Kleine Gefühlskunde für Eltern
Wie Kinder emotionale und soziale Kompetenz entwickeln
Vivian Dittmar
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3. Auflage Originalausgabe © 2014 Vivian Dittmar Verlag V. C. S. Dittmar, München Lektorat: Chiara Jana Greber Cover Design: Vivian Dittmar
ISBN: 978-3-940773-30-2
Für meine Eltern, in Liebe und Dankbarkeit.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung Teil 1: Eltern & Gefühle Nicht alles, was du fühlst, ist ein Gefühl Gefühle sind Beziehungskräfte Eltern und Absolutheitsansprüche Wie entstehen Gefühle? Wut sagt: “Stopp!” Trauer sagt: “Ja, so ist es.” Mutterängste, Vatersorgen — Aufbruch ins Ungewisse “Ich bin eine schlechte Mutter” — stimmt das? “Du bist wunderbar!” Giftiges Familienerbe: Emotionale Altlasten Kleine Dramen, große Dramen Teil II: Kinder & Gefühle Wie Gefühlskräfte sich entwickeln “Das Leben ist schön!” “NEIN!” “Aua, ich habe mir wehgetan!”
“Mama, lass die Tür auf!” “Du solltest dich schämen!” Störungen in der emotionalen Entwicklung Teil III: Ein neues Miteinander In Beziehung mit Gefühl Wie entsteht soziale Kompetenz? Der Umgang mit Macht Was Kinder von uns brauchen Anhang
Anmerkung
Seit Erscheinen des Buches “Gefühle, eine Gebrauchsanweisung” wurde ich immer wieder gebeten, ein Buch über Kinder und Gefühle zu schreiben. Gerne möchte ich, aufbauend auf der Gebrauchsanweisung, diesem Wunsch nachkommen. Ich habe mich zwar bemüht, das Buch so zu schreiben, dass es auch ohne vorherige Lektüre der Gebrauchsanweisung verständlich ist, dennoch wollte ich nicht zu viele Inhalte des ersten Buches wiederholen. Daher empfehle ich — entweder zeitgleich oder vorher -, das erste Buch zu lesen und somit ein solides Verständnis der hier gebrauchten Begriffe zu haben. Genauso möchte ich jene Leser um Nachsicht bitten, die mit der Gebrauchsanweisung vertraut sind. Ein paar Wiederholungen lassen sich wohl kaum vermeiden.
Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass ich bewusst darauf verzichtet habe, durchgehend gegendert zu schreiben, da ich Formulierungen wie “meine(n) LebensgefährtIn” als sehr störend für den Lesefluss empfinde. Ich habe mal männliche und mal weibliche Beispiele verwendet, mal aus der Sicht des Vaters, mal aus jener der Mutter geschrieben. In allen Fällen, wenn nicht ausdrücklich anders erwähnt, kann genauso das jeweils andere Geschlecht eingesetzt werden.
Einleitung
Der Indianerälteste Manitonquat erzählt gerne die Schöpfungsmythen seines Stammes, den Wampanoag. Eine Geschichte handelt davon, wie der Schöpfer sich nach getaner Arbeit von der Erde zurückziehen wollte, als er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass in einer Höhle ein großer Magier gefunden wurde. Dieser Magier sei womöglich mächtiger als der Schöpfer selbst, hieß es, und es wurde ihm nahegelegt, sich diesen einmal anzusehen, bevor er sich von der Erde zurückzieht — nicht dass es in seiner Abwesenheit Probleme geben würde!
Der Schöpfer sucht also besagte Höhle auf und findet dort, zu seiner großen Verwunderung, ein Neugeborenes vor. Er hält dies für einen Trick des großen Magiers und verwandelt sich selbst mithilfe seiner magischen Kräfte nacheinander in einen Adler, eine Schlange und einen Löwen. Das Baby zeigt sich zunächst wenig beeindruckt. Es lacht und gluckst und spielt mit den Erscheinungen. Als zuletzt der Löwe das Baby anbrüllt, bekommt es jedoch einen Schreck und beginnt zu weinen. Nun bekommt der Schöpfer einen furchtbaren Schreck. Er verwandelt sich augenblicklich in seine ursprüngliche Gestalt zurück und tut alles, um das Baby zu beruhigen. In diesem Moment erkennt der Schöpfer, dass das Baby gewonnen hat. Er erklärt seine Niederlage und zieht sich von der Erde zurück. [1]
Babys haben von allen Wesen die stärkste Magie, das zumindest glauben die Wampanoag. Sie sind pures Leben und werden uns immer wieder von Neuem geschickt, um uns mit dem Leben zu verbinden. Durch sie tritt das Leben in immer neuen Erscheinungsformen in die Welt und durch sie geschieht Evolution. Oder, anders ausgedrückt: sie sind Evolution.
