort! ein leerer Schall! ohne Gefühl für mein Herz. – – Tot, Lotte!“ (143). Doch seine literarische Tätigkeit kommt ins Stocken. Am 3. November 1772, einen guten Monat bevor der Herausgeber Werthers Ende dokumentiert, weil er kaum noch fähig ist, zusammenhängend zu schreiben, stellt Werther mit Verbitterung fest: „ich habe verloren, was meines Lebens einzige Wonne war, die heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf; sie ist dahin!" (103)
Werther und die Gesellschaft
Werther gehört zu den bürgerlichen Personen im 18. Jahrhundert, die, mehr oder weniger unabhängig von den höfischen und klerikalen Institutionen, trotzdem um eine sehr eigenwillige Identität kämpfen. Er kann sich diesen vermeintlichen Luxus leisten, weil er ökonomisch unabhängig ist. Werther ist betrübt, wenn er daran denkt, dass der Mensch arbeiten muss, um sich am Dasein zu erhalten: „Das alles, Wilhelm, macht mich stumm“ (12). In dieser Arbeiter- und Bürgerwelt kann und will sich Werther niemals einordnen. Auch die Welt des Adels bleibt ihm verschlossen, als er beim Gesandten als Sekretär arbeitet, scheitert der Integrationsversuch radikal, er kündigt seinen Dienst nach wenigen Monaten auf. Er kritisiert den Adel zwar emotional: „Hole sie der Teufel!“ (83)– aber seine Kritik stellt die Hierarchie der Gesellschaft nicht in Frage, er kritisiert sie lediglich dann, wenn sie seinem Freiheitsdrang im Weg steht: „Zwar weiß ich so gut als einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wie viel Vorteile er mir selbst verschafft: nur soll er mir nicht eben gerade im Wege stehen“ (76). Nur mit Widerwillen richtet er seine Existenz nach den Regeln des Hofes aus; er ist für ihn ein „Raritätenkasten“ (78), in dem Absonderlichkeiten ausgestellt werden. Manchmal fragt er sich, ob dies „nicht optischer Betrug ist.“ (78) Es ist kein „Betrug“, wie Werther im Verlauf des Romans immer wieder schmerzhaft erfahren muss. 8
Gescheiterte Liebe
Werthers Liebe zu Lotte ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Werthers Egozentrik, die ihn immer tiefer in die Einsamkeit, in die Isolation drängt, ist auch verantwortlich für sein Liebesdesaster. Schon bei ihrer ersten Begegnung wird die Polarität zwischen beiden deutlich. Lotte bestätigt Werther, dass sie mit Albert verlobt sei, daraufhin verliert er auf dem Tanzboden die Orientierung: „ich verwirrte mich, vergaß mich, und kam zwischen das unrechte Paar hinein, dass alles drunter und drüber ging“ (28). Lotte stellt die „Ordnung“ (28) sofort wieder her. Werther verstrickt sich immer weiter in seine chaotischen Gefühlseskapaden hinein, Lotte dagegen bleibt – bis auf eine Ausnahme - stets eine Vertreterin der „Ordnung“. Werther schätzt sein Verhältnis zu Lotte permanent falsch ein. Am 13. Juli 1771 fühlt er, dass sie ihn liebt: „Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen trauen, dass sie [...], dass sie mich liebt!“ (44). Im selben Brief wird ein entscheidender Punkt von Werthers Egozentrik in Bezug auf seine Liebe zu Lotte deutlich, er ist durch und durch narzisstisch: „Und wie wert ich mir selbst werde, [...] wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt!“ (44). Lotte besitzt hier lediglich
die
Funktion,
Werthers
Selbstwertgefühl
zu
stärken.
Seine
Verwunderung ist nicht gering, als Lotte ihn mit der folgenden Vermutung konfrontiert: „Ich fürchte, ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit, mich zu besitzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht“ (126f.). Werther zieht sofort nach Lottes Einschätzung seine Hand aus ihrer zurück, vielleicht weil er ahnt, dass Lotte Recht haben könnte. Lediglich in seiner Phantasie kann er sich Lotte problemlos nähern: „Sie meine Frau! Wenn ich das liebste Geschöpf unter der Sonne in meine Arme geschlossen hätte“ (91). Zu diesem Zeitpunkt kann Werther zweifellos noch zwischen Realität und Traum unterscheiden, als aber seine Gefühlsverwirrung ihren Höhepunkt erreicht, gelingt ihm das nicht mehr, die Grenzen zwischen realer Lebenswelt und Phantasie verschwimmen am 14. Dezember 1772: „Diese Nacht! ich zittere, es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an meinen 9
Busen gedrückt, und deckte ihren liebelispelnden Mund mit unendlichen Küssen“ (123). Diese Fehlinterpretation kommt einer Bankrotterklärung von Werthers pathologischer Selbstzentrierung gleich. Als er wenig später Lotte nach seiner Ossian-Lesung leidenschaftlich – und real – küsst, bleibt ihm, nachdem sie ihm kategorisch klar macht, dass es der letzte Kuss gewesen sei, nur noch der Freitod als Ausweg.
