Skalpjagd: Ein Navaho-cop Bei Den Sioux 5b405i

Ulrich Wißmann Skalpjagd

Ein Navaho-Cop bei den Sioux

Für Merlin

Ethno-Thriller

Skalpjagd

Ein Navaho-Cop bei den Sioux

Ethno-Thriller von Ulrich Wißmann

Impressum

Skalpjagd, Ulrich Wißmann TraumFänger Verlag Hohenthann, 2015 eBook-ISBN 978-3-941485-37-2 Lektorat: Kerstin Schmäling Satz und Layout: Janis Sonnberger, merkMal Verlag Datenkonvertierung: readbox„ Dortmund Titelbild: Astrid Gavini Copyright by TraumFänger Verlag GmbH & Co. Buchhandels KG, Hohenthann Produced in

Inhalt

PROLOG

SÜDEN / ERSTES RITUAL

NORDEN / ZWEITES RITUAL

OSTEN / DRITTES RITUAL

WESTEN / VIERTES RITUAL

EPILOG

Vorwort

Der wahre Hintergrund dieser Geschichte ist, dass tatsächlich in den letzten Jahren Büffel, die aus dem Yellowstone Nationalpark abwandern, zum Abschuss durch Jäger freigegeben werden. Dies schürt den Protest von Naturschützern und indianischer Bevölkerung, die sich besonders mit den Tieren verbunden fühlt. In dem Buch führt die ausdauernde Ermittlung des Navaho Polizisten, bei der die indianische Kunst des Spurenlesens einhergeht mit moderner Kriminalistik, immer näher an den Täter, der sich zu wehren weiß! Die handelnden Personen des Romans sind frei erfunden, die beschriebenen geschichtlichen, politischen und ethnologischen Fakten sowie die historischen Personen entsprechen der Wahrheit.

PROLOG

Es war der Morgen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die Kiefernzweige und erleuchteten den Nebel, der vom Waldboden aufstieg. Das Gras war so von Tautropfen bedeckt, das es im kalten Licht fast wie Schnee wirkte. Durch die tief hängenden Wolkenschleier sah man den klaren, bleiernen Himmel des erwachenden Tages. Kein Laut lastete auf der Stille der Welt. Der Mann schob sich vorsichtig durch einige junge Kiefern, um möglichst kein Geräusch zu verursachen. Der Wald lichtete sich immer mehr zu einer parkartigen Landschaft, in der nur wenige einzeln stehende Bäume die mit Gras und Beifuß bewachsenen Hügel beherrschten. Will Jennings spürte die Vorfreude in sich aufsteigen. Er war mitten in der Nacht losgefahren, zunächst auf der Interstate 25 nach Norden, die dann zur 90 wurde und sich bei Billings nach Westen wandte. 40 Meilen weiter, bei Columbus, Montana war er auf die Landstraße 419 abgebogen, die in südlicher Richtung circa 50 Meilen auf die Berge der Absaroka Range zuführte, bevor sie in deren nördlichen Ausläufern einfach aufhörte. Von dort war er mit seinem Pickup Truck noch ein ordentliches Stück über unbefestigte Ranch roads weitergekommen, bevor er das Auto stehen lassen musste. Zu Fuß, nur mit dem Gewehr und seinem Proviantrucksack war er kurz vor Sonnenaufgang losgegangen. Bald war er auf die unübersehbaren Spuren gestoßen, die er gesucht hatte. Frische Spuren von Büffeln! Die einzigen frei lebenden Büffel in den USA. So frei, dass sie nicht einmal in dem Schutzgebiet im Yellowstone Nationalpark blieben, sondern immer wieder nach Norden abwanderten.

Es war Anfang Mai und auf den Hochebenen des Parks lag noch Schnee. Deshalb erschienen immer wieder kleine Gruppen von Bisons in den tiefer gelegenen Gebieten. Jennings hatte auf den Rat von ebenfalls jagdbegeisterten Freunden bei der Jagdaufsicht des US Forest Service die Abschussgenehmigung für einen Bison erhalten. Jetzt konnte er die Büffel fast schon riechen! Er folgte der Spur und als sich hinter einem Hügel der Blick auf eine Senke öffnete, entdeckte er den einsamen Büffelbullen. Im Schutz einiger Felsen schlich Jennings unter einen abgestorbenen Baum, wo er das Gewehr auf einen

Aststumpf auflegen konnte, um einen sicheren Schuss zu haben. Der Bulle hatte ihn nicht bemerkt. Er war gegen den Wind gegangen und befand sich jetzt im Schutz des Baumes. Jennings schloss einen Moment die Augen, um seine Aufregung in den Griff zu bekommen und zwang sich, ruhig zu atmen. Keine zweihundert Fuß Schussdistanz. Er stellte das Fernrohr scharf und zielte auf die Herzgegend des riesigen Tieres. Es würde schwer sein, mit dem Truck hierher zu kommen, um das Fleisch des Bullen zu holen, aber es ging ihm sowieso mehr um das Erlebnis und um eine einmalige Trophäe. Jennings krümmte langsam den Finger. Jetzt bloß kein Fehler! Gleich würde er das gewaltige Tier töten.

Schon seine Vorfahren hatten Büffel gejagt, damals im Auftrag der Regierung, um den Plains-Indianern die Lebensgrundlage zu entziehen und sie so endlich besiegen zu können. Er wusste nicht viel über seine Vorfahren, aber er wusste, dass ein Urahn von ihm mit Tausenden anderen in die Black Hills gezogen war, nachdem General Custer von unermesslichen Goldvorkommen dort berichtet hatte. Er hatte gegen Indianer gekämpft und Bisons gejagt. Reich war er mit all dem nicht geworden, aber schließlich hatte er ein Stück Land kaufen können und eine Ranch aufgebaut. Keine große Ranch mit angestellten Cowboys, aber genug, um sich und seine Familie zu ernähren. Jennings wohnte noch heute auf dem Land, das sein Urgroßvater vor mehr als einhundert Jahren besiedelt hatte. Sie hatten dieses Land aufgebaut, es der Wildnis abgetrotzt und einer vernünftigen Nutzung zugeführt. Deshalb hasste er diese dämlichen Tierschützer und Grünen, die Bären und Wölfe frei herumlaufen lassen wollten, damit sie ihm und anderen Ranchern das Vieh wegfraßen. Diese Typen kamen alle aus der Stadt und hatten überhaupt keine Ahnung von dem Leben hier draußen! Er jedenfalls hatte das Recht, die Früchte dieses Landes zu ernten und diesmal hatte er dafür sogar eine schriftliche Genehmigung!

Der Büffel hob den Kopf und sah in seine Richtung, als ob er doch irgendetwas bemerkt hatte. Jennings drückte ab. Im selben Moment wurde er hart nach hinten gerissen. Der Schuss ging nach

oben. Jennings fühlte sich von einem starken Arm umklammert. Er wollte schreien, aber eine Hand hielt seinen Mund geschlossen. Plötzlich fühlte er einen furchtbaren Schmerz. Etwas Heißes schoss über seine Brust. Er hörte ein röchelndes Geräusch und erkannte mit grenzenlosem Entsetzen, woher es kam. Der Angreifer hielt ihn gnadenlos gefangen und durchschnitt ihm die Kehle. Einen Moment lang bekam er noch Luft durch seine geöffnete Luftröhre, dann sog sein Atemreflex das aus den zerschnittenen Halsschlagadern strömende Blut ein und er begann zu ersticken. Gleichzeitig erstarb sein Gehirn, das nicht mehr mit frischem Blut versorgt wurde und er fühlte, wie er ohnmächtig wurde. Eine tödliche Müdigkeit ergriff auf einmal von ihm Besitz. Ein letztes Mal versuchte er sich loszureißen, aber der Mann hielt ihn unerbittlich fest wie ein zappelndes Kaninchen. Das einzige, das Jennings von dem Mann sehen konnte, der ihm das antat, war sein muskulöser Unterarm, der ihn wie in einer Schraubzwinge umklammert hielt. Er glitt zu Boden und spürte, wie der Mann ein Knie auf seinen Rücken setzte. Durch den Nebel seiner schwindenden Wahrnehmung registrierte er, wie sein Kopf an den Haaren nach hinten gezogen wurde und als nächstes fühlte er einen scharfen Schmerz auf dem Kopf. Will Jennings letzter Gedanke war die grauenvolle Einsicht, dass er skalpiert wurde.

SÜDEN / ERSTES RITUAL

I

Officer Frank Begay von der Navaho Nation Tribal Police nahm eine Hand voll Maispollen aus seinem Beutel und sprach sein Morgengebet. Langsam ließ er die Pollen aus seiner Hand in den sanften Wind gleiten, als Opfer an Dawn Boy, der den neuen Tag brachte. Er reckte sich in der warmen Morgensonne. Er hatte die Nacht in seinem Pick up Truck verbringen müssen und es war schon die zweite Nacht gewesen. Zwei Tage zuvor hatte er im Schutz der Abenddämmerung seinen Beobachtungsposten an der Abbruchkante eines Tafelberges bezogen, von der er Einblick in einen der namenlosen kleineren Seitencanyons des Kaibito Plateaus hatte. Dort unten lag der Hogan der verdächtigen Person, die er observieren musste. William Nez stand bei den Bewohnern dieser Gegend schon lange in Verdacht, ein Hexer zu sein. Das war an sich kein Verbrechen, weder nach den Gesetzen der Navaho Nation, noch nach dem Recht der Weißen. Doch seit mehr als einem Jahr wurden in der nicht allzu weiten Umgebung immer wieder Grabstellen geplündert, und Grabschändung stellte sehr wohl eine kriminelle Handlung dar. Bei einer Befragung der hiesigen Landbevölkerung war Begay immer wieder von William Nez erzählt worden, so dass er es für klug hielt, ihn sich einmal näher anzusehen. Aber Nez war bisher nicht aufgetaucht.

Unten im Canyon liefen Schafe und Ziegen herum, bewacht von zwei großen Hunden. Es gab nur einen Ausgang aus dem Canyon, den Nez mit einem Zaun geschlossen hatte. Außerdem gab es eine Wasserstelle und genug zu fressen, so dass er die Tiere eine Weile allein lassen konnte. Der traditionelle achteckige Hogan und ein Wellblechschuppen lagen verlassen da. Wer hier draußen allein wohnte und nicht völlig autark war, brauchte ein

Auto zum Überleben. Von der Zulassungsstelle wusste Begay, dass Nez einen alten Truck besaß. Wenn Nez zurück kam, würde er ihn auf dem Fahrweg durch die Schlucht kommen sehen. Und sollte Nez wirklich der gesuchte Übeltäter sein, würde er einen Truck brauchen. Während die Navaho traditionell Angst vor Toten hatten und dem Kontakt mit ihnen möglichst aus dem Weg gingen, aus Angst, von dem Chindi, dem Totengeist der Person, verfolgt zu werden, versuchten Hexer, sich Leichenteile zu verschaffen. Mit dem daraus gewonnenen Leichenstaub, den sie in der Haut von Verstorbenen aufbewahrten, versuchten sie, Macht über ihre Mitmenschen auszuüben. Mischte eine Hexe oder ein Hexer Leichenstaub ins Essen oder blies ihn seinem Opfer ins Gesicht, kam das oft einem Todesurteil gleich. Die Religion der Dineh, wie sich die Navaho selbst nannten, basierte auf der Harmonie in der Schöpfung, auf dem Gleichgewicht zwischen allen Lebewesen und Dingen. Dieses Gleichgewicht wurde durch das Berühren oder sogar Insich-aufnehmen des Todes zerstört und man konnte nur durch die Reinigungszeremonie eines Heilers, wie zum Beispiel den Ghost way, wieder gesund werden. Aber ganz abgesehen von diesem spirituellen Aspekt konnte man sicher auch rein medizinisch gesehen dadurch erkranken. Und bei einem Volk, das panische Angst vor der Berührung mit Toten hatte, löste das unbeabsichtigte Einatmen oder Verschlucken von Überresten eines Toten einen lebensgefährlichen Schock aus.

Während bisher aus den geschändeten Gräbern nur Teile der Leichen entwendet worden waren, war im letzten Fall der ganze Leichnam verschwunden. Stanley Hakeah war ein weithin bekannter und angesehener Heiler und Mitglied der einflussreichen Medicine Men Association der Dineh gewesen. Er hatte weitab von anderen Menschen allein gelebt. So hatte man seinen Tod erst spät bemerkt. Es war zu spät gewesen, ihn auf die Reise ins Jenseits vorzubereiten, indem man ihm die Haare mit einem Sud aus Yucca-Wurzeln wusch und seine Mokassins zu vertauschen, um die bösen Geister, die ihm auf seinem Weg in die Geisterwelt eventuell folgen könnten, zu verwirren. Niemand war da gewesen, um Stanley Hakeah aus dem Hogan zu bringen, damit

sein Geist sich im Augenblick des Todes auf die ewige Reise begeben konnte. So hatten seine Verwandten zunächst ein Loch in die Decke seines Hogans geschlagen, so dass der Chindi heraus konnte. Anstatt ihn in der Umgebung unter Felsen zu begraben und die Türöffnung und den Rauchfang des Hogans zu verschließen, wie es üblich gewesen wäre, hatten sie später unter Ausführung der üblichen Rituale und nachdem sie ihm seinen Medizinbeutel und einen Behälter mit Maispollen mitgegeben hatten, den gesamten Hogan über ihm zum Einsturz gebracht. Vor zwei Tagen hatten in der Gegend lebende Dineh, die ihre Schafe an dem Totenhogan vorbei trieben, dann entdeckt, dass er geöffnet worden war. Die Leiche von Stanley Hakeah war verschwunden. Der Dieb hatte mit den Überresten eines so machtvollen Medizinmannes sicher etwas Besonderes vorgehabt und sie deshalb ganz mitgenommen. Und sollte der Täter wirklich William Nez sein, konnte es gut sein, dass er die Leiche hierher transportiert hatte, um dann in aller Ruhe mit ihr zu machen, was immer er vorhatte. Officer Begay schauderte bei dem Gedanken. Die Frage war nur, ob Nez sich sicher genug fühlte oder ob er von den Verdächtigungen gegen ihn wusste, falls er überhaupt schuldig war. Zufällig würde ihn hier draußen sicherlich niemand beobachten! Natürlich te Nez ins Klischee eines Hexers. Er war ein alter Mann, der ohne Kontakt zu den Nachbarn (die auch viele Meilen entfernt lebten), ohne Freunde oder Verwandte ganz allein in der Wildnis lebte, wahrscheinlich dementsprechend eigenbrötlerisch war, kaum Englisch sprach und sich traditionell kleidete.

Während Begay darüber nachdachte, wie glaubhaft die Anschuldigungen gegen Nez sein mochten, meldete sich sein Funkgerät. Er ging von der Felskante zurück zu seinem Truck. „Hier Officer Frank Begay.“ „Hallo Frank“, meldete sich eine freundliche weibliche Stimme, die seiner Erinnerung nach zu einer hübschen jungen Angestellten in der Zentrale der Stammespolizei gehörte, „hier spricht Window Rock. Wir müssen Sie leider bei der Hexenjagd stören! Sie sind bei uns von der Bundespolizei angefordert worden!“

Begay war überrascht: „Von der Bundespolizei? Warum das?“ „Keine Ahnung! Muss wohl ’ne wichtige Sache sein. Hier ist ein Typ vom FBI aufgeschlagen, der Sie einweisen soll. Wann können Sie hier sein?“ Begay sah auf die Uhr: „Wenn ich sofort losfahre, so gegen Mittag. Was wird dann aus der Observation hier?“ „Wir schicken einen Kollegen. Machen Sie sich auf den Weg!“ Begay beendete das Gespräch und ging nochmal an den Rand des Felsens. Von hier konnte er weithin über die farbenprächtige Landschaft der Painted Desert sehen. Die Sonne stand schon ein Stück höher am Himmel und die Luft über den bizarren Felsformationen begann bereits zu flimmern. Begay kniff die Augen zusammen. Weit entfernt über den Bergen und Canyons ließ sich ein einsamer Geier von den jetzt entstehenden Aufwinden langsam in die Höhe tragen. Von Nez war weiterhin keine Spur zu sehen. Sollte sich jemand anderes darum kümmern.

II

Begay erreichte Window Rock, das Verwaltungszentrum der Navaho Indian Reservation, gegen ein Uhr mittags. Da er auf eine längere Observation vorbereitet gewesen war, hatte er reichlich Lebensmittel dabeigehabt und unterwegs nur einmal gehalten, um ein Sandwich zu essen. In Window Rock, das seinen Namen einem Durchbruch in einer Felswand oberhalb des Ortes verdankte, fuhr er sofort zum Hauptquartier der Stammespolizei. Er wurde bereits erwartet. Captain Blackhat, sein Vorgesetzter, mit dem ihn ein nicht immer ungetrübtes Dienstverhältnis verband, führte ihn in sein Büro, wo ihn ein junger Mann in offensichtlich teurem Anzug, italienischen Schuhen und mit tadellosem Haarschnitt begrüßte. Begay wurde bewusst, wie staubig und zerknittert seine Kleidung, bestehend aus Jeans, Hemd und Turnschuhen, aussehen musste. Er hatte seit zwei Tagen keine Dusche gesehen und sein schulterlanges Haar fühlte sich nach der Fahrt auf etlichen Sandpisten staubig an. Blackhat machte die beiden bekannt, wobei er den jungen Mann als Agent Taylor vom FBI-Büro in Albuquerque vorstellte. Die Männer gaben sich die Hand und nach dem Austausch von Freundlichkeiten, wie er unter weißen Amerikanern üblich war, kam Taylor zur Sache. „Officer Begay, wie Sie bereits gehört haben, haben wir im Zuge der Amtshilfe um Ihre Dienste gebeten. Wir haben einen Mordfall im Norden, bei dem wir und die örtlichen Behörden bisher völlig im Dunkeln tappen.“ „Und warum sollte ausgerechnet ich Ihnen da helfen können?“, fragte Begay skeptisch. „Nun, Sie stehen im Ruf, ein begnadeter Spurenleser zu sein! Das könnte uns weiterhelfen. Bisher konnten wir in keinem Fall einen Tatort mit Sicherheit ausfindig machen. Unser Täter legt offensichtlich großen Wert darauf, seine Opfer von dort wegzuschaffen. Das legt die Vermutung nahe, dass der Tatort etwas über den Mörder oder sein Motiv aussagen würde.“

„Sie sagen, es geht um mehrere Morde?“, fragte Begay schnell. Vor Schreck hatte er die Anstandsregeln der Navaho offensichtlich vergessen, nach denen man immer abwartete, bis der andere wirklich ausgeredet hatte. „Ja, wie es scheint, handelt es sich um einen Serientäter“, warf Captain Blackhat ein. „Ganz richtig. Bis jetzt haben wir drei Tote gefunden. Alles dieselbe Handschrift. Im letzten Fall haben wir nun durch Zufall relativ bald den Wagen des Opfers sicherstellen können. Weit entfernt vom Fundort der Leiche und weitab jeder Zivilisation.“ „Und nun vermuten Sie, dass dort der Tatort liegen muss?“ „Genau! Wir haben in der Nähe auch eine Menge Spuren gefunden. Es könnte sich also um den Tatort handeln. Hat uns aber auch nicht weitergebracht. Bisher fehlt uns jeder Hinweis auf ein Motiv, geschweige denn auf einen Täter. Was wir brauchen, ist ein Spezialist!“ „Aha, deshalb der indigene Fährtenleser!“, lachte Begay. „Bitte machen Sie sich nicht lustig! Niemand kann es mit indianischen Spurensuchern aufnehmen“, sagte Taylor. „Und Sie sind der beste Spurenleser in der gesamten Navaho Tribal Police, Frank“, meinte Blackhat mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. „Wo genau wurden denn die Leichen gefunden?“, fragte Begay irritiert. „Im südlichen Montana und im Norden Wyomings.“ „Aber dort oben gibt es doch jede Menge Indianerreservationen, die Crow, Blackfeet, Cheyenne, Sioux und viele andere und alle haben ihre Stammespolizei mit ausgebildeten Fährtensuchern!“ „Wir brauchen aber jemanden mit kriminalistischer Erfahrung.“ „Und beschränkter Handlungsbefugnis…“, ergänzte Begay. Er spielte auf die eingeschränkten Vollmachten der Stammespolizisten an. Zwar

galten die Indianerreservationen als halbautonome Gebiete, in denen das Recht der jeweiligen Stämme galt. Diese Gesetzgebung erstreckte sich aber nur auf minder schwere Delikte. Lag ein Kapitalverbrechen vor, fiel es automatisch in die Zuständigkeit der Bundesbehörden. In diesen Fällen tauchten sofort Beamte des Federal Bureau of Investigation, abfällig auch Feds genannt, auf und rissen alles an sich. Sie degradierten die Stammespolizisten zu Laufburschen, sahen auf sie herab und versauten meistens alles, da sie weder über den kulturellen Hintergrund der Reservatsbewohner noch über deren Mentalität irgend etwas wussten und grundsätzlich mehr Spuren zertrampelten als sicherstellten. „Nun, für die Zeit Ihrer Ermittlungen in diesem Fall würden Sie die volle Handlungsbefugnis haben. Sie erhalten von uns einen Ausweis als FBIBeamter.“ Begay und Blackhat wechselten einen erstaunten Blick. „Befristet natürlich. Sehen Sie, das ist auch einer der Gründe, warum wir Ihre Hilfe erbitten. Wir wissen, dass Sie auch auf anderen Indianerreservationen schon eingesetzt wurden und hervorragende Arbeit geleistet haben. Wenn ich recht informiert bin, haben Sie im Rahmen Ihrer Ausbildung auch Anthropologie an der Universität von Albuquerque studiert und sind ein profunder Kenner der Native Nations.“ Taylor benutzte diesen Ausdruck für die eingeborenen Völker Amerikas, der von den meisten Ureinwohnern lieber gehört wurde als Indianer oder anderes. Begay hatte sich tatsächlich mit der Kultur verschiedener Stämme beschäftigt und war wohl auch deshalb schon auf anderen Indianerreservationen eingesetzt worden, allerdings immer im Südwesten der USA. Eine Zusammenarbeit mit der Hopi-Stammespolizei war an der Tagesordnung, da das Hopi-Reservat von der größeren Navaho-Reservation umgeben war. Aber auch auf den beiden nördlich an das Navaho-Gebiet angrenzenden Ute-Reservationen und auf dem Reservat der Jicarilla- und San Carlos-Apachen hatte er schon gearbeitet. „Dann vermuten Sie, dass der Täter ein Indianer sein könnte?“ „Möglicherweise ja.“ Taylor nestelte an seinem schicken Anzug herum. „Zumindest könnte es sein, dass Untersuchungen in diesem Umfeld erforderlich werden.“

Etwas leuchtete Begay nicht ein. Mit Sicherheit gab es in der Gegend, in der die Morde iert waren, gute indianische Cops und Spurenleser, die sich aber darüber hinaus mit den Sitten und der Geschichte der dortigen Stämme viel besser auskannten als er. Wenn das FBI unbedingt einen Navaho-Polizisten wollte, hieß das, dass sie verhindern wollten, das gemeinsame Clan- oder Stammeszugehörigkeiten die Ermittlungen gefährdeten oder dass sich durch einen in der Gegend beheimateten Ermittler Informationen über den Fall herumsprechen könnten. Er kannte die Praxis des FBI, indianische Beamte bevorzugt im Gebiet anderer, ihnen völlig fremder Stämme einzusetzen. Von den großen kulturellen Unterschieden zwischen verschiedenen indianischen Völkern wussten die meisten Weißen ja nichts, für sie war eben ein Indianer wie der andere. „Warum vermuten Sie, dass es sich bei dem Täter um einen Native American handeln könnte?“, fragte er. „Okay, ich denke, es ist an der Zeit, Ihnen etwas zu zeigen“, sagte Taylor und öffnete einen Ordner, den er aus seiner Aktentasche hervorholte. Er legte mehrere Fotos auf den Tisch vor Begay und Blackhat. Sie zeigten drei männliche Leichen, eine davon schon im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung. Alle drei waren übel zugerichtet und besonders am Kopf mit getrocknetem Blut verschmiert. Im selben Augenblick erschauderten Blackhat und Begay und sahen alle Fotos noch einmal durch: Die Toten waren allesamt skalpiert worden.

III

Der Mann saß im Dunkeln. Das Atmen wurde ihm schwer. Er lauschte auf den monotonen Gesang des alten Schamanen. Um das Luftholen zu erleichtern, presste er ein Büschel Salbei vor den Mund. Es erfrischte den Atem in der heißen Luft. Um ihn herum war fast nichts zu sehen. Nur in der Mitte des kleinen Raumes sah er ein schwaches Glühen, das den davor liegenden Bisonschädel gespenstisch schwach erhellte. Im Licht der glühenden Steine sah der Mann schemenhaft die anderen Teilnehmer der Zeremonie. Er kannte sie alle seit Jahren. Vier davon waren sehr alte Männer mit den markanten Gesichtszügen der Lakota, wettergegerbten, lederartigen Gesichtern. Es gab nur zwei jüngere Männer im Zelt: ihn selbst und einen weißen Mann, der seit langem bei dem Volk lebte. Er selbst nannte sich Tschetan, Falke, während er von den Lakota „Weißer Mann, langes Haar“ genannt wurde. Aber anders als die Indianerfreaks, die mit langen Haaren, Stirnband und Fransenhemden sporadisch für kurze Zeit auf der Reservation auftauchten und ähnlich wie die Völkerkundler Zielscheibe beißenden Spotts und Quell nicht enden wollender Belustigung waren, wurde Weißer Mann, langes Haar von den Leuten akzeptiert. Er hatte eine Lakota-Frau geheiratet und zwei Kinder mit ihr, war in der Familie integriert und half seinen Nachbarn bei Bedarf, wie es alle taten. Er nahm an vielen Zeremonien teil und sprach fließend Lakota. Wenn es um die Verbrechen der USA und die Unterdrückung der Ureinwohner ging, war er radikaler und weniger kompromissbereit als die meisten Indianer. Wahrscheinlich weil er die Weißen besser kannte als die Lakota, dachte der Mann. Weißer Mann, langes Haar hatte in Englisch gebetet, vielleicht konnte er so seine Gefühle und Wünsche am besten artikulieren. Der Mann hatte wie die anderen Teilnehmer der Zeremonie in Lakota gebetet, zu Wakan tanka, dem Großen Geist, dem Großen Geheimnis. Er hatte für alle Menschen, die ihm wichtig waren, gebetet, für sein Volk und für alle Wesen, die zweibeinigen, vierbeinigen, geflügelten, für die Pflanzen und die Steine. Mitakuye Oyas‘in, all‘ meine Verwandten… Alle hatten ihr Gebet mit der traditionellen Formel begonnen und beendet und waren dann in Kontemplation versunken. Nur der alte Schamane sang für sie

alle. Während er spürte, wie der Schweiß seinen Rücken hinabfloss, versank der Mann immer mehr in sich. Um ihn herum war nur das Glühen, der Geruch nach Kräutern, der Gesang, die Geister der Ahnen und die heiße, reinigende Luft in dem kleinen abgeschlossenen Raum der Schwitzhütte. Dies war eins der ältesten und auch heute noch am meisten ausgeführten Rituale seines Volkes. Er fühlte sich verbunden mit seinen Vorfahren. Es war wie in einer Zeit vor über hundert Jahren, als es noch keine Waschitschu, keine Menschen, die einem das Fett in der Suppe wegnahmen, in diesem Land gegeben hatte. Selbst die Mistgabel, mit der sie die draußen im Feuer glühend erhitzten Steine hereingebracht hatten, um sie dann mit Wasser zu übergießen, war außerhalb der Hütte geblieben. Nichts erinnerte hier an die neue Zeit. Im Glühen in der Mitte des Raumes begann sich ein Traum zu bilden, eine Vision. Die Ahnen waren hier bei ihnen. Sie sprachen zu ihm. Er starrte weiter auf den rötlich schimmernden Büffelschädel. Das Bild begann sich zu verändern. Er sah einen weißen Büffel und einen schwarzen. Der schwarze Büffel war sein Schutzgeist. Er hatte ihn schon oft in seinen Visionen gesehen. Schon vor mehr als zwanzig Jahren, auf seiner ersten Visionssuche, der Hanblecha, die ihn zum Mann machte, hatte er den schwarzen Büffel gesehen. Der Medizinmann, der ihn auf der Visionssuche angeleitet hatte und dem er danach von seinen Visionen erzählt hatte, sagte daraufhin, dass der schwarze Büffel sein Schutzgeist sein werde, dem er immer wieder begegnen würde und dass dies nun sein Name sein solle: Tatanka sapa, Schwarzer Büffel. Der weiße Büffel war heilig. Er verwandelte sich in eine schöne Frau, die ganz in weißes Büffelleder gekleidet war. Ptesan Win, White Buffalo Woman, war die mythische Gesetzgeberin der Lakota-Kultur, die dem Volk vor Menschengedenken die heilige Pfeife und die sieben heiligen Zeremonien gebracht hatte. Der Mann sah jetzt viele Büffel, Bullen, Kühe und Kälber. Er hörte das typische Grunzen der Stiere und meinte, den von den Hufen aufgewirbelten Staub schmecken zu können, er roch den strengen Geruch der Tiere. Er lächelte vor Glück. Und dann hörte er die Stimmen. Es waren die Stimmen der Geister, die zu ihm sprachen. Der Mann verharrte regungslos, um die Worte der Geister zu empfangen: „Tatanka sapa, es ist Dir bestimmt, die Büffel zu schützen. Du tust Recht. Du musst die Büffel beschützen. Es gibt nur noch so wenige von uns. Aber ein Mann wird kommen. Ein großer Krieger aus dem Süden. Er sucht dich und er wird dich finden. Seite an Seite wirst du mit ihm kämpfen und doch wirst du durch ihn sterben. Für den Schutz der Büffel wirst du sterben.“

Seine Vision begann zu verschwimmen. Er wehrte sich dagegen, kniff die Augen zusammen, wollte sie festhalten, aber etwas aus der äußeren Welt drang auf ihn ein. Jemand schüttelte ihn an den Schultern. Unwillig tauchte er zurück in die andere Welt. Die Decke vor dem Ausgang der Schwitzhütte war zurückgeworfen worden und helles Tageslicht drang in Strahlen in den Dampf im Inneren der Hütte ein. Der Medizinmann schüttelte ihn an den Schultern. Die anderen waren draußen. Er hatte das Ende der Inipi-Zeremonie nicht bemerkt. Entrückt in seiner Vision war er sitzen geblieben, als alle hinausgegangen waren. Obwohl er auch jetzt am liebsten noch in der Hütte geblieben wäre, wusste er, dass er hinausgehen musste, um seinen Körper abzukühlen. Benommen stand er auf und bückte sich durch den Ausgang ins Freie. Draußen umfing ihn gleißender Sonnenschein und obgleich es ein warmer Tag war, schien ihm die klare Luft kalt. Ein wolkenloser blauer Himmel wölbte sich über der Wiese und den Bergkiefern und der Bach, in dem sich die Männer abkühlten und wuschen, rauschte leise zwischen den Felsen. Er hatte eine Vision erhalten. Er wusste, dass er das Richtige tat. Es war ihm immer schon bestimmt, die Büffel zu schützen. Aber er wusste jetzt auch, dass er dafür sterben würde.

IV

Einen Tag nach der Besprechung mit Blackhat und Agent Taylor war Frank Begay gegen Mittag in Billings gelandet. Das FBI hatte ihm einen der seltenen Direktflüge von Albuquerque gebucht. Den Rest des vorherigen Tages hatte er bei seiner Frau und seinem Sohn in ihrem Haus in der Nähe von Chinle verbracht und war dann morgens zum Flughafen gefahren. Seine Frau war nicht begeistert gewesen, dass er für längere Zeit weg sein würde. Aber ihre Beziehung äußerte sich nicht mehr in starken Gefühlsausbrüchen oder Gesten, seit ihr älterer Sohn Julian ums Leben gekommen war. Besonders Kathy Begay war seitdem sehr still geworden und hatte sich in ihre eigene Gedankenwelt und Erinnerungen zurückgezogen. Sie hatte ihm keine Szene gemacht, aber er wusste auch so, dass sie nicht billigte, dass er sie so lange allein ließ und sich vor den Karren der Bilagaana, der Weißen, spannen ließ. Sein Sohn hatte nur gefragt, warum er denn für das blöde FBI arbeite, besonders, wo er doch schon so oft Ärger mit dieser Behörde gehabt habe. Frank wusste nicht genau, warum er den Auftrag angenommen hatte. Natürlich verdiente er während der Tätigkeit für das FBI ein Vielfaches seines spärlichen Gehaltes als Navaho-Cop. Aber er machte sich nicht viel aus Geld, und im Vergleich zu dem Großteil der Reservatsbewohner war seine Familie bereits eher wohlhabend. Dieser Fall interessierte ihn wirklich. Seit Julians Tod hatte er sich immer mehr in seine Arbeit geflüchtet. Dabei hatte er Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Besonders die langen Autofahrten durch die endlosen Halbwüsten und Berglandschaften der Reservation und die langen Wartezeiten bei Observationen oder wenn er auf die Ankunft von Zeugen wartete, bei denen man sich nicht anmelden konnte oder die in Folge der „Indian Time“ später kamen, gab ihm Gelegenheit zum Nachdenken. Alles hatte sich verändert nach Julians Tod. Sie waren nicht mehr die glückliche Familie wie vorher. Früher hatte er seine Arbeit mehr als Broterwerb gesehen. Er hatte sie immer schon gewissenhaft erledigt und es war nie ein Nine-to-Five-Job gewesen, aber früher war es nicht seine Lebensaufgabe gewesen. Wie viel Zeit hatten er, Kathy und die beiden Jungen damals zusammen in der Natur

verbracht, bei ihrem Sommer-Hogan in den Chuska-Mountains! Sie hatten sich um die Schafe gekümmert, Kathy hatte am Webstuhl gesessen und an ihren wunderschönen Navaho-Decken gearbeitet. Er war mit seinen Söhnen auf die Jagd gegangen oder sie hatten die Wildnis durchstreift. Abends hatten sie am Feuer gesessen, sich unterhalten, Geschichten erzählt und zusammen gelacht. Nicht, dass er Kathy und Daniel jetzt weniger geliebt hätte als früher, aber das Glück und die Sorglosigkeit zwischen ihnen war zerbrochen. Franks ältester Sohn Julian war ein wunderbarer Mensch gewesen. Er hatte ein Yataalii werden wollen, ein traditioneller Heiler. Mit seiner freundlichen und direkten Art hatte ihn jeder gemocht. Wie Daniel war er in den Bitter Water Clan seiner Mutter geboren und für das Towering House People seines Vaters. Da die Dineh matrilinear waren, gehörte Frank selbst zum Clan seiner verstorbenen Mutter, war aber für den Red Forehead Clan geboren. Vor vier Jahren war Julian von einer Spritztour mit Freunden nicht nach Hause gekommen. Die Jugendlichen waren nach Gallup gefahren, kurz außerhalb der Reservation. Die Stadt war ein gefährliches Pflaster. Besonders am Wochenende waren die Straßen voller betrunkener Indianer. Da auf den umliegenden Reservationen Alkoholverbot herrschte, fuhren viele Trunksüchtige nach Gallup, wo sie sich in den Hinterhöfen der zahlreichen Liquor Stores und seltener in den Bars der Stadt volllaufen ließen. Es war eine elende Szenerie. Schlägereien und Messerstechereien waren an der Tagesordnung. In eine solche Auseinandersetzung zwischen betrunkenen Indianern waren die Jugendlichen geraten. Julian trank niemals Alkohol, hatte aber seiner Art gemäß helfend und vermittelnd eingreifen wollen und war dabei von einem unzurechnungsfähig betrunkenem Zuni erstochen worden. Er hatte noch Stunden gelebt. Im örtlichen Krankenhaus, wohin ihn seine Freunde gebracht hatten, beeilte man sich aber nicht unbedingt, den vielen betrunkenen oder verwundeten Ureinwohnern zu helfen und so war er dort langsam verblutet. Mit diesem Schicksal hatte sich ein Schatten auf Franks Familie gelegt. Vorher hatten sie ihr Leben in dem Gefühl gelebt, weit weg zu sein von der verwirrenden und brutalen Welt der Weißen, in der Einsamkeit der größten Indianerreservation der USA. Aber plötzlich hatte die Realität in Form der Welt der bilagaana mit ihren Errungenschaften wie dem Alkohol, sie in ihrer kleinen Welt erreicht und alles mit einem Schlag vernichtet. Man konnte sich nicht verstecken vor dieser Realität, nicht einmal im hintersten Winkel der größten

Reservation. Begay stand auf einem steinigen, mit Silberdisteln und Schlangenkraut bewachsenen Hügel in den Ausläufern der Chuska Mountains und nahm Abschied. Er sah nach Osten. Dort irgendwo lag sie, die Welt der Weißen, die so anders war als die seines Volkes. Als Kind war er nur zweimal aus der Großen Reservation herausgekommen. Einmal war er mit seinen Eltern hinüber in die Checkerboard Reservation gefahren, um dort Verwandte zu besuchen. Dieses Gebiet hieß so, weil es nicht durchgehend Reservatsland war, sondern schachbrettartig von Bundesland und Privatbesitz unterbrochen wurde. Schon bei dieser Fahrt, bei der er etwa zwölf Jahre alt gewesen war, viel mehr aber noch bei einer späteren Reise zu Verwandten in die Stadt Phoenix, hatte er einen regelrechten Kulturschock durchlebt. Auf der Navaho Reservation war alles mehr oder weniger im Einklang mit der Natur: Straßen verliefen so, wie das Gelände ihren Bau zugelassen hatte, besonders die Gravel Roads, Wege und Pfade liefen kreuz und quer, um Felsen herum, durch Bachläufe und Wälder, verschwammen zeitweise ganz mit der Umgebung. Zäune gab es nur selten. Die meisten Navaho ließen ihr Vieh frei umherschweifen und suchten es bei Bedarf. Auch die traditionellen Behausungen, die Hogans, in denen noch viele Menschen lebten, ten sich fast unsichtbar in die Landschaft ein. Gemacht aus der Erde und dem Holz der Umgebung, waren sie archaische, aus dem Geist des Landes entstandene Wohnungen und wirkten oft wie Felsen, die irgendwann, wenn ihre Besitzer verstorben waren, genau wie diese wieder zu dem verwitterten, aus dem sie geschaffen worden waren. Wie anders die Welt der Weißen war! Alles schien aus geraden Linien zu bestehen. Die Straßen waren schnurgerade, wo immer das Land es zuließ. Alles war mit Zäunen verbaut und die Gebäude, in denen viel zu viele Menschen lebten, waren gerade und eckig, von den Wohnhän über die Läden und die Fast-Food-Restaurants mit all dem Plastik und den unnatürlich schreienden Farben bis zu den beängstigenden Hochhän mit ihren Beton- und Glasfassaden in der Großstadt. Und während die Menschen seines Volkes die Einsamkeit kannten und liebten, schienen die Weißen Angst vor Alleinsein und Stille zu haben. Überall waren so viele Menschen und es herrschte ein

ohrenbetäubender Lärm! Er war damals heilfroh gewesen, als er wieder zurück im Schutz der Reservation war. Später als Erwachsener war er öfter außerhalb der Big Rez gewesen, aber er sehnte sich immer dorthin zurück und fühlte sich anderswo immer irgendwie fehl am Platz. Und jetzt war es wieder einmal soweit, Begay verließ seine Familie und seine Heimat, um für die Weißen zu arbeiten. Aber auf eine unerklärliche Weise hatte er das Gefühl, dass es wichtig war, dass er es tat.

NORDEN / ZWEITES RITUAL

V

In Billings war Begay vom Flughafen abgeholt worden. Der Beamte hatte ihn zum FBI-Büro gefahren, wo er noch einmal eine Einweisung erhielt und ihm versichert wurde, dass er jede Befugnis habe und mit jeder erdenklichen Hilfe rechnen könne. Er erhielt seinen Ausweis und ein Dienstfahrzeug mit GPS, Vierradantrieb, Funk und allem, was nötig sein könnte. Damit fuhr er zu dem Hotel, in dem für ihn ein Zimmer gebucht war. Es erwies sich als komfortabler Raum und darüber hinaus als halbes Büro, mit Schreibtisch, Telefon und installiertem Computer. Abends sollte er sich mit einem Agenten Kaufman in der Hotelbar treffen, der den Fall bereits bearbeitete und ihm zur Seite stehen sollte.

Da er bis dahin noch viel Zeit hatte, bestellte er sich etwas zu essen aufs Zimmer und begann die Akten, die er schon während des Fluges durchgesehen hatte, noch einmal genauer zu lesen. Nur von zwei der drei Toten war bisher die Identität geklärt. Der eine hieß James A. Hersley, ein Rechtsanwalt aus Rapid City in South Dakota. Der andere war Will Jennings, ein kleiner Rancher aus der Gegend von Buffalo in Wyoming. Beide schienen relativ wenig gemeinsam zu haben. Während Hersley wohlhabend und ein angesehenes Mitglied der städtischen Oberschicht von Rapid City war, war Jennings ein typischer Vertreter der eher ärmlichen Landbevölkerung des Westens. Hersleys Verschwinden war von seiner besorgten Frau angezeigt worden. In Jennings Fall war der verlassene Pick up Truck gemeldet worden und als dadurch die Identität des Halters ermittelt war, hatten die Behörden festgestellt, dass er bereits seit Tagen nicht zu Hause gewesen war, was seine Familie aber nicht sonderlich gestört zu haben schien.

Begay fragte sich, wo die Verbindung zwischen diesen beiden unterschiedlichen Personen liegen könnte. Beide hatten weit von einander entfernt gelebt und entstammten einem unterschiedlichen sozialen Milieu. Die polizeilichen

Recherchen hatten keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, dass die beiden sich jemals begegnet wären. Zwar waren sowohl Hersley als auch Jennings etwa im selben Alter, zwischen fünfzig und sechzig, aber das dritte Opfer war deutlich jünger, nach Einschätzung der Gerichtsmedizin ein Mann von circa fünfundzwanzig Jahren. Das dessen Verschwinden bisher von niemand gemeldet worden war, konnte darauf hindeuten, dass er allein gelebt hatte. Jedenfalls hatte der Vergleich aller Vermisstenanzeigen in weitem Umkreis mit der Leiche keine Übereinstimmung ergeben. Und doch musste es sich um den selben Täter handeln. Die Opfer waren nicht nur alle skalpiert worden, sie waren auch alle mit einem großen Messer getötet worden und in allen Fällen war der Fundort der Leiche nicht der Tatort. Begay legte die Akten weg und ging in das kleine Badezimmer, um noch eine Dusche zu nehmen.

Gegen sechs Uhr abends ging er hinunter an die Hotelbar. Um diese Zeit war hier noch nichts los. Nur ein älteres Paar saß an einem Tisch in der Ecke und trank stumm einen Cocktail. Offensichtlich hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Typisch für weiße Eheleute, dachte Begay. Das Ideal der jugendlichen Liebe allein reichte nicht für ein ganzes Leben und der weitgehende Ausschluss von Freunden oder einer größeren Familie aus der Zweierbeziehung führte auf Dauer, spätestens wenn die Kinder aus dem Haus waren, zu Langeweile und Sprachlosigkeit. Der Barkeeper beobachtete den Fernsehschirm. Begay setzte sich an die Bar, bestellte ein Mineralwasser und nahm sich ein paar Erdnüsse. Er wusste nicht, wie Agent Kaufman aussah, aber der würde ihn erkennen. Sicher hatte er noch nicht oft mit einem indianischen Cop zusammengearbeitet. Begay stellte sich Kaufman als den typischen gut gekleideten Agenten mit Bürstenhaarschnitt und Ray-Bean-Sonnenbrille vor. Wahrscheinlich mit einer Abneigung gegen Ureinwohner, wie die meisten Menschen im mittleren Westen.