Romantische Verklärung und harte Realität
Doch leider ist es mit der einfachen Feststellung, Kinder seien etwas Wunderbares, nicht getan. Das ist erst der Anfang. Kinder sind etwas Wunderbares und Kinder können mit das Furchtbarste auf der Welt sein. Jeder, der mal erlebt hat, wie Kinder uns auf die Palme bringen können, weiß, wovon ich spreche. Kinder können unsere tiefsten Wunden berühren und lassen partout nicht locker, auch wenn wir kurz davor sind, sie auf den Mond zu schießen, zusammenzubrechen oder beides zugleich. Mit anderen Worten: Kinder können uns ganz und gar an unsere Grenzen bringen.
Was bleibt, ist häufig ein seltsamer Spagat: zum einen die verklärte Romantisierung der Kindheit und des Kindes als fast schon mystisches Zauberwesen in einer eigenen Welt. Zum anderen Eltern, Lehrer und Erzieher, die viel Zeit, Energie und ausgeklügelte Strategien darauf verwenden, ihren Kontakt mit diesen Wesen nach Möglichkeit zu minimieren. Eben weil sie einfach so unglaublich intensiv, konfrontierend und vor allem lebendig sind.
In diesem Buch ist es mir ein Anliegen, beiden Rechnung zu tragen — dem Zauberwesen Kind und den mitunter heftigen Gefühlen, die es in uns auslösen kann. Ich bin nicht nur der Meinung, dass Kinder etwas Wunderbares sind. Für mich sind Kinder sogar das Wunderbarste auf der Welt. Und damit beziehe ich mich nicht auf die Idee Kind, sondern auf meine erlebte Realität. Diese offenbarte sich mir jedoch erst, als ich bereit war, alle Konzepte über Bord zu werfen und mich der Intensität des Kindes anzuvertrauen.
Miteinander wachsen
Ich bin dem bekannten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul sehr dankbar für seinen Hinweis, dass die Eltern-Kind-Beziehung vor allem eine Liebesbeziehung ist. [2] Damit öffnet er uns Eltern die Tür, verkopftes Philosophieren über Erziehungsansätze beherzt hinter uns zu lassen und uns auf
unsere Kinder einzulassen. Ein Schritt, der uns beglücken, erfüllen und reich beschenken kann. Doch das ist nur die eine Seite. Die andere ist jene, dass jede Liebesbeziehung Gefühle von unglaublicher Intensität in uns wachruft — auch die Beziehung mit unseren Kindern. Zum einen natürlich den Rausch absoluter Verliebtheit, gefolgt von einer reichen Palette an Gefühlen, die uns mit einer überraschenden Heftigkeit überfluten. Wie gehen wir damit um? Und vor allem ist die Gefahr eines Machtmissbrauchs ungleich größer, sollte es uns nicht gelingen, mit dieser Gefühlsintensität einen konstruktiven Umgang zu finden.
Dieses Buch ist ein Plädoyer für einen gemeinsamen Wachstumsprozess mit unseren Kindern. Nichts und niemand auf dieser Welt ist besser dazu geeignet, uns mit uns selbst zu konfrontieren, als unsere eigenen Kinder. Niemand erspürt unsere Schatten und Schwachstellen präziser als sie und keiner liebt uns bedingungsloser. Sie wollen nicht, dass wir perfekt sind, sie wollen vor allem, dass wir mit uns selbst und mit ihnen in Kontakt sind — sie wollen, dass wir da sind. Kinder fordern uns, über uns selbst hinauszuwachsen. Nehmen wir ihre Einladung an, wird der Prozess nicht nur zu einer neuen Beziehung mit unseren Kindern führen, sondern vor allem auch zu einer neuen Beziehung mit uns selbst und dem Leben an sich.
Eltern sein gestern und heute
Noch vor zwei oder drei Generationen hatten die meisten Eltern gar keine Zeit und auch gar keinen Anlass, sich über Kindererziehung Gedanken zu machen. Kinder wurden nach einem festen Schema erzogen, gut und schlecht, richtig und falsch waren sauber sortiert und die Eltern hatten dies “nur” umzusetzen, auch mit Gewalt. Strenge und Härte galten als Ausdruck der eigenen Liebe gegenüber den Kindern.
In vielen Kulturen ist das noch heute so, und das hat nicht nur Nachteile. Ein vorgegebenes ethisch-moralisches Korsett mag zwar weniger Platz zum Atmen bieten, es gibt aber auch Halt und Orientierung. Die Verantwortung für die
Wunden, die dadurch in Kinderseelen geschlagen werden, liegt beim Kollektiv — denn man macht es ja so, weil es schon immer so gemacht wurde — und entlastet damit die Eltern.