6. Didaktisch-methodische Hinweise
Goethes Werther gehört schon immer zum Schul-Kanon. Der Lehrplan Deutsch des Landes NRW z.B. empfiehlt den Roman für die 12/1, selbstverständlich kann der Text auch in den Jahrgangsstufen 10, 11 und 13 gelesen werden. Die Schüler erleben den Schreibstil des Werther in der Regel als ‚altmodisch’ und schwer lesbar, aber gerade deswegen ist eine sorgfältige Textlektüre und Interpretation wichtig, über diesen anstrengenden Weg wird den Schülern im Idealfall bewusst, dass dieser Briefroman nach wie vor aktuell ist, zumal er sich unter anderem auf die Lebenswelt der Schüler bezieht, vor allem in Bezug auf die Liebesthematik, welche die genannten Altersgruppen ganz besonders interessiert. Die Schüler können neben der interpretatorischen Lektüre des Textes die Möglichkeit nutzen, den Roman mit Hilfe von Internetrecherchen zu erschließen. Gerade Schüler, die mit der analytischen Auseinandersetzung Probleme haben, können mit der Internetarbeit, motiviert werden. Dieser Umgang mit Literatur ist auch konstruktiv für die analytische Textarbeit; über die selbstständige Arbeit mit dem Computer können die Schüler eine neue Sensibilität gegenüber der Machart eines Textes entwickeln, weil sie erkennen können, dass Texte durchkomponierte Strukturen besitzen. Dabei sollte das literarische Werk nicht aus dem Blickfeld verloren gehen, zwar erleichtern die moderen Medien durchaus das Textverständnis, aber sie verzerren zuweilen auch seinen Sinngehalt, diese Problematik sollte ständig reflektiert werden. Die Schüler können per Internet Informationen über den biografischen Hintergrund des Werthers ermitteln, außerdem kann die literarische Epoche des 10
Sturm und Drang differenziert erforscht werden. Neben dem zeitgenössischen historisch-literarischen Kontext sollte auch die Rezeptionsgeschichte ansatzweise thematisiert werden. Die folgenden Internetadressen bieten ein paar Orientierungsmarken für Schüler und Lehrer an:
Zu Goethes Biografie http://www.xlibris.de/Autoren/Goethe/GoeBio/Goethe1.htm Informative Goethe-Biografie, hier findet man außerdem einen Kommentar zu den Leiden des jungen Werther und eine ausführliche Bibliografie zu seinen Werken.
Goethe-Galerie http://www.biblint.de/goethe_galerie.html Mit vielen Goethe-Links zu Datenbanken, Bildarchiven usw.
Sturm und Drang http://www.xlibris.de/Epochen/Sturm/Sturm1.htm Komprimiert dargestellte Informationen zum Sturm und Drang.
Die Leiden des jungen Werther online http://www.die-leiden-des-jungen-werther.de/ Wenn man sich auf dieser Homepage anmeldet, bekommt man Briefe aus dem Werther per Mail: „Tragen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse ein, und Werther wird Ihnen schreiben – täglich, werktags, oder zu den Originalterminen, zu denen er auch an Wilhelm schrieb.“
http://www.sondershaus.de Sehr informative Homepage mit vielen Links rund um die Germanistik.
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7. Fragen
Anhand der folgenden Fragen können Unterrichtsstunden erstellt werden.