Eine blonde Frau in blauem Kostüm betrat die Bar. Begay musste unwillkürlich zu ihr hinsehen. Er schätzte sie auf vielleicht dreißig Jahre. Sie war schlank und trug ihr blondes Haar zu einem Knoten auf dem Kopf hochgesteckt. Ihre geschmeidig fließenden Bewegungen verrieten, dass sie körperlich gut in Form war und ein gesundes Selbstbewusstsein besaß. Sie sah sich kurz um und kam

dann direkt auf Begay zu. „Officer Begay?“, sprach sie ihn mit einem einnehmenden Lächeln an und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin FBI-Agent Susan Kaufman!“ Agent Kaufman, die Begay sofort sympathisch war, setzte sich zu ihm auf einen Barhocker und bestellte einen Orangensaft. Nachdem sie sich bekannt gemacht hatten, kam Kaufman auf den Fall zu sprechen: „Sie sind soweit mit der Aktenlage vertraut?“ „Ja“, antwortete Begay, „ich habe mir die Papiere durchgelesen. Soweit ich sehen konnte, scheint es keine Verbindung zwischen den Opfern zu geben. Sie kamen nicht aus derselben Gegend, waren unterschiedlich alt und hatten auch einen verschiedenen sozialen Hintergrund. Dennoch scheint es sich ja um den selben Täter zu handeln, wenn man davon ausgeht, dass in eurer Gegend heute auch nicht mehr viele Leute rumlaufen und irgendwem den Skalp abnehmen.“ Kaufman lächelte: „Ja, davon gehen wir auch aus.“ „Gibt es denn irgendeinen Hinweis auf ein Motiv?“ „Leider tappen wir da noch völlig im Dunkeln. Die Opfer hatten alle noch ihr Bargeld bei sich. Einen Raubmord können wir damit wohl ausschließen. Allerdings hatte der Täter ihnen offensichtlich alle Ausweispapiere, Kreditkarten und Ähnliches abgenommen, wahrscheinlich um uns die Identifizierung zu erschweren. Und da wir bisher keine Verbindung zwischen den Opfern gefunden haben, wissen wir nichts über ein mögliches Tatmotiv.“ „Kann man denn sicher sein, dass es sich um einen Einzeltäter handelt?“, fragte Begay und nahm einen Schluck von seinem Mineralwasser. „Wir gehen davon aus. Einerseits sind die Taten zu bizarr, als dass man sich vorstellen könnte, dass mehrere Täter sie zusammen begangen haben könnten. Außerdem sind im Fall Will Jennings in der Nähe des Fundortes des Wagens Kampfspuren und Blut von Jennings gefunden worden. Die Leiche haben wir circa hundert Meilen entfernt vom Fundort seines Autos geborgen. Der Täter hat Jennings also mit seinem eigenen Fahrzeug weggebracht. Wären es mehrere Täter gewesen, hätten sie sicher seinen Wagen auch verschwinden lassen oder den Toten mit dessen eigenem Auto fortgebracht.“

Kaufman nippte an ihrem Orangensaft. „Sollten wir den Täter finden, könnten wir an seinem Wagen also Spuren von Jennings oder den anderen Opfern nachweisen“, sagte Begay. „Genau. Dieses Risiko musste der Mörder eingehen, weil er allein nicht die Leiche und den Wagen wegschaffen und zu seinem Auto zurückkehren konnte. Deshalb muss es sich um einen Einzeltäter handeln.“ „Jennings Leiche und auch sein Auto sowie die anderen beiden Toten sind doch in ziemlich menschenleerem Gebiet gefunden worden. Muss man nicht davon ausgehen, dass auch die beiden anderen Opfer mit einem Auto unterwegs waren und man deren Wagen nur noch nicht gefunden hat?“, fragte Begay. „Ja, wir suchen auch nach Hersleys Wagen, da er von zu Hause mit dem Auto weggefahren ist. Und wir hoffen, dass wenn wir den Wagen des unbekannten Toten finden, wir dadurch seine Identität feststellen können. Ich habe hier eine Karte für Sie, auf der die für den Fall wichtigen Plätze eingezeichnet sind.“ Kaufman nahm eine Landkarte aus ihrer Tasche und entfaltete sie vor Begay. Die Karte, die das nördliche Rocky Mountains Gebiet der USA umfasste, wies verschiedenfarbige Markierungen auf. „Hier sind die unterschiedlichen Fundorte und Herkunftsorte der Opfer eingetragen. Rot steht für den Fundort der ersten Leiche, deren Identität wir ja noch nicht kennen.“ Sie zeigte auf einen einzelnen roten Kreis in der Nähe von Emigrant im Süden Montanas. „Der Tote wurde am 13. März entdeckt. Der Mord muss aber schon um den 1. März herum geschehen sein. Der Körper war bereits von Kojoten, Bären und anderem Getier angefressen. Der örtliche Sheriff hat wohl nicht sonderlich viel unternommen, um das Verbrechen aufzuklären. Der Körper von James Hersley wurde am 16. April hier gefunden.“ Sie zeigte auf eine schwarze Markierung bei Deaver, nahe der Nordgrenze Wyomings. Ein weiterer schwarzer Kreis war um Rapid City gezogen, den Wohnort Hersleys.

„Hersleys Familie hatte Druck auf die Polizei gemacht. Daraufhin kam das FBI mit ins Spiel“, erläuterte sie. „Für den anderen armen Teufel hätte man sich wahrscheinlich nicht so viel Mühe gegeben“, meinte Begay. „Das fürchte ich auch. Jedenfalls wurde Hersley am 14. April ermordet, dem Tag, an dem er morgens von zu Hause weggefahren war. Als dann herauskam, dass es zwei skalpierte Leichen gab, wurden die Ermittlungen deutlich hektischer. Dann wurde am 5. Mai der Wagen von Will Jennings gemeldet. Ein Rancher aus der Gegend hatte am Tag zuvor das Auto auf verlassenen Ranch Roads fahren sehen und sich gewundert, was ein Fremder dort zu suchen hatte. Als er das Fahrzeug nicht zurückkommen sah, hat er sich am nächsten Tag in der Gegend umgesehen, den leeren Wagen entdeckt und den örtlichen Behörden gemeldet.“ Kaufmans Zeigefinger ruhte an einer grünen Markierung nahe dem Ende einer Landstraße mit der Nummer 419, von der ausgehend sich einige Pisten in den Ausläufern der Absaroka Berge verloren. Eine Markierung für Jennings Wohnort befand sich in der Nähe von Buffalo in Wyoming und eine weitere, zu der Kaufmans Finger jetzt wechselte, war etwas südlich der Autobahn bei Billings eingezeichnet. Die Daten des Fundes standen jeweils an den Markierungen. „Hier wurde Jennings dann am 6. Mai gefunden. Die gerichtsmedizinische Untersuchung hat ergeben, dass er am 4. Mai, wohl nicht sehr lange, nachdem sein Auto dem Rancher aufgefallen war, getötet wurde.“ Begay betrachtete die weit auseinander liegenden Fundorte und sagte: „Der Mörder ist ein ziemliches Risiko eingegangen, als er Jennings Leiche so weit durch die Gegend gefahren hat. Und das die Fahrzeuge der anderen Toten nicht gefunden wurden, könnte natürlich darauf hinweisen, dass er auch sie weggebracht hat.“ „Genau. Deshalb erhoffen wir uns auch weitere Erkenntnisse, wenn die Fahrzeuge gefunden würden. Interessanter Weise hat der Täter sich nicht wirklich Mühe gegeben, die Toten zu verstecken. In dieser dünn besiedelten Gegend hätte er sie sicher besser verschwinden lassen können. Er hat auch nicht versucht, sie zu vergraben oder zu verdecken. Er scheint also nichts dagegen zu haben, dass sie gefunden werden. Nur wollte er offensichtlich den

Zusammenhang zum Tatort verschleiern. Vielleicht stehen die Autos der ersten beiden Opfer ja auch noch in der Nähe des Tatorts“, gab Kaufman zu bedenken. „Okay, ich denke, ich sollte mir möglichst bald den Tatort im Fall Jennings ansehen. Vielleicht entdecke ich ja noch irgendetwas.“ „Darauf hoffen wir! Schließlich sollte ein echter indianischer Spurensucher mehr finden als ein paar Bürohengste und Vorstadtbullen!“ Beide mussten lachen. „Aber ich warne Sie“, fuhr Kaufman fort, „für morgen ist Regen angesagt. Das könnte das Ganze zu einem unangenehmen Unterfangen und eventuell auch wenig erfolgversprechend machen.“ Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen um acht Uhr und verabschiedeten sich. Begay ging auf sein Zimmer, wo er noch lange nachdachte, bevor er endlich einschlafen konnte.

VI

Am nächsten Morgen regnete es in Strömen. Kaufman und Begay waren sich einig, dass es unter diesen Umständen nicht sinnvoll war, zum Jennings-Tatort zu fahren. Sie beschlossen, stattdessen noch einmal gemeinsam die Hinterbliebenen der beiden bekannten Toten zu befragen. Nachdem Kaufman sie telefonisch angemeldet hatte, machten sie sich auf den Weg. Sie fuhren in ihrem Wagen, da sie den Weg bereits kannte. Gegen elf Uhr erreichten sie das Gelände der Jennings-Ranch in Wyoming. „Sieht nicht besonders gepflegt aus“, bemerkte Begay, als sie durch das baufällig anmutende Tor fuhren, das von einem arg verwitterten Rinderschädel geziert wurde. Über Weiden, auf denen einige wenige zerzauste Rinder grasten, gelangten sie zum Haupthaus, das auch nicht sehr gut aussah. Neben dem von Wind und Wetter gezeichneten alten Ranchhaus stand ein Mobil Home, an dem die Farbe abblätterte. Alte Kanister, Reifen und anderer Müll lagen auf dem vom Regen aufgeweichten, matschigen Hof herum. Kaufman und Begay betraten die Veranda des Ranchhauses über ächzende Bretter, als auch schon die Tür geöffnet wurde. Eine dickliche Frau von vielleicht sechzig Jahren in einer abgewetzten blauen Arbeitshose trat ihnen gegenüber. „Guten Tag! Wir sind die Beamten Kaufman und Begay vom FBI. Wir hatten telefoniert“, begrüßte Kaufman sie freundlich. „Der Indianer oder was immer er ist, kommt hier nicht rein“, sagte die Frau statt einer Begrüßung und zeigte mit einem speckigen Finger auf Begay. „Das ist Special Agent Frank Begay, der uns helfen soll, den Mord an ihrem Mann aufzuklären“, antwortete Kaufman mit erhobener Stimme. „Wenn Sie uns nicht hereinbitten wollen, erteile ich ihnen eine Vorladung und Sie kommen dann in unser Büro in Billings, okay?“ Missmutig öffnete die Frau die Tür und ließ sie eintreten. Die beiden Agenten kamen in einen düsteren Raum, der offensichtlich schon das Wohnzimmer des Hauses darstellte. An den Holzwänden hingen Bilder von Rindern und Cowboys.

Auf dem Boden lag das Fell eines Grizzly-Bären und in einer Ecke duckte sich ein ausgestopfter, mottenzerfressener Berglöwe zum Sprung. Sie setzten sich an einen schweren Eichentisch, auf dem benutzte Becher und Teller herumstanden. Die Söhne von Mrs. Jennings schienen unterwegs zu sein. Allerdings waren die auch nicht sonderlich hilfsbereit gewesen, erinnerte sich Kaufman. „Mrs. Jennings, wir wüssten gerne, was Ihr Mann vorhatte, als er am 4. Mai von hier wegfuhr?“, eröffnete Kaufman das Gespräch. „Das habe ich Ihnen ja alles schon erzählt. Er ist so früh am Morgen losgefahren, dass ich ihn überhaupt nicht mehr gesehen habe. Ich dachte, er wird wohl ein paar alte Kumpels besuchen und eine ordentliche Sauftour starten. Oder mal wieder die Bordelle in der Umgebung heimsuchen.“ Mrs. Jennings lachte böse. „Der alte Will hat mir nicht ständig erzählt, was er so macht.“ „Wir dachten, Ihnen ist inzwischen vielleicht noch irgendetwas eingefallen, was uns weiterhelfen könnte?“ „Nein. Mein Mann war oft weg, ohne dass ich wusste, was er treibt. So war er eben. Ist manchmal tagelang verschwunden. Deshalb habe ich mich auch nicht sonderlich gewundert, als er nicht nach Hause kam.“ Mrs. Jennings Blick ruhte auf dem schmutzigen Esstisch, schien aber etwas weiter dahinter zu betrachten. „Hatte Ihr Mann eine Waffe bei sich?“, fragte Begay. „Er hatte immer mindestens ein Gewehr in seinem Truck. Schließlich gibt es hier jede Menge Bären und Pumas, gegen die wir unsere Tiere verteidigen müssen“, meinte Mrs. Jennings mit einem unfreundlichen Blick zu Begay. „Fehlt Ihnen vielleicht ein bestimmtes Gewehr?“ „Natürlich! Die, die er dabeigehabt hat! Aber welche das jetzt genau waren, weiß ich nicht. Ich kümmere mich hier um den Haushalt“, sagte sie und sah auf den unaufgeräumten Tisch. „Wurde bei dem Truck denn ein Gewehr gefunden?“, erkundigte sich Begay mit einem Blick zu Kaufman. „Ja, es gab aber noch eine Halterung für ein zweites Gewehr.“

Begay machte sich eine Notiz. Davon hatte er noch nichts gehört. „Hatte Ihr Mann Kontakt zu amerikanischen Ureinwohnern?“, fragte Kaufman. Begay sah erstaunt auf. „Zu Rothäuten meinen Sie?“ Die Frau grinste Begay auf unangenehme Weise an. „Nee, er hat sicher mal den einen oder anderen roten Bettler oder Vagabunden verjagt, aber sonst hat er mit den Brüdern nix zu schaffen gehabt. Wieso fragen Sie?“ „Nun, weil Ihr Mann und zwei andere Mordopfer hier in der Gegend skalpiert wurden. Das könnte auf einen Indianer hindeuten.“ „Oder natürlich auf jemanden, der diesen Verdacht erwecken will“, sagte Begay schnell. „Gibt es sonst jemand, der Ihrem Mann etwas hätte anhaben wollen?“ „Höchstens ein paar Liberale oder Grüne, die uns vorschreiben wollen, wie wir auf unserem Land zu leben haben“, sagte Mrs. Jennings und nahm einen Schluck aus ihrer speckigen Kaffeetasse. „Ansonsten haben wir immer mit allen Leuten in Frieden gelebt.“ Begay bezweifelte das. Er warf Kaufman einen auffordernden Blick zu und überließ es ihr, sich zu verabschieden: „Wenn Ihnen nichts weiteres einfällt, Mrs. Jennings, werden wir Sie dann nicht länger belästigen! Sie haben ja unsere Telefonnummer. Vielen Dank!“ Begay und Kaufman standen auf und gingen zur Tür, wohin Mrs. Jennings sie begleitete. Ohne ein weiteres Wort traten sie hinaus auf den schlammigen Hof und stiegen in ihr Auto.

Nach weiteren drei Stunden Autobahnfahrt durch den Regen und einem kurzen Halt in einem Fast Food Restaurant in Rapid City, fuhren sie kurz vor drei Uhr die mit Kies bedeckte Auffahrt herauf, die zum Anwesen der Hersleys führte. Nachdem sie an einer messingbeschlagenen Tür geklopft hatten, öffnete ihnen eine Hausangestellte und führte sie in eine Art Salon, in dem eine ältere, sehr gepflegte und vornehm wirkende Dame sie offensichtlich bereits erwartete.

Agentin Kaufman stellte sie beide vor. Mrs. Hersley begrüßte sie freundlich und bot Ihnen Tee an. Nachdem die Hausangestellte die Tassen gefüllt hatte, entschuldigte sie sich und ging hinaus. „Mrs. Hersley, es tut mir leid, dass wir Sie noch einmal belästigen müssen. Aber ich möchte unserem Special Agent hier Gelegenheit geben, sich ein Bild zu machen. Außerdem möchte ich Sie fragen, ob Ihnen nicht noch irgendetwas eingefallen ist, das uns weiterhelfen könnte?“ Begay betrachtete nachdenklich seine Umgebung. Neben einem SteinwayFlügel, geschmackvollen Bildern und wahrscheinlich teuren Teppichen wurde der große Raum von etlichen Jagdtrophäen geziert. Neben exotischeren Gehörnen und Köpfen bemitleidenswerter Geschöpfe nahm ein riesiges Elchgeweih fast die gesamte Breite des Raumes ein und ein im Stand annähernd drei Meter hoher, ausgestopfter Grizzly reichte beinahe an die hohe Zimmerdecke heran. Auch Köpfe von Puma, Luchs und Wolf fristeten hier ein trauriges Dasein. „Leider kann ich Ihnen gar nichts weiter sagen“, entgegnete Mrs. Hersley sichtlich betrübt. „James ist am 14. April ganz früh morgens zu einem Ausflug aufgebrochen. Ich nehme wohl an, dass er wandern gehen wollte. Er sollte am nächsten Tag zurück sein. Und als er nicht kam, habe ich natürlich die Polizei verständigt. Mein Mann war sehr zuverlässig, müssen Sie wissen.“ Sie hatte Tränen in den Augen und Begay bemerkte, dass ihre Stimme zitterte. „Könnte es denn auch sein, dass Ihr Mann zur Jagd gehen wollte?“, fragte er mit einem vielsagenden Blick auf die ihn umgebenden Trophäen. „Ja, das wäre schon möglich. Ich fand es immer ein fürchterliches Hobby“, antwortete die alte Dame mit einem entschuldigenden Lächeln. „Deshalb hat er mir nichts davon erzählt. Und dann kam er plötzlich mit so einem grausigen Kopf nach Hause und wollte mich überraschen. Und er war immer ganz beleidigt, dass ich mich nicht darüber freuen konnte!“ „Hat er vielleicht jemand anderem davon erzählt, Ihren Kindern zum Beispiel?“ Mrs. Hersley schüttelte den Kopf. „Nein, bestimmt nicht! Früher vielleicht. Aber unser Sohn wohnt jetzt an der Ostküste und unsere Tochter in Kalifornien. Die kommen höchstens noch mal zu Weihnachten. Wir haben nur noch wenig Kontakt.“ Die ältere Dame schluchzte kurz. Kaufman legte eine Hand auf ihren

Arm, wofür sie sich mit einem Blick bedankte. „Hatte Ihr Mann denn ein Gewehr dabei?“, fragte Begay. „Das weiß ich gar nicht. Sie können aber gerne im Waffenschrank nachsehen!“ „Hatte Ihr Mann ein großkalibriges Jagdgewehr?“ „Ich habe leider keine Ahnung. Aber kommen Sie, ich zeige Ihnen seine Waffensammlung!“ Die Agenten folgten ihr in ein Nebenzimmer, wo gleich mehrere mit Gewehren bestückte Schränke hingen. In allen prangten mehrere Waffen, waren aber auch Halterungen leer, so dass man unmöglich sagen konnte, ob ein bestimmtes Gewehr fehlte. Als sie zu ihren Sesseln zurückgekehrt waren, fragte Kaufman noch einmal nach eventuellen Feinden des Ermordeten. „Ja sehen Sie, als Anwalt macht man sich natürlich nicht nur Freunde. Aber mein Mann praktizierte ja kaum noch und auch von früher ist mir da nichts bekannt. Allerdings hatte ich auch nicht sehr viel Einblick in die Arbeit meines Mannes.“ Kaufman fragte auch wieder nach indianischen Bekannten des Toten, sagte aber diesmal gleich dazu, dass es sich eventuell um einen indianischen Täter handeln könnte, oder eben auch um jemand, der den Verdacht gezielt in diese Richtung lenken wollte. „Ich weiß nicht, ob Sie davon erfahren haben, aber auch der dritte Tote, den wir gefunden haben, ist skalpiert worden“, fügte sie vorsichtig hinzu. Die alte Dame schluchzte auf. „Mein Gott, nein, davon wusste ich nichts! Auch über den Tod meines Mannes stand ja nichts in der Zeitung! Aber, um Ihre Frage zu beantworten, nein, wir hatten keinen Kontakt zu Indianern.“ „Beruflich vielleicht? Gerade hier im Gebiet der Black Hills sind ja viele Klagen von Indianern vor Gericht anhängig“, warf Begay ein. Kaufman sah ihn irritiert an. „Ja, warten Sie! Da war tatsächlich etwas! Das ist aber schon lange her.

Vielleicht Ende der Siebziger Jahre… Da hat mein Mann wirklich mal einen Indianerstamm vertreten. Es ging um irgendwelche Ausgleichszahlungen für erlittenes Unrecht. Richtig. Indian Claims Commission hieß das. Aber ich fürchte, viel mehr weiß ich darüber auch nicht. Meinen Sie denn, das könnte irgend etwas mit seinem Tod zu tun haben? Das ist ja bald dreißig Jahre her!“ „Nun, möglich wäre es immerhin“, murmelte Begay ausweichend und erwiderte Kaufmans hilflosen Blick. „Ich erkläre Ihnen nachher, worum es da geht“, sagte er zu ihr und fuhr dann fort: „Mrs. Hersley, wissen Sie vielleicht noch, welchen Stamm Ihr Mann damals vertreten hat?“ „Es war ein Sioux-Stamm. Ich meine, die Brulé. Ich weiß noch, dass er damals hauptsächlich an dieser Sache gearbeitet hat. Und dass er sich fürchterlich aufgeregt hat, als das Verfahren dann eingestellt wurde.“ Begay zog die Augenbrauen hoch und nickte. „Wissen Sie, ob Ihr Mann bedroht wurde, vielleicht im Zusammenhang mit diesem Verfahren?“ „Nein, davon ist mir wirklich nichts bekannt.“ „Mrs. Hersley, Sie haben uns sehr geholfen! Wenn Ihnen noch irgend etwas einfällt, dann rufen Sie uns doch bitte an!“ Kaufman gab ihr noch einmal ihre Karte, sie bedankten sich für den Tee und verabschiedeten sich. Nachdem die Hausangestellte sie hinausbegleitet hatte, stiegen sie in ihr Auto und fuhren durch die hübschen Vorstadtviertel von Rapid City zur Autobahn. Es hatte aufgehört zu regnen. Graue Wolkenschleier hingen an den Vorbergen der Black Hills. Dunst lag in der Luft. „Was war denn das mit dieser Indian Claims Commission?“, fragte Kaufman. „Die Claims Commission hatte den Auftrag, indianische Landrechte, die durch Verträge mit den Vereinigten Staaten garantiert waren, zu klären. Vielleicht wissen Sie ja, dass zum Beispiel die Black Hills hier durch die Verträge von Fort Laramie von 1851 und 1868 auf alle Zeit den Indianern zugesichert wurden?“ Kaufman schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, da habe ich in der Schule gerade gefehlt.“

„Ich fürchte, in der Schule hat Ihnen das keiner erzählt“, antwortete Begay. „Auch viele andere Stämme haben vertraglich verbuchte Rechte an Land, das aber trotzdem an weiße Siedler und Firmen vergeben wurde. Zum Beispiel bei uns in Arizona die Black Mesa. Die gehört vertraglich den Hopi. Aber leider wurden dann dort Kohle und andere Bodenschätze gefunden. Die Abgaswolke über dem Kohlekraftwerk auf der Black Mesa ist übrigens die einzige von Menschen hervorgerufene Erscheinung, die man vom All aus auf der Erde sehen kann.“ Er lachte bitter. „Und die Western Shoshone kämpfen um ihr Land in Nevada, auf dem unsere nationalen Atombombentests durchgeführt werden.“ „Nanu, dann war diese Kommission ja wohl eine ganz gute Sache, oder?“, fragte Kaufman, die offenbar keine sehr hohe Meinung von der Indianerpolitik ihrer Regierung zu haben schien. „Na ja, nicht unbedingt. Der Trick an der Sache war, dass überhaupt nicht über eine Rückgabe von Ländereien verhandelt werden sollte, was die Stämme natürlich gehofft hatten. Die Kommission hatte lediglich die Befugnis, Entschädigungszahlungen festzulegen. Damit wollte man das Problem ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Im Falle eines Zustandekommens hätten die betroffenen Indianerstämme dann entgültig jedes Anrecht auf die Gebiete verloren. Die Honorare der Anwälte berechneten sich natürlich nach dem Streitwert. Können Sie sich vorstellen, was die Black Hills wert sind?“ „Oh Gott, nein! Bestimmt Billionen!“, antwortete Kaufman. „Eben! Allein das Gold, das in den Black Hills gefördert wird, ist Billionen wert. Und Gold ist nur einer der vielen verschiedenen Bodenschätze, die in den Bergen abgebaut werden. Völlig unmöglich, da einen Betrag festzulegen! Auf jeden Fall war dieser Betrag sehr hoch und die Honorare der Anwälte beliefen sich auf viele Millionen Dollar! Die Anwälte haben selbstverständlich alles dafür getan, dass es zu einer Abfindung kam. Damit hätten auch ihre Urenkel noch ausgesorgt gehabt!“ „Wahrscheinlich haben sie ihren Klienten auch nicht unbedingt auf die Nase gebunden, dass eine Landrückgabe gar nicht beabsichtigt war“, vermutete Kaufman. „Ganz bestimmt nicht“, antwortete Begay, „das lag nicht in ihrem Interesse!“ „Dann hat der alte Hersley sich gar nicht aus Menschenfreundlichkeit so in der

Sache engagiert, sondern, weil ein Vermögen daran zu verdienen war! Jetzt verstehe ich auch, warum er sich so aufgeregt hat, als es zu keiner Verabschiedung kam!“ „Ganz genau“, stimmte Begay zu, „da hat jemand Hersley den Coup seines Lebens vermasselt!“ „Und wenn Hersley die von ihm vertretenen Indianer dazu bringen wollte, die Entschädigung anzunehmen, ohne ihnen klar zu machen, dass das gleichzeitig den endgültigen Verlust ihres Landes bedeutete, könnte jemand ziemlich sauer auf ihn geworden sein. Da könnte sich ein schönes Mordmotiv verstecken!“ Kaufman sah nachdenklich auf die Straße und fügte hinzu: „Aber so viele Jahre später?“ „Das würde mich gar nicht so wundern“, sagte Begay, „immerhin könnten Fakten erst viel später bekannt geworden sein. Jemand könnte erst jetzt die ganze Wahrheit erfahren haben. In solchen Fällen kann so was auch noch Jahrzehnte später kommen. Viel Geld! Viel Betrug! Viele Existenzen, die daran hingen! Ich frage mich vielmehr, was die beiden anderen Opfer damit zu tun gehabt haben könnten! In jedem Fall müssen wir die Akten der Indian Claims Commission und Hersleys Unterlagen dazu einsehen!“ „Ich kümmere mich darum!“ „Wir wissen jetzt auch, dass Hersley und Jennings Jäger waren. Vielleicht hilft uns das ja weiter!“ „Ja, das war mir auch neu! Beim ersten Besuch hat Mrs. Hersley uns nämlich in einem anderen Zimmer empfangen. Die Trophäen und Gewehre ihres Mannes habe ich heute zum ersten Mal gesehen! Wahrscheinlich will sie auch nicht immer diese ganzen toten Tiere um sich haben!“ „Man hat aber keine Waffe bei einem der Toten gefunden?“, fragte Begay. „Nein. Und offensichtlich weiß auch niemand, ob bei Hersleys oder Jennings ein Gewehr fehlt. Ich werde noch mal überprüfen, ob einer von beiden registrierte Waffen hatte und ob davon eine fehlt. Aber große Hoffnungen mache ich mir nicht. Schließlich hat hier im Westen fast jeder eine Waffe. Und die wenigsten sind registriert.“

In ihre Gedanken versunken fuhren sie schweigend weiter. Die Interstate 90 wand sich langsam entlang der Bighorn Mountains nach Norden, vorbei an einem Wegweiser zum alten Fort Phil Kearney. Der Sioux-Häuptling Red Cloud hatte die Weißen 1868 gezwungen, dieses und zwei weitere Forts am Bozeman Trail aufzugeben, was zu dem zweiten Friedensvertrag von Fort Laramie geführt hatte, in dem den Indianern zum zweiten Mal unter anderem die Black Hills zugeschrieben wurden. Später hatte der Häuptling Crazy Horse im Krieg um die Black Hills, die nun doch wieder von den Weißen beansprucht wurden, der USArmee ihre vernichtendste Niederlage beigebracht. Den Wegweiser zum Custer Battlefield auf der Crow Indian Reservation, durch die sie fuhren, sah Begay nicht. Er war eingeschlafen.

VII

Am nächsten Morgen war es Begay, der Susan Kaufman in ihrem Büro abholte. „Hallo Frank! Kommen Sie rein und nehmen sie sich einen Kaffee!“, begrüßte sie ihn strahlend. „Ich habe gestern noch die Akten der Claims Commission angefordert. Sie sind heute morgen per Fax gekommen und ich habe sie schon mal durchgesehen.“ „Das ging ja schnell“, meinte Begay. „Ich hab´s auch sehr dringend gemacht“, grinste Kaufman. „Es sieht so aus, als ob es damals fast zum Abschluss der Verhandlungen gekommen wäre. Jedenfalls waren wohl die meisten der Sioux-Stämme soweit, die Wiedergutmachung anzunehmen, auch Hersleys Brulé. Aber der Stamm der Oglala-Sioux hatte durchschaut, dass es dabei auch um eine endgültige Abtretung der Besitzansprüche ging und war nicht bereit, seine Rechte an den Black Hills abzugeben. Und die Oglala konnten die anderen Stämme offensichtlich überzeugen, ihre Landansprüche nicht für Geld aufzugeben. Allerdings konnten die Indianer die für sie tätigen Anwälte nicht entlassen und selbst neue engagieren, weil sie als Mündel der USA galten und daher nicht ohne Einwilligung der Regierung handeln konnten.“ „Und die hatte sicher kein Interesse daran, sich mit Anwälten auseinanderzusetzen, deren Ziel wirklich die Rückgabe des Landes gewesen wäre!“, sagte Begay. „Nein, sicher nicht! So blieb den Sioux nur, das Verfahren zu verschleppen, bis es schließlich eingestellt wurde.“ „Begay musste lachen: „Mit den Oglala habt Ihr Weißen ja immer besonders viel Ärger gehabt! Erst hat Euch Red Cloud das Land am Powder River abgenommen, dann hat Crazy Horse Crook und Custer geschlagen und dann haben sie auch noch die Claims Commission platzen lassen! Ein tapferer kleiner Stamm!“

„Es war auch ziemlich tapfer, die Hunderte von Millionen Entschädigung auszuschlagen, die der Stamm bekommen hätte!“, bemerkte Kaufman. „Ja, besonders, wenn man die desolate Lage bedenkt, in der sich die SiouxStämme befinden! Ich habe gestern auch noch ein bisschen im Internet recherchiert. Dass Indianerreservationen die ärmsten Gebiete der USA sind, ist ja Allgemeinwissen. Aber die Sioux-Reservate sind die ärmsten von allen. Wussten Sie, dass Pine Ridge, das Reservat der Oglala-Sioux, der ärmste Bezirk der gesamten USA ist?“ Begay wartete keine Antwort ab. „Ich habe eine Studie vom Ende der Siebziger Jahre gelesen, der Zeit, als es um die Entschädigungszahlungen ging: 90 Prozent Arbeitslosigkeit, die meisten Bewohner lebten weit unter der offiziellen Armutsgrenze, Alkoholismus, viele Selbstmorde, hohe Säuglingssterblichkeit, Krankheiten und schlechte medizinische Versorgung. Eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwas mehr als vierzig Jahren. Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass hundert Jahre zuvor bei ersten anthropologischen Untersuchungen ein Durchschnittsalter von über siebzig Jahren bei den Plains-Indianern festgestellt wurde, viel höher als bei den Weißen damals!“ „Aber ohne deren Einfluss!“ „Ja, natürlich! Der Einfluss der Weißen hatte ja auch damals schon ziemlich negative Auswirkungen auf die Lebenserwartung von Ureinwohnern! Übrigens waren es die Treaty Councils, Räte traditioneller Indianer, die ihre Legitimation noch aus der Zeit der ersten Vertragsverhandlungen mit der amerikanischen Regierung beziehen, die den offiziellen Stammesräten in die Suppe gespuckt haben. Die Stammesräte wollten damals durchaus die Entschädigungszahlungen annehmen, doch die sogenannten Traditionellen waren rigoros dagegen. Diese Vertragsräte waren stammesübergreifend und sollten die Rechte der Indianer wahren. Inzwischen lehnen alle Sioux-Stämme die Entschädigungen ab und kämpfen vor Gericht um ihren Anspruch auf die Black Hills. Sollten sie damit jemals Erfolg haben, gibt es allerdings Pläne, das Gebiet den Angehörigen aller Stämme der USA zur Verfügung zu stellen.“ „Das wird nie etwas! Erzählen Sie das mal meinem Vater! Wir haben eine Ranch in den Black Hills. Er würde niemals da weggehen!“, empörte sich Kaufman. Nachdenklich fuhr sie fort: „Aber, was ich nicht verstehe, ist, wenn es gültige

Verträge gibt, die besagen, dass die Berge den Indianern gehören, wieso leben dann nur Weiße dort und die Indianer kämpfen vor Gericht darum?“ „Solche Verträge gibt es hunderte!“, sagte Begay traurig. „Im Fall der Black Hills wurde das Gebiet, wie in anderen Fällen auch, zur National Sacrifice Area erklärt, zu einem „nationalen Opfergebiet“ also, bei dem das Interesse der gesamten Nation daran die Interessen einzelner oder von Gruppen rechtlich überwiegt. Und mit diesem Kunstgriff werden alle rechtmäßigen Ansprüche weggefegt!“ „Ziemlich mies!“, meinte Kaufman. „Andererseits verstehe ich, dass man heute große Gebiete, die seit langer Zeit von weißen Privatleuten und Firmen genutzt werden, nicht so einfach zurückgeben kann!“ „Ja, natürlich“, sagte Begay. „Aber die Indianer fordern heute nur Land, das nicht einer Nutzung unterliegt für ihren Gebrauch und wollen die Anerkennung ihrer Besitzrechte, um durch die weitere Vergabe von Lizenzen und die Kontrolle der Nutzung ökonomisch zu profitieren. Dieser Nutzen wäre besonders für zukünftige Generationen viel höher als die vergleichsweise geringen Entschädigungszahlungen und würde ihren Einfluss auf die Art der Bodennutzung auf Dauer sicherstellen.“ „Pah, dann gäbe es bei Euch naturliebenden Rothäuten keine Uranförderung im Tagebau mehr, was?“, witzelte Kaufman. „Wohl eher nicht“, antwortete Begay ernst. Kaufman nahm einen Schluck Kaffee und sagte: „Das heißt, es gab auch ein starkes Interesse der Industrie am Abschluss der Indian Claims Commission, die damit endlich rechtliche Sicherheit über ihre Gewinne erhalten hätte und die Gefahr der Einmischung in ihre Art der Bodennutzung durch die rechtmäßigen Besitzer gebannt hätte. Vielleicht wusste Hersley zu viel darüber?“ „Ja, das könnte sein. Aber wir ergehen uns hier etwas in Spekulationen“, antwortete Begay. „Wir müssen warten, ob Hersleys Unterlagen etwas hergeben! Fahren wir erstmal los!“ Sie fuhren den selben Weg, den Jennings einige Tage zuvor genommen hatte. Das Wetter war wieder schön und Begay verstand durchaus, warum auf den Nummernschildern der Wagen aus Montana „Big Sky Country“ stand: Der

Himmel, an dem nur vor dem Horizont einige grau-weiße Wolken standen, schien sich weiter zu wölben als anderswo. Der Regen hatte die Hügel der Plainslandschaft in ein saftiges grünes Meer verwandelt und in den Niederungen der Flüsse und Bäche flirrten die Blätter der Espen leuchtend im Sonnenlicht. Begay genoss die Fahrt, besonders als sie aus den dahin rollenden Erhebungen und Senken des Graslandes immer weiter auf die Berge der Absaroka Range zukamen und sich Nadelwälder immer tiefer in die Täler vorschoben. Kaufman leitete ihn zielsicher über ein paar Dust Roads, bis sie ihn aufforderte, den Wagen abzustellen. Von hier liefen sie einige Minuten querfeldein, wobei Kaufman sich an vom FBI gekennzeichneten Bäumen orientierte. Schließlich kamen sie an einen mit gelbem Absperrband umgebenen Platz. „So, dann zeigen Sie mal, was für ein Fährtenleser Sie sind“, neckte Kaufman. Begay war schon unter dem Band durch geschlüpft und sah sich um. Das hier ein Kampf stattgefunden hatte, sah man sofort: Obwohl spätestens der Regen des gestrigen Tages die eigentlichen Spuren verwischt hatte, war der Boden aufgewühlt und der Pflanzenbewuchs niedergetrampelt worden. Begay entdeckte einige abgeknickte Zweige von Sträuchern. Er wandte sich einem großen abgestorbenen Baum zu. An einem Aststumpf in Schulterhöhe fand er eine Kratzspur. Die richtige Höhe, um ein Gewehr aufzulegen, dachte Begay. Er sah in die Richtung, in die die Waffe dann etwa gezielt hätte. Dort lag eine Senke mit spärlichem Baumbestand. Begay schlüpfte unter der Absperrung hindurch und ging in die Senke hinunter. Die Erde war hier auch aufgewühlt und zwar in weit größerer Ausdehnung als an dem toten Baum. Der Boden war durch den darauf niedergegangenen heftigen Regen matschig. Auch hier konnte man keine wirklichen Abdrücke mehr ausmachen, aber Begay sah, dass hier größere Tiere gelaufen waren. Hatte Jennings ein Tier schießen wollen? Er ging zurück zu Kaufman, die an dem abgestorbenen Baum lehnte. Da entdeckte er ein Glitzern auf dem Boden. Begay kniete nieder und fuhr mit den Händen durch die Erde. Sofort förderte er eine Patronenhülse zu Tage. „Na, das haben eure Jungs von der Spurensuche wohl übersehen!“ „Da muss doch tatsächlich erst ein Navaho aus Arizona kommen! Ziemlich großes Kaliber, würde ich sagen“, mutmaßte Kaufman. „Ja, sieht aus, als ob hier

ein großes Tier geschossen werden sollte!“ Er hatte die Patrone bereits in eine kleine Plastiktüte fallen lassen, die er Kaufman reichte. „Die muss untersucht werden. Interessant wäre, ob Jennings ein Gewehr hatte, zu dem sie t! Aber wenn, dann ist es jetzt vermutlich nicht mehr da! Was würde man denn hier schießen mit so einem Kaliber?“ „Hirsch, Wapiti, Elch, vielleicht einen Bären“, vermutete Kaufman. Begay sah sich nachdenklich um. „Können wir heute noch zu der Stelle fahren, an der der erste Tote gefunden wurde?“, fragte er. „Klar, ich hab´ mich schon auf einen langen Tag eingerichtet“, antwortete Kaufman gut gelaunt.

Da es keine Verbindungsstraße durch die Absaroka Range gab, mussten sie, um in das Tal des Yellowstone River zu gelangen, den ganzen Weg bis zur Autobahn zurückfahren, auf dieser dann wieder circa achtzig Meilen weiter westlich nach Süden abbiegen und auf der Bundesstraße 89 noch etwa eine halbe Stunde fahren, bis sie wiederum auf eine Staubstraße abbogen. Die holprige Piste wand sich meilenweit durch ein hügeliges Tal, das mit Gräsern, Beifuß und gelegentlichen Tumbleweed-Büschen bewachsen war. Rechts und links war es eingefasst von waldbedeckten Bergen. Die Landschaft erinnerte an die Gegend, in der Jennings ermordet worden war, dachte Begay. „Bevor sie auf Spurensuche gehen, sollten wir was essen! Ich hab´ uns ein bisschen was mitgenommen“, sagte Kaufman und bedeutete ihm, den Wagen an einer kleinen Baumgruppe zu halten. Hier verbreiterte sich die Straße und der Platz war von vielen Fahrzeugen platt gefahren. „Hier scheinen öfters Autos geparkt zu werden. Was die Leute wohl hier machen?“, rätselte Kaufman, während sie eine Kühlbox und eine Thermoskanne vom Rücksitz nahm. „Sandwich? Kaffee?“ Begay nahm beides dankbar an. „Ist der Fundort weit von hier?“ „Nein. Ein paar Meilen noch. Dort führt die Straße durch bewaldetes Gebiet.“

„Um den ersten März herum lag hier doch bestimmt noch hoch Schnee. War sie da überhaupt befahrbar?“, fragte Begay. „Ja, es gibt einige Rancher in der Gegend, die die Straße benutzen. Um die Jahreszeit ist der Schnee platt gefahren. Aber daneben ist kein Durchkommen. Wahrscheinlich lag der Tote deshalb auch nahe an der Straße.“ „Wohin geht denn dieser Weg?“, fragte Begay und deutete auf eine Piste, die an dem provisorischen Parkplatz von der Haupttrasse abzweigte und sich bergauf in den bewaldeten Hügeln verlor. „Keine Ahnung! Ich nehme an, das ist eine Forststraße. Jedenfalls ist sie auf meiner Karte nicht eingezeichnet.“ Vorsichtig nahm Begay einen kleinen Schluck von dem heißen Kaffee und blickte nachdenklich in seine Tasse. „Soweit wir wissen, hat unser Mörder hier das erste Mal zugeschlagen“, sagte er. „Wenn das so ist, könnte es ja sein, dass er noch nicht so abgebrüht war, sein Opfer stundenlang durch die Gegend zu fahren. Vielleicht ist der Tatort ja ganz in der Nähe. Oder das Auto des Toten steht noch irgendwo hier herum. Jedenfalls erinnert mich die Landschaft sehr an den Platz, an dem Jennings ermordet wurde.“ „Stimmt. Wenn Sie soweit sind, können wir zum Fundort fahren“, sagte Kaufman und verstaute die Kühlbox auf dem Rücksitz. Begay nickte. Kurz darauf fuhr er wieder auf der Straße in bewaldetes Gebiet, als er auch schon die Absperrung entdeckte. Sie stiegen aus und besahen den Platz. Der Mörder hatte sein Opfer nur ein paar Meter neben der Piste abgelegt. Diese Erkenntnis war allerdings die einzige, die hier noch zu erlangen war. Immerhin hatte zur Zeit des Mordes hier noch hoch Schnee gelegen und seitdem waren Scharen von Polizei- und Bundesbeamten über die Stelle getrampelt. Als sie wenig später zurückfuhren, bog Begay spontan in die bergan führende Seitenpiste ein. „Ich würde mich gerne da oben mal umsehen“, sagte er entschuldigend. „Warum?“, wunderte sich Kaufman. Begay zuckte wortlos die Schultern. Der Täter war bestimmt nicht weit gefahren und er hatte gelernt, sich auf eine Ahnungen zu verlassen. Die Trasse führte durch felsiges und bewaldetes Gebiet. Als sie eine Kuppe

überquerten, öffneten sich die Felsen rechts und links zu kleinen Schluchten. Begay hielt den Wagen an und stieg aus. Nachdem er eine Weile an den Abstürzen entlanggegangen war, rief er plötzlich Kaufmans Namen und winkte ihr, zu ihm zu kommen. Außer Atem kam sie bei ihm an und sah sofort, was er entdeckt hatte. Wenige Meter unter ihnen lag zwischen den Felsen, von der Straße aus nicht zu sehen, ein roter Pick up Truck.

VIII

Als sie gegen Abend wieder im Büro in Billings eintrafen, erwartete sie schon ein Agent namens Winslow. Die Identität des Fahrzeughalters war in der Zwischenzeit bereits geklärt worden. Nachdem Begay zu dem Wagen hinab geklettert war und Kaufman das Nummernschild vorgelesen hatte, hatte diese es sofort nach Billings durchgegeben. „Der Fahrzeughalter war ein gewisser Malcolm Smith aus Idaho Falls, 26 Jahre alt“, berichtete Agent Winslow. „Wie wir schon vermutet hatten, lebte er allein. Deshalb hat ihn wohl keiner als vermisst gemeldet. Hat von Gelegenheitsjobs gelebt, zuletzt in einer Bar in Idaho Falls. Kommt ursprünglich aus ‘nem Kaff in Illinois. Dort leben seine Eltern auch noch, zu denen er aber wohl kaum noch Kontakt hatte.“ „Versuchen Sie doch bitte mal rauszukriegen, ob er nicht doch ein paar Bekannte hatte, über die Bar vielleicht oder Nachbarn“, bat Begay. „Und ob nicht irgend jemand weiß, was er vorhatte, als er verschwand.“ „Wir arbeiten daran“, nickte Winslow und verließ das Büro. „Wie wär´s, Susan, wollen Sie heute Abend vielleicht mit mir essen gehen?“, fragte Begay, der keine Lust hatte, allein im Hotel zu essen. „Ich dachte, ich lade Sie zu mir nach Hause ein, okay?“, sagte Kaufman. „So in zwei Stunden?“ Nachdem sie ihm erklärt hatte, wie er zu ihr kam, verabschiedeten sie sich.

Zwei Stunden später klopfte Begay an ihre Tür. Sie wohnte in einem kleinen Holzhaus in einer Vorortsiedlung von Billings. „Ich habe Ihnen etwas mitgebracht“, sagte er und überreichte ihr einen NavahoAnhänger aus Silber mit Türkisen.