Ein solch enger Rahmen funktioniert auch recht vernünftig, solange Kinder durch ihn auf ein Leben in einer Gesellschaft vorbereitet werden sollen, die sich in genau diesem engen Rahmen bewegt. Mit anderen Worten: Ein autoritärer Erziehungsansatz, der stur einen bestimmten Satz Regeln durchsetzt, bis der Wille des Kindes sich seiner Macht beugt, bereitet Kinder optimal auf das Leben in Strukturen vor, die nach eben diesen Regeln funktionieren und in denen sie am besten überleben, wenn sie keinen eigenen Willen haben. Er ist allerdings absolut nutzlos in der Vorbereitung auf ein Leben in Eigenverantwortung und Freiheit — Werte, die inzwischen tief in den Kulturen der Industrienationen verankert sind.
Deutlich wird dieses Versagen an Orten, wo diese beiden Ansätze aufeinanderprallen. Ein Beispiel hierfür sind derzeit in Deutschland Schulen mit einem hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund. Idealistische Lehrer beobachten hier immer wieder, dass jene Schüler, die zu Hause die stärkste autoritäre Geißelung erfahren, in der Schule am wenigsten mit einem respektvollen, auf Eigenverantwortung basierenden Miteinander umgehen können. Die Abwesenheit von drastischen Sanktionen und drakonischen Strafen führt offenbar zu einer Haltlosigkeit, die sich in purer Rebellion äußert. Diese Beobachtung dürfte auch ein für alle Mal die Überlegung entkräften, dass die Verhaltensauffälligkeiten unserer Kinder und Jugendlichen darin begründet sind, dass sie zu Hause zu wenig Strenge erfahren. Doch was ist es dann? Wenn Strenge nicht mehr greift, heißt es dann, dass wir die Kinder einfach machen lassen, was sie wollen?
Diese Idee ist im Jahr 2014 nun wirklich nichts Neues mehr und wurde auch schon zur Genüge ausprobiert. Aus autoritär wurde in den siebziger Jahren antiautoritär. Die Ergebnisse waren nicht gerade überzeugend, denn weder Erwachsene noch Kinder kamen bei diesem Konzept auf ihre Kosten. Es
versagte auch darin, Kindern einen Rahmen zu geben, in dem sie lernen können, mit dem hoch anspruchsvollen Zustand der Freiheit verantwortungsvoll umzugehen. Danach schwang das Pendel wieder eher zurück in Richtung autoritär. Eltern müssten klar und konsequent sein, hieß es nun, Kinder bräuchten Grenzen. Statt Strafen sagte man nun Konsequenzen und wunderte sich, dass Kinder den Unterschied nicht verstanden, sich immer noch verurteilt und beschämt fühlten.
Heute bewegen sich die meisten Eltern irgendwo zwischen diesen beiden Polen, was sicher kein schlechter Startpunkt ist. Das größte Problem sehe ich heute darin, dass Eltern, solange alles gut läuft, gerne partnerschaftlich und auf Augenhöhe mit ihren Kindern sind. Sobald es jedoch zu Konflikten kommt, sind sie mit diesem Ansatz überfordert bzw. haben keine funktionierenden Strategien, um Konflikte auch auf Augenhöhe zufriedenstellend zu lösen. Woher auch, schließlich haben wir es nie gelernt. Dann geschieht das, was eigentlich in Stresssituationen immer geschieht: Wir greifen auf das zurück, was wir kennen. Und was wir kennen, ist eben doch noch die autoritäre Schiene, wo wir als Eltern die Machtkarte ziehen und uns über unsere Kinder hinwegsetzen. In diesem Moment fühlen unsere Kinder sich verwirrt, verraten und zutiefst verletzt, denn es t so gar nicht zu dem, was wir sonst mit ihnen leben.
Außerdem sehe ich bei allen Fortschritten, die wir im Umgang mit unseren Kindern gemacht haben — und die haben wir zweifellos gemacht -, immer noch eine entscheidende Lücke bei dem Thema Gefühle. Die weitverbreitete Unkenntnis über Wesen und Funktion dieser Kräfte führt dazu, dass wir als Eltern unseren Kindern genau das weitergeben, was wir selbst gelernt haben: irgendwie, mehr schlecht als recht, mit Gefühlen klarzukommen, jedoch eher im Überlebens- als im Gestaltungsmodus. Darüber hinaus scheitern die meisten guten Absichten, mit denen Eltern ihre erzieherischen Ideale umsetzen wollen, an unserer eigenen Unfähigkeit, im Härtefall gut mit unseren Gefühlen umzugehen.
Beziehung statt Erziehung
Die Frage ist: wenn nicht autoritär und nicht antiautoritär, was dann? Wenn wir die Idee, Kinder nach bestimmten Schemata zu formen, als unbefriedigend und unangemessen loslassen, da sie nicht den Ansprüchen einer auf Eigenverantwortung und Freiheit basierenden Gesellschaft entspricht, was tritt an den Platz der verstaubten Litaneien endloser “Man”-Sätze? Und wenn wir zugleich die Idee loslassen, dass wir Kinder einfach freilassen sollten, was kann ihrem nicht endenden Strom des Wollens Ufer geben, sodass er sich auf etwas ausrichten kann, das sowohl ihnen selbst als auch ihrer Umgebung zuträglich ist? Mit anderen Worten: Wenn wir uns nicht mehr darauf berufen können, dass “man” dieses oder jenes tut (oder eben nicht), da “man” heute so vielfältig ist, dass “man” eben so ziemlich alles tut (oder eben nicht), was kann Kindern dann Halt und Orientierung geben?