1. An welche Tradition knüpft Goethe mit seinem Roman an? 2. Lesen Sie in einem Literatur-Lexikon einen Artikel über den „Briefroman“ und geben Sie den Inhalt mit eigenen Worten schriftlich wieder. 3. Werther erwidert Leonores (5,8-16) Zuneigung nicht. Wie beurteilen Sie diese Tatsache im Zusammenhang des Romans? 4. In welchem Verhältnis steht Werther zum gemeinen Volk? Beurteilen Sie diese Beziehung kritisch. 5. Wie reagiert Werther, als er von Lottes Heirat erfährt? 6. Wieso schaltet sich nach dem 6. Dezember 1772 der fiktive Herausgeber ein? 7. Beschreiben Sie Werthers Charakter in einem Brief an einen Freund/Freundin. 8. Charakterisieren Sie das Verhältnis zwischen Lotte und Albert in einem Aufsatz. 9. In welcher Weise unterscheidet sich Albert von Werther? 10. Welche Bedeutung besitzen die Jahreszeiten im Roman? 11. Vergleichen Sie die Briefe vom 3. September 1771 und 1772 und vom 21. August 1771 und 1772. 12. Wie interpretieren Sie Goethes Bemerkung, dass Werther „schon von vornherein als vom tödlichen Wurm gestochen“ erscheine? Welchen Stellenwert erhält unter diesem Blickwinkel Werthers Liebe zu Lotte? 13. Interpretieren Sie Werthers Verhältnis zur Natur anhand des Briefes vom 10. Mai 1771. 14. Wieso kann man behaupten, dass Werther seine Leidenschaft zu Lotte zunächst literarisch sublimieren kann? 15. Lotte glaubt, dass Werther sie nur deshalb liebe, weil ihn die „Unmöglichkeit“ (vgl. 124, 26-28) der Erfüllung reize. Wie schätzen Sie diese Vermutung ein? 12
16. Arbeiten Sie die biografischen Parallelen zwischen Werther und Goethe heraus, beurteilen Sie diese kritisch. 17.Erstellen Sie einen Hypertext zum Werther. Als Beispiel könnte folgende Homepage (http://www.vib-bw.de/tp8/ws_98_99/hebel/framehebel.htm) herangezogen werden. Hier finden Sie einen Hypertext zu Johann Peter Hebels Unverhofftes Wiedersehen.
8. Lektüretipps/Filmempfehlungen
Wer sich einen Überblick über die umfangreiche Forschungsliteratur zum Werther verschaffen möchte, dem sei die folgende Bibliografie empfohlen:
Seifert, Siegfried: Goethe Bibliographie 1950-1990. 3 Bde. Hier: Bd. 2. München 2000. S. 838-872.
Sekundärliteratur
Buhr, Gerhard: Über die Daten der Briefe in Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers. In: Text 2 (1996) S. 19-45. Gille, Klaus F.: Die Leiden und Freuden des jungen Werthers. In: Weimarer Beiträge 39 (1993) H. 1. S. 122-134. Müller-Salget, Klaus: Zur Struktur von Goethes Werther. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 100 (1981) S. 527-544. Rothmann, Kurt (Hrsg.): Erläuterungen und Dokumente. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Stuttgart 1998. (Reclams Universal-Bibliothek. Nr. 8113.) Vaget, Hans R.: Die Leiden des jungen Werthers. In: Paul Michael Lützeler (Hrsg.): Goethes Erzählwerk. Stuttgart 1985. (Reclams Universal-Bibliothek. Nr. 8113.) S. 37-72.
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Filmtipps
Werther (Frankreich, 1938): Regie: Max Ophüls. Drehbuch: Hans Wilhelm und Max Ophüls. Begegnung mit Werther (BRD, 1949). Regie: Karl Heinz Stroux. Drehbuch: Hermann Gressieker und Karl Heinz Stroux. Leiden des jungen Werthers“ (DDR, 1976). Regie: Egon Günther. Drehbuch: Helga Schütz. Werthers unglückliche Liebe (Spanien, 1986). Regie: Pilar Mir. Drehbuch: Mario Camus und Pilar Miró.
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Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hrsg. von Walter Hettche, 2 Bde., Bd. 1, Stuttgart 1991 (Reclams Universal-Bibliothek, 8719), S. 631. 2 Zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. Paralleldruck der beiden Fassungen von 1774 und 1784, hrsg. von Matthias Lke, Stuttgart 1999 (Reclams Universal-Bibliothek, 9762), S. 301. 3 Max Gottschald, Deutsche Namenkunde. Unsere Familiennamen nach ihrer Entstehung und Bedeutung, Berlin 1971, S. 606. Den Hinweis auf die Namensableitung verdanke ich folgendem Aufsatz: Klaus MüllerSalget, „Zur Struktur von Goethes Werther“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 100 (1981) S. 531 f. 1