„Oh, der ist zu kostbar! Das kann ich nicht annehmen“, sagte Kaufman. „Doch bitte! Wir Navaho haben so´n Zeug in Mengen, das wissen Sie doch! Es zeigt Kokopelli, den Schelm der Pueblo- und Navaho-Mythologie, der alle Leute hinters Licht führt.“ Kokopelli sorgte auch dafür, dass Jungfrauen, die es nicht wollten, schwanger wurden, aber das sagte Begay lieber nicht. Sie bedankte sich und bat ihn herein. Sie hatte sich sehr gemütlich eingerichtet, fand Begay, ohne die offensichtlich landesüblichen Cowboybilder und Tiertrophäen. Als sie sich in der Küche zu schaffen machte, konnte Begay nicht umhin, einen bewundernden Blick über ihren in Jeans und Cowboyhemd gekleideten, wohlproportionierten Körper wandern zu lassen, auch wenn er sich gleich darauf über sich selbst ärgerte. Sie setzten sich an den Tisch und Kaufman bot ihm Rotwein an. Er nahm lieber ein Mineralwasser. Es gab Pasta und gemischten Salat. „Das schmeckt großartig!“, lobte Begay. „Das müssen Sie jetzt nicht sagen“, sagte Kaufman etwas verlegen. „Aber wenn Sie hier ins Restaurant gehen, gibt es normaler Weise auch nur Steak und French Fries. Schließlich sind wir hier im „meat and potato-land“. Was esst ihr Navaho denn so?“ „Sandwich, Hamburger, Donuts…“ Kaufman lachte. „Nein, so was gibt‘s bei uns natürlich auch, aber es gibt auch noch die traditionelle Navaho-Kost.“ „Und was kann ich mir darunter vorstellen?“, wollte Kaufman wissen. „Viel Schaffleisch, Rind, Wild, dazu unsere traditionellen Feldfrüchte: Mais, verschiedene Kürbisse und Bohnenarten. Oft als Eintopf gekocht, dazu Maisbrot oder -fladen. Ein bisschen wie mexikanisches Essen, das ja indianische Wurzeln hat, bloß nicht so scharf.“

„Gibt es so was wie ein Nationalgericht?“ „Na ja, vielleicht Hammeleintopf. Aber jede Familie hat ihr eigenes Rezept.“ „Haben Sie auch so ein Familienrezept?“ „Hammelfleisch, Mais, Squash, verschiedene Bohnensorten, wilde Zwiebeln und Möhren, Salz und verschiedene Wildkräuter. Alles lange gekocht. Bei uns kommen dann noch Pflaumen und Pfirsiche aus unserem Canyon dazu.“ „Klingt lecker! Sie haben eigene Obstbäume?“ Begay schmunzelte leicht und freute sich über das Interesse der Agentin. Es war leichte Konversation, natürlich und unverfänglich, ohne ihn wirklich auszufragen. „Ja, wir bauen alles selbst an, haben auch ein paar Schafe. Aber eher hobbymäßig. Viele Navaho haben eine kleine Farm als zweites Standbein und aus Tradition. Nachdem Kit Carson nicht nur unsere Tierherden, sondern auch unsere geliebten Obstplantagen vernichtet hatte, hat die Familie meiner Großmutter bald wieder Pfirsich- und Pflaumenbäume gepflanzt, von denen wir heute noch ernten.“ „Es ist so grauenhaft, was wir den einheimischen Völkern angetan haben“, sagte Kaufman und schien es wirklich ehrlich zu meinen. „Uns Navaho geht es ja vergleichsweise gut“, meinte Begay ausweichend. „Das Navaho-Reservat ist das größte Indianerreservat der Vereinigten Staaten, oder?“, fragte Kaufman. „Ja, eben, dadurch stehen wir ökonomisch relativ gut da. Weniger Elend als auf den meisten Reservationen. Und durch die pure Größe unseres Landes können bis heute viele Dineh einen traditionellen Lebensstil beibehalten. Außerdem leben wir in unserer Heimat, Dinehtah, dem Land zwischen unseren vier heiligen Bergen, was ja nur sehr wenigen Stämmen vergönnt ist! Nachdem die Weißen festgestellt hatten, dass sie mit Bergen, Canyons und Wüste nichts anfangen konnten, ließen sie uns in unser Land zurückkehren.“ „Manchmal kommt es mir so vor, als ob die Stämme, die sich den Weißen eher

gefügt haben, heute besser dastehen, als die, die sich vehement gegen die Eroberer gewehrt haben. Den Blackfeet, Flathead, Shoshone, Bannock, die alle keinen Krieg gegen die Weißen geführt haben oder den Crow, die ja für die Armee gearbeitet hatten, scheint es vergleichsweise gut zu gehen, während zum Beispiel auf den Reservaten der Sioux-Stämme bittere Armut herrscht.“ „Interessante Theorie“, sagte Begay, „ich kenne mich hier im Norden nicht so aus, aber es stimmt, die Kiowa, Comanchen, die südlichen Cheyenne oder die Stämme aus dem Osten, die alle gegen die Weißen gekämpft hatten, haben fast all ihr Land verloren. Oder die Apachen, die man zunächst entgegen allen Versprechungen aus ihrer Heimat weggebracht hatte, und die man später in ihrem alten Gebiet in der Wüste ansiedelte. Früher hatten sie natürlich eher die höher gelegenen und fruchtbareren Gegenden bewohnt. Dagegen konnten sich die Puebloindianer, die nach ihrem Aufstand gegen die Spanier 1680 nie wieder die Waffen erhoben haben, eine ziemliche Autonomie bewahren. Und auch wir Dineh hatten immer versucht, mit den Weißen in Frieden zu leben. Nur als man uns aus unserer geliebten Heimat vertreiben wollte, haben wir uns gewehrt.“ „Sie sind in Ihrer Heimat sehr verwurzelt, was?“, fragte sie, ohne dass er hätte sagen können, ob sie damit sein Volk oder ihn im Besonderen meinte, und sah ihn forschend an. „Da kann man richtig neidisch werden! Für uns weiße Amerikaner scheint Heimat nichts zu bedeuten. Ich komme ja immerhin noch aus dieser Gegend. Aber die meisten Leute, die ich kenne, kommen von der Ostküste, aus Kalifornien oder sonst woher, wohnen hier ein paar Jahre und ziehen dann wieder woanders hin.“ „Ja, dafür habt ihr ja das Mobil Home erfunden: So könnt ihr euer Haus einfach 1000 Meilen weiter fahren und da sofort wieder aufstellen! Manchmal tut ihr Weißen mir richtig leid. Ich dagegen bin aus der Erde von Dinehtah gemacht, wie meine Vorfahren, und eines Tages werde ich wieder in sie eingehen.“ „Das klingt schön!“, sagte Kaufman und sah ihm ins Gesicht. Dabei gewahrte er, dass ihre Augen von einem wunderschön strahlenden, mit dunklen Tupfen durchsetzten Grün waren. Einen Moment hatte er das Gefühl, sich in ihren Augen zu verlieren. Begay war sich seiner exotischen Wirkung auf weiße Frauen durchaus bewusst. Er war nicht so groß wie viele Lakota oder Cheyenne, sondern, typisch für sein Volk, im Vergleich zu den weißen Amerikanern von durchschnittlicher Größe.

Bedingt durch sein zu einem großen Teil im Freien geführtes Leben war er für sein Alter gut in Form. Er hatte die für die Navaho charakteristische eher untersetzte, kräftige Gestalt. Sein halblanges Haar, die schwarzen Augen und der indianische Gesichtsschnitt machten ihn zu einer interessanten Erscheinung. Doch nun war es Susan Kaufmans Nähe und ihr offener Blick, die Begay nervös machten. „Übrigens war an der Rückseite der Fahrerkabine des Pickups, den wir entdeckt hatten, eine Halterung für ein Gewehr“, sagte Begay, um das Schweigen zu beenden. „Das könnte bedeuten, dass auch Smith ein Jäger war und die Morde vielleicht auch etwas damit zu tun haben könnten.“ Sie redeten noch lange, bis Begay bemerkte, dass es bereits nach Mitternacht war und es Zeit wurde aufzubrechen. Auf der kleinen Veranda vor ihrem Haus standen sie noch eine Weile in der kühlen Frühlingsluft. Begay hatte das Gefühl, dass sie sich etwas zu lange in die Augen sahen und fragte sich, ob Susan Kaufman ihn küssen wollte. Er verabschiedete sich schnell und floh die Treppe zu ihrem Haus hinab.

IX

In aller Früh wurde Begay vom Telefon geweckt. Es war Agent Winslow: „Es tut mir leid, dass ich Sie so früh störe, aber wir haben den Wagen von James Hersley sichergestellt. Zwei junge Burschen hatten ihn gestohlen. Sie können uns den Platz zeigen, wo sie ihn angeblich gefunden haben. Agent Kaufman ist schon auf dem Weg hierher!“ „Ich komme sofort“, murmelte Begay und legte auf. Auf der Fahrt zum Büro verschlang er hastig ein Sandwich, das man ihm im Hotel als Frühstück mitgegeben hatte. Kaufman und Winslow erwarteten ihn schon zusammen mit zwei ziemlich verängstigt drein blickenden jungen Männern. Winslow zeigte Begay auf der Landkarte einen Punkt nahe dem Stillwater River, nicht weit von der Stelle, an der auch Jennings Wagen gefunden worden war. Dort hatten die beiden angeblich Hersleys Auto entdeckt. „Also hier habt ihr am 22. April das Fahrzeug gefunden, ja?“, fragte er die beiden jungen Männer. „Seid ihr sicher mit dem Datum?“ „Ja“, antwortete der größere von beiden, „an dem Tag hatten wir nämlich beide frei und haben eine Spritztour gemacht. Und da stand dieser Super-Schlitten verlassen in der absoluten Wildnis, war nicht mal abgeschlossen!“ „Aber der Schlüssel hat nicht gerade gesteckt, schließlich musstet ihr die Zündung kurzschließen.“ Die beiden sahen schuldbewusst zu Boden. „Wirklich ein tolles Auto“, erklärte Winslow zu Begay gewandt, „Mercedes Geländewagen. Sieht jetzt allerdings nicht mehr so gut aus!“ Er sah die jungen Männer böse an. „Die beiden haben den Wagen mitgenommen und sind seitdem mit ihm rumgefahren. Gestern Nacht wurden sie dann bei Billings von einer Patrouille damit erwischt.“

„Und von dem Besitzer war keine Spur zu sehen?“, wandte Begay sich an die beiden. Der größere schüttelte den Kopf: „Da war weit und breit kein Mensch.“ „Ich würde vorschlagen, dass Sie uns jetzt den Ort zeigen, wo Sie den Wagen gefunden haben“, sagte Kaufman. Während die beiden Beschuldigten in einem Fahrzeug des Police Departement von Billings gefahren wurden, saßen Winslow, Kaufman und Begay in Kaufmans Auto. Außerdem schloss sich ihnen ein Wagen mit Beamten von der Spurensicherung an. „Die Akten aus Hersleys Kanzlei und vom Gericht sind übrigens da“, berichtete Kaufman. „1980 hatte der Oberste Gerichtshof acht Sioux-Stämmen eine Entschädigung zugesagt, die sie aber dann ablehnten. Seitdem kämpfen die Stämme um die Rückgabe von mindestens 525 000 Hektar Land. Bis jetzt gibt es keine Hinweise auf Einflussnahme von Seiten der Industrie in den Akten.“ „Geht daraus hervor, mit welchen Personen Hersley es bei den Brulé oder anderen Stämmen zu tun hatte oder ob ihm jemand besonders nachgetragen haben könnte, dass er seine Klienten zur Annahme der Entschädigung bringen wollte?“, fragte Begay, der sich wunderte, wie schnell das FBI überall Akteneinsicht bekam. Wie anders war das doch bei der Navaho Tribal Police! „Auf so einen Hinweis bin ich bis jetzt nicht gestoßen. Als Hersleys Klient wird nur der Stammesrat der Brulé genannt. Allerdings geht aus den Akten hervor, dass einige seiner Mandanten ganz schön sauer auf ihn waren. Ein Willie Spotted Horse hat ihn vor Gericht als Betrüger und Dieb bezeichnet und abgelehnt, sich weiter durch Hersley vertreten zu lassen, was das Gericht aber ignoriert hat.“ Begay wurde hellhörig: „Das ist doch schon was“, murmelte er. „Spotted Horse ist allerdings 1928 geboren und kommt, selbst wenn er noch am Leben sein sollte, damit als Täter wohl nicht in Frage. Aber ich habe noch nicht alles gesichtet. Mal sehen, was da noch kommt!“ Winslow sah etwas verwundert von einem zum anderen. Offensichtlich fehlten ihm Informationen, um sich aktiv an dem Gespräch zu beteiligen.

Nach etwa anderthalb Stunden Fahrt erreichten sie den Platz, zu dem die beiden Autodiebe den vorausfahrenden Polizeiwagen geführt hatten. Die Autos hielten am Rande der Staubpiste inmitten einer hügeligen Graslandschaft. „Seid ihr sicher, dass es genau hier war?“, fragte Winslow. „Absolut sicher! Ich weiß noch, dass der Wagen an dieser Ausbuchtung der Straße stand“, sagte der kleinere von beiden und zeigte auf die Stelle, die er meinte. Die Beamten der Spurensicherung und der Polizei begannen systematisch die Umgebung abzusuchen, während Winslow und Kaufman versuchten, mehr von den beiden Zeugen zu erfahren. Begay sah sich auf eigene Faust um, misstrauisch beobachtet von den anderen Beamten. Er glaubte nicht, dass man hier noch viele Spuren finden würde. Schließlich war der Mord an Hersley bereits fast einen Monat her. Aber die Landschaft erinnerte ihn an die Gegenden, in denen die beiden anderen Opfer ihren Tod gefunden hatten. Was hatte diese Landschaft mit dem Tod der Männer zu tun? Warum hier? Er wanderte über die Hügel und besah sich aufmerksam den Boden. Es gab Spuren von großen Tieren. Paarhuferspuren. Zu groß für Hirsche, selbst Wapitis. Wohl auch keine Elche. Dies war kein Ranchgelände, aber sollten es entlaufene Rinder sein? Selbst dafür wirkten die Spuren groß. Begay erschrak. Das war unmöglich. Er ging schneller. An einem Hügel, an dem besonders viele von den großen Hufspuren zu sehen waren, fand er Knäuel von hellbraunen, lockigen Haaren. Er nahm ein Büschel davon auf und roch daran. Es roch streng nach Wild. Begay hatte diesen Geruch noch nie gerochen, aber er wusste jetzt, von welchem Tier er stammen musste. War das möglich? Hier schienen Bisons gewesen zu sein. Büffel gab es in den USA allerdings nur noch in Gehegen und auf Ranches, wo sie gezüchtet wurden, besonders auf vielen Indianerreservaten wurden die Tiere an Stelle von Rindern gehalten. Lediglich im Yellowstone Nationalpark gab es nach Begays Kenntnis noch wild lebende Büffel. Doch der Park lag circa fünfzig Meilen südlich! Begay lief zurück zu den FBI-Agenten. „Ich habe eine Theorie, warum die Männer ermordet wurden“, sagte er und hielt ihnen eine Hand voll Büffelhaar entgegen. „Das hier ist Büffelfell. Es scheint, dass in dieser Gegend Bisons aus dem Yellowstone Park auftauchen. Ich vermute, unsere drei Opfer waren Jäger

und wollten hier Büffel schießen. Und irgend jemand wollte das nicht und hat sie daran gehindert.“

X

Den Rest des Tages hatte Begay mit Kaufman und Winslow die Akten aus Hersleys Kanzlei und die der Indian Claims Commission durchgesehen, was ihnen keine neuen Erkenntnisse gebracht hatte. „Wir gehen immer davon aus, dass es sich bei dem Täter um einen Indianer handelt“, sagte Winslow, als sie etwas ermüdet von der Aktendurchsicht zusammen saßen. „Das Skalpieren, Töten, um die Büffel zu beschützen, falls sich das wirklich als das Motiv erweist… Es könnte doch aber auch ein Weißer sein, der den Verdacht in diese Richtung lenken will oder der Indianer spielt. Jemand, der gerne ein Indianer wäre und sich wie einer benimmt, oder?“ Begay wurde hellhörig und sah Winslow fragend an: „Denken Sie da an jemand bestimmten?“ „Ja, es gibt da einen möglichen Verdächtigen“, sagte er und zog seinen Notizblock zu Rate. „Einen Typ namens Ed Berger. Mehrfach vorbestraft. Gewalttätig. Körperverletzung, tätlicher Angriff auf einen Polizeibeamten. Widerstand gegen die Staatsgewalt. So ’ne Art Kämpfer für die indianische Sache.“ Kaufman und Begay wechselten interessierte Blicke. „Wäre wohl lieber als Indianer geboren worden. Er trägt lange Haare, die er gern zu Zöpfen flechtet oder mit Federn schmückt und kleidet sich wie ein Indianer.“ „Wie kleidet sich ein Indianer“, dachte Begay und sah unwillkürlich an sich herab, „Jeans, Cowboystiefel, kariertes Hemd oder eher Fransenhemd und Stirnband?“ Winslow reichte ihnen ein ziemlich abgegriffenes Foto. Es zeigte einen dreißigbis vierzigjährigen Mann, dessen sonnengegerbtes Gesicht, offensichtlich schwarz gefärbte Haare, Stirnband und Lederjacke mit Fransen ihn tatsächlich fast wie den Prototyp eines Indianers aussehen ließen. Allerdings verrieten die schmalen Gesichtszüge beim genauem Hinsehen seine eher europäische

Abstammung. „Berger hat an verschiedenen Demonstrationen für indianische Rechte teilgenommen und ist immer wieder als besonders militant aufgefallen“, fuhr Winslow fort. „Einen Polizisten hat er halb tot geprügelt. Und in einer Messerstecherei hat er einen Kneipenbesitzer schwer verletzt. In beiden Fällen beteuerte er, bedrohten indianischen Freunden beigestanden zu haben.“ „Und, sehen das die indianischen Freunde genauso?“, erkundigte sich Begay. „Ja, zumindest im Fall der Messerstecherei hat ein junger Lakota-Indianer ausgesagt, Berger habe ihm nur helfen wollen, als er von mehreren Männern in der Kneipe angegriffen worden sei. Allerdings ist der Indianer ebenso wie Berger wegen Körperverletzung verurteilt worden auf Grund der Aussage der drei Weißen, die auch an der Auseinandersetzung beteiligt waren. Die wurden allerdings nicht verurteilt. Vielleicht auch nicht die glaubwürdigsten Zeugen…“ Winslow sah Begay entschuldigend an. „Und zu der Verletzung des Polizisten kam es im Zuge einer Demonstration in Rapid City. Da ging es um einen Indianer namens Wesley Bad Heart Bull, der von einem Tankstellenbesitzer erstochen worden war, der vor Gericht freigesprochen wurde. Die Demonstranten klagten gleiche Behandlung für weiße und indianische Opfer und Täter ein. Als sie aufgelöst werden sollte, kam es zu Gewalttätigkeiten in deren Verlauf Berger den Polizisten verletzte. Ist allerdings alles schon ’ne ganze Zeit her.“ Begay kannte die ungleiche Behandlung von Ureinwohnern und AngloAmerikanern durch Polizei und Justiz im Westen. Besonders in South Dakota hatte es etliche Fälle von unrühmlichen Fehlurteilen gegeben. Auch in Begays Heimat im Südwesten gab es immer wieder ähnliche Fälle. „Und wo steckt dieser Berger jetzt?“, fragte Kaufman. „Das weiß niemand. Er hat auf verschiedenen Indianerreservationen gelebt. Wo er sich zur Zeit aufhält, ist unbekannt. Seine Spur verliert sich vor circa zehn Jahren.“ „Wie alt ist Berger jetzt?“, forschte Begay interessiert. „Ist jetzt zweiundfünfzig“ antwortete Winslow, nachdem er das kurz im Kopf

überschlagen hatte. „Das t in unser Täterprofil“, bemerkte Begay. „Auf den Reservaten herrscht doch aber auch eine Meldepflicht“, überlegte Kaufman, und sah Begay fragend an. „Nun nehmen die Stammesbehörden das wohl oft nicht so genau wie unsere Bundesbehörden“, antwortete Winslow für ihn. Wir werden aber eine Anfrage an alle Reservate in der Gegend machen.“ „Ja, tun Sie das“, bestätigte Kaufman in ihrer professionellen Art.

XI

Am nächsten Morgen war Begay unterwegs zum Yellowstone Nationalpark. Nach dem Gespräch mit Kaufman und Winslow am vorangegangenen Tag war er in sein Hotel gefahren, wo er gegessen und den Abend allein verbracht hatte. Er hatte einen Termin im Yellowstone Park Service Center vereinbart und dann mit seiner Frau telefoniert. Leider war sein Sohn nicht zu Hause gewesen. Auch seine Frau hatte sich bei dem Gespräch recht reserviert gezeigt. Sie nahm ihm offensichtlich übel, dass er den Job angenommen hatte. Sie hatte ihm erzählt, was in den letzten Tagen vorgefallen war, alltägliche Dinge, und hatte nicht gefragt, was er erlebt hatte. Daraufhin hatte er auch nichts von sich erzählt und sie hatten das Gespräch relativ bald beendet. Es sei ja so teuer, hatte sie bemerkt, obwohl sie wusste, dass er es nicht selbst bezahlen musste. Vielleicht hatte sie einfach nicht länger sprechen wollen. Nach dem Gespräch fühlte er sich schlecht. Er vermisste Dinehtah. Den Geruch von Pinon Pines, Gelbkiefern und Wacholder, die Farben der Felsen vor dunkelblauem Himmel, den weiten Blick auf die vier heiligen Berge der Dineh, die sich oft hellblau am Horizont abzeichneten. Er dachte auch über Susan Kaufman nach. Sie hätten sich am Vorabend beinahe geküsst. Er fand sie sehr attraktiv und sie verstanden sich, als ob sie sich schon lange kennen würden. Ihre Art zu denken schien ähnlich zu sein. Aber was wollte er von dieser Frau? Eine Affäre? Er würde nie woanders leben können als in seiner Heimat. Und sie würde sicher dort nie leben wollen. Und er war gar nicht der Typ für eine Affäre. Zwar war das Verhältnis zu seiner Frau sehr abgekühlt, aber er würde ihr nie wehtun wollen und hoffte insgeheim, dass sich ihre alte Vertrautheit und Zärtlichkeit irgendwann wieder einstellen würde. Er wusste, wohin er gehörte. Daher war er ganz froh gewesen, an diesem Tag nicht zu viel Zeit mit Susan zu verbringen und so Gelegenheit zum Nachdenken zu haben. Sie schien das zu verstehen, obwohl er sich einbildete, bemerkt zu haben, dass sie etwas traurig geguckt hatte, als er sich verabschiedete.

Heute war er zum Glück allein unterwegs, konnte seinen Gedanken nachhängen und die Landschaft genießen. Er erreichte den Nationalpark über die Bundesstraße 212. Am Beartooth , über den er von Montana nach Wyoming wechselte, lag noch Schnee. Da er sehr frühzeitig losgefahren war, nahm er sich Zeit für ein paar Abstecher zu den Sehenswürdigkeiten des Parkes. Er sah heiße Quellen und schneeweiße Kalksteinbecken, durch die das Wasser in allen Regenbogenfarben leuchtend hindurch floss. Am berühmten Yellowstone Canyon gönnte er sich einen Fußmarsch am Rande der wirklich meist gelben Felsen entlang, die in das Tal des malerischen großen Wasserfalls abfielen. Er erfreute sich an dem weiten Ausblick über das Flusstal und das Geräusch des wild dahinfließenden Wassers, das zu ihm heraufstieg. Nicht weit davon lief er ein Stück auf die Plainslandschaft, am hier ruhiger zwischen den Hügeln dahinfließenden Fluss entlang. Hinter dem Grasland erstreckte sich Kiefernwald und am Horizont ragten hohe Berge dunstumschleiert in den Himmel. Wie alle Navaho war Begay sehr empfänglich für die Schönheit der Natur und so genoss er seinen Ausflug. Wieder stieß er auf dieselben Spuren und Haarbüschel wie am Tag zuvor. Dann, von einem Steilufer über dem Fluss, sah er sie. Eine Büffelherde graste einige hundert Meter von ihm entfernt. Er setzte sich und beobachtete die Tiere ergriffen. Für die Dineh hatten die Büffel nicht die Bedeutung wie für viele andere Stämme, besonders die Prärie- und Plainsindianer, dennoch sah Begay in ihnen ein Symbol für die Natur seiner Heimat. In dieser herrlichen Landschaft brachte er ein Opfer Maispollen dar und sang leise ein Navaho-Lied:

In Schönheit wandle ich Schönheit ist überall um mich herum In Schönheit wandle ich In Schönheit ist es vollbracht

Als er am Service Center von Fishing Bridge ankam, wo er um zwei Uhr einen Termin hatte, war es immer noch so früh, dass er nochmal zu der Brücke, die der kleinen Ansiedlung aus Service-gebäuden und Touristenläden ihren Namen gab,

hinüber lief. Von hier öffnete der Blick sich weit über den Yellowstone Lake. Unter der Brücke schossen Forellen durch das kristallklare Wasser des Flusses, der etwas weiter in den See mündete. Begay beobachtete einen schwarz-weißen Fischadler, der über der gleißenden Seeoberfläche patrouillierte. Zweimal schoss er herunter, stieg aber kurz darauf ohne Fisch in den Fängen wieder auf und setzte seinen Flug fort. Begays Blick wanderte immer wieder zu den hohen, milchig-blau in den Himmel ragenden Bergen im Süden des Sees. „Komisch“, dachte er, „so ein Anblick weckt bei Weißen ja wohl oft Fernweh – ich bekomme dabei Heimweh.“ Um Punkt zwei Uhr meldete er sich im Visitor Center und wurde von einer Angestellten zu einem Büro geführt, wo der National Park Ranger Ed Harris schon auf ihn wartete. Sie schüttelten sich die Hände und Harris bedeutete ihm, Platz zu nehmen. Nachdem Begay sich vorgestellt und erklärt hatte, woran er arbeitete, kam er zur Sache. „Mr. Harris, die drei Mordopfer, die wir gefunden haben, wurden alle nördlich des Yellowstone Parks, im Tal des Stillwater River und des Yellowstone River getötet. Wir haben Grund zu der Annahme, dass alle drei Jäger waren. Außerdem haben wir in unmittelbarer Nähe zumindest eines Tatortes Spuren von Bisons entdeckt, was die Vermutung nahelegt, dass die Ermordeten auf der Jagd nach Büffeln waren und dabei ihrem Mörder begegnet sind. Kann es sein, dass Büffel aus dem Park dort auftauchen?“ Harris sah verdutzt aus: „Ja, das stimmt. Besonders in den letzten Jahren haben wir vermehrt eine Abwanderung von Büffeln nach Norden festgestellt. Sehen Sie, der Yellowstone Park ist zum allergrößten Teil eine sich selbst überlassene Wildnis. Ein riesiges Gebiet, das von keinem Zaun umgeben ist. Und immer wieder beschließen die Tiere aus dem Park abzuwandern und sich in der Umgebung umzusehen, was uns viele Probleme bereitet. Wir haben hier Grizzlys und Wölfe. Die Wölfe haben wir erst vor einigen Jahren aus Kanada hier wieder eingebürgert. Im Park stehen alle Tiere unter strengem Schutz. Aber so groß das Gebiet auch ist, sie können wilden Tieren nicht vorschreiben, wo sie zu leben haben. Und wenn sie außerhalb des Parkes auftauchen, ist das Geschrei der Landbevölkerung und der Rancher groß. Gerade in letzter Zeit sind immer wieder kleine Gruppen von Büffeln nach Norden gewandert. Das YellowstoneGebiet ist zum großen Teil von hohen Bergen umgeben. Nur nach Norden geht das Gelände in tiefer gelegenes Grasland über. Zunächst wurden die dort

aufgetauchten Büffel wieder eingefangen und in den Park zurückgebracht. Das ist aber sehr aufwendig und teuer. So haben wir auch Tiere erlegt und zur Nutzung verkauft, Bisonfleisch erfreut sich ja immer größerer Beliebtheit. Und in letzter Zeit ist man dazu übergegangen, Lizenzen zum Abschuss einzelner Bisons zu vergeben, auch wenn ich persönlich das nicht besonders gern sehe.“ „Wer vergibt denn diese Genehmigungen und an wen?“, wollte Begay wissen. „Das ist Sache der Jagdaufsichtsbehörde beim US Forest Service. Im Grunde kann jeder diese Genehmigung erhalten.“ „Gibt es dagegen denn keinen Widerstand?“ „Doch, natürlich! Die Naturschützer rennen Sturm dagegen! Gott sei Dank hat sich das Ganze noch nicht sonderlich herumgesprochen. In Ihrer Behörde scheint ja auch noch niemand davon gehört zu haben, sonst würden Sie mich ja nicht interviewen“, sagte Harris und lächelte Begay freundlich an. „Ich brauche Sie dann auch nicht länger zu belästigen“, antwortete Begay. „Ich werde mich an den Forest Service wenden. Vielen Dank für Ihre Hilfe!“ Auf dem langen Rückweg nach Billing telefonierte Begay mit Kaufman und berichtete ihr, was er herausgefunden hatte. Sie versprach, sich sofort mit dem Forest Service in Verbindung zu setzen, um herauszufinden, ob die drei Mordopfer dort eine Genehmigung zum Abschuss eines Büffels beantragt hatten. Er war kaum in seinem Hotel angekommen, da rief Kaufman ihn an: „Frank, Sie scheinen richtig zu liegen mit Ihrer Theorie! Sowohl Hersley als auch Jennings haben bei der Jagdaufsicht eine Genehmigung zum Abschuss eines Büffels beantragt und auch erhalten. Den Namen Malcolm Smith kannten sie dort nicht, aber das kann ja auch heißen, dass er illegal einen Bison abschießen wollte. Die Kollegen in Idaho Falls haben übrigens zwei Bekannte von Smith ermittelt, die ihn ab und zu in der Bar besucht haben, in der er gearbeitet hat. Sie sollen heute noch gehört werden.“ Sie verabschiedeten sich und verabredeten sich für den nächsten Morgen im Büro.

Als Begay am nächsten Tag im Büro eintraf, lag schon eine Rückmeldung aus Idaho Falls vor. „Wir haben einen weiteren Hinweis erhalten“, berichtete Kaufman, „einer der Bekannten von Malcolm Smith hat ausgesagt, Smith habe sich vor ihm gebrüstet, er werde einen Büffel schießen. Sieht so aus, als würden wir das Motiv jetzt kennen.“ „Was uns dem Täter noch nicht richtig nahe bringt. Was wir auf jeden Fall tun sollten, ist, die betreffende Gegend zu beobachten und auffällige Personen zu kontrollieren. Vielleicht erwischen wir ihn auf diese Weise.“ Sie gingen zusammen zu Kaufmans Vorgesetztem, Chief Inspector Burns. Burns zeigte sich nicht sehr zugänglich. „Wie stellen Sie sich das vor?“, schrie er. „Meinen Sie, unsere hoch bezahlten Beamten haben nichts Besseres zu tun, als in der Wildnis auf Streife zu gehen? Noch dazu in einem riesigen Gebiet, in dem die Chance etwas zu entdecken gen Null geht? Außerdem bin ich nicht überzeugt, dass Ihre Theorie bezüglich des Tatmotivs richtig ist. Ein Irrer, der Leute tötet, die ein Tier schießen wollen? Ich halte das für abwegig!“ Begay hatte dennoch keinen Zweifel mehr am Tatmotiv. Sie einigten sich schließlich, die zuständigen Polizeibehörden zu bitten, in dem Gebiet zu patrouillieren. Das würde wahrscheinlich nichts bringen, dachte Begay. Da er nichts anderes zu tun hatte, beschloss Begay, sich selbst im Tal des Yellowstone und des Stillwater River umzusehen. Die Täler waren die einzigen Gegenden nördlich des National Parks, in dem die Büffel auftauchten, da die übrige Landschaft sehr gebirgig war.

XII

Robert Mitchell stand im Schutz einer knorrigen alten Kiefer auf einem Hügel und sah in das Tal hinab, in dem eine kleine Gruppe Bisons ruhig graste. Wenn sie sich so weiter bewegten wie bisher, würden sie innerhalb der nächsten halben Stunde in Schussweite kommen. Das Wetter war schön und die Luft klar. Von seinem Beobachtungsposten hatte Mitchell einen herrlichen Blick über die Landschaft. Hohe Berge zeichneten sich blau und mit Schattentupfen über sie dahinsegelnder Schäfchenwolken bedeckt am Horizont ab. Ein lauer Wind spielte leise mit den Nadeln der Bäume und ließ das Laub der Espen im Sonnenlicht flirren. Angesichts der zu erwartenden Jagdbeute hätte er ein Hochgefühl empfinden müssen. Aber es stellte sich nicht ein. Er fühlte sich nicht gut. Er hatte ein Gefühl, als ob jemand ihn beobachtete. Das war natürlich Quatsch! Auf viele Meilen gab es hier kein menschliches Wesen. Das einzige, was er gesehen hatte, war ein Kojote gewesen, der in seiner Nähe herum gestreift war. Dennoch sah Mitchell sich immer wieder unwillkürlich um, nur um festzustellen, dass natürlich niemand in der Nähe war. So sehr er sich dagegen wehrte, er verspürte Angst. Es gab Gerüchte, dass in dieser Gegend ein verrückter Indianer herumliefe und Leute umbringe. Angeblich hatte man hier im Yellowstone-Tal schon vor Monaten eine Leiche gefunden und im Tal des Stillwater River hatte den Gerüchten zu Folge ein Rancher ein Auto gefunden, dessen Besitzer kurz darauf tot geborgen worden sein sollte. Es hatte allerdings nie etwas darüber in der Zeitung gestanden oder war von den örtlichen Radiound Fernsehsendern berichtet worden. Und allein die Tatsache, dass es sich bei dem Täter um einen Indianer handeln sollte, zeigte schon, dass man es hier mit einer erfundenen Schauergeschichte zu tun haben musste. Aber so oft Mitchell sich das auch sagte, jetzt hier allein in der Wildnis hatte er doch das irrationale Gefühl, in Gefahr zu sein. Wie albern, dachte er. Schade, dass sein Kumpel Charley heute nicht hier war! Sie hatten sich gemeinsam die Genehmigung zum Abschuss eines Büffels besorgt und waren schon einige Male zusammen hier draußen gewesen, aber bisher ohne Erfolg. Das letzte Mal hatten ihnen Tierschützer, die durch ihre lärmende Anwesenheit die Beute verscheucht hatten, einen Strich durch die Rechnung

gemacht. Diesmal hatte Charley gekniffen. Mitchell nahm an, dass er ebenfalls von den Gerüchten gehört hatte oder dass seine Frau ihm verboten hatte, mitzufahren. Er stand ziemlich unter der Fuchtel. Aber Charley hatte angeboten, sofort zu kommen, wenn Mitchell Erfolg haben sollte, um ihm beim Ausweiden und Wegschaffen des Tieres mit seinem Truck zu helfen. So stand Mitchell jetzt allein hier und kämpfte mit dem mulmigen Gefühl in seiner Magengrube.

Der Mann schob sich lautlos weiter. Er war gewohnt, sich in der Natur zu bewegen und sah jeden noch so kleinen trockenen Zweig oder Buschwerk, was beim Gehen ein Geräusch verursachen könnte. Er schlich von Baum zu Baum mit der Geduld des erfahrenen Jägers. Dabei behielt er sein Opfer ständig im Auge. Der weiße Mann bewegte sich ungeschickt und machte einen Höllenlärm, ab und zu sah er sich um, als ob er etwas von seiner Anwesenheit ahnte. Er musste vorsichtig sein. Wenn der Weiße ihn entdeckte, bevor er bei ihm war, hatte er mit seinem Messer kaum eine Chance gegen dessen Gewehr. Wenige Augenblicke später war er bei ihm. Mitchell spürte seine Anwesenheit. Er fuhr herum und sah verdutzt einen großen Indianer vor sich stehen. „Es ist doch wahr“, durchfuhr es ihn voller Entsetzen. Er hatte keinen Zweifel am Anliegen des Mannes. Er riss das Gewehr hoch. Aber es war schon zu spät. Ein harter Stoß traf Mitchell in die Magengegend. Er fühlte etwas warmes, feuchtes an sich herunterlaufen und sah auf seinen Bauch hinab, in dem das gewaltige Messer steckte. Er wurde von Panik erfasst. Mitchell fuchtelte unkoordiniert mit dem Gewehr. Der Indianer sah ihm fest ins Gesicht. Er hatte das Messer wieder herausgezogen und stieß erneut unbarmherzig zu. „Ich muss mich wehren“, dachte Mitchell verzweifelt. Gleichzeitig wurde ihm schwarz vor Augen und er spürte, wie seine Knie nachgaben. Er sank nach vorne und fühlte, wie der Angreifer ihn an den Haaren aufrecht hielt. Dann spürte er nichts mehr.

XIII

Begay verbrachte den Tag im Auto patrouillierend, ohne irgendetwas zu entdecken. Im Laufe der Zeit machte sich ein unbestimmtes Gefühl, beobachtet zu werden, in ihm breit. Allerdings sah er niemanden außer ein paar anderen Autos, die ihm aber nicht nach fuhren. Trotzdem blieb das Gefühl, verfolgt zu werden. Begay führte es kopfschüttelnd auf die für einen Navaho besonders befremdliche Situation, mit einem derart blutrünstigen Verbrechen in Berührung zu kommen, zurück. Nachdem auch im Büro keine neuen Hinweise eingingen, war er am nächsten Tag im Tal des Stillwater unterwegs, als er eine Ansammlung von Autos an der Staubpiste entdeckte. Er hielt an und sah in einiger Entfernung eine Gruppe von Menschen auf einem Hügel. Er beschloss, sie sich näher anzusehen. Als er der Gruppe nahe kam, entdeckte er, dass einige Indianer darunter waren. Ein älterer Mann mit langen grauen Haaren, offenbar ein Schamane, sang mit zum Himmel erhobenen Armen in einer Begay unbekannten indianischen Sprache. Der größte Teil der Ansammlung bestand aus jungen Weißen. Begay wandte sich an eine junge Frau, die ein „Save the Whale“-T-Shirt trug. „Was machen Sie denn hier“, fragte er. „Wir versuchen, die Büffel zu beschützen. Hier laufen überall Jäger rum, die sie schießen wollen. Unser Führer ist ein großer Medizinmann der Crow. Er betet für die Büffel.“ Sie sah wieder zu dem betenden Indianer. Die Crow oder Absaroka, wie sie sich selbst nannten, waren ein in dieser Gegend heimischer Stamm der Plains-Indianer, deren Reservat bei Billings lag. „Haben Sie denn Jäger gesehen?“, fragte Begay. „Ja, etwas die Straße herunter haben sie geparkt und rennen jetzt hier herum. Wir versuchen, die Büffel zu verscheuchen. Wollen Sie sich uns nicht anschließen?“ Begay sagte, dass er das nicht könne, wünschte der Frau aber viel Glück und lief zu seinem Wagen zurück.

Als Begay ein Stück die Straße weitergefahren war, entdeckte er einen Geländewagen und zwei Männer mit Gewehren, die sichtlich entnervt von den Tierschützern über das Steppengras zurück zu ihrem Auto liefen. Begay wollte gerade am Straßenrand parken, als das Funkgerät sich meldete. Im Tal des Yellowstone war ein verlassener Wagen gefunden worden und man bat ihn, sofort dort hinzukommen. Er informierte das Büro, dass er dafür zwei bis drei Stunden brauchen werde und machte sich sofort auf den Weg. Unterwegs dachte er weiter über die Morde nach. Während sicher öfter mehrere Personen zusammen auf die Jagd gingen, suchte der Mörder sich allein jagende Männer aus, da er offensichtlich ebenfalls allein war. Auch Gruppen von Tierschützern ging er aus dem Weg. Bisher hatte er viel Glück gehabt, dass die Hinterbliebenen der Opfer nicht wussten, was diese taten oder wohin sie unterwegs waren, so dass das Motiv so lange im Dunkeln geblieben war. Als Begay am beschriebenen Fundort ankam, zeigte ein Polizeibeamter ihm den Weg zu dem vermutlichen Tatort. Auf einem licht mit Bäumen bestandenen Hügel, von dem man eine gute Sicht über die Umgebung hatte, waren deutliche Spuren eines Kampfes zu sehen. Herunter getretenes Gras, abgebrochene Zweige an den Büschen und eine Menge Blut zeugten davon, was sich hier zugetragen haben musste. Auf dem zwischen den Grasbüscheln sandigem Boden waren sogar Fußabdrücke zu sehen. Allerdings liefen bereits wieder seit geraumer Zeit etliche Polizei- und FBI-Beamte an dem Platz herum, so dass Begays Befürchtungen, dass schon viele Spuren unkenntlich sein könnten, sich zu bewahrheiten schienen. Nachdem Begay sich die Stelle des vermutlichen Kampfes eine Weile angesehen hatte, überließ er sie lieber den Beamten von der Spurensuche und sah sich selbst in der weiteren Umgebung um. Hier waren deutlich weniger Spuren zu sehen. Eine Spur war vom vorigen Tag. Die Ränder der Fußabdrücke waren nicht so scharf umrissen wie die der anderen. Sie waren durch die Feuchtigkeit der Nacht etwas verändert worden und kleine Sandkügelchen waren von den Seiten herunter gerollt. Während die anderen Spuren kreuz und quer verliefen, ging diese zielgerichtet auf die Hügelkuppe zu. Begay hatte keinen Zweifel, dass es sich dabei um die Abdrücke des Ermordeten handelte. Aber eine andere Spur interessierte ihn noch viel mehr. Sie war seltener zu sehen, da der Verursacher sich absichtlich oder instinktiv viel mehr über Gras bewegt hatte und dabei weniger Hinweise auf seine Anwesenheit hinterlassen hatte.

Begay fühlte, wie die Aufregung in ihm aufstieg. Er suchte intensiv nach Abdrücken und fand schließlich auch mehrere auf dem Sand. Er machte dabei eine erstaunliche Entdeckung. Der Mann musste an die fünfzig Jahre alt und groß und kräftig gebaut sein, was man an der Art seines Ganges und der Tiefe der Abdrücke sehen konnte. Auch er war gestern hier gewesen, was der Zustand seiner Spuren verriet. Damit war er ziemlich sicher der Mörder. Und er war ein Indianer. Die Fußabdrücke stammten von absatzlosen, weichen Schuhen, wahrscheinlich Mokassins. Und der Träger war ein Zehen-Versen-Gänger! Weiße waren Versen-Zehen-Gänger, das heißt, sie traten zuerst mit der Verse auf und rollten den Fuß dann über die Zehen ab. Bei Indianern war das ursprünglich andersherum. Besonders bei Völkern, die von der Jagd lebten, war der ZehenVersen-Gang verbreitet. Heute hatten viele Indianer die Gangart der Weißen angenommen, da die leisere Gangart für sie keine Vorteile mehr brachte. Begay selbst ging normalerweise über die Verse, wechselte aber, wenn er auf der Jagd war, instinktiv in die alte indianische Fortbewegungsart über die Zehen. Er lief eine Weile mit konzentriert auf den Boden gerichtetem Blick herum, dann hatte er gefunden, was er suchte. Er maß mit dem Daumen in den Fußabdrücken nach: Kein Zweifel, einige der Spuren des Indianers waren deutlich tiefer als andere. Er hatte eine schwere Last getragen. Und zwar, als er sich vom Tatort fort bergab bewegt hatte: Er hatte die Leiche seines Opfers weggeschleppt! Begay verfolgte die sporadisch auftretende Spur weg vom Tatort zu einem anderen Hügel, von wo der Mörder sein Opfer wahrscheinlich zunächst beobachtet hatte. Auf der Kuppe des Hügels waren mehr von seinen Fußabdrücke zu sehen als sonst irgendwo. Hier hatte sich der Täter lange aufgehalten. Die Spuren waren seltsam angeordnet. Nach einer Weile entdeckte Begay ein Muster. An diesem Platz hatte der Mann sich offenbar mit dem Körper in vier Richtungen gewandt und war jeweils eine Zeit lang so stehen geblieben. Begay überprüfte die Himmelsrichtungen und wusste dann, dass er gebetet hatte. Er hatte sich zuerst nach Westen, dann nach Norden, Osten und zuletzt gen Süden gedreht und eine Weile im Gebet so dagestanden. Danach war er in die Mitte des Platzes gegangen, wo etliche Fußabdrücke übereinanderlagen und hatte dort zum Himmel und zur Erde weiter gebetet. Und noch etwas entdeckte Begay: In den Beifuß- und Grasbüscheln waren braune Fusseln zu erkennen, trockene Pflanzenreste, die nicht von den hier heimischen Pflanzen stammten! Er klaubte ein paar der Fasern zusammen und roch daran: Tabak! Der Täter hatte ein Tabakopfer dargebracht! Und er hatte gebetet! Er war ein religiöser Mensch und tötete zum Schutz der Büffel. Und wenn Begays

kulturanthropologische Kenntnisse ihn nicht trogen, wusste er auch, zu welchem Volk er gehörte. Er wusste zwar, dass viele kulturelle Formen und Verhaltensweisen bei verschiedenen Plainsindianern ähnlich waren, aber alles, was er hier gesehen hatte, deutete nach seinem Wissen auf einen Angehörigen eines bestimmten Stammes hin. Das Tabakopfer und die Reihenfolge der Himmelsrichtungen, des Himmels und der Erde, in der der Mann gebetet hatte, wiesen ihn als einen Lakota aus. Nachdem Begay etwas von dem Tabak eingesammelt und in einer Tüte verstaut und Fotos von den Spuren gemacht hatte, ging er zurück zum Tatort, um seine Erkenntnisse mit Kaufman und Winslow zu teilen.