Die Antwort ist zugleich einfach und doch komplex: Es sind die Beziehungen, die wir mit unseren Kindern eingehen, die ihnen Halt und Orientierung geben, nicht mehr und nicht weniger. In Beziehung treten bedeutet Bezug nehmen oder “sich beziehen auf”. Mit unseren Kindern in Beziehung zu treten bedeutet also, weder sie einfach sich selbst zu überlassen noch sie nach unseren Vorstellungen zu formen. Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als sich auf sie zu beziehen, immer wieder aufs Neue. Sich zu beziehen bedeutet, meiner persönlichen Stellung Ausdruck zu verleihen, was unter anderem durch unsere Gefühlskräfte geschieht. Auf diesem Wege lernen Kinder auch unsere Werte kennen — sie werden ihnen jedoch nicht übergestülpt, sondern lediglich angeboten.
Getragen von Vertrauen und Respekt, geben unsere Gefühle und Bedürfnisse dem Kind einen Rahmen, in dem es sich selbst erfahren kann. Hier kann es die eigenen Bedürfnisse und Gefühle in einen sinnvollen Zusammenhang stellen und lernen, was es bedeutet, mit anderen Menschen gemeinsam Lösungen für unterschiedliche Herausforderungen des Zusammenlebens und letztlich auch des Zusammenarbeitens zu finden.
Zum Aufbau dieses Buches
Um Kindern heute authentisch Halt und Orientierung bieten zu können und ihnen damit einen Raum zu geben, in dem sie sich zu emotional und sozial kompetenten Erwachsenen entwickeln können, müssen wir selbst emotional und sozial kompetent werden. Der Aufbau dieses Buches reflektiert diese Überlegungen und Erfahrungen.
Zunächst schien es naheliegend, den ersten Teil des Buches direkt den Gefühlen des Kindes zu widmen. Es würde auch unserer gängigen Herangehensweise an Kinder und Kindererziehung entsprechen. Wachsamen, liebevollen oder sorgenvollen Auges betrachten und beobachten wir das Kind in seinem Tun und Sein, allzeit bereit, ihm etwas Gutes zu tun, es in seiner Entwicklung zu unterstützen oder korrigierend einzugreifen. So wäre es eben auch verlockend, sich zunächst mit der Gefühlswelt des Kindes vertraut zu machen. Wir könnten untersuchen, wie es Wut, Trauer, Angst, Freude oder Scham empfindet und ausdrückt, um daraus dann vielleicht abzuleiten, wie wir am besten damit umgehen.
Doch die Realität ist eine andere. Tatsächlich ist es ja so, dass wir vor allem unseren eigenen Gefühlen ausgesetzt sind. Wir haben mit unserer eigenen Wut, unserer Scham, unserer Trauer, unserer Angst und unserer Freude umzugehen — auch in der Beziehung zu unseren Kindern. Viele Eltern haben regelmäßig mit Emotions-Tsunamis zu kämpfen, die jeden guten Vorsatz hinwegspülen. Andere spüren geradezu beunruhigend wenig. Und es ist unsere Fähigkeit oder Unfähigkeit, mit diesen Gefühlen liebevoll, achtsam und kraftvoll umzugehen, die das Kind vor allem mit- und abbekommt.
Im ersten Teil steht daher nicht das Kind, sondern der Erwachsene im Mittelpunkt. Ich beziehe mich hier vor allem auf Eltern, doch eigentlich meine ich alle Menschen, die sich — freiwillig oder unfreiwillig — der Intensität von Kindern aussetzen und daran interessiert sind, sich von dieser Erfahrung
transformieren zu lassen. Denn ohne eine tiefe Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen wird es trotz bester Absichten, trotz solidem theoretischen Verständnis und trotz riesengroßer Liebe nicht gelingen, im Umgang mit den Gefühlen des Kindes neue Wege zu gehen.
Erst im zweiten Teil geht es dann vordergründig um das Kind. Hier wird genauer auf die Gefühlswelt des Kindes eingegangen. Ich gehe auf den Entstehungs- oder Ausreifungsprozess der einzelnen Gefühle ein und beschreibe die Funktion der einzelnen Gefühle aus der Sicht des Kindes. Außerdem betrachte ich gängige, oft gut gemeinte Wege, wie die Entwicklung bestimmter Kräfte behindert wird.