XIV

Der Fund des Mordopfers ließ nicht lange auf sich warten. Als Begay am nächsten Morgen zur Besprechung im Büro erschien, lag bereits die Meldung vor. In der südwestlichsten Ecke von South Dakota, an der Landstraße 40 zwischen den Orten Hermosa und Red Shirt, hatte man am Abend zuvor die skalpierte Leiche eines Mannes unmittelbar neben der Straße gefunden. Es war schnell ermittelt, dass es sich dabei um Robert Mitchell handelte, auf den der im Yellowstone-Tal gefundene Wagen zugelassen war. „Warum macht der Mörder sich denn die Mühe, den Leichnam Hunderte von Meilen zu transportieren, wenn er ihn dann doch einfach neben einer Straße ablegt?“, wunderte sich Begay. „Das ist vielleicht unser Glück“, antwortete Winslow. „Auf dieser Straße war in der vorgestrigen Nacht eine Polizeikontrolle. Die 40 führt ins Pine Ridge Indianerreservat.“ „Das Reservat der Oglala-Lakota?“, unterbrach ihn Begay entgegen allen Höflichkeitsregeln der Navaho aufgeregt. „Genau das“, entgegnete Winslow, „man wollte wohl betrunkene Indianer auf der Rückfahrt ins Reservat ertappen.“ „Das bedeutet, dass unser Mörder wahrscheinlich auf der Fahrt ins Pine Ridge Reservat war und die Leiche seines Opfers schnell loswerden musste, als er die Polizeisperre sah“, stellte Kaufman fest. „Anzunehmen“, sagte Winslow, „hinter Red Shirt verläuft die Straße in Pine Ridge durch das Gebiet der Badlands. Und dort kann man eine Leiche wunderbar verschwinden lassen!“ „Stimmt“, meinte Kaufman. Sie kannte die unirdisch anmutende Landschaft aus erodierten Schluchten und Bergen, die die Naturkräfte geformt hatten. „Das heißt, dass der Täter sich offensichtlich sehr große Mühe beim Verstecken der Leiche geben wollte!“ „Also erhöht er den Schwierigkeitsgrad für uns“, warf

Winslow ein. „Ja, bisher hat er viel Glück gehabt“, sagte Begay. „Der erste Tote wurde sehr spät gefunden. Seinen Wagen hat er verschwinden lassen. Beim zweiten hat er Glück gehabt, dass Jugendliche das Fahrzeug entwendeten. Erst beim dritten Fall ist ein Zusammenhang mit der Gegend, in der die Taten begangen wurden, offenbar geworden, weil wir Jennings Wagen und dann den Tatort gefunden haben. Er hat wahrscheinlich gehofft, dass in einer so menschenleeren Gegend viel Zeit vergeht, bis ein verlassenes Auto entdeckt wird. Anfangs konnte er die Identität seiner Opfer verschleiern, indem er ihnen Ausweise und Karten abnahm. Und dass uns zunächst kein Angehöriger sagen konnte, wohin die Opfer gefahren waren, hat ihm auch geholfen. Vielleicht hat er in seinem Jagdgebiet“ – Begay malte imaginäre Anführungszeichen in die Luft – „eine erhöhte Polizeipräsenz bemerkt und wollte deshalb sein letztes Opfer für uns unauffindbar machen.“ Und vielleicht kennt er mich schon längst und hat mich beobachtet, dachte er bei sich. „Aber das ist ziemlich danebengegangen! Und gerade das könnte uns jetzt weiterhelfen!“, sagte Kaufman aufgebracht. „Wenn Ihre Annahme, dass es sich bei dem Täter um einen Lakota handelt, richtig ist, Frank, spricht jetzt einiges dafür, dass er ein Oglala-Lakota von der Pine Ridge Reservation ist.“ „Es kann aber auch sein, dass er nur die Badlands als Versteck für sein Opfer nutzen wollte und dann weitergefahren wäre“, gab Winslow zu bedenken. „Die 40 ist keine Durchgangsstraße! Wer die benutzt, will genau da hin. Ich glaube nicht, dass der Täter mit einer Leiche im Auto noch große Umwege in Kauf nimmt. Durch menschenleeres Gelände kam er auf seiner Fahrt ja genug! Und nach allem, was ich von Frank über die Oglala weiß, halte ich es für gut möglich, dass der Täter von Pine Ridge kommt“, meinte Kaufman. Begay fragte sich, ob seine Informationen über die Oglala bei Kaufman zu einer Pauschalverurteilung dieses Stammes geführt hatten. „Jedenfalls sollten wir uns dort einmal umhören“, schlug er vor. „Übrigens lebt unser Möchtegern-Indianer Ed Berger auch auf Pine Ridge. Das hat uns die Stammespolizei der Reservation mitgeteilt“, warf Winslow ein.

Begay glaubte inzwischen nicht mehr, dass Ed Berger als Täter in Frage kam. Die Spuren, die er gesehen hatte, konnten seiner Meinung nach nur von einem „echten“ Ureinwohner stammen. Aber er sagte nichts. Nachdem Winslow sich erboten hatte, der Familie des Toten, die nicht weit von Billings in Custer, Montana, wohnte, die schlechte Nachricht zu überbringen und Chief Inspector Burns jetzt doch zähneknirschend einem verstärkten Einsatz auch von FBI-Kräften in dem fraglichen Gebiet zugestimmt hatte, begannen Kaufman und Begay eine Recherche nach vorbestraften Einwohnern von Pine Ridge. Das Ergebnis war erschütternd: Ein Großteil der Reservationsbewohner war aktenkundig straffällig geworden. Von Alkohol- und Drogenmissbrauch über Prügeleien und Messerstechereien mit Körperverletzung bis zu kleineren Eigentumsdelikten waren Unmengen Straftaten dokumentiert, darunter auch Kapitalverbrechen. Der weitaus überwiegende Teil der Fälle von Körperverletzung, Totschlag oder Mord ging allerdings auf die Zeit der Siebziger Jahre zurück. „Mein Gott“, stöhnte Kaufman, „das ist ja die reinste Verbrecherkolonie!“ Begay schüttelte den Kopf: „Nein, ein Volk, das in bitterer Armut und Hoffnungslosigkeit lebt. Seiner Selbstbestimmung und seiner Traditionen beraubt. Pine Ridge ist zwar an der Spitze der Statistik, aber so viel anders sieht es auf anderen Indianerreservationen auch nicht aus. Im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl sitzen viel mehr Ureinwohner im Gefängnis ein als von jeder anderen Bevölkerungsgruppe der USA. Und vor allem in den Siebziger Jahren wurde auf vielen Indianerreservaten ein blutiger Kampf zwischen den sogenannten „Progressiven“ und den Anhängern des American Indian Movement, die für die Rechte der Indianer eintraten, ausgefochten. Allerdings war die Lage auf Pine Ridge auch hier extremer als anderswo. Daher wahrscheinlich die vielen Tötungsdelikte damals.“ „Jedenfalls nützt uns die Vorbestraftenkartei unter diesen Umständen nicht viel“, meinte Kaufman frustriert. „Unser Täter ist männlich, Ende vierzig, Anfang fünfzig und wenn man sich seine Art zu töten ansieht entweder militärisch vorgebildet oder aber ein alter Kämpfer aus der Zeit der gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dem Reservat.

Vielleicht hilft uns das ja weiter.“ Sie beschlossen, ehemalige Soldaten und Angehörige des American Indian Movement im betreffenden Alter herauszusuchen. „Ich werde ein bisschen herum telefonieren“, sagte Begay. „Mal sehen, ob ich für morgen ein paar Termine mit Leuten machen kann, die uns etwas erzählen können. Auf Pine Ridge.“

XV

Der Mann saß auf dem Gipfel des Berges. Sein Blick haftete unverwandt auf dem langsam sich am Himmelszelt abzeichnenden Morgenstern. Seine Beine zeigten nach Osten, während sein Kopf an einer in den Boden gerammten Stange aus Weidenholz lehnte, um die herum im Abstand von jeweils zehn Schritten andere Weidenstäbe in den vier Himmelsrichtungen aufgestellt waren. An den Spitzen der Stangen waren Beutel mit Opfergaben und bunte Stoffbahnen befestigt. Der Mann erhob sich mühsam und ging schwankend zu dem westlichen Ende des Kreuzes aus Stäben, wo er stehen blieb und die Arme hob: „Wakan Tanka unschimala ye oyate wani watschin yelo – Großes Geheimnis, habe Mitleid mit mir, auf das mein Volk leben möge“, betete er. Nach einer Weile ging er in den Mittelpunkt des Kreuzes zurück, wo er einen Moment verharrte, bevor er sich zu der nördlichen Stange schleppte und die Zeremonie dort wiederholte. Abermals ging er zurück zur Mitte und etwas später zum östlichen Punkt. Er richtete den Stil der Pfeife, die er in Händen trug, auf die jetzt deutlich am Morgenhimmel sichtbare Venus und bat den heiligen Stern stumm um Weisheit. In dem glühenden Lichtschein, der sich am Horizont abzuzeichnen begann, erschien der Himmelskörper seine Farbe zu verändern. Mit einem Lächeln erkannte der Mann darin die vier heiligen Farben, die für die Lebensalter der Menschen standen. Nachdem er das Gebet wiederholt hatte und zur Mitte zurückgekehrt war, ging der Mann schließlich zur Südseite und kam, als er dort eine Weile lang gestanden und gebetet hatte, zum Mittelpunkt zurück. Er richtete seine Pfeife himmelwärts und bat den Großen Geist Wakan Tanka und alle geflügelten Völker des Himmels, ihm beizustehen. Dann hielt er die heilige Pfeife zur Erde und sandte seine Worte an die Mutter Erde und alles, was auf ihr gedeiht. Nachdem er abermals eine Weile stumm dagestanden hatte, glitt er zu Boden. Das Ritual, das er zuletzt in der Mitte der Nacht ausgeführt hatte und das er den Tag über noch mehrmals wiederholen würde, hatte ihn viel Kraft gekostet. Es musste über eine Stunde gedauert haben, denn am östlichen Horizont erschienen jetzt schon die ersten Strahlen der Morgensonne und

tauchten die wie ferne Traumberge am Himmel stehenden Wolkengebilde in ein überirdisches Licht. Der Mann schloss vor Erschöpfung die Augen, obwohl er den Zauber des erwachenden Tages gerne erlebt hätte. Es war der vierte Tag seiner Hanblecha, der Visionssuche. Vier Nächte und drei Tage lagen bereits hinter ihm, in denen er weder gegessen noch getrunken und nur geschlafen hatte, wenn ein ohnmachtsartiger, traumreicher Schlaf ihn übermannt hatte. Schon an den drei Vorbereitungstagen hatte er nichts mehr zu sich genommen außer ein bisschen Wasser und sich in Meditation auf seine Prüfung vorbereitet. Dann hatte er das Inipi, das Reinigungsritual in der Schwitzhütte absolviert und war schließlich, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, mit seiner Pfeife und einer Decke allein auf den Berg gestiegen, auf dem die Visionsgrube bereits errichtet worden war. Er war nicht lange allein geblieben. Das vielfältige Leben überall um ihn herum, die Bewohner des Berges hatten an seinem Flehen teilgenommen und ihn unterstützt. Bereits in der ersten Nacht hatte er plötzlich eine kriechende Bewegung wahrgenommen, die auf ihn zukam. Im fahlen Mondlicht hatte er erkannt, dass es sich um eine Klapperschlange handelte, die unbeirrt auf ihn zu schlich. Er hatte keine Angst. Die Schlange wand sich in den freien Raum zwischen seinem Bein und dem Erdboden und blieb dort liegen. „Sie sucht meine Körperwärme, um in der kalten Nachtluft nicht steif zu werden“, dachte der Mann. Er bewegte sich möglichst nicht und genoss die Anwesenheit des Tieres. Die unerwartete Zweisamkeit war ihm eine Hilfe in seiner Tortur. In den ersten wärmenden Sonnenstrahlen löste die Schlange sich wieder von ihm und kroch langsam davon. Später am Tag war ein Steinadler von Süden gekommen, hatte die Aufwinde des Berges genutzt und hatte sich schließlich auf einem abgestorbenen Baum nicht weit vom Gipfel niedergelassen und zu ihm herüber gesehen. Auch ein Rotschwanzbussard war lange über der Bergkuppe gekreist, als wolle er über den Mann wachen. Viele des geflügelten Volkes hatten sich in der Nähe aufgehalten oder auf die Weidenstäbe gesetzt. Aber sie sprachen nicht zu ihm. Stundenlang saß er da und blickte unverwandt über die Berge, die im flirrenden Sonnenlicht des Tages bis zum Horizont dahinzurollen schienen und sich des Nachts als schwarze Buckel vom etwas helleren Sternenhimmel abhoben. Auf dem Boden um ihn herum bewegten sich kaum merklich unzählige Angehörige

der kleinen kriechenden Völker, der Ameisen, Käfer und Spinnen. Er beobachtete sie aufmerksam, denn auch sie konnten ihm eine Botschaft übermitteln, und wenn es nur die war, dass er auch zu ihnen gehörte, ein Teil des großen Ganzen war, ein Gleicher unter Gleichen. Am zweiten Tag hatte er gesehen, dass um ihn herum Pilze wuchsen, die er vorher nicht bemerkt hatte. Er brach sie vorsichtig, um sie nicht auszureißen, über dem Boden ab und steckte sie sich in den Mund. Er durfte zwar kein Essen mit hierher nehmen, aber wenn der Berg selbst ihm an diesem Platz etwas anbot, konnte er es ruhig zu sich nehmen, genau so wie er morgens Tautropfen von den Gräsern leckte. Die Pilze schmeckten nach Erde und verursachten in seinem zusammengeschrumpften Magen ein Gefühl der Wärme. Der Rotschwanzbussard war auch an diesem zweiten Tag, wie an allen folgenden, da gewesen und als er aus einem langen, komaartigen Schlaf erwacht war, registrierte er die vertraute Silhouette am Himmel über sich. Am dritten Tag war der Kojote gekommen. Er schnürte zunächst in der Nähe herum, beständig stehen bleibend und die Witterung einsaugend, dann ließ er sich kaum dreißig Schritte von dem Mann entfernt nieder und sah hechelnd zu ihm herüber. Später lief er ein Stück weiter, um sich dort ganz hinzulegen, aber er blieb den ganzen Tag. Der Mann wunderte sich nicht darüber. Zeit seines Leben hatte er ein besonderes Verhältnis zu allen hundeartigen Tieren gehabt. Shunka, der Hund, Shunkmanitotanka, der Wolf oder auch der Kojote waren seine tierischen Verwandten, seine Beschützer und Brüder. Schon in seiner Kindheit hatten die Leute ihm einen Namen gegeben, der ihn mit dem Wolf assoziierte. Irgendwie hatte er auf diesen Besuch gewartet. In der folgenden Nacht lag er, nachdem er das mitternächtliche Ritual erfüllt hatte, mit dem Kopf an der Mittelstange auf seinem Bett aus Salbei mit offenen Augen da und starrte in das Wunder über sich. Die Milchstraße mit ihren Milliarden von Sternen wölbte sich direkt über ihm, zum Greifen nah. Die Lichtpunkte erschienen ihm zuerst von einem hellen, farblosen Schein zu sein, dann veränderten sie sich zu blauem, gelbem, orangem und rotem Leuchten. Er war überwältigt von der Herrlichkeit der Schöpfung. Am nächsten Tag war der Bussard wieder da und auch sein Freund, der Kojote,

lag an seinem Platz. Im Laufe des Tages erschien ihm das Tier immer größer zu werden. Oder war es doch ein Wolf, der ihn besuchte? Und dann sprach das Tier zu ihm. Es sprach zu ihm über sein Leben und über seinen Platz im großen Gewebe des Universums. Es bestätigte ihn in seiner Lebensführung und in der Aufgabe, die er für sich erkannt hatte. Der Mann hatte seine Bestimmung im Leben gefunden und sich ihr gestellt. Und er war auf dem richtigen Weg, um sie zu erfüllen. Dankbar und erschöpft schlief der Mann ein, um erst in der Mitte der Nacht wieder zu erwachen. An diesem vierten und letzten Tag seiner Visionssuche saß der Mann da und ließ seinen Blick weit über die Landschaft schweifen. Sein vierbeiniger Freund und auch sein geflügelter Wächter waren in der Nähe. Der Berg unter ihm fühlte sich warm an und schien zu pulsieren. Er spürte, dass er ein lebendiges Wesen berührte und fühlte keine Trennungslinie mehr dort, wo sein Körper endete und der Körper des Berges begann. Er war eins mit seiner Umgebung. Er spürte mehr denn je die Verwandtschaft mit jedem Teil des Ganzen. Viel deutlicher als sonst sah er die vielen kleinen huschenden und kriechenden Tiere um sich herum, die Eidechsen, Mäuse und Insekten. Er war verwandt mit jedem dieser Tiere, Vögel, Pflanzen und Steine. Er war Teil dieses großen gemeinsamen Wesens. Die Erkenntnis, wie winzig sein Anteil an diesem Ganzen war, machte ihm keine Angst, sondern erfüllte ihn mit einem starken Glücksgefühl. Gerne wäre er jetzt hier gestorben, um auch buchstäblich Teil des Berges zu werden mit all seinem Werden und Vergehen und seinem ewigen Bestehen. Aber gegen Abend würden die Helfer kommen, um ihn zurück nach unten zu geleiten und der heilige Mann, sein Freund, würde ihm helfen, die Botschaften, die er erhalten hatte, zu verstehen.

Sein Blick ruhte schon seit Stunden auf den dunklen, bewaldeten Höhenzügen, die sich vor dem hellen Himmelsrand abzeichneten, als er die Bewegung wahrnahm. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, besser zu sehen. Überall auf den Hügeln bewegten sich dunkle Punkte und die einzelnen Bewegungen flossen zusammen zu einem einzigen großen Wogen, das am Fuße seines Berges begann und sich bis zum Horizont ausdehnte. Das Land lebte und bewegte sich. Als der Mann noch schärfer sah, erkannte er, dass es sich um Unmengen einzelner Wesen handelte. Es waren Büffel, Millionen und Abermillionen von Bisons, deren Flut an den Fuß des Berges brandete. Der

Mann lachte vor Glück. Die riesigen Herden der Büffel, der heiligen Tiere seines Volkes, waren überall um ihn herum. Waren die Bisons zurückgekehrt und mit ihrer Rückkehr die weißen Menschen verschwunden, wie es die Geistertänzer vorausgesagt hatten? Oder waren diese schrecklichen Weißen und ihre Vernichtung der Welt nur ein Albtraum gewesen, aus dem er jetzt erwachte? War dies die Realität, die er in seiner Verblendung nicht hatte sehen können? Die Herden der Büffel reichten bis zum Himmel und das Volk der Lakota war glücklich, die Menschen hatten genug zu essen und lebten in Harmonie mit der Schöpfung. War diese neue Welt nur eine Illusion gewesen, eine böse Drohung, mit ihrer Zerstörung, ihrem Ungleichgewicht, dem Sterben der Tiere und dem Leiden seines Volkes? Er wusste es nicht. Er spürte das Dröhnen der Hufe in seinem Körper. Er war umgeben von heiligem Leben. „Hetschetu welo! Es ist gut!“ Der Mann weinte vor Glück.

OSTEN / DRITTES RITUAL

XVI

Sie fuhren durch die wirklich dunklen Nadelwälder der Black Hills, die ab und zu von im Sonnenlicht strahlenden grünen Wiesen unterbrochen wurden, auf der Bundesstraße 16 in den Ort Custer. „Kam nicht dieser Mitchell auch aus einer Stadt namens Custer?“, fragte Begay. „Ja, aber er stammte aus Custer in Montana. Hier sind wir in Custer, South Dakota.“ „Habt ihr denn in jedem Bundesstaat einen Ort nach ihm benannt?“ „Tja, hättet ihr ihm und seiner Armee nicht den Garaus gemacht, würde heute wohl kein Hahn mehr nach ihm krähen“, antwortete Kaufman, „aber so ist er halt ein Märtyrer und großer Volksheld geworden.“ „Dessen Spezialität es war, Lager von friedlichen Indianern, die ihre Waffen abgegeben hatten, oder Dörfer voller Frauen und Kinder, deren Männer auf der Jagd waren, zu massakrieren! „Wir werden in Blut waten und Skalps sammeln“ sagte er bei so einer Gelegenheit. Oder war das General Sherman?“ „Grauenhaft“, sagte Kaufman, ohne auf seine Frage einzugehen. „Aber das Skalpieren haben ja schließlich nicht wir erfunden!“ „Oh doch, da muss ich leider widersprechen! Das hat die englische Verwaltung eingeführt, als sie nicht mehr wussten, wohin mit all den abgeschlagenen Köpfen von Indianern. Es gab nämlich Kopfprämien. Am wenigsten für einen Kinderkopf, dann kamen die Frauen und am meisten verdiente man am Kopf eines Mannes. Das System wurde dann auf Kopfhäute beschränkt. Daraufhin entstand schließlich der Kopfputz vieler Irokesen- und Algonkinstämme, die Skalplocke auf einem sonst rasierten Schädel. Das sollte heißen: „wenn du dich traust, hol’ dir doch meinen Skalp!“ Das System wurde später von den Amerikanern weitergeführt. Aber auch die Mexikaner hatten Prämien auf Indianerskalps ausgesetzt. Übrigens haben wir Navaho und andere Stämme das

immer für barbarisch gehalten und nicht mitgemacht!“ „Das wusste ich nicht“, sagte Kaufman nachdenklich. Sie fuhren schweigend weiter. Nachdem sie den Fundort von Mitchells Leiche angesehen hatten und in einem heruntergekommenen Diner in Red Shirt, am Rande der Pine Ridge Reservation etwas gegessen hatten, kamen sie durch die atemberaubende Landschaft der Badlands. In allen Schattierungen von weiß, gelb und rot ragten Zinnen und Türme aus erodiertem Sandstein in den dunkelblauen Himmel. Begay fühlte sich an seine Heimat erinnert, auch wenn die Szenerie hier wieder eine ganz andere war. „Ich habe heute morgen die Zeitungen durchgeblättert“, sagte Begay, „weder in Billings noch in Rapid City, in dessen Nähe immerhin vorgestern schon die Leiche gefunden wurde, eine Zeile darüber! Was soll diese Nachrichtensperre?“ „Nun, man will wohl eine Panik verhindern“, antwortete Kaufman. Begay hatte kurz das Gefühl, dass sie bei diesem Thema etwas verlegen wirkte. Hatte Sie mit der Entscheidung, die Medien nicht zu informieren, zu tun? „Aber eine solche Nachricht könnte potentiellen zukünftigen Opfern vielleicht das Leben retten! Ganz zu schweigen von den Büffeln“, fügte er hinzu. „Andererseits wären dort herumlaufende Indianer ein potentielles Ziel für Lynchjustiz! Sie kennen doch die Mentalität hier im Westen“, bemerkte Kaufman und sah ihn an. Meinte sie, dass er dann in Gefahr wäre, fragte sich Begay, sagte aber nichts mehr.

Als sie in Kyle, dem Verwaltungszentrum der Reservation, ankamen, hatten sie noch etwas Zeit bis zu ihrer Verabredung und beschlossen, vorher noch zum Gebäude der Stammespolizei zu fahren. Kyle bestand aus einer Ansammlung locker in der Prärie verstreuter Holzhä und Mobil Homes. Obwohl auch hier ausgeschlachtete Autowracks und Müll herumlagen, sah der Ort nicht ganz so trostlos aus wie die anderen Ansiedlungen, durch die sie gefahren waren. Kinder spielten um die Hä, deren Grundstücke zumeist nicht von Zäunen umgeben waren und so einfach in die grasbewachsenen Hügel

der Plains übergingen. Sie hielten am Oglala Lakota College, an dem die beiden Informanten, die sie gleich treffen würden, unterrichteten. Das moderne Gebäude, das eindrucksvoll auf einem Hügel über dem umgebenden Grasland thronte, zeigte in stilisierter Form einen Büffel, das wichtigste Tier der Lakota-Kultur. Im Tribal Police Departement, in dem sie auch angemeldet waren, besprachen sie mit zwei nicht übermäßig freundlichen, aber routiniert und professionell auftretenden Lakota-Polizisten, das Vorgehen bei der bevorstehenden Befragung. Ein Teil davon sollte von der Stammespolizei geleistet werden. Als sie etwas später das einzige kleine Café des Ortes betraten, wurden sie schon erwartet. Begay hatte am Tag zuvor zunächst mit dem Stammesrat Kontakt aufgenommen, wo er an das College weiter verwiesen worden war. Er hatte mit John Miller, einer weißen Lehrkraft und einem Mitbegründer des Colleges, geredet. Miller unterrichtete unter anderem Geschichte und war seit den Siebziger Jahren auf Pine Ridge, so dass er ein vielversprechender Gesprächspartner war. Der Dozent, der Begay sofort sympathisch war, bezeichnete sich selbst scherzhaft als „the last stand of the white man“ im College, dessen Politik es war, weiße Lehrtätige immer mehr zu Gunsten befähigter indianischer Dozenten abzubauen, woran es nur noch in den naturwissenschaftlichen Fächern mangelte. Daher versuche er, sich selbst überflüssig zu machen, sagte er augenzwinkernd. Er hatte in ein Treffen eingewilligt und vorgeschlagen, eine Kollegin vom College, Martha Grey Hair, die eine Älteste der Lakota und traditionelle Heilerin war, mitzubringen, da sie eher eine Lakota-Sichtweise und mehr Insiderwissen zu dem Gespräch beisteuern könne. Grey Hair unterrichtete Lakota-Philosophie, -Religion und Heilkunde und gab Sprachkurse in Lakota am OLC. Die beiden saßen in ein angeregtes Gespräch vertieft vor ihren dampfenden Tassen Kaffee. Da ansonsten nur noch eine Gruppe Studenten einen Tisch am Fenster besetzt hatte, wusste Begay, wen er ansprechen musste. Er stellte sich und seine Kollegin vor, wobei er der Frau gegenüber auf eine traditionelle Begrüßungsformel der Dineh zurückgriff, indem er den Namen und Clan seiner Mutter und dann seines Vaters nannte. Sie honorierte das, indem auch sie die Namen ihrer Eltern und ihre Zugehörigkeit zu einer Tiospaye, ihre Sippe oder Großfamilie bei den Oglala nannte. Nachdem sie sich gesetzt und bei einer freundlichen Lakota mittleren Alters, die ihren Apfelkuchen anpries, bestellt

hatten, begann Begay das Gespräch: „Mr. Miller, ich habe Ihnen ja gestern telefonisch schon grob erklärt, worum es uns geht. Da unser Täter offensichtlich ein kampferprobter Mann ist und wir uns mit seinem anzunehmenden Alter relativ sicher sind, haben wir im FBI-Computer erstmal nach ehemaligen Militärangehörigen und zum anderen nach Personen gesucht, die im Zuge der gewalttätigen Auseinandersetzungen auf Pine Ridge besonders in den Siebziger Jahren straffällig geworden sind. Heutige Soldaten kommen wohl nicht in Frage, da sie weit entfernt von Pine Ridge leben. Ehemalige Armeeangehörige dagegen gibt es eine Menge im fraglichen Alter. Trotzdem haben wir uns erst einmal auf die Gruppe der Aktivisten konzentriert.“ „Außerdem t ein Typ, der ’rumläuft und weiße Büffeljäger abschlachtet ganz gut in das Schema des Kämpfers für indianische Rechte, oder?“, fragte Miller provozierend. „Und immerhin handelt es sich dabei um straffällig gewordene Personen“, kam Kaufman ihrem Kollegen zu Hilfe, dem bei seiner Rolle sichtlich nicht wohl war. „Straffällig im Sinne des FBI sind die sicher alle. Weil sie für das Überleben ihres Volkes gekämpft haben. Nach der Besetzung von Wounded Knee 1973, dem Höhepunkt der Kämpfe auf unserer Reservation, wurden alle, die daran teilgenommen hatten, und das waren nicht nur Lakota, sondern auch viele Angehörige anderer Stämme, festgenommen“, sagte Grey Hair. „Nun sind von den etwa dreihundert Personen, die damals verhaftet wurden, heute erschreckender Weise nur noch wenige am Leben…“, sagte Begay. „Und jetzt wollen Sie wissen, wie das kommt, stimmt‘s?“, fragte Miller. „Ehrlich gesagt, ja!“ „Nun, erst einmal haben Indianer heute in den USA, wie Sie sicher wissen, keine sehr hohe Lebenserwartung. Das ist in Pine Ridge in Folge der schlechten ökonomischen und sozialen Bedin-gungen sogar noch schlimmer als auf anderen Reservationen. In den Siebziger Jahren lag das Durchschnittsalter hier kaum über vierzig Jahren. Hinzu kommt, dass die Zeiten damals ziemlich gefährlich waren!“ Kaufman schüttelte den Kopf: „Ja, in den Kämpfen auf Pine Ridge in den

folgenden Jahren sind noch etliche der ehemaligen Besetzer ums Leben gekommen. Meist ganz junge Burschen! Die Teilnehmer an der Besetzung waren zum großen Teil damals so um die zwanzig, höchstens an die dreißig Jahre alt. Die wären heute gerade mal fünfzig bis sechzig! Normalerweise muss man nach dreißig Jahren eine Sterberate von fünfundzwanzig Prozent annehmen. Selbst bei einem statistischen Durchschnittsalter von vierzig, hieße das aber, dass auch heute noch viele leben müssten, vielleicht so fünfzig Prozent.“ „Es leben aber nur noch sechzehn!“, betonte Begay. „Natürlich war ein Teil der Besetzer von anderen Stämmen, AIM-Mitglieder, die den Oglala zu Hilfe gekommen waren. Und einige Oglala sind inzwischen fortgezogen. Trotzdem bestand der größte Teil tatsächlich aus Einwohnern des Reservates. Und von denen sind kaum noch welche übrig!“ „Von den anderen übrigens auch nicht“, bemerkte Miller trocken und machte eine bedeutungsvolle Pause. „Es ist ein Phänomen, dass die allermeisten Teilnehmer der Wounded Knee-Besetzung heute tot sind! Und nur wenige sind eines natürlichen Todes gestorben!“ „Was soll das heißen?“, fragte Kaufman irritiert. „Meinen Sie, man hat sie umgebracht?“ „Schwer zu sagen. Viele sind auch bei allen möglichen Unfällen ums Leben gekommen. Mag aber sein, dass jemand dieses unliebsame, revolutionäre Potential von Menschen aus dem Weg schaffen wollte! Auf jeden Fall sehen das einige der Betroffenen so. Und sind auf der Hut. Einige der AIM-Anhänger sind jedenfalls untergetaucht.“

Begay hörte erschrocken zu. Er hatte diese Theorie über die vielen seltsamen Todesfälle unter den ehemaligen Besetzern schon öfter gehört. Bisher allerdings nur von radikalen politischen Aktivisten. Diesmal äußerte sie ein weißer Amerikaner, der noch dazu Geschichte lehrte. „Wenn Sie sich mal über die unerfreuliche Rolle des FBI in der Bekämpfung der schwarzen und indianischen Bürgerrechtsbewegung informieren wollen, empfehle ich Ihnen das Buch „Agents of Repression“ von Ward Churchill und Jim Vander Wall“, fügte Miller an Kaufman gewandt hinzu.

„Sie wollen doch wohl nicht andeuten, dass das FBI etwas damit zu tun hatte?“, fragte sie erschrocken. „Man kann das nicht wirklich beweisen. Aber mit Ruhm bekleckert hat das FBI sich nicht gerade bei der Unterdrückung von Bürgern, die für ihre verfassungsmäßigen Rechte eintreten“, antwortete Miller. Begay fragte sich, ob er sich schämen müsste, für das FBI zu arbeiten. „Ich denke, es ist notwendig, Sie ein bisschen mit der Situation auf Pine Ridge vertraut zu machen“, meinte Martha Grey Hair und nahm bedächtig einen Schluck Kaffee. Miller nickte ihr aufmunternd zu. „Also, Sie wissen ja, dass uns nur ein winziger Bruchteil unseres Landes, auch der vertraglich zugesicherten Gebiete, geblieben ist. Aber auch das, was sich Reservat nennt, ist nur zum kleinen Teil in der Nutzung der Lakota. In Wirklichkeit ist das Reservatsgebiet aufgeteilt wie ein Flickenteppich. Ein Großteil ist an weiße Rancher verpachtet, durch den General Allotement Act gehören andere Gebiete Einzelpersonen und nur ein kleiner Teil wird vom Stamm verwaltet.“ „Der General Allotement Act sollte die Stammesverbände schwächen, indem man Land an einzelne Personen verteilte“, erklärte Miller an Kaufman gewandt. „Man wollte den Gemeinschaftssinn der Ureinwohner zerstören. Fortschritt kann nur aus Eigennutz entstehen, sagte die Regierung. Deshalb wurden ganze Reservate aufgelöst und das Land an Einzelne oder Familien verteilt, damit das Land nicht mehr von allen gemeinsam genutzt und die Erträge geteilt würden. Man hoffte, die Indianer so zu modernen, gewinnorientierten Unternehmern zu machen. Das Ergebnis war allerdings meistens sozialer Verfall und noch größere Armut.“ Er legte den Kopf schief und sagte mit George W. Bush Junior-Stimme: „Verdammte Kommunisten!“ „Auf Pine Ridge gibt es eine starke Vermischung von Indianern und Weißen“, versuchte Grey Hair den Faden wieder aufzunehmen. „Indianische Stämme haben zur Blutauffrischung ja immer gerne exogam, also Leute von außen, geheiratet“, warf Miller erklärend ein. „Deshalb bin ich auch immer noch hier“, fügte er lächelnd hinzu. Grey Hair sah ihn ob der neuerlichen Unterbrechung tadelnd an: „So seltsam es

klingt, es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen indianischem Blutanteil und der Nutzung des Landes. Eine Studie des Bureau of Indian Affairs, das ja nicht gerade im Ruf steht, sich wahnsinnig für die Ureinwohner einzusetzen, kommt zu dem Ergebnis, dass über neunzig Prozent des genutzten Landes auf Pine Ridge in der Hand von Weißen oder Mischlingen mit weniger als fünfzig Prozent indianischen Blutes sind. Auf der anderen Seite nutzen reinblütige Indianer oder Personen, die einen Großteil indianisches Blut haben, nur knapp zehn Prozent des Landes! An Weiße darf Reservatsland nur verpachtet werden, aber die Landverkäufe gehen zum größten Teil an Personen mit geringem indianischen Blutanteil. Auf Dauer befindet sich also immer mehr Land in der Nutzung von Personen mit immer geringerem indianischen Blutanteil! Diese Entwicklung war am deutlichsten in den Siebziger Jahren. Damals verpachtete und verschacherte der Stammespräsident Dick Wilson, ein Halbblut, das Land an seine Kumpels. Wilson war eine Marionette der Weißen, nur daran interessiert, sich selbst zu bereichern. So stimmte er auch jedem Projekt von außen zu, egal ob Uranförderung, die die Stammesangehörigen gefährdete, oder das Ableiten unseres Wassers für weiße Rancher. Total korrupt!“ „Hat sich denn niemand dagegen gewehrt?“, fragte Kaufman. „Wilson hatte eine Schlägertruppe aufgestellt, die sogenannte „Goon squad“, die eine regelrechte Terrorherrschaft auf dem Reservat aufrecht erhielt. Alles Leute mit wenig indianischem Blut“, antwortete Miller. „Schon die Einführung des Stammesrates 1934 war gegen den Widerstand der Mehrheit der Oglala geschehen. Der größte Teil des Stammes hatte an der Wahl aus Protest nicht teilgenommen. So wurde der Stammesrat tatsächlich nur durch eine Minderheit legitimiert“, fuhr Grey Hair fort. Begay kannte diesen Trick. Auch bei den Navaho und bei anderen Stämmen war es gelungen, die Stammesregierungen durch kleine Minderheiten zu etablieren, da die Mehrheit der Stammesmitglieder ihre Ablehnung traditionell durch Verweigerung der Abstimmung ausdrückte. In anderen Fällen waren die Wahlergebnisse einfach gefälscht worden.

„Jedenfalls spitzte die Lage sich unter Wilson’s Regime ziemlich zu. Die traditionellen Indianer waren ihres Lebens nicht mehr sicher. Und da betrat eine

neue Generation die Bühne. „Sie müssen wissen“, wandte Grey Hair sich an Kaufman, „in den Sechzigern und Siebzigern gab es, sicher beeinflusst von der Bürgerrechtsbewegung, eine neue Generation von Indianern. Sie waren zum großen Teil bei ihren Großeltern aufgewachsen, da ihre Eltern in einem Sumpf aus Alkohol und Verzweiflung versunken waren. Dadurch sind sie mit den traditionellen Werten der Alten vertraut gemacht worden. Diese jungen Leute schämten sich nicht mehr dafür, Indianer zu sein, so wie man es ihren Eltern beigebracht hatte. Sie waren ganz im Gegenteil stolz darauf und waren nicht mehr bereit, alles hinzunehmen. So kam es hier zu einem regelrechten Krieg, der hunderte von Menschenleben kostete, zwischen den Traditionalisten und den jungen AIM-Anhängern auf der einen und den „Apples“ auf der anderen Seite.“ „Apples – außen rot und innen weiß“, erklärte Begay den alten Indianerscherz auf Kaufmans hilflosen Blick hin und erkannte an ihrem Lächeln, dass sie verstanden hatte. „Jedenfalls“, nahm Grey Hair den Faden wieder auf, „eskalierte das Ganze in der Besetzung von Wounded Knee. Die Besetzer forderten die Auflösung des Stammesrates und Neuwahlen, außerdem sollte ein Senatsausschuss unter Ted Kennedy die Akten von BIA und Innenministerium überprüfen, die sich mit dem Land der Oglalas befassten und der Senator Fulbright sollte alle 371 zwischen den Vereinigten Staaten und den indianischen Nationen im Neunzehnten Jahrhundert geschlossene Verträge, die seitens der USA gebrochen worden waren, untersuchen.“ „Die weißen Einwohner von Wounded Knee, die von den Besetzern als Kriegsgefangene bezeichnet wurden, haben sich übrigens mit den Oglala solidarisiert. Sie hatten die Befürchtung, dass die Indianer, die ja zum Teil ihre Nachbarn und Freunde waren, sonst massakriert worden wären“, fügte Miller hinzu. „Wie ging denn das Ganze aus?“, fragte Kaufman, „ich habe natürlich davon gehört, aber ich fürchte, ich weiß es nicht mehr so genau.“ „Nun, und vermutlich haben Sie davon aus einem anderen Blickwinkel gehört“, sagte Miller und zwinkerte ihr fröhlich zu. „Die Besetzer wurden von Hunderten von Polizisten, FBI-Beamten, US-Marshals und Soldaten eingekesselt und mit Hundestaffeln, Scharfschützen, Panzern und Hubschraubern angegriffen. Ohne ihre Geiseln und ohne die Aufmerksamkeit der Medien wären sie wohl schnell

erledigt gewesen. Bei den Schusswechseln wurden zwei Indianer getötet und ein US-Marshal schwer verletzt. Die Besetzung dauerte über zehn Wochen, dann wurde das Gelände gewaltsam geräumt.“ „Und hat es denn etwas verändert?“, erkundigte sich Kaufman. „Zunächst nicht direkt“, erwiderte Grey Hair, „aber es hat den Zusammenhalt auf dem Reservat gefördert und Unterstützung von außen gebracht. Wir haben damals gemerkt, dass wir etwas verändern können. Bald darauf wurde Wilson abgewählt. Spätere Stammesräte haben immer mit den Traditionalisten, mit traditionellen Häuptlingen und Räten zusammengearbeitet. Und insgesamt hat sich die Lage seitdem verbessert!“ „Was Sie uns sagen wollen, ist, dass die Personen, die durch die Auseinandersetzungen damals straffällig wurden, nicht unbedingt Verbrecher sind, oder?“, mischte Begay sich wieder in das Gespräch ein. „Ja“, antwortete Grey Hair und nickte. Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, bevor sie mit bewegter Stimme hinzufügte: „Für viele Leute hier sind sie sogar Helden! Sie haben uns unser Selbstwertgefühl wiedergegeben. Für mich sind sie Krieger, die ganz in der Tradition unserer wunderbaren Vorfahren gehandelt haben. Sie haben für ihr Volk gekämpft. Ich hoffe, Sie verstehen das!“ „Wir wollten, dass Sie das wissen, bevor Sie diese Leute verhören“, fügte Miller bedächtig hinzu. Es entstand ein betretenes Schweigen. Begay fühlte sich schlecht. Nachdem er für alle bezahlt hatte, bedankten sie sich für das Gespräch, verabschiedeten sich herzlich und verließen das Café.