Vor diesem Hintergrund können wir auch besser oder neu (be)greifen, was das Kind braucht, um zu einem empathischen, fühlenden, kraftvollen und lebensfreudigen Erwachsenen heranzuwachsen. Und genau darum geht es in Teil III: Wie können wir die Beziehung mit unseren Kindern so leben, dass sie ihnen Halt gibt, ohne sie zu ersticken? Und wie können wir uns gut um unsere eigenen Bedürfnisse kümmern, ohne die des Kindes zu vernachlässigen — und umgekehrt? Wenn wir das verstanden haben, wird ein neues Miteinander möglich. Aus Erziehung wird ein gemeinsames Wachsen und eine Beziehung auf Augenhöhe. Und durch diese Beziehung können wir mit unseren Kindern die erfüllende Erfahrung machen, das Abenteuer Menschsein ganz auszukosten. Denn darin sind sie die unbestreitbaren Experten.
[1] Persönlich erzählt von Manitonquat im Rahmen des Circle Way Camps, Pfingsten 2010 bei München
[2] www.zeit.de/2010/09/Jesper-Juul/seite-5, abgerufen am 6. Juni 2014 um 17:15 h
Teil I:
Eltern & Gefühle
Nicht alles, was du fühlst, ist ein Gefühl
Bevor wir tiefer in die Thematik der Gefühlskräfte einsteigen, scheint es mir wichtig, ein paar grundlegende Unterscheidungen aus meinem ersten Buch Gefühle — Eine Gebrauchsanweisung noch einmal aufzugreifen. Ich habe mich in der Einleitung auf fünf Gefühlskräfte bezogen: die Wut, die Angst, die Trauer, die Scham und die Freude. Manch einer mag sich im Stillen schon gefragt haben “ Moment, was ist denn mit all den anderen Gefühlen? Was ist mit der Liebe zum Beispiel oder mit Neid, Hass oder Verzweiflung? Warum werden die denn gar nicht erwähnt?”.
Fünf Hauptgruppen von Empfindungen im Überblick:
1. Körperliche Empfindungen 2. Biologische Programmierungen 3. Gefühle als soziale Kräfte 4. Emotionen 5. Fähigkeiten oder Bewusstseinszustände
Ich unterscheide in der Gefühlskunde verschiedene Arten von Gefühlen, je nach Ursprung und Art, denn nicht alles was du fühlst ist ein Gefühl. Der Kasten zeigt eine Auflistung der verschiedenen Empfindungsarten.
Körperliche Empfindungen sind recht eindeutig zuzuordnen: Hitze, Kälte, Schmerz oder Druck. Biologische Programmierungen sind der körperlichen Ebene eng verbunden. Es handelt sich hier um Empfindungen, die aus unserer Instinktebene kommen und haben vor allem eine Überlebensfunktion. Hier lassen sich zum Beispiel Hunger und Durst, der Sexualtrieb, das Verliebtsein und natürlich auch der Mutterinstinkt recht eindeutig zuordnen. Doch auch Gefühle wie Neid oder Eifersucht ordne ich den biologischen Programmierungen zu.
Gefühle als soziale Kräfte sind in meinem Verständnis hingegen eben jene fünf Kräfte, die ich zuvor aufgelistet habe. Sie haben sich vermutlich später als die Programmierungen entwickelt und haben eine rein psychosoziale Funktion.
Als Emotionen bezeichne ich unterdrückte Gefühle, die zum Zeitpunkt ihrer Erzeugung nicht gefühlt wurden und sich daher in unserem System angestaut haben. Solche Gefühlsaltlasten können verheerende Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben, vergiften unsere Beziehungen und verstopfen unsere Gefühlskanäle. Eine Heilung dieser Altlasten ist für uns Eltern unabdingbar, wenn wir diesen emotionalen Ballast nicht einfach an die nächste Generation weitergeben wollen.
Die letzte Kategorie ist die der Fähigkeiten oder Bewusstseinszustände. Hier ordne ich zum Beispiel die Liebe zu oder das Vertrauen — beides sehr wichtige Fähigkeiten für Eltern, deren Entwicklung jedoch anspruchsvoll ist.
Der Hauptfokus dieses Buches wird auf den reinen Gefühlen und den Emotionen liegen, da hier im Alltag mit Kindern die größte Herausforderung liegt.
Eine Überdosis Leben
Viele Erwachsene sind mit den Gefühlen von Kindern heillos überfordert — auch wenn sie das natürlich ungern zugeben möchten -, schlicht weil sie so intensiv und unmittelbar sind. Kinder haben noch keine Filter entwickelt, nach denen sie Gefühle als gut oder schlecht einordnen und deshalb unterdrücken oder sublimieren. Sie haben noch nicht gelernt, ihren Verstand dazwischenzuschalten und ihre eigenen Gefühle zu reflektieren. Eigentlich ist es daher noch nicht einmal korrekt zu sagen “ihre Gefühle”, denn sie haben keine Gefühle, sie sind sie. Dazu kommt noch, dass kindliche Gefühlskräfte zunächst unreif und unentwickelt sind. Es sind eigentlich noch keine Gefühlskräfte, sondern eher Gefühlswogen, die jedoch das Potenzial haben, zu Gefühlskräften zu werden.