XVII

Um nicht die lange Rückfahrt nach Billings machen zu müssen, hatte Kaufman Begay eingeladen, mit ihr ihren Vater zu besuchen und dort zu übernachten. Begay hatte dankbar angenommen und so erreichten sie am späten Nachmittag die Ranch der Kaufmans in der Nähe von Hill City in den Black Hills. Das gepflegte Holzhaus lag inmitten saftiger grüner Weiden, die von schwarzen, still daliegenden Wäldern umrahmt wurden. Kaufman umarmte seine Tochter und begrüßte Begay freundlich. Seit seine Frau gestorben war und seine beiden Kinder fortgezogen waren, erklärte er, lebe er allein mit wenigen Angestellten auf der Ranch. Er bat sie herein und bot beiden etwas zu trinken an. Während Begay einen Saft nahm, öffnete Kaufman für sich und seine Tochter eine Flasche Wein. „Trinken Sie nie Alkohol, Frank?“, fragte Susan. „Nein. Ich schätze, ich habe einfach zu oft sehen müssen, was Alkohol mit Menschen anrichten kann“, erklärte Begay. Sie unterhielten sich angeregt, bis die Hausangestellte sie zum Essen rief. Es gab Steak, Kartoffeln, Bohnen und Weißbrot und Begay griff hungrig zu. „Frank, nach allem, was ich von meiner Tochter gehört habe“, sagte Kaufman zwischen zwei Bissen, „würde das FBI immer noch im Dunkeln tappen, wenn man Sie nicht geholt hätte.“ Begay wusste nicht, was er darauf antworten sollte und so fuhr Kaufman fort: „Warum meinen Sie, hat man denn keinen Fährtenleser von den hiesigen Stämmen angefordert?“ „Nun, ich denke, das FBI hat von vornherein die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es sich um einen indianischen Täter handeln könnte. Deshalb wollte man einen indianischen Ermittler, der keine freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen Verbindungen in dieser Gegend hat.“

„Das ist die normale Praxis, Dad“, ergänzte Kaufman. „Damit der Täter nicht gewarnt wird.“ „Heißt das, wenn in New York ein Mord geschieht, holt man einen FBI-Ermittler aus einer anderen Stadt?“, wollte ihr Vater wissen. „Nein, bei Anglo-Amerikanern geht man nicht davon aus, dass ethnische, verwandtschaftliche oder freundschaftliche Verbindungen eine so große Rolle spielen. Bei Indianern schon.“ „Überhaupt scheint man auf Geheimhaltung großen Wert zu legen“, sagte Begay. „Naja, wenn bekannt würde, dass ein wild gewordener Indianer hier herumläuft und Weiße massakriert, würde das die ganze Gegend in Panik versetzen“, erwiderte Susan. „Wir haben hier genug Ärger mit radikalen Indianern gehabt“, meinte ihr Vater. „Gleich hier in Custer haben sie in den Siebzigern das Rathaus niedergebrannt. Und bei Demonstrationen in Rapid City gingen die Geschäfte zu Bruch. In den Black Hills wurden immer wieder Zeltlager von Indianern errichtet, die das Land für sich beanspruchen. Erinnerst du dich an das Yellow Thunder Camp, Susan? Nicht weit von hier. Stand da über fünf Jahre lang.“ „Ja, natürlich! Ich fand das wahnsinnig aufregend. Diese ganzen Indianer mit ihren Tipis dort in den Bergen. Muss an die zwanzig Jahre her sein. Ich war so zehn bis zwölf, da bin ich mit meinem älteren Bruder Dave immer mal hingefahren. Sehr zum Ärger von unserem Dad!“, fügte sie hinzu und lachte. „Ich hatte Angst um Euch“, sagte Kaufman eindringlich. „Immerhin waren das Kriminelle! Was meinen Sie dazu, Frank? Man kann doch das Land, das jetzt schon so lange weißen Bürgern gehört, nicht so einfach an die Indianer zurückgeben, oder?“ Begay fühlte sich unwohl: „Na ja, die Lakota fordern ja nur Land zurück, das nicht benutzt wird! Sie wollen niemand vertreiben. Und wenn sie die Lizenzen für in den Black Hills operierende Firmen verwalten könnten, würden sie dadurch endlich in eine ökonomisch stabile Position geraten. Außerdem gehört ihnen das Land ja vertraglich tatsächlich! Und sie wollen andere Indianerstämme daran partizipieren lassen. Ich kann daran nichts Schlechtes entdecken.“

Kaufman wirkte inzwischen etwas ärgerlich: „Aber bei aller Freundschaft, meinen Sie wirklich, das würde funktionieren? Ich denke, es würde alles im Chaos versinken!“ Das alte Argument, dachte Begay: Indianer könnten das Land nicht sinnvoll nutzen, weil sie es eben nicht so wie die Weißen nutzen wollten: „Ich könnte mir vorstellen, dass die Lakota sehr auf Umweltverträglichkeit der Unternehmungen, die in den Black Hills stattfinden, achten würden. Das könnte für Firmen, die rigoros Gold oder Uran abbauen, unangenehm werden. Und es würde sicher einiges Land für eine traditionelle Nutzung durch Ureinwohner geöffnet. Auf der Navaho Reservation verwalten wir ja auch die National Monuments „Canyon de Chelly“ und „Monument Valley“ selbst. Ein Großteil des Reservatsgebietes wird von traditionellen Farmern und Viehzüchtern genutzt. Und auf der anderen Seite gibt es moderne Betriebe, die vom Stamm kontrolliert werden. Warum sollte das bei den Lakota nicht auch klappen, wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten?“ „Sie meinen sicher diese unseligen Spielcasinos, die jetzt überall auf den Reservaten stehen. Daran sieht man doch, dass die Indianer auch nicht besser sind, als der weiße Mann. Sie ziehen ihren Opfern das Geld aus der Tasche und meinen Sie tatsächlich, dass sie es mit ihren indianischen Brüdern teilen? Nein!“ Sie waren mit dem Essen fertig. Kaufman hatte sein letztes Glas Wein auf einmal hinunter geschüttet und goss sich erneut ein. Als er dabei den letzten Tropfen in sein Glas schüttete, bat er seine Tochter: „Susan, bitte geh’ doch mal und hole uns noch eine Flasche!“ Sie sah so aus, als ob sie das nicht für eine gute Idee hielt, blickte hilflos zwischen Begay und ihrem Vater hin und her, um dann doch mit der leeren Flasche hinauszugehen. Begay war inzwischen etwas verärgert und nahm den Faden wieder auf: „Das Geld aus den Spielcasinos kommt dem gesamten Stamm zu Gute oder wird an besonders bedürftige Personen verteilt. Die Casinos gehören ja den Stämmen und nicht Einzelpersonen. Genau das ist der Unterschied! Jetzt stellen Sie sich mal vor, eine weiße Gruppe, sagen wir mal die Amish People oder die Pennsylvanian Dutch, würden ihre Einnahmen untereinander aufteilen, meinen Sie, da würde man auch fragen, warum sie nicht mit allen Weißen von San

Francisco über Rom bis Wladiwostok teilen? Nein! Aber den Indianern wirft man genau das vor, dass sie nicht mit hunderten anderer Stämme teilen!“ Kaufman griff ärgerlich zu der Flasche, mit der seine Tochter zurückkehrte und goss sich erneut nach. „Wenn Sie mich fragen“, sagte er, „die Indianer sind nicht in der Lage, sich selbst zu verwalten! Sehen Sie sich doch die Reservate an: Überall liegt der Müll und die Männer lungern den ganzen Tag nur herum! Nichts gegen Sie, Frank, Sie haben ja einen Beruf. Aber viele Ureinwohner wollen gar nicht arbeiten! Die leben lieber von unseren Steuergeldern!“ Begay hatte schon lange keine Lust mehr, solche Gespräche mit angetrunkenen Weißen zu führen und sagte nichts. Da kam Susan ihm zu Hilfe: „Daddy, ich habe in den letzten Tagen so viel erfahren, was ich vorher nicht geahnt habe! Viele Indianer hatten schon eine Lebensart angenommen, wie die Weißen es von ihnen erwarteten und konnten sich als Viehzüchter selbst ernähren. Da hat man ihnen durch den Dawes Act und später ab 1960 durch die Termination- oder Relocation-Politik immer wieder ihr Land weggenommen und an weiße Rancher verkauft oder verpachtet. Und sie wurden wieder zu Wohlfahrtsempfängern!“ „Okay, da ist sicher viel Schlimmes iert. Aber die Indianer haben eben eine andere Einstellung zum Leben als wir. Sie haben dieses Land nicht genutzt! Und so kam eine stärkere Rasse und nahm es ihnen weg! So läuft die Geschichte nun mal!“ Begay verdrehte die Augen. „Die Weißen fangen etwas mit ihrem Land an“, fuhr Kaufman fort. „Indianer schaffen es höchstens mal, einen Zaun aufzustellen und ein paar wilde Bisons darin rumlaufen zu lassen. Kennen Sie das Reservat der Stoneys oben in Kanada?“, fragte er Begay. Begay wusste, dass Stoney Indian der Ausdruck der Weißen für den Stamm der Assiniboine war, von denen ein Teil ein Reservat in Alberta bewohnte, war aber nie dort gewesen und schüttelte den Kopf. Unbeirrt fuhr Kaufman fort: „Wenn Sie da durch die Gegend fahren, alles Ranchland, Weiden, ordentlich eingezäunt, viele Rinder, und dann kommen Sie an das Reservat und - Schwupps-, genau an der Grenze sind Sie im Wald! Ist nämlich gar keine Prärie da oben, war alles mal Wald! Aber die Weißen nutzen das Land, haben was draus gemacht! Die Stoney halten auch Rinder, aber sie lassen sie einfach im Wald rumlaufen! Da hat man natürlich nicht den Ertrag!

Nein, nein, die Ureinwohner können dieses Land nicht ausnutzen! Wir haben es zu dem gemacht, was es heute ist!“ Kaufman versank immer mehr in seinen eigenen Gedanken und redete eher zu sich selbst weiter: „Mein alter Herr hat die letzten Berglöwen und Wölfe erledigt. Als ich jung war, durfte ich ihn ab und zu begleiten. Wir gingen mit den Hunden auf Pumajagd. Die Hunde haben den Puma auf einen Baum gejagt und sind darunter stehen geblieben. Ham’ sich nicht runter getraut, die blöden Viecher! Man konnte in aller Seelenruhe hingehen und sie runter schießen! Gab ’ne Prämie für jeden erlegten Berglöwen! Davon konnten wir leben. Das war in Montana oben. Später hat er dann die letzten Mustangs gejagt. Sie haben Hundefutter daraus gemacht. Und die Mustangs konnten den Ranchern das Gras nicht mehr wegfressen!“ „Sehen Sie, das ist die Art von Landnutzung, von der die meisten Indianer nichts halten“, sagte Begay. „Wir wollen das Land auf eine nachhaltigere Art nutzen, was auch Raum für unsere Mitgeschöpfe lässt. Dabei kommt es nicht nur auf den Profit an!“ Aber Kaufman schien ihn gar nicht zu hören. „Ich denke, ich werde mir lieber ein Zimmer für die Nacht nehmen“, fuhr er zu Susan gewandt fort. „Ich glaube nicht, dass Ihr Vater gerne einen Indianer in seinem Haus übernachten lässt!“ „Kommt überhaupt nicht in Frage!“, erwiderte sie empört, „Sie bleiben schön hier! Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer!“ Er wünschte Kaufman eine gute Nacht, der ihn aus alkoholumschleierten Augen ansah, aber nicht reagierte und ließ sich von Susan nach oben führen. Sie brachte ihn zu einem hübschen, kleinen Zimmer mit frisch gemachtem Bett. „So, hier schlafen Sie. Gleich gegenüber ist das Badezimmer. Wenn Sie noch etwas brauchen, sagen Sie mir bitte Bescheid!“ Sie nahm seine Hand und sagte: „Es tut mir so leid! Ich muss mich für meinen Vater entschuldigen! Er ist gar nicht so, wenn er nicht so viel getrunken hat! Natürlich ist er ein Konservativer, aber er kann sonst auch ganz anders sein!“ Sie sah ihm lange in die Augen, dann nahm sie ihn in die Arme.

„Am liebsten würde ich jetzt mit reinkommen! Aber nicht im Haus meines Vaters!“ Sie ließ ihn los, drehte sich schnell um und lief den Flur entlang davon.

XVIII

Als Begay morgens aufstand, hatte Susan schon Frühstück gemacht. Ihr Vater war, unter dem Vorwand, etwas auf der Ranch erledigen zu müssen, bereits sehr früh aus dem Haus gegangen, worüber Begay nicht besonders traurig war. Sie besprachen beim Essen das weitere Vorgehen. Sie sollte zurück nach Billings fahren und dort weiter über den Kreis der möglichen Tatverdächtigen recherchieren, während er nach Pine Ridge zurückkehren würde. Er hielt es für besser, wenn dort zunächst nur indianische Beamte auftauchten, auch wenn er das nicht sagte. Am Vortag hatten sie mit den Kollegen der Stammespolizei bereits aufgeteilt, wer welche Personen befragen sollte. Zwar wendete Susan ein, dass nach FBI-Standards immer zwei Ermittler an einer Befragung teilnehmen müssten, aber Begay hielt sich zu Hause auf der Navaho-Reservation auch nicht immer an standardisierte Verfahrensweisen. Und so war er gegen neun Uhr schon wieder auf der Lakota-Reservation unterwegs. Das Gefühl, beobachtet zu werden, das er in der letzten Zeit öfter gehabt hatte, machte sich wieder in ihm breit. Er konnte dafür allerdings keinen wirklichen Grund erkennen. Auch, als er seinen Wagen kurz hinter einer Hügelkuppe anhielt und ein paar Minuten am Straßenrand abwartete, ob ein Auto, das ihm vielleicht außer Sichtweite gefolgt war, auftauchen würde, ierte nichts. Er führte das seltsame Gefühl darauf zurück, dass man auf Indianerreservationen meist beobachtet wurde, ohne die Beobachter selbst zu sehen und auf seine eigene angespannte und wachsame Gemütslage, die aus der Beschäftigung mit einem furchtbaren Verbrechen resultierte. Froh, allein zu sein und ungestört nachdenken zu können, begann er während der Fahrt im Kopf die Fakten zu sortieren. Von den über dreihundert Personen, die auf Pine Ridge im Rahmen gewalttätiger Auseinandersetzungen in den Siebzigern straffällig geworden waren, der Großteil davon im Zusammenhang mit der Besetzung von Wounded Knee, waren heute auf der Reservation nur noch sechzehn am Leben. Davon waren fünf Frauen, was sie als Täter ausschloss, da es sich dabei definitiv um einen Mann handeln musste. Drei waren derzeit im Gefängnis, was sie ebenfalls ausschloss. Nach allem, was

Begay in letzter Zeit erfahren hatte, vermutete er, dass die drei vielleicht eher wegen politischer Aktivitäten einsaßen, als in Folge krimineller Handlungen. Zwei der Personen waren zum ungefähren Zeitpunkt des Todes von Robert Mitchell bei der Arbeit gewesen und schieden daher aus. Von den verbleibenden sechs waren drei Familienväter, was es zumindest eher unwahrscheinlich machte, dass einer davon der Täter sein könnte, da der ja offensichtlich lange Zeit fern von zu Hause verbrachte und dann auch keinem Gelderwerb nachgehen konnte, überlegte Begay. Einer dieser Familienväter war der erste, den Begay aufsuchen wollte. Harry Blue Sky wohnte in der Nähe von Wounded Knee. Als Begay am gleichnamigen Schlachtfeld vorbeikam, entschloss er sich, kurz anzuhalten. 1890 waren hier über dreihundert Minneconjou-Sioux von der US-Armee massakriert worden. Die damals unter den Indianerstämmen sich ausbreitende Geistertanz-Bewegung machte den weißen Bürgern des Westens Angst und so hatte man zunächst den berühmten Hunkpapa-Medizinmann Sitting Bull, den man zu Unrecht für einen Anführer der Bewegung hielt und dem man zuvor Straffreiheit versprochen hatte, wenn er aus Kanada in die USA zurückkehren würde, verhaften wollen. Als dabei ein Kampf entstand, wurde Sitting Bull getötet. Die Nachricht verbreitete sich unter den Geistertänzern wie ein Lauffeuer. Die verängstigten Minneconjou waren auf dem Weg nach Pine Ridge, um sich unter den Schutz des Militärs zu begeben, als sie bei Wounded Knee umzingelt wurden. Die Geistertanzbewegung war durch und durch friedlich, auch wenn ihre Anhänger darauf hofften, dass die Weißen durch göttliche Fügung wieder verschwinden und die Büffel und die getöteten Ahnen zurückkehren würden, und so waren die Indianer bereit, ihre Waffen abzugeben. Als sie bereits entwaffnet waren, löste sich ein Schuss und die Armee eröffnete das Feuer.

Begay hatte das Gefühl, die Schreie der Verletzten und Sterbenden zu hören, als er durch das hohe Gras des Schlachtfeldes lief. Er sah das Bild des Häuptlings Big Foot vor sich, der im Todeskampf erstarrt fotografiert worden war. Er schloss die Augen und hörte das Schluchzen der Kinder, die Angstschreie der Frauen. Er sah den blutigen Schnee vor sich, in dem sie gestorben waren. Auch der Traum eines Volkes war hier gestorben, hatte der Häuptling Red Cloud später gesagt. Er sah die Krieger mit Knüppeln, Steinen oder bloßen Händen

gegen die Maschinengewehre der Soldaten anrennen. Einige der Männer hatten Frauen und Kinder in Gräben gebracht und sich selbst über sie gelegt. Unter den von Kugeln durchsiebten Körper ihrer Männer und Väter hatten dann tatsächlich einige überleben können. Auf einem Hügel, von dem der Blick weit über das wie Meereswogen im Wind rollende Gras der Prärie reichte, blieb Begay stehen. Er sah sich um und stellte fest, dass weit und breit kein Mensch zu sehen war. Touristen verirrten sich an diesen historischen Ort sicher eher selten. Er nahm eine Zigarette aus der Tasche, entfernte das Papier und zerbröselte den Tabak unter leise gemurmelten Worten in den Wind. In stillem Gedenken stand er noch eine Weile da, dann ging er zurück zu seinem Auto.

Etwas später fuhr er auf das Gelände der Familie Blue Sky und hupte, um seine Ankunft bemerkbar zu machen. Zumindest unter Navahos war es üblich, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, sondern sich anzukündigen und dann zu warten, bis man empfangen wurde, also machte er es hier genauso. Eine stämmige Frau erschien in der Tür des baufällig wirkenden Holzhauses und sah misstrauisch zu ihm herüber. Von hinter dem Haus kam ein Mann mit zwei größeren Jungen und fragte: „Kann ich was für Sie tun?“ „Sind Sie Harry Blue Sky?“, fragte Begay und als der Mann bejahte, wies er sich aus und fuhr fort: „Ich bin Special Agent Begay und ermittle in einem Mordfall. Ich hätte ein paar Fragen an Sie.“ Blue Sky schickte seine beiden Söhne weg. Auf Begays Fragen erzählte er, dass er von Gelegenheitsjobs und staatlicher Unterstützung lebe und an dem fraglichen Tag, an dem Mitchell ermordet worden war, in Rapid City gearbeitet habe. Begay machte sich geistig eine Notiz, dass das nachzuprüfen war. Er könne immer nur zeitweise arbeiten, führte Blue Sky weiter aus, da seine Frau in der Frauenorganisation Sina Wakan Winyan Okolakiciye tätig sei, die sich gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Frauen und Kindern einsetze, und er daher verstärkt für seine vier Kinder da sein müsse. „Ich war selber eine Zeit lang ein Trinker und habe mich gegenüber meiner Familie beschissen verhalten. Deshalb weiß ich, wie wichtig ihre Arbeit ist. Unser ältester Sohn ist behindert und auch unsere Tochter ist krank, darum muss immer jemand hier sein“, fuhr er fort.

Auf Begays Nachfrage erzählte er, dass die Tochter schon mit Gelbsucht zur Welt gekommen war und immer kränklich geblieben wäre. „Als wir unsere ersten beiden Kinder bekamen, wohnten wir noch im Nordwesten von Pine Ridge, nahe dem Cheyenne River. Sie wissen vielleicht, dass in den südlichen Black Hills, bei Edgemont, seit 1951 Uran abgebaut wird. Millionen Tonnen radioaktiver Abraum liegen dort am Cheyenne River offen herum und der Wind und der Fluss tragen die Radioaktivität zu uns. Wir wussten das damals nicht. Erst als unser Sohn und unsere Tochter krank zur Welt kamen, sind wir dort fortgezogen.“ „Und Sie sind sicher, dass das mit der Uranförderung zusammenhängt?“, fragte Begay teilnahmsvoll. „Ja, die Frauenorganisation Warn, Women of all red Nations, der meine Frau dann später auch beigetreten ist“, fügte er lächelnd hinzu, „hat 1979 auf Pine Ridge eine Gesundheitsstudie durchgeführt, nach der im fraglichen Gebiet achtunddreißig Prozent aller Schwangerschaften mit einer Tod- oder Fehlgeburt endeten! Und sechzig Prozent der lebend geborenen Kinder waren behindert oder litten an Krankheiten! Sogar die staatliche Umweltschutzbehörde gibt zu, dass die Radioaktivitätswerte im Oberflächen- und Grundwasser weit über den erlaubten Grenzwerten liegen!“ „Es tut mir sehr leid für Sie!“, sagte Begay ehrlich. „Ich möchte Sie nicht länger belästigen und hätte noch eine letzte Frage an Sie: Haben Sie ein Auto? Und darf ich das mal sehen?“ Blue Sky nickte etwas verwundert und führte ihn hinter das Haus. Das Auto war ein uralter, verbeulter Chevrolet, bei dem der Lack schon größtenteils rostigem Metall Platz gemacht hatte und der fast keine Fenster mehr aufwies. Kaum vorstellbar, dass man mit diesem Oldtimer eine Fahrt bis nach Montana überstehen würde. Begay bedankte sich bei Blue Sky und verabschiedete sich. Der Mann kam für ihn als Täter nicht in Frage.

Begay fuhr weiter nach Osten, einer Skizze der Stammespolizisten folgend, bis er die Staubpiste fand, die zum Anwesen von Martin Many Horses Butler führte. Butler hatte ebenso wie Blue Sky kein Telefon, so hatte die Tribal Police ihn nicht ankündigen können und er musste hoffen, ihn zu Hause anzutreffen. Die Piste wand sich durch zwei trocken liegende Bachbetten und endete an

einem kleinen Holzhaus, neben dem ein traditionelles Tipi stand. Etwas entfernt an einem kleinen Bachlauf sah Begay das Gerüst einer Schwitzhütte. Zwei Mustangs grasten friedlich vor dem Haus, bewacht von einem großen, wolfsähnlichen Hund, der im Schatten einer Wollpappel döste. Neben dem Haus registrierte Begay einen Toyota Pick up Truck. Als er auf die Hupe drückte, erhob sich der Hund langsam und streckte genießerisch ein Bein nach hinten, bevor er zu Begay herüberkam, um an den Reifen seines Wagens zu schnüffeln. Neben dem Haus erschien ein Mann mit einer Axt in der Hand. Er schlug sie in einen Holzstumpf und kam ebenfalls auf ihn zu. Martin Many Horses Butler te besser in Begays Vorstellung von dem Täter als der etwas gedrungene Blue Sky. Er war einundfünfzig Jahre alt, groß und kräftig gebaut. Er hatte offensichtlich gerade Feuerholz gehackt, denn sein nackter Oberkörper war schweißnass. Many Horses trug nur eine Blue Jeans mit glasperlenbesetztem Gürtel. Sein Haar war lang, an den Seiten des Kopfes zu Zöpfen geflochten und von einigen grauen Strähnen durchzogen. In seinem Schopf steckte eine einzelne Adlerfeder, was ihm im Zusammenhang mit dem nackten Oberkörper ein martialisches Aussehen verlieh. „Sind Sie Martin Many Horses Butler?“, fragte Begay. „Wer will das wissen?“, erwiderte sein Gegenüber. Begay ärgerte sich. Er benahm sich schon wie ein bilagaana-Polizist! Er musste die Sache anders angehen. „Ich bin Frank Begay vom Stamm der Dineh und gehöre dem Towering House Clan an. Ich arbeite im Moment mit Kollegen der Lakota Tribal Police zusammen an einem Mordfall, der eventuell mit Personen auf der Pine Ridge Reservation zu tun haben könnte. Würden Sie mir ein paar Fragen beantworten?“ „Was wollen Sie von mir?“ Begay spürte, wie das Blut in seinen Kopf schoss. „Es tut mir leid, dass ich Sie so überfalle! Wir konnten mein Kommen leider nicht ankündigen. Ich habe ein paar routinemäßige Fragen an Sie.“ Er fragte sich schon, ob dieses Gespräch völlig schiefgehen würde, als Butler etwas freundlicher sagte: „Na, kommen Sie erst mal da rüber in den Schatten, da können wir uns hinsetzen, mein Freund vom Navaho-Stamm.“ Der Mann führte ihn zwischen die Wollpappeln und sie setzten sich auf einen umgestürzten

Baumstamm. Von hier blickte man über das Bett des kleinen Baches, der sich hinter dem Haus entlang schlängelte, meilenweit über das im Sonnenlicht gleißende Grasmeer. Flocken wolliger Samen, die den Pappeln den Namen gaben, trieben in der Luft und fielen auf das klar dahinplätschernde Wasser. Am Horizont türmten sich grauweiße Berge von Kumuluswolken in den Himmel.

Nachdem Begay eine Weile still dagesessen hatte, um seinen unhöflichen Gesprächsauftakt von vorher abzumildern, bot er eine Zigarette an, die der Lakota annahm. Sie rauchten einen Moment schweigend, dann fragte Butler, was er Begay erzählen könne. „Sie waren ziemlich oft im Gefängnis, wegen Körperverletzung, tätlichen Angriffen auf Polizeibeamte, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruch und anderem“, sagte Begay. Auch kein guter Gesprächsanfang, dachte er bei sich. Many Horses sah ihn etwas mitleidig an: „Natürlich! Jeder Indianer, der sich gegen die Unterdrückung und Vernichtung seines Volkes wehrt, geht ins Gefängnis. Ist Ihnen das neu?“ „Ich glaube, auf der Navaho-Reservation herrschen etwas andere Zustände“, antwortete Begay ausweichend. „Na, so jung sind Sie doch auch nicht mehr! Erinnern Sie sich nicht an die Herrschaft von Peter McDonald in Ihrer Reservation in den Siebzigern und Achtzigern? Der tat alles, was das Bureau of Indian Affairs und die weißen Konzerne von ihm verlangten. Mein alter Freund Russel Means hier von Pine Ridge hat doch damals gegen ihn für das Amt des Navaho-Stammespräsidenten kandidiert und als der Stammesrat McDonald absetzte, hat er die Polizei ganz einfach seinem persönlichen Kommando unterstellt. Alles ganz ähnlich wie damals hier auf Pine Ridge!“ Begay nickte. Er erinnerte sich nur zu gut. Man hatte die Stammespolizei auflösen und eine neue Truppe gründen müssen, um McDonald aus dem Amt zu entfernen. Damals hatte es auch auf der Navaho-Reservation gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben. Begay war erst 1989 in die neu gegründete Polizei des Stammes eingetreten. Wie viele junge Leute war er frustriert von den Verhältnissen gewesen und hatte keine Richtung in seinem Leben gehabt. Bei

der Neuformierung der Stammespolizei hatte er dann das Gefühl gehabt, an einer guten Sache mitarbeiten zu können, zum Guten seines Volkes. Im selben Jahr war Daniel geboren worden und der kleine Julian war gerade vier Jahre alt. Begay war froh gewesen, eine feste Arbeit zu haben und seiner Familie Sicherheit bieten zu können. Damals schien alles sich in eine gute Richtung zu entwickeln. „Aber hier leben wir im Wilden Westen, Mann!“, unterbrach Many Horses Begays Gedanken, „wenn hier ein Weißer und ein Indianer Streit haben, geht der Indianer ins Gefängnis und der Weiße freut sich!“ Begay zog einen Mundwinkel herab und sah seinen Gesprächspartner etwas ungläubig an. Von einer gleichen Behandlung von Angloamerikanern und Ureinwohnern durch die Justiz konnte zwar in Arizona und New Mexiko auch nicht wirklich die Rede sein, aber eine derart einseitige Rechtsprechung hatte er dort nicht erlebt. „Zum Beispiel, als es damals zur Besetzung von Wonded Knee kam, an der ich ebenfalls teilgenommen habe“, erzählte Many Horses nicht ohne Stolz, „da spielten einige dubiose Justizurteile auch eine Rolle. Zumindest, was die Eskalation der Ereignisse angeht.“ Butler nahm einen auf dem Boden liegenden Stock auf und drehte ihn betrachtend in der Hand. „Mein Bekannter Wesley Bad Heart Bull war in Buffalo Gap, nicht weit von hier, von einem Weißen erstochen worden. Obwohl es vier Personen gab, die bezeugen konnten, dass es vorsätzlich geschah, musste der Täter nur eine Geldstrafe zahlen und kam wieder frei. Zur selben Zeit gab es in Rapid City einen Kampf zwischen einem Indianer und einem Weißen, wobei natürlich nur der Indianer festgenommen wurde. So läuft das hier immer! Viele meiner Freunde sitzen für ihre politische Arbeit im Gefängnis. Mal von Leonard Crow Dog oder Leonard Peltier gehört?“ Begay kannte beide Namen, wusste aber nicht genau über das Schicksal der Männer Bescheid. Das Gespräch nahm nicht ganz den Verlauf, den er erwartet hatte, aber er hatte das Gefühl, dass er viel über Butler erfahren würde, wenn er ihm einfach zuhörte. „Leonard Crow Dog war ein spiritueller Führer des American Indian Movement. Man hat ihn immer wieder verhaftet und misshandelt. Er wurde in einer Zelle inhaftiert, in der er sich nicht aufrichten konnte und in den Verhören hat man ihm die Haare büschelweise ausgerissen.

Aber nicht nur die Polizei hatte ihn im Visier, sondern auch der Ku Klux Klan und andere Rednecks. Wir haben damals über einen langen Zeitraum sein Haus bewacht, weil es immer wieder Angriffe gab. Ich habe mir in der Zeit selbst einige Schießereien mit dem Klan geliefert. Bin natürlich auch dafür verhaftet worden. Und Leonard Peltier, auch ein wichtiger Kopf von AIM, hat man, glaube ich, 1975 nach einer Schießerei mit Ihren Freunden vom FBI hier auf Pine Ridge, bei der zwei Agenten ums Leben kamen, verhaftet. Obwohl seine Mitangeklagten wegen Notwehr freigesprochen wurden, hat man Peltier auf Grund der Aussage einer angeblichen Augenzeugin zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt. Die Augenzeugin hat später ihre Aussage widerrufen und die Anwälte Peltiers konnten nachweisen, dass die Ergebnisse der ballistischen Untersuchung, nach der aus seiner Waffe die tödlichen Schüsse abgegeben worden sein sollten, gefälscht waren. Die Wiederaufnahme des Verfahrens wurde aber immer abgelehnt. Übrigens von demselben Richter Benson, der ihn auch verurteilt hatte! Neue Beweismittel und neue Zeugen der Verteidigung wurden nicht zugelassen und Peltier selbst durfte an den Anhörungen nicht teilnehmen. 1992 hat man ihn übrigens für den Friedensnobelpreis nominiert. Ich weiß gar nicht, wie es dann weitergegangen ist. Wahrscheinlich sitzt er immer noch!“ „Hat man Sie denn wirklich immer nur im Zusammenhang mit Ihrer politischen Arbeit inhaftiert?“, fragte Begay ungläubig. „Naja, ich bin natürlich auch wegen unerlaubten Waffenbesitzes, angeblicher Trunkenheit oder bei Verkehrskontrollen verhaftet worden, einfach weil man mich auf dem Kieker hatte! Nach mehreren AIM-Demonstrationen war ich länger im Gefängnis, zum Beispiel nach dem „Trail of Broken Treaties“ in Washington. Das längste waren fünf Jahre für eine Schießerei, bei der ich zwei weiße Typen verletzt habe, die Crow Dog angegriffen haben. Es wurde so gedreht, dass wir sie angegriffen haben sollten. Ziemlich witzig, wenn man bedenkt, dass es auf Pine Ridge auf dem Grundstück der Crow Dogs ierte! Wären wir Weiße gewesen, hätten wir in diesem Bundesstaat sogar das Recht gehabt, jemand auf unserem Grund und Boden anzugreifen. Wir haben uns aber nur verteidigt! Dafür bin ich in das Bundesgefängnis in Marion, Illinois gekommen. Dort haben sie eine Sonderabteilung zur Verhaltenskontrolle, die „Behaviour Control Unit“. Ich saß da in einer fensterlosen Zelle, in der rund um die Uhr eine sechzig-Watt-Birne brannte. Die Zelle war so konstruiert, dass man keine Geräusche von außen hören konnte und nie natürliches Licht sah. Dazu

gab‘s im Essen Drogen, so dass man jede Orientierung verlor! Da haben sie mich fast klein gekriegt! Zum Glück haben wir hier inzwischen einige gute indianische Anwälte. Die haben gerade noch rechtzeitig meine Verlegung durch bekommen. Nach Wounded Knee war ich auch zwei Jahre im Gefängnis, ich war gerade achtzehn. Seitdem bin ich immer auf der Hut, es sind ja kaum noch welche von den ehemaligen Besetzern am Leben.“ Er lächelte und tätschelte sein Gewehr, das an dem Baumstamm lehnte. Begay fühlte sich zum wiederholten Mal unwohl in seiner Rolle als Bundespolizist. Am liebsten hätte er ihn in Ruhe gelassen. Es gab aber noch etwas, das er fragen musste. „Mr. Butler, ich muss Sie leider fragen, wo Sie am fünfzehnten Mai waren, vor drei Tagen also.“ „Keine Ahnung“, antwortete der Lakota und sah in die Äste über sich, deren Blätter von einem sanften Wind bewegt wurden. „Ich glaube, ich war hier.“ „Dann wissen Sie wohl nicht zufällig, was Sie am vierzehnten April oder am vierten Mai gemacht haben?“ „Nein. Ich lebe nicht nach dem Kalender des weißen Mannes!“ „Gehen Sie keiner regelmäßigen Arbeit nach?“ „Doch“, grinste Many Horses, „ich habe meine eigene kleine Firma. Ich schlage Holz in den umliegenden Wäldern und verkaufe es hier auf dem Reservat.“ „Dann sind Sie oft außerhalb der Reservation unterwegs?“, fragte Begay. „Ja, das stimmt.“ „Hat Sie denn am Montag jemand gesehen?“ „Nein, ich glaube nicht. Ich war den ganzen Tag hier. Ich sehe oft tagelang keinen Menschen!“ Sie saßen noch einen Moment lang zusammen, bevor Begay sich bedankte und verabschiedete.

Er musste noch etliche Meilen fahren, fast bis an die Grenze der östlich an Pine Ridge anschließenden Rosebud Reservation. Er hielt unterwegs an einer Erhebung, von der aus man einen weiten Blick über das Land hatte. Die unzähligen hohen Grashalme der Prärie änderten ihre Farbe oder Schattierung, wenn sie vom Wind heruntergedrückt wurden oder sich wieder aufrichteten. Daher kam der Eindruck von endlosen Wogen eines Grasmeeres, die vom entfernten Horizont bis an den Hügel brandeten. In der Ferne sah man einige Pferde oder Rinder grasen und hier und da zeigte eine Baumgruppe und ein Gebäude den Wohnort von Menschen an. Darüber wölbte sich blau der endlose Himmel der Plains. Begay verzehrte ein Sandwich und etwas Obst, das er sich unterwegs gekauft hatte und trank eine Cola. Er genoss die frühsommerliche Sonne und den milden Wind, die ihn zu liebkosen schienen. In seiner Heimat wäre es zu dieser Jahreszeit und um diese Tageszeit schon drückend heiß gewesen. Trotzdem sehnte er sich dorthin. Er verscheuchte diesen Gedanken und machte sich wieder auf den Weg. Es war bereits früher Nachmittag, als er das Anwesen von Vernon Eagle Feathers, einem Lakota-Schamanen, erreichte. Auf dem Gelände stand ein altes Mobil Home, an das eine Art Laube aus kleinen Stämmen, abgedeckt mit Zweigen, angebaut worden war. Aus diesem Anbau trat ein hochgewachsener Mann mit langen grauen Haaren, als Begay auf dem Hof davor anhielt. Der Mann trug Jeans, ein kariertes Hemd und Cowboystiefel, aber auch sehr schönen indianischen Schmuck, was Begay sah, als er ihm entgegenging. „Sie sind also der Mann, der bei Wounded Knee ein Opfer gebracht hat“, begrüßte ihn der Ältere freundlich. Begay war verblüfft. Es war kaum drei Stunden her, dass er circa vierzig Meilen entfernt das Opfer gebracht hatte. Und niemand in der Nähe gesehen hatte. Woher konnte der Mann davon wissen? Andererseits wusste Begay selbst, dass man im „Indian Country“ nie unbeobachtet war. Er umging eine Antwort, indem er sich vorstellte. „Man hat mir Ihren Besuch schon angekündigt“, sagte Eagle Feathers, „kommen Sie, setzen wir uns in die Laube! Nehmen Sie einen Eistee?“ Begay folgte ihm in den schattigen Vorbau und bekam einen Becher mit dem

Getränk. Nachdem er erklärt hatte, worum es ging, sagte Begay: „Sie haben an der Besetzung von Wounded Knee teilgenommen, wie alt waren Sie damals?“ Es gab nämlich keine Aufzeichnungen über sein Alter. „Oh, da muss ich so sechsundzwanzig, siebenundzwanzig gewesen sein. Jedenfalls war ich fast dreißig, als ich danach aus dem Gefängnis kam“, antwortete Eagle Feathers mit nachdenklichem Blick. Wenn er 1973 sechs- oder siebenundzwanzig war, musste er jetzt neunundfünfzig oder sechzig Jahre alt sein und war damit wahrscheinlich zu alt, um als Täter in Betracht zu kommen, auch wenn er körperlich sehr gut in Form wirkte, überlegte Begay. „Waren Sie danach noch einmal im Gefängnis?“, fragte er. „Nein, das eine Mal hat gereicht, glauben Sie mir!“, antwortete Eagle Feathers bitter. „Zur Zeit der Besetzung hatte ich gerade meine Ausbildung zum Medizinmann beendet. Ich sah meine Aufgabe sowieso mehr in der spirituellen Unterstützung der Krieger!“ „Haben Sie eine regelmäßige Arbeit?“, wechselte Begay das Thema. „Ja, ich unterrichte an der Little Wound School und am Community College drüben in Mission auf der Rosebud Reservation. Lakota-Religion und Geschichte, aus unserer Sicht natürlich“, fügte er grinsend hinzu. „Außerdem gebe ich Sprachkurse. Viele von den Kids lernen zu Hause ja kein Lakota mehr! Außerdem halte ich Zeremonien für Leute ab und bekomme dann manchmal etwas dafür zugesteckt. Je nachdem, ob meine Kunden Geld haben oder nicht.“ „Haben Sie am Montag auch unterrichtet?“, fragte Begay. „Nein, Montag nicht. Ich fürchte, ich war den ganzen Tag hier, falls es um ein Alibi geht.“ „Hat Sie denn niemand gesehen, ich meine, den ganzen Tag?“

„Nein, jedenfalls niemand, den man als Zeugen benennen könnte“, antwortete Eagle Feathers lächelnd. „Wie sieht es mit dem vierzehnten April und dem vierten Mai aus? Das waren ein Freitag und ein Donnerstag.“ „Donnerstag, Freitag unterrichte ich an der Little Wound School. Das können Sie nachprüfen! Allerdings nur vormittags.“ Für die Fahrt von hier bis in die Gegend, in der die Morde geschehen waren, brauchte man in jedem Fall einen halben Tag, überlegte Begay. Will Jennings war am vierten Mai vormittags ermordet worden. Wenn Eagle Feathers an diesem Tag morgens unterrichtet hatte, war das ein perfektes Alibi. Außerdem sah das Auto, das Begay bei seiner Ankunft gesehen hatte, ein uralter, blauer Ford Gran Torino, nicht so aus, als ob man damit noch lange Fahrten unternehmen würde. Begay glaubte nicht, dass Eagle Feathers etwas mit den Morden zu tun hatte. Er nahm gerade einen Schluck von dem kühlen Eistee, als sich das Funkgerät aus seinem Wagen meldete. Er entschuldigte sich und ging zu dem Auto hinüber. Es war die Stammespolizei aus Kyle. Der Sergeant berichtete kurz über die durchgeführten Befragungen und bedauerte, dass ein gewisser Jimmy Wolf walks alone bisher nicht auffindbar sei. Begay versprach, später noch beim Police Departement vorbeizuschauen, um Berichte und Daten auszutauschen und beendete das Gespräch. „Ich habe Ihre Unterhaltung mit angehört“, sagte Eagle Feathers, als Begay sich wieder zu ihm setzte, „Jimmy ist ein alter Freund von mir, wenn Sie wollen, kann ich Sie zu ihm bringen.“ „Sie wissen, wo er sich aufhält?“, fragte Begay überrascht. „Ja. Ist aber eine längere Tour dorthin. Deshalb müssten wir das auf morgen verschieben. Vielleicht kann ich Ihnen unterwegs noch ein bisschen was von unserem Land zeigen. Jimmy hat sein Lager in den Black Hills.“

XIX

Sie trafen sich am nächsten Mittag in dem Café, das Begay schon kannte, in Kyle, da Eagle Feathers morgens noch hatte unterrichten müssen. Am Spätnachmittag des vorangegangenen Tages hatte Begay auf der Polizeidienststelle einige Unterlagen erhalten und erfahren, dass die beiden Personen, die die Tribal Police befragt hatte, als Täter wohl ausschieden. Der eine wohnte in der Ortschaft Pine Ridge, der andere in Kyle und beide waren an dem fraglichen Tag, an dem der letzte Mord begangen worden war, von zahlreichen Personen, nicht nur aus ihrer Familie, dort gesehen worden. Begay hatte die Polizisten gebeten, die Angaben der von ihm Befragten zu ihrem Alibi zu überprüfen und als der Sergeant James Mills Sundancer erfuhr, dass Begay am nächsten Tag in Kyle verabredet war, bot er ihm an, in einem Raum des Police Departement zu übernachten. Außerdem lud er ihn ein, den Abend mit ihm und seiner Familie zu verbringen und so erlebte Begay einen durch und durch harmonischen Abend mit ihm, seiner Frau und vier netten Kindern. Nun fuhren Eagle Feathers und Begay in dessen Wagen durch die Reservation. Beide schwiegen und so genoss jeder die dahinfließende Landschaft. Der Himmel schien sich endlos zu wölben und einzelne Schäfchenwolken warfen mit ihren Schatten versprengte Farbtupfer auf das in allen Grün- und Gelbtönen erstrahlende Grasland. Sie ierten die phantastischen Sandsteinfelsen der Badlands, deren Erosionsformen die Vorstellungskraft zu immer neuen Deutungen beflügelte und verließen über den Cheyenne River das Reservatsgebiet. Begay genoss das Gespräch mit dem Älteren, der intelligent und auf seine ruhige und freundliche Art weise wirkte. Er hatte in den letzten Tagen mit vielen Weißen und mit Indianern meist nur beruflich geredet, so dass er die höfliche und sich Zeit nehmende Art, in der sich Indianer für gewöhnlich unterhielten, bei der man seine Gedanken in Ruhe formulieren konnte, ohne Angst haben zu müssen, unterbrochen zu werden, vermisst hatte. Wie hektisch die Gespräche unter Weißen doch waren! Obwohl der Lakota und der Dineh sich nur auf Englisch unterhalten konnten, tat Begay das unaufgeregt

leise und sich Pausen gönnende Reden gut. Nach Stunden erreichten sie die bewaldeten Hügel der Black Hills und schraubten sich die sanften straßen hoch. Sie fuhren schon eine Weile durch die Tannen- und Kiefernwälder, als Eagle Feathers fragte: „Blauer Polizist, du musst nicht zufällig pinkeln?“ „Äh, nein“, antwortete Begay etwas erstaunt. „Wir sind gerade in der Nähe von Mount Rushmore, weißt du, wo sie die Häupter von vier Präsidenten aus dem Fels unserer heiligen Berge gehauen haben. Ich vere es für gewöhnlich nicht, einem von ihnen auf den Kopf zu pissen!“, erklärte Eagle Feathers. „Leider kann ich auch nicht! Ist wohl das Alter!“ Begay musste lachen. „Hat mir mein alter Lehrer und Freund Tahca Ushte beigebracht, als wir Mount Rushmore besetzt hatten“, ergänzte Eagle Eathers. Tahca Ushte, oder wie sein amerikanischer Name lautete, John Fire Lame Deer, hatte das Buch „Medizinmann der Sioux“ geschrieben, das zur Pflichtlektüre in Kulturanthropologie an amerikanischen Hochschulen gehörte und das Begay daher auch gelesen hatte. Er war auch seinem Sohn Archie Fire Lame Deer auf einem Seminar begegnet, an den er sich als einen hünenhaften, freundlichen Mann mit großem, federgeschmücktem Filzhut erinnerte. Kurze Zeit später ierte die US 16 das Crazy Horse Memorial, eine seit etlichen Jahren im Bau befindliche Monumentalskulptur des berühmten Häuptlings. „Gut, dass Tashunka Witko nicht mehr erleben muss, wie aus den heiligen Paha Sapa sein Bildnis gehauen wird! Er hat sich zeitlebens nicht fotografieren lassen, weil er nicht wollte, dass die Waschitschu ein Bild von ihm besitzen. Er ist als freier Mann gestorben. Als man ihn verhaften wollte, obwohl man ihm freies Geleit zugesichert hatte, ist er lieber gestorben, als sich einsperren zu lassen. Und kein Weißer weiß, wo er begraben liegt. Er hätte diese Verschandelung unserer heiligen Berge gehasst! Es war ja sicher nett gemeint von dem Polen, aber die Waschitschu verstehen einfach nicht, dass wir uns aus riesigen Denkmälern oder Gebäuden überhaupt nichts machen!“, schimpfte Eagle Feathers.

In der Nähe der Abzweigung einer kleineren Landstraße in Richtung Deerfield, bat Eagle Feathers Begay, einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen und auf eine Staubpiste abzubiegen. Nach einer circa zehnminütigen Fahrt ließ er Begay den Wagen abstellen und forderte ihn auf, mit ihm auf einen Berg zu steigen, dessen Kuppe sich durch die Bäume des Waldes hindurch abzeichnete. „Dieser Berg ist für uns ein heiliger Ort. Und glücklicher Weise haben die Waschitschu noch nichts darauf gebaut! Ich komme immer hierher, wenn ich in der Nähe bin“, erklärte Eagle Feathers. „War lange nicht mehr da! Ich hoffe, der Berg freut sich! Es wird sicher ein bisschen Regen geben, wenn wir oben ankommen, zur Begrüßung!“ Begay sah durch die Tannenwipfel zum Himmel hinauf. Die wenigen Schäfchenwolken, die noch über Pine Ridge am Himmel gehangen hatten, waren inzwischen durch die Mittagshitze aufgelöst und lediglich ein paar dünne Schleierwolken, in denen das Sonnenlicht die Farben des Regenbogens hervorrief, waren noch zu sehen. Es würde ganz bestimmt nicht regnen, dachte Begay traurig. Sie gingen entlang einer gewaltigen Felswand bergauf durch ein schmales Tal. Dunkler, schattiger Wald wechselte mit sonnendurchfluteten Lichtungen. Ein einziger Ton, hervorgerufen von Millionen Bienen, Käfern und Fliegen, lag in der Luft. Sie erreichten den Gipfel, wo der Wald endgültig vor den Felsabbrüchen und einer Hochwiese zurückwich, die die ganze Kuppe des Berges einnahm.

Begay spürte kühle Tropfen auf seinem Gesicht. Verblüfft sah er abermals zum Himmel, an dem keine Wolke zu sehen war. Nur weit entfernt am Horizont waren ein paar Federwolken zu sehen und ein letzter, dünner Wolkenschleier hielt sich noch in der Nähe des Berges vor dem dunkelblauen Himmel. Dennoch war Begay sicher, dass er Regentropfen abbekommen hatte. Er wischte sich ungläubig über das Gesicht und spürte die kühle Feuchtigkeit an seinen Fingern. Eagle Feathers nickte ihm mit einem freundlichen Augenzwinkern zu. Begay ärgerte sich über sein schizophrenes Wesen: Aufgewachsen im Glauben und mit den Mythen der Dineh, verlangte sein in den Schulen der Weißen und durch Bücher oder Fernsehen geprägter Verstand nach logischen Erklärungen.

Jedenfalls begrüßte dieser Berg sie mit einem leichten Regen! Eagle Feathers winkte ihm weiterzugehen. Sie steuerten auf den höchsten Punkt zu, an dem Begay schon aus der Ferne dort aufgestellte Stäbe erkannte, an denen sich bunte Stofffetzen im leichten Wind bewegten. „Dies ist ein Platz, an den unsere jungen Krieger kommen, wenn sie auf die Hanblecha, die Visionssuche, gehen“, erklärte Eagle Feathers. Er benutzte die englischsprachige Umschreibung „Journey through the night crying“. Begay sah sich den Platz ehrfürchtig an: Hier saßen junge Männer für drei oder vier Tage und Nächte, ohne zu essen, trinken oder schlafen, um Visionen zu erhalten, die ihnen helfen sollten, ihren Platz und ihre Aufgabe in ihrem weiteren Leben zu finden. Eagle Feathers hatte die Arme zum Himmel erhoben und begann auf Lakota zu beten. Von Zeit zu Zeit drehte er sich dabei in die nächste Himmelsrichtung, um dann weiterzubeten. Begay nahm eine Handvoll Maispollen aus dem Medizinbeutel, den er immer bei sich trug, und streute sie in den Wind. Er sprach leise ein eigenes Gebet, sicher, dass hier ein spirituell machtvoller Platz war. Er spürte die Harmonie, die an diesem Ort herrschte zwischen den Bäumen des Waldes, dem Gras, den Felsen und den Tieren der Berge und den Menschen, die hierher gehörten und sich dessen bewusst waren wie Eagle Feathers.

In Schönheit wandele ich…

Danach standen beide noch eine Weile stumm da und genossen den Blick über das Land. Von hier oben sah man weit über die Black Hills, deren abgerundete Kuppen sich wie eine Welle auf die andere hintereinander bis zum Horizont abzeichneten, von den ersten scharf gezeichneten, auf deren Spitze man jeden einzeln stehenden Baum erkennen konnte, über die weiten Meere aus dunklen Tannen, bis zu den dunstig in der Ferne liegenden Hügeln. Gen Osten konnten sie die endlose Grasfläche erahnen, die sich an das Gebirge anschloss. „Dort drüben kann man den Thunderhead Mountain sehen, der jetzt das Crazy Horse Memorial ist. Nach unseren Legenden wohnten dort früher Donnervögel, daher auch der Name. Mit der Zerstörung des Berges wurden auch die Donnerwesen heimatlos“, sagte Eagle Feathers traurig.

Begay sah in die Richtung, die er ihm wies und entdeckte die unnatürlichen Umrisse des in unzähligen Sprengungen veränderten Berges. Ein einzelner Adler nutzte die Aufwinde, die sich an der Flanke des Berges bildeten und kreiste langsam immer höher, bis er über den Köpfen der Männer als kleine Silhouette am Himmelszelt stand. Sie sahen ihm eine Weile zu, dann verabschiedete sich Eagle Feathers von dem Ort und sie begannen den Abstieg. Nicht viel später lotste der Lakota Begay von der Straße auf eine Forstpiste, auf der sie sich mit langsamer Geschwindigkeit jedem Felsen oder Schlagloch ausweichend einige Meilen entlang tasteten. Begay war froh über den Vierradantrieb seines Fahrzeuges, obwohl ihm das von Zeit zu Zeit hörbare Schaben eines Felsens am Unterboden des Wagens zu denken gab. Eagle Feathers hieß ihn, die Piste zu verlassen und über eine natürliche Lichtung bergan zu fahren, bis sie wieder den Waldrand erreichten. Zwischen den ersten Tannen stand ein brauner Pickup Truck, der auf Grund seiner Farbe in dem Unterholz nicht weit zu sehen war. Begay lenkte sein Fahrzeug neben den Truck und machte den Motor aus. Sie gingen durch dichten Wald weiter bergauf, bis sie auf eine weitere freie Fläche stießen. Ein Bach plätscherte leise am Rande der Lichtung zwischen großen Granitfelsen hindurch und der Himmel wölbte sich wieder strahlend über einer mit Bergblumen übersäten Wiese, die von dem monotonen Summen unzähliger Bienen und Hummeln erfüllt war. An dem anderen Ende der Lichtung stand ein großes Tipi. Die Bergwiese war mit Felsbrocken und einzeln stehenden Kiefern und Tannen bedeckt. Abgestorbene, silbrig glänzende Baumgerippe standen dazwischen, andere, bereits umgestürzte, zerfielen zu rötlich-braunem Staub. Durch den Verbiss der Hirsche, die immer nur die jungen Triebe abfraßen, zu Pyramiden erstarrte kleine Tannen wuchsen am Rand der Lichtung. Hinter dem Tipi erhob sich ein mit vom Wind niedergedrückten Latschenkiefern bedeckter Hügel. Aus mehreren Quellen im Fels trat dort beständig leise murmelnd Wasser hervor und lief durch Felder von Moos, das in allen Grüntönen leuchtete, bergab. Teppiche von kleinen weißen und blauen Blumen bedeckten das Moos. An der Felskante rieselte das Wasser in unzähligen kleinen Strömen über abgestorbene Pflanzenhalme und fiel in einzelnen, im Sonnenlicht funkelnden Tropfen herab, um sich, wieder vereinigt, in den Bach zu ergießen. Der Ort wirkte paradiesisch auf Begay. Jimmy Wolf walks alone kam über das Gras auf sie zu und hob eine Hand zum

Gruß. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit langem, schwarzen Haar, das in der Sonne bläulich schimmerte. Er trug Jeans, Stiefel und ein Lederhemd mit langen Fransen, was das indianische Aussehen seines scharf geschnittenen Gesichtes mit den ausgeprägten Wangenknochen noch unterstrich. Eagle Feathers und Wolf walks alone begrüßten sich auf Lakota, dann stellte Eagle Feathers Begay vor. Wolf walks alone sah Begay eindringlich an, versäumte aber nicht, sich als Vollblut-Indianer vom Bären-Tiospaye der OglalaLakota-Sioux vorzustellen. Sie setzten sich auf mehrere offenbar zu diesem Zweck vor dem Tipi angeordnete Felsblöcke. „Mr. Wolf walks alone“, eröffnete Begay das Gespräch, „wir suchen einen mehrfachen Mörder und haben Grund zu der Annahme, dass er von der Pine Ridge Reservation kommt.“ Begay hatte das Gefühl, dass Eagle Feathers ihn missbilligend ansah, vielleicht, weil er so schnell auf das leidige Thema zu sprechen kam. „Sie gehören auf Grund Ihres Alters und Ihrer Vorgeschichte zu dem Kreis der möglicherweise in Frage kommenden Personen. Deshalb muss ich Sie fragen, wo Sie am fünfzehnten Mai, also vor vier Tagen waren.“ „Da war ich hier“, antwortete Wolf walks alone mit undurchdringlicher Miene. „Gibt es jemanden, der das bezeugen kann?“, fragte Begay. „Nein. Ich bin seit einer Woche hier und habe die ganze Zeit keinen Menschen gesehen!“ „Wissen Sie, wo Sie am vierzehnten April oder am vierten Mai waren?“ „Anfang Mai war ich auch hier oben. Aber was vor über einem Monat war, kann ich Ihnen jetzt beim besten Willen nicht mehr sagen.“ „Sie gehen keiner regelmäßigen Arbeit nach?“ „Nein, ich mache Gelegenheitsjobs, manchmal arbeite ich als Cowboy in der stammeseigenen Rinderzucht. Aber nicht in den letzten Monaten. Und ich mache von meinen Eingeborenenrechten Gebrauch und gehe zur Jagd.“ Begay hatte die Felle gesehen, die auf einem Holzrahmen neben dem Tipi zum Trocknen hingen.

„Sie sind neunundvierzig Jahre. Das heißt, bei der Besetzung von Wounded Knee waren sie erst sechzehn. Sie sind aber wie alle anderen auch inhaftiert worden“, sagte Begay nachdenklich. „Allerdings! Und ich denke, ich bin auch genau so beschissen behandelt worden wie alle anderen“, antwortete Wolf walks alone. „Danach sind Sie immer wieder verhaftet worden, sowohl nach den Kämpfen auf Pine Ridge, als auch anschließend außerhalb der Reservation.“ „Wolf walks alone hat fast sein ganzes Leben lang gegen die Unterdrückung unseres Volkes gekämpft“, antwortete Eagle Feathers und legte seine Hand auf dessen Arm. „Das erste Mal habe ich ihn bei einer Demonstration am Sheep Mountain in den Badlands getroffen, einem Berg, den uns das Militär weggenommen hatte, um dort ihre Bomben zu testen. Er war noch ein ganz junger Bursche. War noch vor Wounded Knee. Er war begeistert von dem aufkommenden American Indian Movement. Wolf hatte seine Eltern früh verloren und hat noch die Indianerinternate des weißen Mannes erleben müssen, Sie wissen ja, wo man nichts Indianisches an sich haben durfte und sie einen, wenn man in seiner Sprache redete, an der Heizung festketteten oder einem den Kopf ins Klo steckten.“ „Ja, und man durfte nur ganz selten mal nach Hause auf‘s Reservat, wo man ja sowieso nicht mehr hingehörte“, sagte Begay, der die staatlichen Indianerschulen auch noch kennengelernt hatte. „Aber Wolf walks alone hat einen starken Geist und hat ihnen widerstanden. Natürlich wurde er dann nur um so härter bestraft. Die Schüler in diesen Internaten wurden misshandelt und oft genug auch sexuell missbraucht. Schließlich ist er ihnen dann weggelaufen. Hat ganz auf sich gestellt in den Badlands gelebt und ab und zu ist er eine Weile bei Freunden oder Bekannten auf dem Reservat untergekommen. Aber die Behörden haben ihn gesucht. Deshalb musste er immer wieder untertauchen.“ „Dann haben Sie die Schule nicht beendet?“, fragte Begay. „Nein“, antwortete abermals Eagle Feathers für ihn, „aber halten Sie ihn deshalb nicht für ungebildet! Er hat die Weisheit unserer alten Leute in sich aufgesogen. Hat sich alles selber beigebracht. Und viele Bücher gelesen. en Sie bloß auf, wenn er ins Philosophieren kommt, hört er so schnell nicht wieder auf!“ Eagle

Feathers tätschelte fröhlich seinen Arm. „Ich habe gelesen, dass Sie schon 1972, also mit gerade mal fünfzehn Jahren, wegen schwerer Körperverletzung an einem US-Sheriff in Nebraska verhaftet wurden. Wie kam es dazu?“, wandte Begay sich an Wolf walks alone. „Das war nach der Ermordung von Yellow Thunder, einem Freund von mir. Zwei weiße Cowboys hatten ihn entführt und man hatte ihn gezwungen, nackt in einem Kriegsveteranenclub in Gordon, Nebraska zu tanzen. Die Schweine haben ihn gefoltert, indem sie Zigaretten auf seiner Haut ausdrückten! Als sie genug davon hatten, haben sie ihn im Kofferraum eines Autos eingeschlossen. Nackt, mehrere Tage lang! Er ist dabei gestorben. Sie haben die Leiche dann einfach irgendwo weggeworfen. Als sie gefunden wurde, hat der örtliche Sheriff befunden, dass es sich um einen Verkehrstoten in Folge von Alkoholkonsum handle und Yellow Thunder wurde sofort begraben, obwohl man der Leiche ja wohl ansah, was iert war! War ja nur ein Indianer! Die Eltern von Yellow Thunder wussten aber, dass er nie Alkohol getrunken hat und verlangten die Wiederaufnahme des Verfahrens. Schließlich baten sie das American Indian Movement um Hilfe und AIM besetzte die City Hall von Gordon und verlangte die Exhumierung des Opfers und weitere Untersuchungen. Ermittler von außerhalb haben daraufhin die Täter überführt. Ich bin bei einem Demonstrationszug durch Gordon in einen Kampf mit den Leuten des Sheriffs verwickelt worden und bin dafür ins Gefängnis gekommen. Und später wieder aufs Internat, von wo ich aber so schnell wie möglich wieder abgehauen bin. Die Mörder wurden übrigens zu jeweils fünf Jahren Haft verurteilt, die sie aber nie angetreten haben!“ Begay schüttelte bestürzt den Kopf, während Eagle Feathers ihn mit ausdrucksloser Miene beobachtete. „Wir haben dann 1981 ein Tipilager in den Black Hills nach Yellow Thunder benannt. Dort habe ich über fünf Jahre gelebt. Wir wollten versuchen, wie unsere Vorfahren auf unserem Land zu leben und damit auch unseren rechtmäßigen Anspruch bekräftigen. Gab aber immer wieder Ärger mit der Staatsanwaltschaft und schließlich wurde das Camp zerstört. Genauso lief es dann auch mit der Hoka Hey Tiospaye im Wambli Wakinyan, das heißt Donnervogel-Canyon“, fügte er hinzu, „das war 1987, hat mir auch ein halbes Jahr Gefängnis eingebracht. Aber immerhin haben wir verhindern können, dass sie dort ihre Atomwaffentests durchführen. Und heute habe ich nun mein eigenes Lager in

den heiligen Bergen.“ Wolf walks alone lächelte und sah über die dunklen Höhenzüge, die sich jenseits seiner Wiese aneinanderreihten. Im Westen begannen einige wenige lang gezogene Wolkenstreifen schon in der Abendsonne zu erglühen. Als Begay sagte, er müsse Eagle Feathers bald nach Pine Ridge zurückbringen, da er dann noch eine lange Fahrt vor sich habe, lud Wolf walks alone die beiden Männer ein, bei ihm in seinem Tipi zu übernachten. Er müsse selbst wieder einmal auf die Reservation zurück, sodass er Eagle Feathers am nächsten Tag fahren könne und Begay so den Umweg sparen könne. Begay hatte noch nie in einem Tipi geschlafen. Er nahm das Angebot gerne an, obwohl er ein etwas schlechtes Gewissen zwei Frauen gegenüber hatte: Susan Kaufman wusste jetzt seit zwei Tagen nicht, was er machte und seine Frau hatte er seit bald einer Woche nicht mehr angerufen. Er versuchte Kaufman über sein Handy zu erreichen, musste aber feststellen, dass er hier keinen Empfang bekam. Er steckte das Telefon weg und freute sich auf einen echten „India-nerabend“ mit Erzählungen am Lagerfeuer, den Geräuschen des sie umgebenden Waldes im Hintergrund und dem sternenübersäten Nachthimmel über ihnen. Die beiden Lakota waren ihm so sympathisch, dass er sich schwerlich vorstellen konnte, dass einer von ihnen der gesuchte Mörder sein könnte.

XX

Sie hatten zusammen gegessen. Wolf walks alone hatte ihnen von ihm selbst gemachten Pemmikan, die alte indianische Kraftnahrung aus getrocknetem Fleisch, Beeren und Fett sowie das Fleisch eines von ihm erlegten Maultierhirsches angeboten, Begay steuerte den Rest der Nahrungsmittel, die er im Wagen hatte, bei. Sie tranken Kaffee, die der Gastgeber in einer von Ruß geschwärzten Blechkanne direkt auf dem Feuer kochte. Das Wasser dazu schöpfte er aus dem leise vorbeiplätschernden Bach. Sie saßen vor der Kulisse des Tipis, das sich vor den schwarz aufragenden Baumwipfeln abzeichnete und lauschten den sporadisch erklingenden Rufen einer Eule, die mal ganz nah und dann wieder weit unter ihnen im Tal zu hören war. Über ihnen wölbte sich ein Nachthimmel, wie er nur in den Bergen und fernab jeder menschlichen Ansiedlung zu sehen ist. Die unendlichen Nebel der Milchstraße mit ihren unzähligen Sternen schienen zum Greifen nah. Das Bild erschien Begay aus einer anderen Zeit zu sein. Als ob sie den Zauber der Nacht nicht stören wollten, unterhielten sich die drei Männer mit gedämpften Stimmen. Begay fühlte sich an glücklichere Tage erinnert, als er mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen oder selbst noch als Junge im Schoß seiner Familie solche Nächte in der Bergwelt seiner Heimat verbracht hatte. Eagle Feathers hatte eine reich mit Fell und Federn verzierte Pfeife entzündet und reichte sie herum. Wie der Ältere es getan hatte, fächelte sich auch Wolf walks alone den Rauch des ersten Zuges zu und Begay tat es ihnen nach. Eagle Feathers sah Begay von der Seite an. „Arbeitest du gern für das Recht des weißen Mannes?“, fragte er. „Normalerweise arbeite ich für das Recht der Navaho Nation“, antwortete Begay, der auf diese Frage schon gewartet hatte. „Warum ich diesen Job übernommen habe, weiß ich nicht genau! Ich hatte das Gefühl, es sei richtig.“ Sein Blick ging durch seine Umgebung hindurch, als er fortfuhr: „Auf der Big Rez habe ich es selten mit Kapitalverbrechen zu tun. Mein Volk tötet nicht, weil das für uns eine Störung der kosmischen Harmonie bedeutet und etwas

Unnatürliches ist, schon gar nicht wegen Geld! Wenn so etwas vorkommt, dann geschieht es im Affekt oder unter Alkoholeinfluss. Und dann sind sowieso die Bundesbehörden zuständig! Wir beschäftigen uns mit Verkehrssündern, entlaufenem Vieh, kleinen Diebstählen, Aberglauben und Familienstreitigkeiten. Oft muss man da eher vermittelnd einschreiten, ehe es zu Auseinandersetzungen kommt. Oder man muss den Leuten helfen, wenn sie denken, dass ein Werwolf, ein Skinwalker oder Hexer umgeht. Wir arbeiten eng mit den Medizinmännern zusammen. Bei uns gibt es traditionell keine Häuptlinge“, fügte er erläuternd hinzu. „Für das Schlichten von Streitigkeiten zwischen den Clans oder Einzelnen sind die Medizinmänner zuständig. Wenn jemand etwas falsch macht, versuche ich, ihn zu verwarnen und von diesem Weg abzubringen. Einsperren tue ich selten jemand! Vielleicht werde ich deshalb nie befördert“, fügte er grinsend hinzu. „Das sieht auf unserer Reservation schon anders aus“, sagte Wolf walks alone. „Da ist Gewalt und Kampf an der Tagesordnung! Cowboy gegen Indianer. Traditionelle gegen Mischlinge, die sich benehmen wie Weiße. Allerdings ist es in den letzten Jahren nicht mehr so schlimm wie früher!“ „Da konnte man über jeden Tag froh sein, den man überlebt hat!“, warf Eagle Feathers ein. „Die Lakota sind eben ein Volk von Kriegern!“ „Aber ein Krieger ist für uns nicht jemand, der losgeht und andere Leute umhaut, sondern einer, der sein Volk beschützt“, sagte Wolf walks alone. „Früher waren von den Federn, die man als Auszeichnung für seine Taten erhielt, zum Beispiel immer die höher bewertet, die davon kündeten, dass man das Volk vor einem Feind gewarnt hatte oder eine Bisonherde entdeckt hatte, als die für Siege im Kampf.“ „Und selbst da war die Auszeichnung dafür, einen bewaffneten Feind mit der bloßen Hand oder dem Coup-Stab berührt zu haben, worauf der den Kampf aufgeben musste, höher als die für das Töten oder Verletzen eines Gegners“, fügte Eagle Feathers hinzu. „Will denn ein Mann, der Weiße tötet, nur weil sie Büffel jagen, wie in dem Fall, an dem ich arbeite, auch sein Volk beschützen?“, fragte Begay. Er hatte bisher noch nicht über dieses vermutete Motiv gesprochen. „Könnte sein“, sagte Eagle Feathers nachdenklich und nahm einen Schluck von

seinem Kaffee. „Vor hundert Jahren haben alle Stämme der Plains die Büffeljäger bekämpft, um überleben zu können“, sagte Wolf walks alone. „Die Büffel sind uns heilig! Und wir sind mit ihnen verbunden“, nahm Eagle Feathers den Faden wieder auf. „Sie haben wohl nur überlebt, weil wir Indianer ihnen einen Platz auf unseren Reservationen gaben und sie züchteten. Genau wie unseren alten Freunden, den Wölfen. Auch die haben ja nur auf Indianerreservationen überlebt, weil sie dort nicht geschossen wurden! Und wenn es jetzt wieder ein paar von diesen fast ausgestorbenen Tieren in Freiheit gibt, werden sie sofort gehetzt. Da kann man schon wütend werden!“ „Unsere Welt ist nicht vollständig ohne Wölfe und Bisons. Aber die Welt der Weißen ist in Unordnung, wenn es sie gibt! Das ist der Unterschied“, erklärte Wolf walks alone. „Ja, unsere Kultur ist eng mit dem Büffel verknüpft, bis heute“, sprach Eagle Feathers weiter. „Auch wenn wir früher einmal Bauern gewesen sind. Erst durch die Weißen haben wir das Pferd kennengelernt und durch die Weißen sind wir aus unserer alten Heimat im Osten vertrieben worden. Als es durch die weiße Invasion immer weniger Land für die indianischen Völker gab, haben uns unsere alten Feinde, die Ojibwa, die früher als wir Kontakt zu den Weißen hatten und ihre Feuerwaffen besaßen, aus dem Land an den Großen Seen vertrieben. Aber die Waschitschu haben uns auch hier nicht in Ruhe gelassen!“ „Sie werden nie Ruhe geben! Erst wenn alles zerstört ist! Die Weißen sind ein Krebsgeschwür, das sich immer weiter ausbreitet, bis es alles vernichtet hat, auch wenn es dabei selbst zu Grunde geht“, zischte Wolf walks alone. „Diese Insel bedeutet ihnen nichts! Sie ist für sie nur eine Durchgangsstation ins Weltall! Guckt Euch nur ihre Hä an, Mobil Homes, die man überall aufstellen, aber eben auch jederzeit wieder woanders hinfahren kann, um dort eine Weile zu leben! Nicht wie die alten Völker, die ihre Behausungen für die Ewigkeit gebaut haben. Und nicht wie unsere Vorfahren, deren Tipis man zwar auch schnell an einen anderen Ort bringen konnte, die aber immer in ihrer Heimat blieben und eine Verbindung zu ihrer heiligen Erde hatten.“ „Weißt Du“, ergriff Eagle Feathers das Wort, „ich glaube, diese Mobilität haben sie von uns übernommen. Die Amerikaner sind viel mehr von uns beeinflusst,

als sie selbst wissen! Nicht nur die Namen ihrer Städte und Staaten, von Bergen, Flüssen und Seen sind indianisch und nicht nur ein paar Feste oder die Lebensmittel, die sie von uns übernommen haben. Ich denke, auch diese nomadische Lebensweise kommt daher! Aber wie du schon sagtest, unsere Vorfahren waren frei in einem bestimmten Gebiet, in dem sie immer wieder zu denselben Plätzen zurückgekehrt sind, zu heiligen Stätten und den Gräbern ihrer Ahnen. Sie waren aufs Engste verbunden mit ihrer Heimat und allem, was dazu gehörte, obwohl oder gerade weil sie sich darin frei bewegten. Die Amerikaner sind nicht wirklich frei, obwohl sie ständig hin und her ziehen auf der Suche nach irgend etwas! Wie man wirklich frei lebt, in Verbindung zur Erde und zu den Menschen, und das daraus Glück erwächst, das haben sie leider nicht gelernt. Sie sind nur auf einem Ego-Trip, der ihnen keine Befriedigung verschafft, weil ihnen die Verbindung fehlt!“ „Die Weißen haben keine Verbindung mehr zu irgend etwas! Und jetzt, da unsere Mutter Erde zu Grunde zu gehen droht, strecken sie die Hand aus nach anderen Sternen, um dort ihre Mobil Homes aufzustellen“, sagte Wolf walks alone. Begay konnte darauf nichts antworten. Er war zu erstaunt, seine ureigensten Gedanken hier aus dem Mund anderer Menschen zu hören, die er noch dazu erst vor wenigen Stunden kennengelernt hatte. „Ich habe lange genug unter Weißen gelebt, in Minneapolis und anderswo“, fuhr Wolf walks alone fort, „ich habe sogar das gehabt, was sie unter „Freunden“ verstehen. Aber man kann ihnen nicht trauen! Sie betrügen sich alle gegenseitig! Der Bruder betrügt den Bruder und der Vater den Sohn, zumindest sobald es um genügend Geld geht.“ „Ja, die alte grüne Froschhaut macht sie total wahnsinnig“, feixte Eagle Feathers und sie lachten alle. „Unsere Leute können in ihren Städten nicht leben! Wenn sie Geld verdienen, schicken sie es nach Hause zu ihrer Familie oder ihrem Tiospaye. Dafür werden sie von den Weißen verachtet, weil sie es nicht zu Wohlstand bringen. Die Waschitschu haben keine Beziehung zu irgend etwas, deshalb können sie sich alles in die eigene Tasche stecken, egal, ob neben ihnen jemand verreckt. Indianer gehören auf Grund ihrer Kultur und ihrem Glauben immer zu einem größeren Ganzen und können sich deshalb nicht auf Kosten anderer bereichern!“

„Ja, wie sagte schon der große Red Cloud am Ende seines Lebens so zynisch, als er die Weißen kennengelernt hatte? Man müsse nun die Hungernden vergessen, und Vorräte anhäufen, seinen Nachbarn überfallen und ihm alles wegnehmen“, zitierte Eagle Feathers.

Sie saßen eine Weile schweigend da und lauschten den Geräuschen der Nacht. Dann sagte Wolf walks alone: „Viele unserer Brüder und Schwestern warten ja nur darauf, dass die Weißen sich endlich selbst vernichten. Sie hoffen, dass ihre Seher es ihnen rechtzeitig vorher mitteilen und sie in die großen Höhlen im Süden hinabsteigen und dort so lange bleiben werden, bis ihnen ein Zeichen gesendet wird, dass ein Leben an der Oberfläche wieder möglich ist. Dort gibt es Wasser und sie haben schon lange Vorräte hinab gebracht.“ Eagle Feathers und Begay nickten, um zu zeigen, dass sie davon wussten. „In den Legenden der Navaho haben wir die Prophezeiung, dass die jetzige Vierte Welt je nach Version mit einer großen Flut oder aber dem Erkalten der Sonne endet und das Volk sich in Höhlen zurückziehen muss, um dort zu überleben.“ Die beiden Lakota hörten Begay aufmerksam zu. „Ich fürchte nur, wenn die Weißen zum Beispiel die Erde radioaktiv verseuchen, wird man da unten auch nicht davon verschont bleiben“, fügte er hinzu. „Du denkst wie ein Weißer“, sagte Eagle Feathers, „aber so funktioniert das nicht! Das ist eine Sache des Glaubens! Daran, dass die gute Macht letztendlich siegt!“ Begay schwieg beklommen. Durch und durch in der traditionellen Weltsicht der Dineh verankert, hatte er doch auch das wissenschaftliche Denken der weißen Kultur angenommen. Es fiel ihm leichter, mystische und religiöse Erfahrungen zu akzeptieren, wenn er sie auch logisch erklären oder als Symbole deuten konnte. Wie viele heutige Indianer pendelte er zwischen diesen beiden Denkmodellen, aber bisher hatte er meist das Gefühl gehabt, es auf seine eigene Weise verbinden zu können, Gefühl und Verstand in Einklang zu bringen. So erschien ihm der christliche Glaube an einen bärtigen alten Gott im Himmel, der einen Sohn zeugte, ohne eine Frau zu berühren, viel schwerer mit einem

wissenschaftlichen Ansatz in Einklang zu bringen, als die Religion der Dineh, die keinen höchsten Gott kannte, sondern die als höchste Instanz die universelle Harmonie verehrte, in der jedes Teil mit jedem anderen verbunden war. Viele althergebrachte indianische Vorstellungen schienen mit einer wissenschaftlichen Denkweise nicht zu kollidieren. Aber ein echtes religiöses und spirituelles Erlebnis war eben doch noch etwas anderes als Psychotherapie, als eine symbolische Handlung oder als eine soziale Erfahrung. Wann hatte er das vergessen? Schon früher an diesem Tag, als Eagle Feathers auf dem heiligen Berg Regen gemacht hatte, war sein selbstzufriedenes, modernes Weltbild ins Wanken gekommen. Als hätte er Begays Gedanken gelesen, fuhr Eagle Feathers fort: „Die Weißen haben ihre eigene Religion längst zerstört. Ich war selbst eine Zeit lang auf dem Jesus-Weg, habe die Bibel in- und auswendig gelernt. Mit dem Alten Testament konnte ich nie viel anfangen, mit diesem eifersüchtigen Gott, der blutrünstige Opfer verlangt und die Menschen massakriert, wenn sie nicht tun, was er will und dabei gleich noch alle anderen Lebewesen vernichtet. Aber die Lehren Jesu´ gefallen mir sehr gut. Er war ein großer Schamane! Denn alles, was er gemacht hat, war schamanistisch: Über Feuer oder Wasser gehen ist eine Technik der Schamanen. Auch Dinge verwandeln, wie Wasser in Wein oder Brot in Fleisch und so, ist eine alte schamanistische Übung. Aber besonders die Himmelfahrt und die Wiederauferstehung, also sterben und später wieder erwachen, macht jeder Schamane weltweit. Am besten am siebten Tage, denn die Sieben ist die schamanistische Zahl. Aber das hören die Christen nicht so gerne. Deshalb haben sie ja auch verboten, dass heute noch Wunder geschehen dürfen!“ Eagle Feathers kicherte. „Wenn man Euch zuhört, könnte man denken, die Weißen sind komplette Trottel“, bemerkte Begay. „Sind sie ja auch“, meinte Wolf walks alone grimmig. „Jedenfalls überschätzen sie sich selbst ungeheuer“, antwortete Eagle Feathers. „Immerhin haben sie unsere Vorfahren besiegt und uns ihre Lebensweise aufgezwängt“, gab Begay zu bedenken, „mehr oder weniger.“ „Sie waren Millionen, wir nur wenige, und sie hatten die besseren Waffen“, antwortete Wolf walks alone.

„Ja, ihre Überlegenheit war immer rein technisch“, sagte Eagle Feathers. „Die Weißen sind gut darin, sich die Natur zu Nutze zu machen, Dinge funktionieren zu lassen, aber ohne sie wirklich zu verstehen. Geistig waren sie uns nie überlegen.“ „Außerdem haben gebrochene Verträge, Krankheiten, Alkohol und die Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen viel mehr zum Sieg über die indianischen Nationen beigetragen als militärische Erfolge. Bei aller technischen Überlegenheit“ ergänzte Begay selbst. Ein leichter Windstoß fuhr in das Feuer und ließ glühende Funken in den Nachthimmel aufsteigen. Sie saßen einen Moment schweigend da und lauschten dem Wind in den Baumwipfeln und dem ab und zu hörbaren Knacken der Holzscheite in den Flammen.

„Ich muss mal pissen“, meinte Eagle Feathers abrupt. „Begleitest du mich, Wolf walks alone?“ Begay blieb allein mit seinen Gedanken und stocherte mit einem Stock in der Glut, um halb verbrannte Holzscheite wieder aufzurichten. Als die beiden zurückkamen, sagte Eagle Feathers: „Frank, unser Freund vom Stamm der Dineh, ich wollte mich kurz mit Wolf walks alone besprechen. Wir haben diesen Abend zusammen gegessen und getrunken und miteinander geredet und unsere Gedanken geteilt. Und wir haben festgestellt, dass wir in vielem ähnliche Ansichten haben und uns gegenseitig verstehen. Wir wollen Dir anbieten, eine Zeremonie mit uns zu begehen. Es ist eine der sieben heiligen Riten der Lakota und wird nicht mehr oft abgehalten. Aber wir glauben, dass das Abhalten der Riten für unsere Mutter Erde und für den Großen Geist Wakan Tanka von Nutzen ist, wie auch für uns Menschen und wollen dich damit ehren und den heiligen Kreis des Lebens stärken!“ Begay fühlte sich in der Tat geehrt und stimmte gerne zu. „Wir nennen die Zeremonie „Verwandtemachen“. Sie wird abgehalten, um einzelne Personen in Frieden und Freundschaft zu verbinden. Normalerweise dauert der Ritus mehrere Tage“, fuhr Eagle Feathers fort, „aber wir können ihn heute Nacht und morgen früh etwas abgewandelt durchführen.“ Eagle Feathers bat Begay, zwei der Maiskolben aus seinem Lebensmittelvorrat zu nehmen und ging voran ins Zelt. Im Tipi säuberte er eine Stelle auf dem

Boden von Gras und bat Wolf walks alone, fünf Stücke glühender Holzkohle dorthin zu bringen. Als er das erledigt hatte, streute er etwas Süßgras darauf und betete. Anschließend weihte er die Maiskolben und andere Gegenstände, die zu der Zeremonie benutzt werden sollten, über dem Rauch. Er errichtete ein Gerüst aus drei Stöcken und lehnte seine Pfeife dagegen. Außerdem legte er eine lederne Feldflasche aus Wolf walks alones Besitz davor und erklärte, sie stehe für die Büffelblase, die früher als Wasserbehälter benutzt wurde und die vielen Völkern heilig gewesen sei, da sie symbolisch das ganze Weltall enthalten konnte. Danach betete er gegen Westen gewandt, eine Prise Tabak in der Hand. Anschließend füllte er den Tabak in die Flasche. Er hatte damit die Macht des Westens symbolisch mit dem Tabak gleichgesetzt und in dem Behälter verwahrt, erklärte Wolf walks alone Begay. Er wiederholte diese Zeremonie gen Norden, Osten und Süden, zuletzt zum Himmel und zur Mutter Erde gerichtet. Zuletzt schloss er die Lederflasche, band etwas Büffelhaar und Süßgras daran fest und schlug sie in einem großen Stück Wildleder ein. „Mein Freund vom Stamm der Navaho, ich vertraue Dir diesen Beutel an, in dem die Macht Wakan Tankas, der Mutter Erde und der vier Weltgegenden enthalten ist, er ist jetzt dasselbe wie die heilige Pfeife, die einst den Lakota gebracht wurde und die zwischen den Stämmen Frieden und Verwandtschaft gebracht hat. Verwahre ihn gut bis morgen, denn mit ihm soll die Verwandtschaft gemacht werden.“ Eagle Feathers erklärte Begay, wie die Zeremonie am nächsten Morgen weitergehen sollte, dann gingen die drei Männer zu Bett. Zwischen ihnen herrschte die entspannte Atmosphäre, wie sie unter Männern typisch ist, die befreundet sind oder sich zumindest mögen und in einem Raum zusammen übernachten. Die glimmenden Holzkohlen warfen ein schwaches rötliches Licht an die Zeltwand und verbreiteten eine angenehme Wärme. Eagle Feathers begann nach kurzer Zeit leise zu schnarchen. Von Wolf walks alone war nichts zu hören. Begay fühlte sich wohl in der Anwesenheit der beiden Männer. Obwohl er todmüde war, lag er noch lange wach und dachte über den vergangenen Tag nach, das heilige Bündel neben seinem Kopf.

Als Begay wach wurde, konnte er durch die aufgeschlagene Zeltöffnung die aufgehende Sonne sehen. Die beiden Lakota waren schon aufgestanden. Sie hatten sich bereits gewaschen und den neuen Tag mit einem Gebet begrüßt.

Begay beeilte sich, zum Bach zu kommen, um sich ebenfalls dort frisch zu machen. Das eiskalte Wasser vertrieb jede Müdigkeit sofort. Auch er betete zur Morgenröte und opferte eine Prise Maispollen aus seinem Medizinbeutel. Als Begay ins Tipi zurückkehrte, entzündete Eagle Feathers die Pfeife, bot sie den sechs Richtungen dar und gab sie, nachdem er einige Züge geraucht hatte, an Begay weiter. Nachdem der ein paar Züge genommen hatte, gab er sie an Wolf walks alone weiter. Als sie alle geraucht hatten, nahm Begay das Bündel, ging einmal dem Lauf der Sonne folgend einen Kreis ab und legte es dann vor Eagle Feathers nieder. Der verbrannte wieder etwas Süßgras und hielt das Bündel über den aufsteigenden Rauch. Er betete zum Großen Geist und knüpfte das Bündel auf. Er hielt die Lederflasche über den Rauch und bot sie den sechs Richtungen an. Dann fragte er Begay, ob dieser die Verwandtschaft mit ihm vollziehen wolle. Begay schoss durch den Kopf, ob das Probleme bei der Ausübung seiner Arbeit bedeuten konnte, aber er verscheuchte den Gedanken schnell wieder. Ergriffen von der andächtigen Zeremonie sagte er, dass er die Verwandtschaft besiegeln wolle. Das Gleiche wiederholte sich mit Wolf walks alone. Eagle Feathers gab die Flasche an Wolf walks alone weiter, der sie an einer bestimmten Zeltstange aufhing. Diese achtundzwanzigste Stange stellte symbolisch Wakan Tanka dar, da sie alle anderen Stangen stützte und damit eine heilige Stelle innerhalb des Tipis war. Außerdem multiplizierte sich die heilige Zahl achtundzwanzig aus der heiligen Zahl vier, die für die vier Himmelsrichtungen stand und der schamanistischen Zahl sieben, die auch für die sieben großen Riten der Lakota-Kultur stand. Eagle Feathers erklärte, dass damit ein weiterer Teil der Zeremonie abgeschlossen war und dass sie nun erst mal frühstücken sollten. Begay war erstaunt, wie abrupt der Medizinmann zu solchen profanen Dingen zurückkehren konnte, andererseits kannte er das auch von den yataalii der Dineh, für die die heiligsten Handlungen eben auch nicht in einem weltfremden Raum stattfanden, sondern Teil des alltäglichen Lebens waren. Der letzte Teil der Zeremonie, der eigentlich an einem weiteren Tag stattfinden sollte, würde dann nach dem Frühstück abgehalten, erklärte Eagle Feathers. Als sie gegessen hatten, setzte er sich auf die Westseite des Tipis, verbrannte wiederum Süßgras auf den Holzkohlen und läuterte die Zeremonialgegenstände über dem Rauch. Daraufhin nahm er ein Beil von den Gegenständen, hielt es in die sechs Richtungen und schlug damit im Westen auf den Boden. Er wiederholte das und schlug damit im Norden auf die Erde. Den ganzen Vorgang wiederholte er mit dem Osten, Süden und dann, indem er das Beil gen Himmel

hob und zweimal für die Erde und zweimal für den Großen Geist auf den Boden schlug. Danach nahm er einen geweihten Stab, hielt ihn in die sechs Richtungen und zog dann von Westen eine Linie zur Mitte, danach von Osten zur Mitte, von Norden und schließlich von Süden. Zuletzt hielt er den Stab zur Erde und berührte wieder den Mittelpunkt. „Ich habe jetzt den heiligen Altar errichtet, denn hier ist nun der Mittelpunkt der Erde, der in Wirklichkeit überall ist, der Sitz des Großen Geistes.“ Er nahm einen Maiskolben, bohrte einen Stock ins untere Ende und band eine Flaumfeder an die Spitze. „Dieser Mais gehört den Dineh und er ist für sie so wichtig, wie für uns unsere heilige Pfeife. Deshalb soll er ihnen zurückgegeben werden. Die Quaste, die an der Spitze des Maiskolbens wächst, und die wir durch eine Feder darstellen, ist sehr heilig, sie bedeutet die Anwesenheit des Großen Geistes, denn wie der Pollen der Quaste überall Leben verstreut, so ist es mit Wakan Tanka, der allen Dingen Leben verleiht. Der Stab, den ich in den Kolben gesteckt habe, ist der Lebensbaum, der von der Erde bis in den Himmel reicht. Die Frucht, die der Kolben mit all seinen Körnern ist, stellt das Volk dar und alle Dinge des Weltalls.“ Er lehnte den Maiskolben gegen das Gerüst, das neben dem Altar stand, und das, wie er erklärte, ein Abbild des Gestelles zum Trocknen von Büffelfleisch war. Dass es jetzt den Mais hielt, stelle dar, dass das Getreide für andere Völker so wichtig sei wie der Bison für die Lakota. Dann gab er Begay den zweiten Maiskolben und sagte, dass der Mais damit zu den Dineh zurückkehre, um die Verwandtschaft mit ihnen zu begründen. Jetzt kam der Teil der Zeremonie, vor der Begay sich am meisten scheute. Er sollte hinausgehen und symbolisch auf den Kriegspfad gegen die Lakota gehen. Zum Glück kannte er den Gesang des Sieges über die Feinde, den er nun vor dem Tipi anstimmte. Als er das Zelt wieder betrat, nahm er die Lakota symbolisch gefangen. An der Westseite des Tipis lagen auf den Decken, in denen er geschlafen hatte, Geschenke für ihn, ein wunderschöner Fächer aus Federn und eine reich verzierte Pfeife. Begay legte zwei Türkissteine aus seinem Medizinbeutel als Geschenk an die beiden Männer daneben. Als die Geschenke ausgetauscht waren, musste Begay die Gesichter der Lakota bemalen. Diese Bemalung stehe für die Veränderung, die Geburt in eine neue Verwandtschaft, erklärte Eagle Feathers. Normalerweise müsse sie hinter einem Vorhang vorgenommen werden, damit niemand es sehe und das Wegziehen des Vorhanges sei dann der Moment, in dem die Bemalten rein und unschuldig in die neue Verwandtschaft geboren würden. Begay nahm die Federn

von der Spitze der beiden Maiskolben und steckte sie den Lakota ins Haar. Anschließend wurde ein Bison-schädel rot bemalt, mit vier Linien für die vier Himmelsmächte, und mit dem Maul gen Westen auf eine Erhöhung gelegt, die aus der für den Altar weggekratzten Erde gemacht worden war. Eagle Feathers betete mit erhobenen Armen, die Pfeife in einer Hand, in der Mitte des Tipis. Sie setzten sich, Büffelschädel und Pfeife vor Eagle Feathers und Wolf walks alone, die Maiskolben vor Begay liegend, zu Boden. Begay musste nun den beiden je ein Stück getrocknetes Fleisch in den Mund legen und Eagle Feathers schob ihm ein Stück davon in den Mund, nachdem er es wie vorher Begay über dem Rauch gereinigt hatte und sagte: „Jetzt sind wir Verwandte! Wakan Tanka hat unsere Gesichter gesehen, die Morgendämmerung hat uns gesehen, unsere Altmutter Erde hat uns gehört. Wir sind hier in der Mitte und die Mächte des Weltalls vereinigen sich in uns. Dieses Fleisch will ich in deinen Mund legen und von heute an sollst du unser Heim nie fürchten, denn unser Heim ist dein Heim und du bist unser Sohn. Lasst uns rauchen, ganz mit Aufrichtigkeit im Herzen!“ Er entzündete ein letztes Mal die Pfeife, bot sie den sechs Richtungen dar und gab sie, nachdem er vier Züge getan hatte, an die beiden anderen weiter. Die Zeremonie war beendet.

XXI

Begay fuhr auf der Interstate 90 Richtung Norden. Er hatte die Weite der Great Plains hinter sich gelassen und bewegte sich jetzt entlang der Bergkette der Bighorn Mountains auf die Grenze nach Montana zu. Über den Bergen, deren bewaldete Ausläufer sich wie Finger eines Riesen weit in die Hügellandschaft des Graslandes vorschoben, um dann nur noch als dunkle Farbtupfer in der unermesslichen Weite an den Wald zu erinnern, wölbte sich ein strahlend blauer, wolkenloser Himmel. Die Fenster einzeln stehender Farmgebäude reflektierten von Zeit zu Zeit das Sonnenlicht und warfen es über viele Meilen Prärie zurück, wo es als kurzer Lichtblitz Begays Augen blendete. Er hatte sich für den Nachmittag in Billings angekündigt. Kaufman war besorgt gewesen, weil sie so lange nichts von ihm gehört hatte. Sie würden dann später das weitere Vorgehen besprechen. Im Moment war er froh, seinen eigenen Gedanken nachhängen zu können. Er erinnerte sich an die Gespräche des vergangenen Abends und an das Ritual, das sie zusammen durchgeführt hatten, in jeder Einzelheit. Als Angehöriger einer Kultur, die bis heute komplizierteste rituelle Formeln und Handlungen und religiöse Inhalte ausschließlich mündlich weitergibt, fiel ihm das nicht schwer. Er empfand es nicht einmal als etwas Besonderes. Während er über die Symbolik der vielen einzelnen Handlungen, die sie begangen hatten, nachdachte, beschlich ihn wieder das Gefühl, dass er sich vielleicht zu weit darauf eingelassen hatte. Hätte er eine professionelle Distanz einhalten müssen, wie man es ihm beigebracht hatte? Schon ihre Gespräche waren von einer erstaunlichen Vertrautheit gewesen. Und würde das Verwandtschaftsritual, auf das er sich eingelassen hatte, seine Arbeit beeinflussen? Was würde geschehen, wenn einer der beiden der gesuchte Täter war? Eagle Feathers schied seiner Meinung nach aus. Er hatte für einige Tatzeiten ein Alibi, hatte nicht das richtige Auto und war nach Begays Einschätzung des Mörders auch etwas zu alt. Aber Wolf walks alone te durchaus in das bisher erarbeitete Täterprofil. Begay hoffte, dass er nichts mit dem Mord zu tun hatte. Ebenso wie den älteren Mann mochte Begay ihn sehr und es würde ihm

schwerfallen, ihn zu verfolgen. Am späten Nachmittag kam er in Billings an. Susan Kaufman fiel ihm um den Hals, als er ihr Büro betrat, ließ ihn allerdings schnell wieder los und stand dann etwas verlegen vor ihm. Obwohl ihre Umarmung sich gut anfühlte, konnte er sie nicht erwidern und ärgerte sich über seine steife Art. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie meisterte die Situation, indem sie sofort auf den Fall zu sprechen kam. Begay berichtete, was seine Gespräche mit den Personen des möglichen Täterkreises und die der Lakota-Stammespolizei ergeben hatten. „Die meisten Befragten haben ein Alibi zumindest für einige Tatzeiten“, sagte er, „die einzigen beiden, die keine Alibis vorweisen können, mobil und ungebunden genug zu sein scheinen, um in Frage zu kommen und auch sonst ins Täterprofil en könnten, sind Martin Many Horses Butler und Jimmy Wolf walks alone. Alle anderen würde ich zunächst nicht in Betracht ziehen.“ „Dann sollten wir die Autos dieser beiden auf Spuren der Opfer durchsuchen lassen“, sagte Kaufman. „Ja, allerdings kann es auch sein, dass wir mit unserer Personengruppe völlig falsch liegen“, gab Begay zu bedenken. „Okay, aber es ist alles, was wir im Moment haben.“

Sie beschlossen, das FBI in Rapid City und die Lakota Tribal Police zu bitten, die Kleinlaster von Wolf walks alone und Butler baldmöglichst abzuholen und im nahen Rapid City von der Spurensicherung untersuchen zu lassen. Kaufman verschwand, um ihren Chef ein paar diesbezügliche Telefonate führen zu lassen und kam nach etwas über einer halben Stunde zurück. Die Fahrzeuge würden spätestens am nächsten Morgen von Stammespolizei und FBI-Beamten sichergestellt, berichtete sie.