Für Erwachsene ist dies oft nicht auszuhalten und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Wir haben in einem langjährigen Prozess, den man gemeinhin Erziehung oder Sozialisation nennt, gelernt, unsere Gefühle im Schach zu halten, zu zensieren und auch zu unterdrücken. Wir haben dies so gründlich gelernt, dass wir häufig überhaupt keinen oder nur wenig Kontakt mit unseren Gefühlen und daher mit uns selbst und dem Leben haben.
Und nun kommt da dieses geballte Gefühlspaket in unser Leben geknallt und alles explodiert in uns! Genau genommen sind wir also nicht mit den Gefühlen des Kindes überfordert, sondern mit unseren eigenen! Denn all das, was wir über die Jahre verdrängt und zugedeckelt haben, manchmal schon seit der ganz frühen Kindheit, wird nun wachgekitzelt und drängt mit großer Wucht an die Oberfläche. Das kann Wut sein, das können Tränen sein, das kann Angst, Scham oder die pure Lebensfreude sein. Kurz: Jedes Gefühl kann im Verborgenen in uns schlummern und nur auf diesen Moment gewartet haben, in dem es von einer Überdosis Leben wachgeküsst wird!
Die Standardreaktion auf dieses Phänomen ist leider jene, dass dem Kind nun beigebracht wird, was man selbst gelernt hat: es soll nicht weinen, es soll nicht schreien, es soll sich beruhigen, es soll schön brav sein. Diese Standardreaktion
erfolgt oft ganz automatisch, weil wir selbst unsere Beziehung zu unseren Gefühlen noch nicht reflektiert oder geheilt haben und daher einfach das weitergeben, was uns widerfahren ist. Wir können gar nicht anders. Nicht nur, weil wir es nicht anders kennen sondern auch, weil wir es sonst gar nicht mit dem Kind aushalten.
Oder wir spielen das gelernte Programm ab, obwohl wir inzwischen unsere eigenen Gefühle reflektiert und vielleicht teilweise auch geheilt haben, aber schlicht noch nicht herausgefunden haben, wie wir anders mit Kindern umgehen können, damit sie nicht den gleichen Prozess durchwandern müssen wie wir. Das kann sehr schmerzhaft sein. Wir sehen, was wir tun, wir wissen, wo es hinführt, und doch fehlt es uns an Alternativen, an Vorbildern und Modellen, wie wir es anders machen können. Ein solches Modell möchte ich hier anbieten, beginnend mit der Idee, dass Gefühle keine lästigen Störfaktoren sind, sondern Kräfte, mit denen wir unsere Beziehungen gestalten.
Gefühle sind Beziehungskräfte
Wie in “Gefühle, eine Gebrauchsanweisung” ausführlich erläutert, betrachte ich Gefühle als Kräfte, nicht als Probleme. Und zwar alle Gefühle, auch jene, die gemeinhin als “negativ” eingestuft werden, wie etwa die Wut oder die Trauer. Als Eltern brauchen wir diese Kräfte, um für unsere Kinder stark, verletzlich, vergebend, wertschätzend und offen für Neues sein zu können. Gelingt es uns, mit unseren Kindern in dieser Qualität in Beziehung zu treten, zeigen wir ihnen nicht nur, wie sie selbst diese Kräfte entwickeln können, sondern eröffnen ihnen auch die Möglichkeit, wirklich tiefen, authentischen und freudvollen Kontakt mit uns zu haben.
Wofür brauchen Eltern Gefühle?
Die Frage mag absurd klingen, doch ist sie das wirklich? Reflexartig mag man gewiss antworten: “ Ja, natürlich brauchen Eltern Gefühle! Wie sollen sie denn ohne ihre Liebe zu den Kindern überhaupt gute Eltern sein?” Doch was ist Liebe eigentlich — ist sie allein die Freude an unserem Kind, ist es ein Mutterinstinkt oder gar eine Kunst, wie Erich Fromm postulierte? Und wie verhält es sich mit den weniger beliebten Gefühlen wie Wut, Angst, Trauer oder Scham? Hier fällt die spontane Antwort vielleicht etwas anders aus.
Wenn wir uns die Liste der reinen Gefühlskräfte ansehen — Wut, Trauer, Freude, Angst und Scham -, bemerken wir schnell, dass nur eines dieser fünf Gefühle gemeinhin als positiv eingestuft wird. Was um alles in der Welt sollen Eltern also bitteschön mit so vielen negativen Gefühlen? Wenn dann sollte man Eltern doch wohl einen Weg aufzeigen, diese Gefühle loszuwerden oder zumindest zu minimieren, damit sie ihren Kindern wirklich liebevoll begegnen können und das Elternsein freudvoll genießen können! Ist das wirklich so?
Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die vier sogenannten negativen Gefühle dann auftauchen, wenn die Dinge anders laufen, als wir sie gerne hätten. Freude hingegen empfinden wir dann, wenn etwas unserem Bedürfnis entspricht. Daher sind Wut, Angst, Trauer und Scham negativ besetzt, denn wir verbinden sie mit Umständen, die wir uns anders wünschen, als sie sind. Diese Gefühle sind für uns also gleichbedeutend mit Situationen, in denen wir uns nicht wohlfühlen.
Es ist daher nur verständlich und natürlich, dass sie für uns negativ besetzt sind. Daraus jedoch zu schließen, dass wir diese Gefühle lieber nicht haben sollten, ist ein Fehler. Denn diese Gefühle haben sich entwickelt, um uns zu einem adäquaten Umgang mit unerwünschten Situationen zu befähigen. Wir brauchen sie, um mit genau jenen Situationen umzugehen, die wir nicht mögen! Versuchen wir, sie loszuwerden und gelingt uns dies womöglich auch noch, werden wir zugleich unser natürliches Rüstzeug los, um mit der jeweiligen Situation umzugehen — sei es, indem wir sie verändern, sie annehmen, uns verändern oder uns auf das Ungewisse einlassen.
Als Eltern begegnen wir ständig Situationen, die anders laufen, als wir sie gerne hätten. Sei es der Frühstücksbrei in Papas Bart oder die Toilettenrolle in der Waschmaschine — Kinder haben in ihrem Forscher- und Entdeckerdrang, in ihrer grenzenlosen Neugier auf die Welt und auf das Leben eine schier unerschöpfliche Kreativität. Sie probieren alles aus — wirklich alles. Und da gibt es manches, was wirklich wunderbar ist, und einiges, was nicht so gut funktioniert oder nicht dem Bedürfnis ihrer Umgebung entspricht. Und genau hierfür brauchen wir als Eltern unsere Gefühle!
Kinder lassen sich weder von Regeln noch von moralischen Konzepten beeindrucken, doch Gefühle erreichen sie. Kinder wollen uns spüren, so wie sie sich selbst spüren wollen, und in diesem Spüren entsteht Beziehung. Wir als Eltern brauchen unsere Gefühle also nicht primär für uns. Es sind vielmehr unsere Kinder, die Eltern brauchen, die Gefühle haben, damit sie uns spüren
können. Wie das funktioniert und was Beziehung von Erziehung unterscheidet, wird deutlich, wenn wir uns mit dem Thema Absolutheitsansprüche befassen.
Eltern und Absolutheitsansprüche
Erziehung als Normierungsprozess
Wie in der Einleitung bereits angesprochen, war Elternsein lange Zeit gleichgesetzt mit der Aufgabe, Kindern eine bestimmte Erziehung nach Schema X angedeihen zu lassen. Dies bedeutete, Kinder nach den jeweils gängigen Vorschriften der Zeit zu formen. Ich habe schon die berühmten Man-Sätze erwähnt: “Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute.”, “ Man bohrt nicht in der Öffentlichkeit in der Nase.”, “Man geht nicht mit Fremden mit.” Eltern standen hier nicht als Menschen im Vordergrund, sondern als Funktion, als ausführendes Organ eines gesellschaftlichen Normierungsprozesses.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass es sich bei den eingangs erwähnten “Man-Sätzen” um Absolutheitsansprüche handelt. Und zwar um Absolutheitsansprüche, die auch noch von einer großen Anzahl von Leuten geteilt werden, weshalb es oft umso schwieriger ist, sie loszulassen oder zu enttarnen. Sie erscheinen uns einfach so richtig und wahr!
Ein Absolutheitsanspruch ist eine Meinung, für die niemand Verantwortung übernimmt, die vielmehr als allgemein gültig dargestellt wird. Sage ich beispielsweise, dass man nicht in der Öffentlichkeit in der Nase bohrt, tue ich so, als wäre dies ein allgemein gültiges Natur- oder zumindest Menschengesetz — auf jeden Fall unverrückbar. Wer dies dennoch tut, ist falsch. Und zwar nicht, weil es mir missfällt oder vielen Leuten missfällt, sondern laut einer imaginären, scheinbar übermächtigen, angeblich neutralen Instanz. Anders ausgedrückt: Wer gegen einen Absolutheitsanspruch verstößt, ist nicht für mich oder jemand anderen falsch, sondern absolut falsch.