Begay verabschiedete sich kurz darauf. Er freute sich auf eine heiße Dusche, ein warmes Abendessen und viel Schlaf. Am nächsten Tag gab es für ihn nichts zu

tun, als auf die Untersuchungsergebnisse zu warten, also konnte er ein paar dringend notwendige Besorgungen machen und sich ein bisschen ausruhen. Und er musste seine Frau anrufen.

Als er zu Hause anrief, meldete sich dort niemand, sodass er das Gespräch auf den nächsten Tag verschob. Einen Anrufbeantworter hatten sie nicht. Schon der Besitz eines Telefons war auf der Reservation bis heute die Ausnahme, aber in seinem Job musste er oft unerwartet weit entfernt von daheim übernachten, so dass sie das Telefon brauchten, damit er wenigstens Bescheid geben konnte. Am nächsten Abend erreichte er endlich seine Frau. Sie erzählte, dass sich ein Schaf aus ihrer kleinen Herde ein Bein gebrochen habe und sie es hätten töten müssen. So seien sie erst spät am vorangegangenen Abend nach Hause gekommen. Jetzt werde es für längere Zeit Schafsfleisch zu essen geben, sagte sie. Sie hatten Besuch gehabt, berichtete sie weiter, von weit entfernten Verwandten aus dem Bitter Water Clan ihrer Mutter. Diese waren vor ein paar Jahren auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen nach Tucson gezogen. Über Nacht waren sie auf diese Weise von autarken Schafzüchtern und Farmern in der Wildnis am Big Mountain zu Wohlfahrtsempfängern in der Großstadt geworden. Sie schienen mit dem Leben in der Stadt überhaupt nicht klar zu kommen und besuchten, wenn sie auf der Reservation waren, auch ihre noch so entfernten Verwandten. Kein Wunder, dachte Begay, ich komme mit dem Leben hier auch nicht klar. Aber er sagte es nicht laut. Kathy erzählte weiter von den Vorkommnissen der letzten Zeit, unter anderem auch, dass der Stammesrat seine Pläne zur Errichtung eines Skigebietes in einer Berggegend der Reservation, die bei den traditionellen Dineh auf starke Gegenwehr gestoßen waren, wohl endgültig aufgegeben hatte. Die Gesellschaft der Navaho-Medizinmänner hatte dem Stammesrat gedroht, seine Mitglieder mit einem Fluch zu belegen, worauf diese das Projekt wie eine heiße Kartoffel hatten fallen lassen. Begay schmunzelte angesichts dieser Machtdemonstration der Tradition gegen die Moderne. Er erzählte, was sich bei ihm zugetragen hatte und versprach, bald nach Hause zu kommen. Er redete noch mit Daniel, der heute ziemlich guter Laune war. Das schien an seiner neuen Freundin zu liegen, von der er erzählte und was an sich nichts wirklich Neues war.

Nachdem er sich verabschiedet hatte, saß er noch lange da und dachte über das Gespräch nach. Er sehnte sich nach zu Hause, nach Kathy, Daniel, seinen Verwandten und Freunden und nach seiner Heimat, Dinehtah, dem Land zwischen den heiligen Bergen. Er kannte die vier heiligen Berge gut, die nach der Mythologie der Dineh vom Ersten Mann geschaffen worden waren, um das Dinehtah zu beschützen. Immer wieder sah er sie von verschiedenen Blickrichtungen auf dem Reservat. Als er jünger gewesen war, hatte er wie viele Dineh eine Pilgerreise zu diesen mythischen Orten unternommen und in den Gipfelregionen die für den jeweiligen Berg typischen Pflanzen und Steine gesammelt, die er sein Leben lang aufbewahren würde. Der Dibe Nitsaa, den die Weißen Mount Hesperus nannten und der Sis Naajini oder Blanca Peak, beide über viertausend Meter hoch, lagen im Norden und Nordosten. Der Tsoodzil, der Türkisberg, den die Weißen Mount Taylor nannten, lag im Südwesten und der Dookóoosliid, der höchste der San Francisco Peaks, im Süden des NavahoLandes. Der Gedanke an die weite, karge Schönheit der Landschaft seiner Heimat, in deren Hintergrund meist die lange Zeit im Jahr schneebedeckten Hänge eines dieser Giganten zu sehen waren, rief bei ihm eine wohltuende Traurigkeit hervor. Vor seinem inneren Auge erschienen die Landschaften, die er sich in allen Einzelheiten immer wieder eingeprägt hatte, in denen er sein ganzes Leben verbracht hatte und die ihn geformt hatten.

XXII

Als Begay am nächsten Morgen die FBI-Zentrale betrat, herrschte dort bereits hektische Betriebsamkeit. „Wir haben ihn“, rief ihm Kaufman schon in der Tür zu. „Es ist dieser Jimmy Wolf walks alone! Das Labor hat zweifelsfrei Blutspuren von Robert Mitchell und Will Jennings an seinem Pick up feststellen können!“ Begay erschrak. Er hatte es wohl schon geahnt, aber sich nicht eingestehen wollen: Der Mann, mit dem ihn eine rituelle Verwandtschaft verband und den er mochte, war der Mörder, den er suchte! Konnte jemand anderer Wolf walks alones Wagen benutzt haben? Eher unwahrscheinlich! Nein, die Sache schien ziemlich klar zu sein. „Kommen Sie, wir müssen los“, riss Susan ihn aus seinen Gedanken. „Die Kollegen aus Rapid City warten auf uns, damit wir die Verhaftung leiten können!“ Kurz darauf saßen Susan und er in seinem Wagen und jagten Richtung Osten.

Einige Stunden später reihten sie sich in einen Tross aus FBI-Fahrzeugen aus Rapid City ein. An der Grenze zu Pine Ridge gesellten sich außerdem noch Wagen der Lakota Tribal Police dazu. Die kleine Streitmacht rollte durch das Grasland der Reservation, argwöhnisch beobachtet von den Bewohnern, denen sie begegnete. Als sie das kleine, einzeln stehende Holzhaus von Wolf walks alone nahe der Ortschaft Oglala erreichten, war es bereits Nachmittag.

Begay bat, zunächst allein zum Haus gehen zu dürfen, was dem leitenden Beamten aus Rapid City überhaupt nicht gefiel. Trotzdem stand er kurz darauf, nur begleitet von Sergeant Sundancer von der Stammespolizei, vor der Haustür. Bevor sie anklopfen konnten, öffnete Wolf walks alone. Er lächelte und nickte

den beiden zu. „Da seid ihr ja! Habt ihr es also herausgefunden“, fragte er freundlich. Begay kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals: „Ja“, brachte er nur hervor. Wolf walks alone sah ihm offen ins Gesicht. „Was ich nicht verstehe“, sagte Sergeant Sundancer und schüttelte den Kopf, „warum hast du diese ganzen Leute umgebracht? Dachtest du, du könntest damit die Büffel retten?“ „Ein paar vielleicht“, antwortete Wolf walks alone leise. Einen kurzen Moment standen die drei Männer da, ohne dass einer von ihnen etwas gesagt hätte. Ein warmer Windstoß fuhr über die von eben diesem unermüdlichen Präriewind gebeugte Veranda des Hauses und spielte mit den langen Haaren der beiden Lakota. Sundancer sah Begay aus den Augenwinkeln an und als dieser keine Anstalten machte, die Initiative zu ergreifen, sagte er: „Wir müssen dich verhaften, Jimmy!“ „Nein, ich komme nicht mit Euch“, erwiderte Wolf walks alone und hob ein Gewehr hoch, das offensichtlich schon an der Wand neben der Haustür gelehnt hatte. „Ihr geht jetzt besser von der Tür weg“, fügte er deutlich lauter hinzu. Mit diesen Worten machte er einen Schritt nach hinten und warf die Tür zu. Fast im selben Augenblick schlugen auch schon Schüsse in das Holz ein. Begay und Sundancer zogen die Köpfe ein und rannten von der Veranda herab. „Nicht schießen!“, schrie Begay. Aber es war zu spät. Ein Kugelhagel riss einen Regen von Holzsplittern aus der Wand und wurde von einzelnen, wohl aus einem Fenster abgegebenen Schüssen beantwortet. Glas splitterte und als Begay sich zu dem Haus umwandte, konnte er die Löcher der aus den Schnellfeuergewehren abgeschossenen Projektile die Wände entlang rasen sehen. Die Beamten hatten das Haus sofort umstellt und das Feuer von allen Seiten eröffnet. Aus dem Gebäude kam keine Gegenwehr mehr. Kaum vorstellbar, dass jemand darin den Geschosshagel hätte überleben können, dachte Begay. Das Feuer war jetzt eingestellt worden. Von allen Seiten näherten sich Männer

mit Gewehren und Handfeuerwaffen im Anschlag und schusssicheren Westen, die die Aufschrift FBI trugen, dem Haus. Auch Begay und Kaufman, die auf einmal neben ihm war, gingen darauf zu. In diesem Moment hörten sie hinter dem Haus einen Schrei. Ein großer Hund oder Kojote preschte plötzlich überraschend durch die Reihen der Beamten und entkam im hohen Gras. Seltsam, dachte Begay, dass das Tier sich bei diesem Gewitter aus Schüssen so lange im Gras versteckt gehalten hatte. Die Männer hatten ihren Schrecken überwunden und gingen weiter auf das Gebäude zu, während an der Vorderseite im gleichen Augenblick die Tür eingetreten wurde. Mehrere Beamte drangen sofort ein und sicherten professionell nach allen Seiten. Auch Begay stand plötzlich im Inneren des Hauses. Als seine Augen sich vom Licht der sonnendurchfluteten Prärie draußen an das Halbdunkel im Raum gewöhnt hatten, sah er zu seiner Verwunderung keine Spur von Wolf walks alone. Keine Leiche, kein Verletzter, kein Blut. Die Beamten, die bereits die wenigen anderen Räume des kleinen Hauses gesichert hatten, sahen ziemlich verdutzt aus. Offensichtlich war auch dort nichts von ihm zu sehen. Hetfield, der leitende Beamte aus Rapid City, und Kaufman schrien durcheinander, wahrscheinlich machten sie sich gegenseitig Vorwürfe. Keiner konnte sich vorstellen, wie jemand aus dieser Falle hätte entweichen können. Sergeant Sundancer stand an einem zerschossenen Fenster, an dem sich die Gardinen im lauen Sommerwind bewegten und starrte auf das unendliche Grasland davor. Er schien seine eigene Theorie zu haben.

XXIII

Jimmy Wolf walks alone blieb verschwunden. So sehr die Beamten auch das kleine Haus und die angrenzende Landschaft durchsuchten, es war keine Spur von ihm zu finden. Hetfield war außer sich und beschuldigte alles und jeden. Auch Susan Kaufman schien fassungslos zu sein. Die FBI-Leute schwärmten aus, um im weiteren Umfeld zu suchen. Angeforderte Kräfte der umliegenden Sheriff-Stationen sollten mit den Federals und der Stammespolizei zusammen Straßensperren an den Ausfallstraßen errichten. Begay hatte hier nichts mehr zu tun. Da sie in der Gegend bleiben mussten, lud Susan ihn ein, mit ihr bei ihrem Vater zu übernachten, was er in Erinnerung an das letzte Mal freundlich ablehnte. Sie wirkte sehr niedergeschlagen, als sie sich verabschiedeten.

Begay wollte sich ein Zimmer in irgend einem Motel nehmen und nur noch schlafen. Die Anspannung und der Schrecken des Tages hatten ihn unendlich müde gemacht. Als er zu seinem Wagen zurückging, sah er Vernon Eagle Feathers etwas entfernt stehen und den Tumult im Haus seines Freundes beobachten. Begay hätte erstaunt sein müssen, wie Eagle Feathers hierherkam und woher er gewusst hatte, was hier vorging, aber er war es nicht. Er ging zu ihm, um ihn zu begrüßen. „Ya-ta-hey! So sagt man doch bei Euch Dineh, oder?“ Eagle Feathers lächelte ihm freundlich zu. „Yaa´ eh t´eeh“, erwiderte Beagy. „Es tut mir so leid, was iert ist!“ „Du hast ja nur deinen Job gemacht“, sagte Eagle Feathers spöttisch. „Ich habe geahnt, dass Wolf walks alone das getan hat. Es musste ja so enden. Das wusste er selber.“

„Er hat vier weiße Männer umgebracht. Zumindest soweit wir bis jetzt wissen.“ „Vier weiße Männer“, wiederholte Eagle Feathers und schüttelte den Kopf. „Ich billige nicht, was er getan hat“, sagte er und sah Begay in die Augen. „Aber ich verstehe es. Er hat für unsere Mutter Erde gekämpft. Und für die Büffel. Wie unsere Vorfahren es auch getan haben.“ „Hätte es da heute nicht andere Möglichkeiten gegeben?“, fragte Begay und kam sich im selben Moment schon dumm vor. „Die Männer, die die Mutter Erde zerstören, haben dabei das Gesetz des Weißen Mannes im Rücken! Nach dem Recht der Weißen ist ein Tier, wenn es überhaupt etwas zählt, eine Sache, die allenfalls einen materiellen Wert hat! Was sollte er machen? Demonstrieren? Petitionen schreiben? An wen? Wozu?“

Er sah weg von dem zerstörten Haus seines Freundes zu den Hügeln, durch deren gelblich-grünes Gras endlose Wogen eines ewigen Windes gingen und er schien noch etwas anderes, dahinter liegendes zu sehen. „Die alten Medizinmänner unseres Volkes hatten die Macht, Menschen mit der Kraft ihres Geistes zu töten. Aber nur Menschen, die böse waren und entgegen den Gesetzen des Großen Geistes und der Mutter Erde lebten. Sie konnten ihre Energie geben und mit der Energie des Lebens bündeln, die bereits gegen diese wirkte. Aber dabei verloren sie auch ihr eigenes Leben. Wie ich es sehe, ist es das, was Wolf walks alone getan hat: Er hat seine Energie gegeben, um die Feinde der Schöpfung zu vernichten. Und er wird sein eigenes Leben dafür geben!“ Begay spürte förmlich die spirituelle Kraft des älteren Mannes und wurde sich bewusst, dass er ihn in diesem Moment wahrscheinlich zum letzten Mal in seinem Leben sah. „Wir Lakota sind immer schon Krieger gewesen. Wolf walks alone hat den Weg des Kriegers beschritten, wie seine Ahnen!“ Er sah Begay noch einmal tief in die Augen. „Und er wird als Krieger sterben“, fügte er hinzu. Er hielt seine rechte Hand vor die Brust und strich sie dann mit dem Handrücken nach oben von sich. „Washté“, sagte er, „es ist gut!“

XXIV

Als Begay erwachte, wusste er zunächst nicht, wo er war. Er lag vollständig angezogen auf dem Bett eines kleinen Raumes. Durch die nur halb geschlossenen Gardinen leuchtete die Tag- und-Nacht-Beleuchtung des Motels herein. Er hatte unruhig geträumt. Von Büffeln! Büffel, die über das Grasland wogten wie ein endloses Meer. Weiße Männer waren da gewesen und hatten die Büffel niedergeschossen. Und er war bei ihnen gewesen! Er hatte die Uniform der US-Kavallerie getragen! Wenige Prärie-Indianer hatten sich ihnen in den Weg gestellt und waren ebenso niedergemetzelt worden. Als kaum noch Büffel da waren, hatte er einen weißen Büffel gesehen. Die weißen Jäger hatten es auch auf ihn abgesehen gehabt. Und dann hatte der Büffel sich in eine Frau verwandelt, eine schöne Indianerin, die ganz in weißes Leder gekleidet war. Die Weißen wollten auch sie töten. Er hatte geschrien. Und dann war er aufgewacht. Benommen und mit einem schlechten Geschmack im Mund setzte er sich auf dem Bett auf. Das Display seines Handys verkündete, dass er neue Nachrichten auf seiner Mailbox hatte. Er solle sich bei Kaufman und Sergeant Sundancer melden. Als er Kaufman nicht erreichen konnte, wählte er die Nummer der Stammespolizei in Kyle. Sundancer berichtete, dass einem Touristenpärchen aus Wisconsin am Schlachtfeld von Wounded Knee ein Auto gestohlen worden war, keine zwanzig Meilen entfernt von Wolf walks alones Haus. Autodiebstähle waren auf dem Reservat eine Seltenheit, aber Begay nahm an, dass Wolf walks alone auf der Suche nach einem fahrbaren Untersatz sein musste. Er ließ sich die Beschreibung und das Kennzeichen des Wagens durchgeben. Es handelte sich dabei um einen grünen Buick mit dem extra beantragten hinteren Nummernschild MIL-RS. Die Besitzer hießen Miller und hatten das wohl für ziemlich witzig gehalten. Begay traute Wolf walks alone zu, dass er genug Schleichwege kannte, um alle Straßensperren zu umgehen und das Reservat unbemerkt zu verlassen, wenn er es wirklich wollte. Er nahm schnell eine Dusche, packte seine Sachen und verließ das Zimmer. Nachdem er die Übernachtung bezahlt und sich ein Sandwich und einen Kaffee für den Weg

besorgt hatte, war er unterwegs in Richtung Black Hills. Begay hatte keine Schwierigkeiten, den Weg zu Wolf walks alones Lagerplatz zu finden. Er ierte den Abzweig zum Mount Rushmore National Memorial und dachte an den Tag, als er dort mit dem beeindruckenden Eagle Feathers gewesen war. Etwas später nahm er die Abzweigung nach Deerfield und gelangte schließlich an die Forstpiste, die nahe an das versteckte Lager in den Bergen heranführte. Wolf walks alone hatte jetzt nichts mehr zu verlieren. In seiner Heimat, dem Pine Ridge Reservat, fahndete ein ganzes Heer von Bundesbeamten nach ihm. Dort musste er verschwinden. Bei einem vierfachen Mörder würde diese Suche gegebenenfalls auch bundesweit ausgedehnt werden. Seine Chancen standen schlecht und das wusste er. Gut möglich, dass er zu seinem Lager in den Black Hills kommen würde, in der Hoffnung, hier etwas ausruhen zu können, obwohl er wusste, dass Begay den Platz kannte. Begay lenkte seinen Wagen an dem Punkt vorbei, an dem er ihn das letzte Mal abgestellt hatte und versteckte ihn ein gutes Stück weiter im Gebüsch. Zu Fuß ierte er den Platz, an dem Wolf walks alone damals geparkt hatte. Es waren keine Spuren von einem Auto zu sehen. Vorsichtig schlich Begay durch den Wald bergauf. Es war jetzt Hochsommer. Am strahlend blauen Himmel waren nur einzelne Schäfchenwolken zu sehen, die auf einem Rückzugsgefecht gegen die unerbittliche Sonne waren. Der Wald lag still in der Mittagshitze, das einzige Geräusch war das trockene Knacken durch die Hitze aufplatzender Kiefernzapfen und das sporadische Hämmern eines einsamen Spechtes. Begay erreichte die Bergwiese, auf der das Tipi stand. Sofort umfing ihn wieder der monotone Summton tausender Insekten, obwohl er meinte, deutlich weniger Blumen als das letzte Mal zu sehen. Er schlich geduckt am Waldrand entlang, um kein so gutes Ziel abzugeben, falls Wolf walks alone ihn entdeckte. Der Bach plätscherte neben ihm, aber er hatte keine Augen dafür, genau so wenig wie für die Bergwiese, die ihm das letzte Mal so paradiesisch vorgekommen war. Das Tipi wirkte verlassen. Aus dem Rauchfang entwich kein Qualm und die Türöffnung schien fest verschlossen zu sein. Vorsichtig näherte Begay sich. Das Leder des Eingangs war mit etlichen Pflöcken am Leinen der Zeltwand befestigt. Nach einem weiteren sichernden

Blick über die Wiese löste er die Pflöcke und zog das Leder zurück. Es war niemand im Inneren. Begay atmete erleichtert tief durch. Er schlüpfte in das halbdunkle Innere des Tipis. Als seine Augen sich etwas an das schummerige Licht im Zelt gewöhnt hatten, ging er zur Feuerstelle in der Mitte des Raumes und hielt die Hand darüber. Hier hatte schon länger kein Feuer mehr gebrannt. Er sah sich weiter um. Alles wirkte wie an dem Morgen, als sie von hier aufgebrochen waren. An der achtundzwanzigsten Zeltstange hing immer noch die Flasche, die sie zu dem Ritual benutzt hatten. Und dann sah er etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein Stück weiter unten, an der hinteren Wand des Tipis, hingen an kurzen Lederschnüren aufgehängt einige kleine Bündel. Begay ging näher heran, um besser sehen zu können. Es war, was er vermutet hatte: Vier fein säuberlich aufgehängte Skalps! Er ging auf die Knie und hielt sich eine Hand vor den Mund, um den plötzlich aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken. Als er wieder hinsehen konnte, erkannte er sofort, welcher Skalp zu welchem Opfer gehört haben musste. Smith hatte blonde Haare gehabt, Mitchell rötliche, Hersley war bereits weiß gewesen und Jennings hatte schütteres graues Haar gehabt, das mit noch dunklen Strähnen durchsetzt gewesen war. Hier hingen die Trophäen, die ihr Mörder sich von ihren Köpfen abgeschnitten hatte. Auf der unteren Seite war noch das getrocknete Blut der Opfer zu sehen. Begay fuhr ein Schrecken durch die Glieder. Als sie vor vier Tagen gemeinsam von hier weggefahren waren, hatten die Skalps mit Sicherheit noch nicht hier gehangen. Das bedeutete, dass Wolf walks alone doch vor kurzer Zeit hier gewesen war! In diesem Moment bemerkte Begay eine kurze Lichtveränderung im Halbdunkel des Zeltes. Von panischer Angst erfasst fuhr er herum. Aber es war zu spät. Er riss den Arm hoch. Über ihm stand der hünenhafte Indianer mit zum Schlag erhobenem Gewehr. Er riss den Arm hoch, um sich zu schützen, aber im selben Augenblick traf ihn bereits der Gewehrkolben krachend auf den Schädel und alles um ihn herum versank im Nichts.

WESTEN / VIERTES RITUAL

XXV

Der Mann starrte in die Sonne. Seit dem Sonnenuntergang vor etlichen Stunden bewegte er sich tanzend und unablässig auf seiner Adlerknochenpfeife blasend mit der Bahn des Himmelskörpers. Nach hinten gelehnt und gehalten von den Lederriemen, die an Adlerklauen befestigt waren, die man durch seine Brustmuskeln gebohrt hatte, starrte er zur Sonne. Er war blind von der gleißenden Helligkeit um ihn herum. Seine Augen nahmen nur noch pulsierende Spiralen aus strahlendem Weiß wahr. Die Riemen von seiner rechten und linken Brust führten auf der anderen Seite zur Spitze des Cottonwood-Baumes, der sein Gewicht leicht nach vorne geneigt hielt. In Wahrheit war es nur ein einziger langer Riemen, der um die Spitze des Baumes geschlungen zu den Klauen in seiner Brust zurückführte. Eagle Feathers hatte ihm erklärt, dass es ein Symbol dafür war, dass der Unwissende oft mehrere Dinge wahrnahm, wo es doch in Wirklichkeit nur Teile eines einzelnen zusammenhängenden Ganzen gab, so wie die Welt mit all ihren Teilen in Wahrheit eins war, alle Wesen und Dinge letztlich Teil des großen Ganzen und untrennbar miteinander verbunden waren. Der von ihm selbst erzeugte ständige Ton, das gleißende Licht und die Schmerzen verschmolzen zu einer einzigen Sinneswahrnehmung. Es war Juni, den die Ahnen den „Monat der fett macht“ genannt hatten und Vollmond. Die Vorbereitungen für den Wi Wanyang Wacipi, den Sonnentanz, hatten bereits vor drei Tagen begonnen. In einem großen, mit Salbei ausgelegten Zelt waren die Zeremonialgegenstände zusammengebracht worden und die Sänger, vier Männer und eine Frau, hatten die überlieferten Lieder gesungen. Tags darauf war die Baumwollpappel ausgesucht und unter rituellen Bezeugungen der Verehrung gefällt worden. Die Männer, die den Baum brachten, heulten wie Kojoten, als kämen sie von einem Kriegszug zurück. Sie legten ihn auf Stangen, da er den Boden nicht berühren durfte, mit der unteren Seite zu dem Loch, in dem er später aufgerichtet werden sollte und mit der Spitze gen Westen. Niemand war erlaubt, über den Baum zu treten. Die Teilnehmer des Sonnentanzes waren im Tipi zusammen-gekommen. Die Ritualgegenstände wie auch die Tänzer waren im Rauch von Süßholz gereinigt worden. Die heilige Pfeife war aufrecht an ein blau bemaltes Gerüst gestellt worden. Blau symbolisierte die Farbe des Himmels, da die Pfeife die Gebete der

Menschen zum Himmel trug. Vernon Eagle Feathers hatte zu Wakan Tanka gebetet und eine Prise Tabak den Mächten des Sonnenuntergangs im Westen gewidmet, indem er unter Beten den Tabak gen Himmel, Erde und zu den vier Himmelsrichtungen hielt. Er wiederholte das nach Norden, Osten, Süden, zum Himmel und zur Erde gerichtet und stopfte den Tabak anschließend in die Pfeife. Hinzu kamen Tabakkrümel für verschiedene Vogelarten, was die Anwesenheit aller Lebewesen symbolisierte. Mit einer weiteren gestopften Pfeife ging Eagle Feathers hinaus und weihte den Baum und das Loch, in dem er stehen sollte, mit Süßgrasrauch. Er brachte vier rote Farbtupfer für die Himmelsrichtungen, einen an der Baumspitze für den Großen Geist und einen am Fuß des Baumes für Mutter Erde an. Das Fell eines Büffelkalbes wurde als Symbol für die Wichtigkeit des Bisons für die Lakota an der Baumspitze angebracht, kurz darunter ein kleiner Kirschbaum und ein Beutel mit Fett. Nachdem er sie den sechs Richtungen dargeboten hatte, band er die aus Leder gefertigten Bildnisse eines Büffels und eines Menschen darunter. Ein weiterer Beutel mit Fett wurde in das Loch gelegt, um den Baum fruchtbar zu machen, der daraufhin langsam und unter Pausen aufgerichtet wurde. Jetzt wurde die Sonnentanzhütte aufgebaut. Dazu wurden zwei konzentrische Kreise aus Pfosten errichtet, die miteinander durch Stangen verbunden wurden. Achtundzwanzig Stangen führten vom inneren zum äußeren Kreis, die mit Zweigen voller Laub bedeckt wurden. Die heilige Zahl achtundzwanzig stand für Wakan Tanka und multiplizierte sich aus den heiligen Zahlen vier für die vier Himmelsrichtungen und der schamanistischen Zahl sieben für die sieben großen Riten der Lakota. Außerdem hatte jeder Mond achtundzwanzig Tage und der Büffel hatte achtundzwanzig Rippen. Der Platz in der Mitte der Sun Dance Lodge um den Sonnenpfahl, der für den Großen Geist als Mitte aller Dinge stand, blieb unbedeckt, damit die Tänzer Sonne und Mond sehen konnten. Von außen wurde die Hütte mit Blattwerk verkleidet, nur nach Osten blieb ein breiter Eingang offen. Die Männer, die den Tanz anleiten sollten, begannen, einen kreuzförmigen Pfad auszutreten, indem sie nun zuerst nach Westen und von da in die Mitte zurück tanzten, dann nach Norden, Osten und Süden. Jetzt mussten alle Teilnehmer am Sonnentanz sich in der Schwitzhütte reinigen. Dabei mussten sie sich an eine festgelegte Sitzordnung halten. Sechs glühende Steine, die wiederrum für die sechs Richtungen standen, wurden hereingebracht und mit Wasser übergossen. Nachdem Eagle Feathers eine Pfeife entzündet hatte, begann er zu beten:

Angpetu-wi, Die Sonne, Licht der Welt, ich höre sie kommen. Ich sehe ihr Gesicht, da sie kommt. Sie beglückt alle Wesen der Erde, sie freuen sich. Wakan Tanka, ich biete Dir diese Lichtwelt dar.

Er weihte die Gegenstände, die in der Zeremonie eine Rolle spielten, aus Leder geschnittene Symbole für die Sonne, die Erde, den Mond, den Morgenstern, den Büffel und die heilige weiße Büffelfrau. Ein Reifen, in dem ein Kreuz befestigt war, der für den Kreis des Stammes stand, würde Wolf walks alone während des Tanzes auf der Brust tragen. Vier Adlerfedern für die vier Weltgegenden hingen an den Stellen, wo der Reifen und das Kreuz sich berührten, eine Adlerflaumfeder, die dem Herzen des Vogels am nächsten war, für den Großen Geist hing in der Mitte. Die Frau, die bis jetzt am Eingang der Schwitzhütte gesessen hatte, wickelte eine zweite Pfeife, die bei dem Sonnentanz benutzt werden sollte, in Salbei und brachte sie aus der Hütte. Sie legte sie mit dem Stil nach Osten auf einen Büffelschädel. Nachdem die Männer in der Schwitzhütte das letzte Mal während der gesamten Zeremonie etwas Wasser zu sich genommen hatten, wurde die Hütte wieder geschlossen und ein letzter Aufguss gemacht. Von draußen hörte man den Gesang der Teilnehmer. Als die Hütte wieder geöffnet wurde, traten alle heraus und hoben ihre Arme betend in die sechs Richtungen. Danach wurde jedem Teilnehmer eine Decke übergelegt, mit der die Inipi-Hütte gedeckt gewesen war und sie gingen zurück in das Tipi. Dort wurde Süßgras entzündet und die Trommel für den Tanz geweiht. Die runde Form der Trommel stand für das Weltall, ihr beharrlicher Ton für das Herz, das in dessen Mitte pochte, für den Großen Geist. Auch die Tänzer wurden mit dem Rauch gereinigt und durften von nun an ihre geweihten Körper nicht mehr mit den eigenen Händen berühren. Sie erhielten deshalb kleine Stäbe, die sie im Haar tragen sollten und mit denen

sie sich, wenn nötig, kratzen konnten. Jeder der Teilnehmer trug jetzt eines der Symbole. Die Frau trug die heilige Pfeife, sie stellte die Weiße Büffelfrau dar. Die Männer banden sich Kaninchenfell um Arme und Beine, da das Kaninchen für die Demut stand, die sie beim Sonnentanz brauchten. Jeder der Tänzer legte ein Gelübde ab und sie rieben ihren ganzen Körper mit Salbei ein, um sich nochmals zu reinigen, bevor sie den heiligen Sonnentanzplatz betraten. Angeführt von der Frau, die die Pfeife trug, erreichten sie die Sonnentanzhütte. Unter ständigen Gebeten umkreisten sie, dem Lauf der Sonne nachgehend, die Hütte. Viele Stammesangehörige hatten sich um den Platz versammelt. Die Tänzer betraten die Hütte von Osten und nachdem sie auch hier die Sonnenbahn nachgegangen waren, nahmen sie im Westen Platz. Auf der Südseite saßen die Sänger und die Frauen, die als Gehilfinnen bereitstanden. Sie trugen Kränze auf dem Kopf und hielten Salbei in den Händen. Der Büffelschädel wurde, nach Osten zeigend, zwischen den Tänzern und dem heiligen Baum abgelegt, davor wurde ein Gerüst aus blauen Stäben aufgebaut, an das die Frau die heilige Pfeife stellte. Dann begannen alle Anwesenden zu tanzen. Dieser Tanz dauerte bis zum Abend und auch die ganze Nacht lang und stellte das Volk im Dunkel der Unwissenheit dar. Kurz vor der Morgendämmerung war der Tanz zu Ende und die Tänzer gingen nach draußen, um dort Opfer an die vier Weltgegenden darzubringen. In der Morgenröte betraten sie die Hütte wieder. Wolf walks alone war dazu asehen, den Altar zu errichten. Zuerst befreite er einen Kreis auf dem Erdboden von Bewuchs und legte glühende Holzkohle aus dem Feuer darauf, das östlich der Hütte während des ganzen Rituals immer die ganze Nacht über brannte. Er betete und legte anschließend Süßgras auf die Glut, wozu er das dazugehörige Zeremoniallied sang. Dann wurde das Messer, mit dem später die Brust der Tänzer durchstochen werden sollte, ein Beil und eine Handvoll Erde über dem Rauch geweiht. Wolf walks alone hielt etwas von der geweihten Erde zum Himmel und dann zum Boden, um sie danach in der Mitte des heiligen Kreises abzulegen. Danach hob er jeweils ein wenig von der Erde gegen alle Himmelsrichtungen, um sie dann nacheinander im Westen, Norden, Osten und Süden niederzulegen. Die Erde, die symbolisch für alle Lebewesen stand, wurde innerhalb des Kreises verteilt. Mit einem Stab, den er zunächst auch den sechs Richtungen darbot, zog Wolf walks alone in der Mitte des großen Kreises einen kleinen Kreis, der wiederum den Großen Geist repräsentierte. Nachdem er den Stab wieder den sechs Richtungen dargeboten hatte, zog er nun eine Linie vom Westen des großen Kreises zum Mittelpunkt, danach genauso vom Osten zur Mitte. Er

versuchte, sich ganz auf seine Aufgabe zu konzentrieren und jeden Gedanken auszuschalten, aber er konnte es nicht. Er wäre gerne auf heilige Weise leer und frei von Denken gewesen, aber die Gedanken formten sich gegen seinen Willen und sein Dazutun in ihm. Während er die Prozedur vom Norden in die Mitte und dann von Süden wiederholte, musste er daran denken, wie es wäre, ein Heyoka-Mann zu sein. Heyokas waren heilige Clowns, die alles umgekehrt taten. Sie komplettierten die kosmische Ordnung, indem sie ein Gegenmodell darstellten. Ein Heyoka sagte nein, wenn er ja meinte, fror bei Hitze und schwitzte bei Kälte, zog seine Schuhe verkehrt herum an, ging rückwärts und saß mit dem Gesicht nach hinten auf dem Pferd. Ein Heyoka hätte den Altar genau entgegengesetzt gemacht. Er wäre nicht von Westen nach Osten vorgegangen, sondern von Osten nach Westen und von Süden nach Norden statt von Nord nach Süd. Außerdem hätte er die Achsen vertauscht und hätte mit der Achse von Süden nach Norden begonnen und dann die vertauschte Achse von Osten nach Westen angeschlossen, genau andersherum wie es vorgeschrieben war. Wolf walks alone versuchte, den Gedanken zu verscheuchen, aber es gelang ihm nicht. Es wäre dem Zustand der Welt angemessen gewesen, dachte er. Die Welt war in Unordnung. Nichts ging mehr seinen natürlichen Gang. Die Weißen hatten die kosmische Ordnung, die Harmonie innerhalb der Schöpfung, aus dem Gleichgewicht gebracht. Wäre es nicht richtig gewesen, als Zeichen dieser Zeit alles verkehrt herum auszuführen? Wolf walks alone verbot sich diesen Gedanken wieder. Er musste seine Aufgabe in der überlieferten Art und Reihenfolge erfüllen. Er hob ein Bündel Salbei gen Himmel und betete für Tatanka, den Büffel, den nächsten Verwandten der Lakota. Er nahm den Büffelschädel auf und sang, indem er ihn in die vier Himmelsrichtungen emporhielt:

Ich gebe dem Büffel Gras Tabak gebe ich dem Büffel Ein Kleid gebe ich dem Büffel Farbe gebe ich dem Büffel

Und zur Erde gewandt sang er:

Wasser gebe ich dem Büffel Möge das Volk hinsehen Auf das es lebe!

Der Bisonschädel wurde mit dem Gesicht nach Osten auf ein Bett aus Salbei gelegt. Salbei wurde in die Augenhöhlen gelegt, ein Tabakbeutel und ein Stück Hirschleder wurden an die Hörner gebunden als Opfer für den Büffel. Mit roter Farbe wurde ein Kreis um den Schädel gezogen und eine Linie darauf gemalt.

Du, Büffel, bist die Erde! Mögen wir dies und alles, was wir hier getan haben, verstehen! Es ist gut!

So betete Wolf walks alone. Jetzt begann die eigentliche Zeremonie. Nachdem die Männer, die das Opfer vollbringen wollten, die aufgehende Sonne begrüßt und für sie gebetet und gesungen hatten, tanzten sie in alle Himmelsrichtungen, um wiederum im Osten zu enden, diesmal mit dem Blick zu dem heiligen Baum. Als der Gesang und die Trommeln verstummten, gingen die Tänzer in den Westteil der Hütte, wo ihre Körper mit Salbei abgerieben wurden. Man steckte ihnen Federn ins Haar und setzte ihnen Kränze aus Salbei auf die Köpfe. Die Männer bemalten ihre Körper und reinigten sich abermals im Rauch von Süßgras. Anschließend fanden sie sich wieder in der Mitte der Hütte ein und

umtanzten den Sonnentanzbaum, in jeder Richtung einhaltend, um Gebete und Gesänge gen Himmel zu richten. Dann musste jeder von ihnen im Norden beginnend einmal die Hüttenwand von innen abschreiten und dabei an jedem der achtundzwanzig Pfosten anhalten.

Als sie wieder in der Mitte angekommen waren, traten die Helfer herbei. Sie begannen mit Wolf walks alone. Das Fleisch auf seiner Brust wurde nach vorne gezogen und mit dem geweihten Messer durchstochen. Dann wurde die Adlerklaue hindurch geführt. Dasselbe wurde mit seiner anderen Brust wiederholt. Die Klauen wurden mit dem Riemen, der an der Spitze des Baumes befestigt war, verbunden.

Während die Prozedur bei dem nächsten Mann wiederholt wurde, begann Wolf walks alone zu tanzen. Auf seiner Adlerknochenpfeife blasend, die Augen auf die Sonne gerichtet, tanzte er. Seit Stunden tanzte er jetzt so. Neben ihm waren andere Tänzer, aber er nahm sie gar nicht wahr. Verwandte und Freunde der anderen tanzten zeitweise mit ihnen, um ihnen Kraft zu geben. Er nahm sie genauso wenig wahr wie die Frau, die ihm ein Bündel Kräuter, das sie in ihrem Mund vorgekaut hatte, in den Mund schieben wollte, um seinen Durst zu lindern und ihm das Atmen zu erleichtern, wie es auch andere Frauen bei den anderen Tänzern taten. Aus der einen Sinneswahrnehmung, die bestand aus dem Schmerz, dem schrillen Ton in ihm und um ihn herum und der gleißenden Helligkeit, die ihn umgab und erfüllte, formte sich eine Vision. Ein Gesicht formte sich aus dem strahlenden Weiß. Das Gesicht einer Frau. Es war wunderschön. Voller Güte und Mitleid. Es war das Gesicht der Weißen Büffelfrau. Sie war wieder bei ihm, stand ihm bei. Wolf walks alone war glücklich. Aber das Gesicht verzerrte sich und schien zu verschwinden. Er schrie vor Verzweiflung und Schmerz, er flehte, versuchte die Vision festzuhalten. Aber ihr Gesicht verschwand. In seinem Schmerz, seinem Flehen, spürte er das Leid und den Schrei der gesamten Schöpfung. Er konnte die unzähligen Wesen, die Tiere, Pflanzen und Menschen, die ganze Erde in ihrem Leid und ihrem Schmerz spüren. Die ganze Welt litt unter der gewalttätigen Herrschaft der Weißen. Er konnte das Leiden der unzählbaren

Wesen fühlen, die unter den Mülldeponien, den Fabriken, den Städten und dem Asphalt der weißen Welt begraben lagen. Der Schrei der geschundenen Kreatur, das Leiden der gefährdeten Schöpfung, die in ihren letzten Rückzugsgebieten verfolgt wurde, drang schmerzhaft bis in sein innerstes Selbst vor. Im Schreien und Flehen um ihn herum nahm er auch das Leiden seines Volkes wahr. Er sah die vergewaltigten Frauen und die verstümmelten Kinder vor sich, die hingemetzelten Männer, Frauen und Kinder. Er weinte um die unzähligen Menschen seiner Rasse, die von den Krankheiten des weißen Mannes, vom Alkohol und dem Hunger, den er gebracht hatte und von seinen Waffen getötet worden waren.

Und Wolf walks alone wusste wiederum, dass er recht tat. Er musste gegen das Böse kämpfen. Er ging einen schlechten Weg, den Weg der Gewalt. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Man musste das Gute gegen das Böse verteidigen. Die Indianer waren zu friedfertig, zu schicksalsergeben. Sie versuchten sich mit der weißen Welt zu arrangieren, auch wenn sie wussten, dass es eine Welt des Bösen war. Nur um zu überleben? Was nützte dieses Überleben, wenn man dafür seine Identität aufgab und alles, was von Bedeutung war? Viele Indianer fühlten sich dem weißen Mann unterlegen und machtlos. Andere fühlten sich ihm überlegen, sie gingen davon aus, dass die Weißen sich selbst zerstören würden und letztendlich nicht überleben würden, da sie nicht in Harmonie mit der Welt lebten. Aber man konnte nicht zusehen, bis die Weißen auch das letzte heilige Leben zerstört hatten. Und während er sein rituelles Opfer darbrachte für das Leben seines Stammes und für die ganze Welt, für das Fortbestehen der kosmischen Ordnung, wusste er, dass er ein noch viel größeres Opfer bringen musste. Er würde bald sterben auf dem Weg, den er eingeschlagen hatte. Es konnte nicht mehr lange dauern. Aber es war richtig, im Kampf gegen das Böse zu sterben und nicht in der Lüge weiterzuleben! Er würde vielleicht auch damit nicht viel erreichen, aber er tat das Richtige. White Buffalo Woman war wieder zu ihm gekommen und hatte ihm gezeigt, dass sein Weg richtig war. Es war gut.

Wolf walks alones Vision war zu Ende. Er gewahrte, dass seine Augen wieder etwas wahrnahmen. Umrisse und schemenhafte Gestalten mischten sich in das Gleißen und er bemerkte, dass das Licht jetzt eine rötliche Farbe angenommen hatte. Die Sonne musste bereits untergehen. Er stand jetzt gen Westen und die Zeremonie ging ihrem Ende zu. Es war Zeit, das letzte Opfer an diesem Tag zu bringen. Er musste sich von seinen Fesseln befreien, indem er sich von ihnen losriss. Als er vor vielen Stunden seine Bemalung angelegt hatte, hatte er sorgfältig darauf geachtet, dass die schwarzen Streifen, die für die Verbundenheit mit der Erde standen, nicht höher als bis zu seiner Brust aufgemalt waren. Diese Streifen standen eben traditionell auch für die Unwissenheit. Die Riemen, die von seiner Brust zur Spitze des Sonnentanzbaumes führten, waren dagegen Symbol der Verbindung zum Himmlischen, Göttlichen, verkörperten die Erleuchtung. Wenn er jetzt sein Fleisch zerriss, um von den Fesseln loszukommen, bedeutete das, dass er sich über die Zwänge seines Fleisches und seines Körpers hinwegsetzte und die Erleuchtung durch sein Opfer in sich aufnahm. Wolf walks alone warf sich nach hinten. Ein scharfer Schmerz fuhr durch seine Brust, aber das Fleisch hielt der Beanspruchung stand. Er drohte ohnmächtig zu werden. Wolf walks alone nahm noch einmal all seine Kraft zusammen. Mit einem Schrei warf er sich wieder mit aller Wucht gegen den Riemen und diesmal riss die Haut seiner Brust und er stürzte zu Boden. Frisches Blut strömte aus den Wunden. Stöhnend ließ er den Kopf auf den Boden sinken. Sofort waren die Helfer da, um ihn zu betreuen und fort zu bringen. Noch einmal sang er leise eines der heiligen Lieder des Sonnentanzes vor sich hin:

Sie sagen, die Büffel kommen Jetzt sind sie da Die Macht des Büffels kommt über uns Jetzt ist sie da!

Er hatte sein Opfer gebracht. Es war gut.

XXVI

Sergeant Wills fuhr hoch. Sein Partner, Deputy Seller, hatte ihn plötzlich am Arm gepackt und damit seinem friedlichen, mittäglichen Dahindämmern ein jähes Ende bereitet. „Was ’n los?“, schnautzte Wills ihn ziemlich unfreundlich an. „Gesuchtes Fahrzeug“, gab Seller hektisch zurück. „Is’ gerade hier vorbeigekommen! Komm, fahr’ los!“ „Bist du sicher?“, fragte Wills, räkelte sich auf dem Fahrersitz zurecht und ließ den Wagen an. „Ja, ganz sicher! Also mach‘ hin“, antwortete Seller. Sergeant Wills ließ das Auto in den spärlichen Verkehr der Interstate 90 einfließen. Sie hatten auf der Rest Area Mittagspause gemacht, Sandwiches gegessen und Kaffee getrunken, dann war Wills wohl etwas eingeschlummert. Er war jetzt einundsechzig und begann langsam die noch verbleibende Zeit bis zu seiner Pensionierung zu zählen. Er hatte keine Lust mehr. In fast vierzig Dienstjahren hatte er so viel Dreck und Schlechtigkeit gesehen. Er würde seiner Arbeit nicht hinterher trauern. Er würde sich um seinen Garten kümmern. Ab und zu angeln gehen. Zeit für die Familie haben. Deputy Seller war noch jung, nahm alles sehr genau. Wollte wohl Karriere machen. Wills gähnte. „Hier steht er! Grüner Buick. Aus Wisconsin. Hinteres Kennzeichen MIL-RS.“ Seller hatte auf seinem Klemmblock ein paar Seiten nach hinten geschlagen und trommelte jetzt mit seinen Fingern auf der Seite mit der Beschreibung des gestohlenen Wagens. „Wusst’ ich’s doch“, fügte er hinzu. „Okay, du bist der Größte“, brummte Wills. Er hatte inzwischen einige Autos

überholt und sich nach vorne gearbeitet. Jetzt tauchte vor ihnen, in einiger Entfernung der grüne Buick auf. „Du hast Recht, das ist er“, gab Wills zu. „Los, den schnappen wir uns!“ Seller hatte vor lauter Aufregung rote Flecken im Gesicht bekommen. „Keine Chance! Du meldest das jetzt schön bei der Zentrale und fragst, wie wir uns verhalten sollen“, gab der Ältere zurück. Der Buick wurde vom FBI gesucht. War offensichtlich eine größere Sache. Und bei der Beschreibung hatte ausdrücklich gestanden, der Wagen solle lediglich gemeldet werden. Er würde keinen Fehler machen und sich durch den Übereifer seines Kollegen Ärger einhandeln. Zerknirscht setzte Seller den Funkspruch ab. Die Antwort war eindeutig: „Unternehmen Sie nichts weiter. Bleiben sie an dem Wagen dran. Aber unauffällig. Ich gebe das ans FBI weiter.“ Kurz darauf meldete sich eine Agentin Kaufman von der Bundesbehörde. „Sergeant Wills“, wandte sie sich an den ranghöheren Beamten, „hören Sie?“ Resigniert gab Seller ihm die Sprechanlage des Funkgerätes. „Laut und deutlich!“ „Hier spricht Susan Kaufman, Federal Bureau of Investigations…“ Mit verdrehten Augen und wackelndem Kopf ahmte Seller die Sprecherin nach. Wills verkniff sich das Lachen. „Sie fahren ein ziviles Fahrzeug?“ „Ja“, antwortete Wills, obwohl Kaufman das natürlich schon wusste. „Sehr gut! Bleiben Sie bitte an dem Buick dran. Der Fahrer ist höchst gefährlich und bewaffnet! Also bitte lassen Sie ihn in Ruhe! Wir wollen nur wissen, wohin er fährt. Lassen Sie ihm einen kleinen Vorsprung und bringen sich nur jeweils vor einer Autobahnabfahrt in seine Nähe, so dass er Sie nicht bemerkt. Finden Sie nur heraus, welche Abfahrt er nimmt. Den Rest übernehmen wir dann!“

„Okay, verstanden“, antwortete Wills und wechselte einen irritierten Blick mit seinem Kollegen. Er nahm das Gas zurück und ließ sich von mehreren Autos überholen. Kurz darauf war der Buick aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Wills kannte diesen Highway genau und wusste, wann er sich wieder unauffällig nach vorne arbeiten musste, um bei der nächsten Abfahrt wieder in Sichtweite des Zielfahrzeuges zu sein. Der Gesuchte hatte, solange sie in seiner Nähe gefahren waren, konstant die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von fünfundfünfzig Meilen pro Stunde eingehalten. Er schien auf keinen Fall auffallen zu wollen. Später, wenn der Highway durch noch menschenleerere Gegenden führte als jetzt, war die Höchstgeschwindigkeit streckenweise fünfundsechzig Meilen. Wills würde das einkalkulieren. Er wusste, dass sie sich bald der Abfahrt von Laurel näherten und beschleunigte den Wagen. Bald tauchte der grüne Buick wieder in der Entfernung auf, um ab und zu wieder zu verschwinden, wenn die Straße in ein Hügeltal der Plains hinab führte. Das grüne Autobahnschild, das auf die Abfahrt von Laurel hinwies, tauchte auf und wurde von dem observierten Fahrzeug iert. Wills reduzierte die Gaszufuhr und ließ den Buick vor ihnen verschwinden. Diesmal war er auf einen noch größeren Abstand bedacht. Von hier gingen mehrere Straßen, darunter die Bundesstraße 310, in verschiedene Richtungen vom Highway ab, so dass der Verkehr danach noch ruhiger werden würde. Grund genug, auf keinen Fall in Sichtweite des Gesuchten zu bleiben. Die nächste Abfahrt, Columbus, war fünfundzwanzig Meilen entfernt von hier. „Is’ ja ’ne aufregende Verfolgungsjagd“, lästerte Seller. Wills begann die Sache Spaß zu machen. Kurz vor der Abfahrt nach Columbus brachte Wills den Wagen wieder in Sichtweite. Der Buick wurde tatsächlich langsamer und bremste. „Er fährt runter“, sagte Wills. „Wollen wir nicht doch lieber hinterher?“, versuchte es Seller noch einmal. „Auf keinen Fall! Du hast die Anweisung gehört!“ Seller guckte wohl zu viele Krimis, bei denen die Cops ja immer machten, was sie wollten. Ihr Dienstwagen ierte die Abfahrt und Seller und Wills sahen, wie der Buick gemächlich die Rampe herunterfuhr. Wills griff zum Funkgerät und informierte Agentin Kaufman. „Könnte der Gesuchte Sie bemerkt haben?“, fragte die.

„Das halte ich für ausgeschlossen“, antwortete Wills. „Wir waren fast die gesamte Zeit außer Sichtweite und sind jetzt an ihm vorbeigefahren.“ „Gute Arbeit! Haben Sie vielen Dank!“ „Allerdings gehen von Columbus mehrere Landstraßen in verschiedene Richtungen ab“, gab Wills noch zu bedenken. „Lassen Sie das mal unsere Sorge sein“, hörte er Kaufman antworten, „ich weiß genau, wo der Bursche hin will!“

XXVII

Frank Begay erwachte stöhnend. Er wusste nicht, wo er war. Um ihn herum war es stockdunkel. In seinem Kopf hämmerten unerträgliche Schmerzen. Ihm war übel und in seinem trockenen Mund schien die Zunge am Gaumen zu kleben. Er berührte seinen Schädel und spürte geronnenes Blut in den Haaren kleben. Er ließ den Kopf wieder sinken und schloss die Augen. Langsam kam die Erinnerung wieder. Immerhin war er nicht tot. Wolf walks alone hätte ihn in aller Seelenruhe töten können. Aber er hatte es nicht getan, obwohl Begay damit weiterhin eine potentielle Gefahr darstellte. Begay zwang sich unter Schmerzen, die Augen zu öffnen und sich aufzurichten. Ihm war schwindelig. Die Leuchtziffern auf seiner Armbanduhr zeigten zehn Minuten vor elf. Nachts. Er war also etwa zwölf Stunden bewusstlos gewesen. Begay sank wieder zu Boden. Er würde sich noch einen Moment ausruhen. Dann würde er sich zu dem Bach vor dem Tipi schleppen, etwas trinken und sich mit dem eiskalten Wasser erfrischen. Er musste Wolf walks alone verfolgen. Auf die Reservation konnte der Gesuchte nicht zurück. Dort würde man ihn finden. Eher früher als später. Auch auf Dauer konnte er nicht dorthin. Natürlich konnte er sich in irgend einem verlassenen Winkel der Vereinigten Staaten verstecken. Aber Begay glaubte nicht, dass er das tun würde. Der Lakota liebte sein Volk und seine Heimat. Er würde sich nicht woanders verstecken wollen. Begay glaubte zu wissen, was Wolf walks alone dachte. Er würde seinen Weg weitergehen. Er würde den Kampf, den er begonnen hatte, weiterführen. Wie seine Ahnen, wie die früheren Krieger der Lakota, würde er weiterkämpfen, ohne Angst vor dem Ende. Er würde versuchen, so viele Feinde wie möglich zu töten, bevor er selbst getötet würde. Und etwas anderes als den Tod hatte er nicht zu erwarten. Wahrscheinlich würde er lieber kämpfend sterben, als exekutiert zu werden. Begay war sich sicher, dass er wusste, was Wolf walks alone tun würde. Wahrscheinlich hätte er selbst in dieser Situation (in die er allerdings nie kommen würde) auch so gehandelt. Begay musste nach Norden fahren, in das Gebiet nördlich des Yellowstone Nationalparks, wo die aus dem Park

abgewanderten Büffel von weißen Jägern geschossen wurden. Dort würde er Wolf walks alone finden. Er würde weiter versuchen, die Büffel zu retten. Die Frage war nur, ob er sich für das Tal des Stillwater oder für das Yellowstone-Tal entscheiden würde. Begay entschloss sich, es im näher gelegenen Gebiet zu versuchen. Schließlich hatte Wolf walks alone auch nicht mehr viel Zeit. Begay hatte nicht vor, irgendjemanden zu benachrichtigen. Er wusste nicht genau warum, aber er hatte das Gefühl, dass es besser wäre, wenn er Wolf walks alone alleine folgte. Er erinnerte sich an einige Verse aus dem Gesang der lautlosen Pirsch, den ein Dineh traditionell anstimmte, bevor er auf die Jagd ging. Darin ging es um die Harmonie zwischen dem gejagten Tier, das sich dem Wollen des Jägers ergibt und dem Menschen. Beide verschmelzen zu einem Wesen in Harmonie. Wenn es jemanden gab, der mit Wolf walks alone in Harmonie sein konnte, obwohl er ihm nachstellte, dann war er das, Begay, und nicht Hunderte von FBI- und Polizeibeamten. Nein, er würde diese Jagd allein beenden. Er wurde wieder ohnmächtig.

XXVIII

Der Präriehund stand aufgeregt auf den Hinterbeinen direkt neben dem Eingang zu seinem Bau. Die wachen schwarzen Knopfaugen in dem grauen und auf Schnauze und Stirn rötlichen Kopffell starrten unaufhörlich zu den beiden Menschen herüber. Schwanz und Vorderpfoten waren am Körper angelegt. Plötzlich ließ sich das Männchen auf alle Viere nieder und verschwand in der Öffnung des Baues. Aber die Verantwortung der Gruppe gegenüber ließ ihn sofort wieder erscheinen und seine Wächterposition einnehmen. Sam Weber hielt das Gewehr auf das kleine Tier gerichtet. Sein Kumpel Dick legte die Hand auf die Waffe und drückte sie mit sanfter Gewalt herunter. „Du verjagst uns noch die Bisons“, mahnte er. „Bumm“ sagte Weber und tat, als ob der Rückstoß des Gewehres seine Schulter zurückwarf. Der Präriehund verschwand mit einem gellenden Pfiff im Bau. Zu gerne hätte der Mann das Drecksviech weggeputzt. Schließlich waren sie zum Spaß hier. Bei einem Treffer aus seiner großkalibrigen Waffe wäre von dem kleinen Fellknäuel nicht allzu viel übriggeblieben. Weber und Satini arbeiteten sich weiter im Schutz der Bergföhren durch das Tal. Sie hatten eine Menge frischer Büffelspuren gesehen. Heute würden sie sicher Glück haben. Satini war nervös. Es gab seit einiger Zeit Gerüchte, ein Indianer würde hier sein Unwesen treiben und weiße Jäger ermorden. Weber hielt das für Jägerlatein. Schließlich hatte man davon weder im Fernsehen, Radio, noch in der Zeitung etwas gehört oder gelesen. Totaler Quatsch! Heutige Indianer ließen sich nicht auf Streit mit Weißen ein. Indianer waren fette, meist narbengesichtige Gestalten, die völlig heruntergekommen in Parks oder an Straßen um etwas Abfall zum Essen oder etwas zu Saufen bettelten. Kaum vorstellbar, dass so eine Type Jagd auf Weiße machte! Aber Satini war der Abstammung nach Italiener. Katholisch und abergläubig! Weber schmunzelte. Irgendwo in der Ferne heulte ein Kojote.

Keine zehn Minuten später sahen sie die Büffel. Eine kleine Gruppe von Kühen mit ihren Kälbern. Weber spürte das Jagdfieber in sich aufsteigen. Im Schutz einiger knorriger Kiefern schlichen sie näher, um die Schussdistanz zu verringern. Weber hörte, wie Satini hinter ihm stoßweise atmete, wahrscheinlich vor Aufregung. Er drehte sich zu ihm um, um ihm zu bedeuten, leise zu sein und erstarrte vor Schreck. Satini hing unnatürlich hoch mit dem Rücken am Stamm eines riesigen Baumes, gehalten von der Hand eines halbnackten, hünenhaften Indianers. Das Gewehr hatte er fallen gelassen. „Ihr werdet diese Büffel nicht töten!“, sagte der Indianer und sah Weber an. Das Gesicht des Mannes war schwarz bemalt, nur um die Augen herum fehlte die Bemalung, was ihm ein furchterregendes, totenkopfähnliches Aussehen verlieh. In seinen langen Haaren steckten Adlerfedern und Weber erkannte auf seiner nackten Brust frische Wunden. Er sah, dass Satinis ganzer Körper vor Angst unkontrolliert zitterte. Am liebsten wäre er einfach davongerannt, aber seine Glieder waren wie gelähmt. Die Fratze des Indianers hatte sich ihm zugewandt und er meinte, Hass in den schwarzen Augen blitzen zu sehen. Im gleichen Moment ging eine schnelle Bewegung durch den muskulösen Körper des Mannes und im selben Augenblick spritzte eine Fontäne Blut aus dem Hals von Satini. Sein Körper rutschte an dem Stamm herab, nicht mehr empor gehalten von dem Angreifer und sackte auf dem Boden in sich zusammen. Endlich gelang es Weber, sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Er riss das Gewehr hoch. Fast gleichzeitig machte der Indianer wiederum eine blitzschnelle Bewegung, und Weber sah bereits das blutverschmierte Messer auf sich zufliegen. Wie in Zeitlupe nahm er wahr, wie es auf ihn zu sauste, konnte aber nicht mehr ausweichen. Er feuerte auf den Mann, gleichzeitig fühlte er den dumpfen Aufprall und wurde nach hinten geworfen. Er landete unsanft auf dem Boden. Aus seiner rechten Schulter ragte ein riesiges Messer. Er rappelte sich hoch und versuchte, das Gewehr an seiner verletzten Schulter in Anschlag zu bringen, als er auch schon den Indianer auf sich zukommen sah. Mit der Gewandtheit einer Katze war der Mann über ihm und schlug das Gewehr zur Seite. Ein weiterer Schuss löste sich, der aber keine Gefahr für den Angreifer darstellte. Voll panischer Angst nahm Weber wahr, wie der Mann sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn warf. Er zog das Messer mit einer festen Bewegung aus seinem Fleisch und blitzte ihn hasserfüllt mit zusammengebissenen Zähnen an. Weber schrie vor Angst und versuchte wegzukriechen, aber der Mann hielt ihn unerbittlich am Boden festgenagelt. Er

sah das Messer über sich aufragen, das Messer, das seinen Freund getötet hatte, schoss es durch seinen Kopf. Es fuhr auf ihn herab und er spürte den harten Aufprall und sah voller Entsetzen, wie es bis zum Heft in seiner Brust verschwand. Er hörte sein eigenes Stöhnen und fühlte, wie ihm die Sinne schwanden. Das Messer wurde wieder herausgezogen und fuhr wieder auf ihn herab. Dies war sein eigener Tod, blitzte ein letzter Gedanke in grenzenlosem Schrecken in ihm auf. Der Mann hatte ihn jetzt an den Haaren gepackt und zog seinen Kopf unsanft in die Höhe. Er wusste nicht, was das sollte, aber diese neuerliche Gewaltanwendung machte ihm aus irgend einem Grund noch mehr Angst. Seine Augen versuchten, ein Bild wahrzunehmen, aber alles war von einem roten Schleier bedeckt. Er hörte eine entfernte Stimme, wusste aber nicht, ob sie Realität war oder ob er sie sich nur einbildete. War jemand gekommen, um ihn zu retten?

„Lass sofort das Messer fallen“, schrie Begay. Er hielt die entsicherte Pistole auf Wolf walks alone gerichtet. Er würde bei der kleinsten Andeutung einer falschen Bewegung schießen. Aber obwohl die Schüsse, die er schon aus geringer Entfernung gehört hatte, ihn zur Eile angetrieben hatten, war er zu spät gekommen. Der Mann, den Wolf walks alone gerade vor seinen Augen hatte skalpieren wollen, lag offensichtlich im Sterben, der andere Mann lag in einer unnatürlichen, verdrehten Körperhaltung in einer riesigen Blutlache, offenbar kam auch hier jede Hilfe zu spät. Begay verfolgte genau, wie Wolf walks alone langsam aufstand und sein Messer auf den Boden fallen ließ. Mit dem Revolverlauf bedeutete er ihm, von seinem Opfer wegzugehen. Er beugte sich zu dem liegenden Mann herunter und drückte zwei Finger an dessen Halsschlagader, nur um die letzten schwachen und unregelmäßigen Schläge seines ersterbenden Herzens zu fühlen. Begay ging vorsichtig, die Waffe immer auf den Mörder gerichtet, zu dem anderen Opfer. Aber die glasigen, erstarrten Augen des Mannes ließen keinen Zweifel offen, dass auch er nicht mehr zu retten war. Angewidert wandte sich Begay wieder Wolf walks alone zu. In diesem Augenblick nahm er eine Veränderung in dessen bis dahin ruhigem Gesichtsausdruck wahr. Er starrte auf einen Punkt hinter Begays Rücken und während dieser noch überlegte, ob das ein Trick war, um ihn für den Bruchteil einer Sekunde unachtsam werden zu lassen, hörte er hinter sich plötzlich eine vertraute Stimme:

„Frank, nehmen Sie bitte die Waffe herunter!“ Begay fuhr herum. Dort stand Susan Kaufman, deren Stimme er gehört hatte. Sie sah ihn mit einem traurigen Blick an. Neben ihr standen drei Männer, ihre Gewehre zeigten in seine Richtung. Überrascht erkannte er Susans Vater und auch das Gesicht eines anderen Mannes hatte er schon gesehen. Es war ihm auf Fotos im Haus der Kaufmans aufgefallen und sein trainiertes Gedächtnis ordnete es sofort zu: Es musste sich um den Bruder von Susan handeln! Den dritten Mann hatte er noch nie gesehen. Dies war keine Polizeiaktion, fuhr es ihm durch den Kopf, dies waren Privatleute, die Susan offenbar hierher geführt hatte. „Was wollen Sie hier?“, hörte er sich fragen. „Ich nehme diesen Mann fest“, sagte Susan, „bitte behindern Sie mich nicht!“ „Ich habe ihn bereits festgenommen“, antwortete Begay. Ehe Susan noch etwas sagen konnte, übernahm der alte Kaufman ungeduldig das Reden. Sein Gesicht war gerötet und seine Stimme schien vor Wut zu beben: „Dieses Schwein wird niemand mehr umbringen! Er hat meinen alten Freund James Hersley auf dem Gewissen. Und wer weiß, wie viel andere unschuldige Männer noch? Er wird hier und jetzt seine gerechte Strafe bekommen. Daran wird uns niemand hindern! Nur schade, dass Sie dazwischenfunken mussten! Und jetzt gehen Sie aus dem Weg, Indianerpolizist!“ Er funkelte Begay drohend an, dem allmählich klar wurde, in welcher Gefahr er steckte. Dass Susan Kaufman mit ihrem Vater und anderen Privatleuten und nicht mit Polizei und FBI hier auftauchte, konnte nur bedeuten, dass sie vorhatten, Wolf walks alone selber zur Strecke zu bringen und die Behörden nicht informiert hatten. Sie hätten dann behaupten können, ihn auf frischer Tat erwischt und bei einem Schusswechsel getötet zu haben. Aber seine Anwesenheit machte ihren Plan zunichte. Er würde nicht zulassen, dass sie Wolf walks alone einfach abknallten. Und wenn, könnte er hinterher mit seiner Aussage immer noch alle vier ins Gefängnis bringen und Susans Karriere beenden. Nein, sie würden ihn

nicht am Leben lassen, das war sicher. Sie brauchten später nur zu behaupten, Begay habe sich auf die Seite des anderen Indianers gestellt, eine Behauptung, die ihnen sicher jeder sofort glauben würde. Oder Begay sei halt im Schusswechsel umgekommen.

Der alte Kaufman lud sein Gewehr durch und versicherte sich mit einem Seitenblick der Bereitschaft der beiden anderen Männer. Offenbar war er mit dem Ergebnis zufrieden. Begay wurde plötzlich alles klar: Susan hatte schon lange angenommen, dass es bei den Morden um die Büffel ging und auch vermutet, dass es sich bei dem Täter um einen Indianer handelte. Deshalb hatte sie einen indianischen Fährtenleser und Ermittler angefordert oder zumindest darauf hingewirkt. Und dieser musste natürlich aus einem weit entfernt lebenden Stamm kommen, um zu verhindern, dass es Bluts- oder andere Bande zwischen ihm und dem Täter geben könnte. Das war die normale FBI-Praxis beim Einsatz eingeborener Beamter. Sie und ihre Familie hatten eine Verbindung zu einem der Mordopfer gehabt und geplant, falls sich die Gelegenheit ergab, sich selbst an dem Mörder zu rächen. Daher auch die Nachrichtensperre. Hätten die Medien der Region darüber berichtet, hätten sich wohl keine Büffeljäger mehr hierher getraut. Das hätte einigen Menschen das Leben gerettet. Und wahrscheinlich einigen Büffeln. Aber damit wäre auch die Wahrscheinlichkeit, den Mörder zu erwischen, gesunken. Und das hätte nicht in die Doktrin des alten Kaufmans von der gottgegebenen weißen Herrschaft über das Land get, dass ein Indianer, der Weiße getötet hatte, womöglich straffrei davonkam, auch wenn dadurch Menschen am Leben geblieben wären. Und seine Tochter hatte die Nachrichtensperre durchgesetzt, da war er jetzt sicher. Deshalb hatte er sich ständig beobachtet gefühlt! Wenn er nicht sowieso mit Susan Kaufman zusammen gewesen war, hatten sie ihn offensichtlich überwacht. Und nun war es soweit: Sie würden den Mörder töten. Und ihn, einen anderen Indianer, gleich mit. Pech gehabt! Er sah dem alten Kaufman so fest er konnte in die Augen und sagte: „Ich habe diesen Mann festgenommen und ich werde ihn jetzt von hier fort bringen. Sie werden mich nicht daran hindern!“ „Oh doch, das werden wir“, antwortete Kaufman, hob das Gewehr. Er zielte jetzt direkt auf ihn. „Wir werden das hier nicht Ihnen oder irgendwelchen Behörden überlassen. Wir werden den Killer auf keinen Fall noch mal entkommen lassen!“

„Bitte Frank, steh’ uns nicht im Weg“, mahnte Susan mit verzweifelter Stimme. Aus den Augenwinkeln bemerkte Begay, wie Wolf walks alone sich langsam etwas näher an den Toten am Baum heran bewegte. Er schien es auf dessen Gewehr abgesehen zu haben. Begays Hirn arbeitete fieberhaft. Wer war bei einem Schusswechsel am gefährlichsten? Susan hielt keine Waffe in der Hand, war also nicht sofort eine Bedrohung. Mister Kaufman war der älteste von allen, es konnte also sein, dass er nicht mehr so schnell reagierte und vielleicht auch nicht mehr so gut schoss wie die anderen. Andererseits konnte es aber auch sein, dass er der erfahrenste Jäger und damit immer noch ein besserer Schütze war als die beiden anderen Männer, die er nicht einschätzen konnte. Wenn Wolf walks alone es schaffte, mit einem Sprung an das Gewehr des Toten heranzukommen, würde er auf den alten Kaufman oder dessen Sohn schießen, denn der dritte Mann stand etwas abseits und wäre für ihn dann hinter dem Baum. Begay hatte sich entschieden. Er würde auf den abseits stehenden Mann feuern. Als könnt er seine Gedanken lesen, sagte der Mann: „Ich finde, wir haben genug geredet. Lasst uns die Rothäute abknallen!“ Es war unwirklich, wie in einem schlechten Film. Begay sah, wie der Mann sein Gewehr hob und ebenfalls auf ihn zielte. War es schon zu spät? Hatte er zu lange gezögert? Im selben Moment nahm er eine schnelle Bewegung wahr. Er fühlte mehr, als dass er sah, wie Wolf walks alone zu dem Gewehr hechtete. Begay handelte sofort. Er schoss auf den Mann, der ihn bedrohte. Auch der Mann schoss, aber anscheinend traf er nicht, denn Begay fühlte keinen Schmerz. Der Mann fiel hinten über. Gleichzeitig hörte Begay mehrere Schüsse. Wolf walks alone hatte das Gewehr erreicht. Auch der alte Kaufman war getroffen. Er stolperte rückwärts, blieb aber auf den Beinen. Begay ließ sich fallen. Zum Glück war hier eine Bodensenke, so dass er fast ganz verborgen war. Er hörte Susan schreien. Sie und ihr Bruder standen Seite an Seite und feuerten auf den Baum, hinter dem Wolf walks alone in Deckung gegangen war. Rindensplitter spritzten in alle Richtungen, aber die Geschosse erreichten ihr Ziel nicht. Begay nutzte die Chance, auf den Baum zuzurobben, um auch eine bessere Deckung zu finden. Plötzlich stand Wolf walks alone neben dem Baum, das Gewehr

darangelehnt, zielte einen Moment und schoss. Der Knall der großkalibrigen Waffe übertönte alles. Dann war es erschreckend still. Susan sah ihren Bruder an, der an sich herabsah. Auf seiner Brust zeichnete sich ein großer roter Fleck ab, der sich schnell noch weiter vergrößerte. Seine Augen hatten einen ungläubigen Ausdruck. Dann brach er auf die Knie, schwankte in dieser Position einen Augenblick lang und fiel dann vornüber ins Gras. Susan und ihr Vater schrien auf und begannen wieder zu feuern. Wolf walks alone war wieder hinter dem Baum in Sicherheit, aber er hatte die beiden Schüsse seines zweischüssigen Jagdgewehrs abgegeben. Diese Tatsache musste den beiden Angreifern bewusst sein, denn das Feuer konzentrierte sich jetzt auf Begay, der sich hinter die Bodenwelle drückte. Aber sie kamen auf ihn zu. Sie mussten ihn zuerst erledigen, da er noch eine Waffe hatte, dann konnte auch Wolf walks alone ihnen nicht mehr entkommen. Begay spürte, wie über ihm Erde und Gras von den Geschossen in die Luft gesprüht wurde. Gleich würden sie über ihm sein und ihn erschießen. Er musste aufspringen, auch wenn er dann ein perfektes Ziel bot. Sonst war es zu Ende. Mit gezogener Pistole kam er hoch, den Todesschuss erwartend. Im selben Moment traf ihn der dumpfe Schlag. Einen Augenblick verstummten die Geräusche. Er versuchte zu schießen, aber der Arm versagte ihm den Dienst, sank herunter. Er war getroffen. Dann stand Wolf walks alone plötzlich vor ihm. Sein großer Körper zuckte mehrere Male, getroffen von den Kugeln, dann brach er vor Begay auf den Knien zusammen. Er hatte sich vor ihn gestellt, um ihm das Leben zu retten. Begay hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden und umzufallen. Aber dann war Wolf walks alones Tat umsonst. Er musste weiterkämpfen. Am Leben bleiben. Begay hob die Pistole. Noch halb verdeckt von dem Lakota, der schwankend vor ihm kniete, zielte Begay genau. Er drückte ab und auf der Stirn des alten Kaufman zeigte sich ein kleines rotes Loch. Ein dünner Strahl Blut trat aus dem Loch und glitt das ausdruckslose Gesicht des Mannes hinunter. Dann sackte er in sich zusammen. Susan schrie herzzerreißend auf und fiel über der Leiche ihres Vaters auf die Knie. Begay hielt seine Waffe weiter auf die Frau gerichtet. Aber sie hatte ihre Pistole bereits fallen gelassen. Weinend und schreiend hob sie ihr Gesicht und sah ihn an. Ihre Augen waren die einer Wahnsinnigen. Sie war nicht mehr die Frau, die er einmal so sehr gemocht hatte. War es vielleicht auch nie gewesen. Sie kroch

rückwärts von ihm fort, stolperte und fiel, rappelte sich wieder hoch und floh weiter. Dabei war ihr Blick angsterfüllt auf ihn gerichtet. Schließlich sprang sie auf und rannte, immer noch schreiend, davon. Begay ließ sie laufen. Ohne Waffe stellte sie keine Bedrohung mehr dar. Begay sah an sich herab und stellte fest, dass er einen Schuss in der Bauchgegend abgekriegt hatte, der aber offensichtlich nicht so tief eingedrungen war und kein wichtiges Organ getroffen hatte. Er fühlte sich schwach und ihm war übel, aber das war sicher nur der Schock. Der alte Kaufman war tot und in der Brust seines Sohnes klaffte ein riesiges, blutiges Loch, auch er war nicht mehr am Leben. Aber Begay musste feststellen, was mit dem dritten Mann war. Er schleppte sich zu ihm hin und sah schon von weitem die glasigen, starr zum Himmel gerichteten Augen. Er ging zurück zu Wolf walks alone. Der Lakota blutete aus zahlreichen Wunden. Auch ihm war nicht mehr zu helfen. Aber er lebte noch. Begay ließ sich mühsam aufs Gras nieder und bettete den Kopf des Sterbenden auf seinen Armen. Wolf walks alone sah ihm in die Augen. „Wir haben die Weißaugen besiegt, mein Navaho-Freund“, sagte er mit einem matten Lächeln und benutzte zum ersten Mal einen Ausdruck der Navaho für die Weißen. „Du hast mir das Leben gerettet“, antwortete Begay. „Mein Weg war hier zu Ende. Du bist ein guter Mann. Ich hätte Dir nie etwas angetan, das musst du mir glauben.“ Ein Zittern ging durch seinen Körper. Offenbar hatte er starke Schmerzen. „Ich habe meine Aufgabe erfüllt, so gut ich konnte“, sprach er weiter. „Ich musste die Büffel beschützen! Das wurde mir in meinen Visionen gezeigt. Immer wieder. Schon seit ich ein Junge war. Es war meine Aufgabe…“ Wolf walks alone sah zum Himmel und lächelte. Sein Atem ging nur ganz flach und Begay dachte er schon, das Leben sei aus ihm entwichen, als er weitersprach: „Ich werde Dir meinen Kriegernamen verraten. Nur sehr wenige Menschen kennen ihn. Ich habe ihn nach meiner ersten Visionssuche erhalten. Tatanka Sapa, der Schwarze Büffel. Der, der die Herde beschützt!“ Er sah Begay in die Augen. „Die Weißen haben unsere Vorfahren nie besiegt. Aber als sie die Bisons nahezu

ausrotteten, nahmen sie ihnen die Lebensgrundlage. Und sie nahmen ihnen noch mehr: Ihre alten Freunde, die Büffel. Ihre Freiheit, ihre Kultur, ihr ganzes Leben! Deshalb mussten unsere Ahnen sich den Weißen Männern ergeben. Und heute töten die weißen Männer wieder die wenigen Büffel, die es noch gibt. Zum Spaß!“ Abermals lief ein krampfartiges Zittern durch seinen Körper. „Ich musste die Büffel beschützen!“ Begay hielt den Lakota in den Armen. Auch er hatte einen geheimen Kriegernamen, den kaum jemand kannte. Er wollte ihn Wolf walks alone sagen, als eine letzte Respektsbezeugung vor dem Tode. Aber als er ihm in die Augen sah, wusste er, dass er nicht mehr da war. Nur seine sterbliche Hülle war hier zurückgeblieben. Er ließ Wolf walks alones schlaffen Körper vorsichtig aufs Gras herunter. Er musste sich jetzt um seine Wunde kümmern und das FBI benachrichtigen. Da Susan Kaufman offensichtlich niemanden informiert hatte, konnte es lange dauern, bis jemand hier auftauchte. Aber es war ja auch nicht eilig. Nichts war mehr eilig. Er würde Zeit haben, über alles nachzudenken. Er würde sich einen Platz suchen und warten bis die Beamten eintrafen. Etwas abseits von den ganzen Toten. Als Navaho versuchte er, dem Kontakt mit Toten aus dem Wege zu gehen. Er hatte viele Tote gesehen in letzter Zeit. Viel zu viele. Er würde eine Reinigungszeremonie brauchen, wenn er wieder zu Hause war.

EPILOG

Nun werde ich heimfinden zum Hozro Unter fruchtbarem Regen werde ich schreiten Von wogendem Nebel werde ich umhüllt sein In der Harmonie des Himmels werde ich wandeln

Begay stand genau am Rand des gewaltigen Tafelberges und sah über die zerklüftete Landschaft seiner Heimat. Er trug die Kleidung eines traditionellen Dineh, Mokassins, eine baumwollene Hose und darüber ein Hemd aus schimmerndem, farbigen Samt. Sein Haar wurde von einem Stirnband gehalten und an dem mit Silber und Türkisen besetzten Gürtel hing sein Medizinbeutel aus Rehleder. Die aufgehende Sonne tauchte die bizarren Türme, Burgen und Zinnen aus rotem, orangem und gelbem Sandstein in ein unwirkliches Licht und ließ sie damit noch fantastischer aussehen. Die drohenden Wolkengebirge, die über den gezackten Gipfeln der Chuska Mountains aufragten, glühten im Rot der Morgensonne, während das Firmament bereits von seiner milchigen Farbe der Dämmerung zu einem stählernen Blau überging. Die ersten Greifvögel erhoben sich über die Canyons und kreisten majestätisch über der erwachenden Welt. Begay sog den trockenen Geruch der Halbwüste, von Wacholder, Pinien und Schlangenkraut in sich ein und genoss den lauen Wind, der vom Canyonboden herauf wehte. Nach der Kühle der Nacht tat die erste Wärme des Tages um diese frühe Morgenstunde noch wohl. Er murmelte noch einmal die Verse, die vor etwa einer halben Stunde Robert Tsikin, der Yataalii, zu seiner Heilung gesungen hatte. Er hatte sich übergeben, genau zur richtigen Zeit, als die Sonne über dem Horizont erschien, um damit das Böse, mit dem er in Berührung gekommen war und das ihn quälte, von sich zu geben. Kurz vor Sonnenaufgang hatte ihm Robert Tsikin eine übel schmeckende, milchige Flüssigkeit, die er in einem wasserdichten Korb hergestellt hatte, zu trinken gegeben, worauf Begay sofort das Gefühl gehabt hatte, sich übergeben zu müssen. Auch seine Familienangehörigen mussten etwas von dem Gebräu zu sich nehmen. Später würden sie ihre Körper noch mit dem Sud einreiben, während Hosteen Tsikin den letzten Gesang der Zeremonie intonierte. Danach

musste das letzte Sandbild, das der Medizinmann während der Nacht aus rotem, gelbem, blauem, orangem, braunem, schwarzem und weißem Sand kunstvoll erstellt hatte, wieder mit den Federn an seinem Jish-Bündel verwischt werden. Die Sandbilder durften nie länger als einen Tag bestehen, dann musste der Sand in alle Winde zerstreut werden. Das hatte „sich wandelnde Frau“ den vier Urclans der Dineh aufgetragen, als sie ihnen die heiligen Zeremonien gebracht und die Anfertigung der Sandmalereien am Himmelszelt gezeigt hatte. Schließlich würden Begay und seine Familie sich von den Verwandten und Freunden, die gekommen waren, um ihm beizustehen, verabschieden und die Zeremonie wäre zu Ende. Fünf Tage lang hatte sie gedauert und war damit noch die kürzere Version des Gesanges zur Beschwörung des Bösen. Begay fühlte sich erschöpft und müde, aber auch deutlich besser als in der letzten Zeit. Mit dem symbolträchtigen physischen Ausbrechen des Übels und der Begrüßung der Morgensonne des neuen Tages fühlte er sich wie neu geboren. Seit dem Gebet an Dawn Boy, dem er eine Handvoll aus Mais gewonnenem Schrotmehl und Blütenpollen geopfert hatte, den Blick unverwandt auf die aufgehende Sonne gewandt, und den vier rituellen, tiefen Atemzügen fühlte er sich wieder aufgenommen in den Kreis des Lebens, in die Harmonie aller Dinge. Wolf walks alone war tot. Der Mörder, den er gejagt hatte, hatte sich geopfert, um ihm das Leben zu retten. In Billings war Begay unter großem Tamtam verabschiedet worden. Agent Winslow und Chief Inspector Burns, der Chef der Dienststelle, der vorher nicht immer überzeugt von Begays Kompetenz gewesen war, hatten ihm einen Stetson-Cowboyhut überreicht, als Erinnerung an Montana. Zu Hause hatte er ihn mit einem Band aus handgearbeiteten SilberConchos umgeben, so dass er wie ein Navaho-Hut aussah. Von Susan Kaufman hatte er nichts mehr gehört. Früher oder später war sie sicher gefunden worden. Sie würde sich, unehrenhaft aus dem FBI entlassen, wegen Behinderung der Ermittlungen, Selbstjustiz und Mordversuch an einem Polizisten vor Gericht verantworten müssen. Begay hoffte, sie nie wiederzusehen. Sie hatte ihn die ganze Zeit benutzt. Sie wollte, unter dem übermächtigen Einfluss ihres Vaters, um jeden Preis den Mörder zur Strecke bringen, wenn sich die Möglichkeit ergab. Und dazu hatte sie ihn gebraucht. Hatte sie auch ihre Sympathie für ihn nur gespielt? Begay

wusste es nicht. Andererseits glaubte er doch, dass sie ihn wohl wirklich gemocht hatte. Sonst wäre vielleicht auch die Schießerei anders ausgegangen. Begay wollte nicht mehr darüber nachdenken. Wieder einmal hatte ein weißer Mensch, den er gern gehabt hatte, ihn nur für seine Zwecke benutzt, so war es bei den Weißen wohl immer. Er war froh, dass er nun erstmal keine bilagaana sehen musste. Hier in seiner Heimat, der großen Reservation, fühlte er sich vor den schädlichen Einflüssen der weißen Gesellschaft relativ sicher. Die Sonne stand jetzt schon etwas höher und die Luft über der grandiosen Felslandschaft begann bereits zu flimmern. Begay atmete den Geruch der Berge tief ein und sah zum Hogan, wo seine Frau und sein Sohn auf ihn warteten. Er fühlte sich geheilt. Bei aller Verwurzelung in der Tradition seines Volkes war er gleichzeitig doch auch ein moderner Mensch, der nach rationalen Erklärungen suchte. Er wusste nicht, ob es die Magie gewesen war, die ihn wieder hergestellt hatte, oder ob es die psychologische Wirkung von so viel Aufmerksamkeit und Anteilnahme war, vielleicht ließ sich das auch gar nicht trennen. Ein hoch angesehener und erfahrener Medizinmann hatte fünf Tage und Nächte fast ununterbrochen für seine Genesung gearbeitet. Natürlich wurde er dafür im Rahmen der Möglichkeiten seines Patienten entlohnt. Viele Verwandte vom Towering House Clan waren gekommen und auch vom Red Forehead Clan seines Vaters. Aber auch vom Bitter Water Dineh, zu dem seine Frau und sein Sohn gehörten, und vom Streams Come Together von Kathys Vater waren Verwandte da. Freunde und Bekannte hatten alles stehen- und liegenlassen und sich über die Staubstraßen der Big Rez auf den Weg gemacht, um Frank Begay und seiner Familie beizustehen. Insgesamt über sechzig Personen, die auch verpflegt werden mussten, kampierten jetzt seit fünf Tagen hier oben. Diese Unterstützung und dieser Rückhalt hatten sicher geholfen, Begay zurückzuholen in den Kreis seiner Verwandtschaft und seines Stammes. Das gemeinsame Erfüllen der uralten Rituale hatte ihn wieder eingegliedert in die Tradition seines Volkes, ihn wieder eins werden lassen mit seiner Herkunft und mit den Menschen, die er liebte. Er hatte seinen Platz in der Natur seiner Heimat, aus der er geboren war und in der er eines Tages sterben würde, im universellen Gleichgewicht aller Lebewesen und Dinge, wieder eingenommen. Er war zurückgekehrt in die Harmonie des Universums, ins Hozro.

Begay riss sich von dem Anblick der majestätischen Landschaft los und ging zurück zu seiner Frau und seinem Sohn. Irgendwo hinter ihm, in den endlosen Canyons, ertönte der lang gezogene, heisere Ruf eines Kojoten.

Ulrich Wißmann

Schon seit frühester Jugend beschäftigt sich Ulrich Wißmann mit den Indianern Nordamerikas. Seine Leidenschaft führte ihn schließlich auf viele Reisen nach Nordamerika, bei denen er intensive Kontakte zu „Natives“ knüpfte. Er besuchte den Apachen-Storyteller David Running Horse und lernte über ihn den berühmten Medizinmann des Chumach-Stammes Tony Romero kennen. Er studierte Völkerkunde mit Schwerpunkt „nordamerikanische Indianer“ und Germanistik in Göttingen und Hamburg, wo er 1991 seinen Abschluss machte. Bei seinen Recherchen zu seiner Magisterarbeit traf er den Mitbegründer der „Action Anthropology“ Karl Schlesier und lernte über ihn die Cheyenne und Lakota kennen. Am Oglala Lakota College auf Pine Ridge belegte er Sprachkurse, außerdem nahm er an Zeremonien teil. Er besuchte viele weitere Indianerreservationen in den USA und Kanada, besonders immer wieder die Navaho- und Hopi-Reservation. Hierauf entstand auch sein Buch „Indianischer Widerstand im Nordamerika der Gegenwart“. Ulrich Wißmann ist ein wahrer Kenner der indianischen Szene und seine vielen Kontakte ermöglichen ihm ein realistisches Bild über indianischen Alltag und indianische Lebenseinstellung.

Von ihm erschien bereits „Indianischer Widerstand im Nordamerika der Gegenwart“, Infoe-Verlag, Mönchengladbach, 1993, ISBN 3-927424-07-2

Danksagung

Bedanken möchte ich mich bei David (Cherokee), dessen Nachnamen ich nicht mehr weiß, mit dem ich gereist bin und der mir gezeigt hat, dass es noch andere Menschen gibt, die so denken wie ich! Ich danke David Running Horse (Apache) und dem Medizinmann Tony Romero (Chumash), die mich in ihren Familien aufnahmen und mir so vieles beibrachten! Ich danke Karl-Heinz Schlesier für freundliche Aufnahme und gute Gespräche und dafür, dass er mich mit zu den Cheyenne nahm. Außerdem gilt mein Dank der gesamten Familie von Bill Red Hat in Oklahoma! Ich danke dem Puebloindianer und Ethnologen Alphonso Ortiz und Ted Hohola von der University of New Mexiko in Albuquerque, außerdem Radford Quamahongjiva und Vernon Masajesva von den Hopi. Bei den Navaho gilt mein besonderer Dank Harry Walters vom Navaho Community College in Tsaile, Navaho-Daniel vom Monument Valley, Claire Kelly und Seth Begay. Weiterhin danke ich Dennis Jennings und Antonio Gonzales für ihre Informationen über das American Indian Moyement. Bei den Lakota danke ich besonders Albert White Hat vom Community College in Mission auf der Rosebud-Reservation auch für die Einladung zur SchwitzhüttenZeremonie, Karen Doney, der Enkelin des großen Medizinmannes Frank Fools Crow, Dowell Smith, und Marty Frog vom Oglala Lakota College auf der Pine Ridge Reservation und besonders dem Medizinmann Calvin Jumping Bull für tiefe Gespräche und spirituelle Unterweisung. Nicht zuletzt gilt mein Dank meinen Verlegern Kerstin und Bruno Schmäling für viele gute Anregungen und Gespräche!

Celle, im Dezember 2009

Unsere Thriller:

Böser Zauber Schwarze Magie auf der Navaho Reservation

Thriller von Ulrich Wißmann

6,95 € eBook ISBN 978-3-941485-38-9

Wer die Geister stört Mord am heiligen Berg der Apachen

Thriller von Ulrich Wißmann

6,95 € eBook ISBN 978-3-941485-34-1

Der Fluch von Fort Henry Die Rache des Ojibwe Schamanen

Ethno-Krimi von Ronda Baker-Summer

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Maggie Yellow Cloud Mord auf Pine Ridge

Thriller von Brita Rose-Billert

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Maggie Yellow Cloud Das verkaufte Herz

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Sturmgeflüster Tödliche Spurensuche im Land der Sioux

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