Ein solches Urteil ist sehr schmerzhaft und geradezu erschreckend für Kinder. Es lässt die Illusion entstehen, dass es eine Art zu sein gibt, die absolut richtig ist, und viele andere, die absolut falsch sind. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Existenzberechtigung des Kindes davon abhängt, ob es ihm gelingt, “richtig” zu sein. Wie erschreckend das für Kinder ist, wird einem in vollem Maße bewusst, wenn man sich vor Augen führt, dass die angeblich absolut richtige Art zu sein für Kinder oft sehr schwer herauszufinden oder gar nachzuvollziehen ist.
Früher schien genau diese Form von Erziehung erstaunlich gut zu funktionieren, doch das hat sich inzwischen stark verändert. Heute reagieren die meisten Kinder auf diese Art der Pauschalverurteilung nicht mehr durch Unterwerfung, sondern durch Rebellion. Das Wundermittel “Man-Sätze” hat seine Wirkung offenbar verloren. Woran liegt das?
Wenn Erziehung keinen Sinn mehr macht
Die zunehmende materielle Unabhängigkeit voneinander und von der Gemeinschaft, in der wir leben, hat zwar zum einen zu einem massiven Beziehungsverlust geführt, zum anderen jedoch auch zu einer nie dagewesenen Freiheit in der Ausgestaltung unseres Lebenswandels und in der Gestaltung unserer Beziehungen. Wir waren noch nie so frei zu wählen, wie wir leben und sein möchten. Wir waren noch nie so frei zu wählen, mit wem wir in Beziehung sein möchten und wie. Das hat unter anderem zur Folge, dass unsere ganze Gesellschaft sich in einem nie dagewesenen Maße ausdifferenziert und individualisiert hat. Wir sind so anders voneinander geworden wie noch nie. Das bedeutet, dass das, was für mich völlig in Ordnung und normal ist, für den Nächsten undenkbar ist. Der eine ist Veganer und empfindet das als ganz normal, während der andere sich ein Leben ohne die Salami auf dem Frühstücksbrot nicht vorstellen kann. Und dieses Phänomen beobachten wir in allen Bereichen der Gesellschaft.
Anders ausgedrückt: “Man” gibt es gar nicht mehr. Wer soll “man” denn bitteschön sein? Ich etwa? Mein Nachbar? Sätze wie “ Das macht man nicht” oder “Das gehört sich nicht” haben ihre Drohkraft verloren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird uns heute ein Kind oder Jugendlicher entgegnen: “Und wie man das macht! Ich zeig es dir!” Und anders als früher ist er oder sie nicht von einem engmaschigen sozialen Netz umgeben, das ihn für dieses Verhalten verurteilt und ächtet. Nein, es iert in aller Regel gar nichts. Daher können wir unseren jungen Menschen nicht mehr glaubhaft vermitteln, dass sie sich Schema X zu beugen haben. Und es wäre auch gar nicht mehr sinnvoll, sie dazu zu bringen, sich Schema X zu beugen, da es gar kein allgemein gültiges Schema X mehr gibt. Erziehung im klassischen Sinne macht in diesem Kontext keinen Sinn mehr.
Doch was dann? Was könnte den Platz dieses Systems einnehmen? Was müssen junge Menschen heute mit auf den Weg bekommen, wenn nicht mehr die Bereitschaft, sich Schema X zu beugen? Sie brauchen eine Fähigkeit, die in diesem Ausmaß vielleicht noch nie erforderlich war. Sie müssen lernen, mit ganz unterschiedlichen Menschen auf ganz unterschiedliche Art und Weise umzugehen. Und dafür brauchen sie Erwachsene, die bereit sind, mit ihnen auf authentische Art und Weise in Beziehung zu treten.
Meine Einladung an Eltern ist es daher, sich auf ihre Gefühle einzulassen, denn nur dadurch entsteht authentische Beziehung. Und nur diese spürbare Beziehung kann das Vakuum füllen, das die Litanei der “Man-Sätze” hinterlassen hat. Wir müssen als ganze Menschen mit unserem Nachwuchs in Beziehungen treten, damit Kinder und Jugendliche nicht den Halt verlieren. Und zwar Beziehungen, die von Gefühlskräften gehalten und getragen werden, die innerlich spürbar sind und einen Rahmen geben, in dem sie sich fühlen und reflektieren können.
Beziehungen sind Spiegel. Wenn ich mit einem Menschen eine enge Beziehung habe, kann ich durch diese Beziehung direkt erfahren, welche Auswirkungen mein Verhalten und mein Sein haben. Was macht Freude? Was tut weh? Was funktioniert gut, was nicht? Wie gehen wir damit um, wenn wir unterschiedliche
Bedürfnisse haben? All das wird durch Gefühle unmittelbar erfahrbar.
Kehren wir zurück zu dem Beispiel. Wenn ich sage, dass ich es nicht mag, wenn jemand oder gar mein Kind in der Öffentlichkeit in der Nase bohrt, dann übernehme ich für mein Bedürfnis Verantwortung. Ich stelle klar, dass ich es nicht mag und dass ich mich dadurch gestört fühle. Genauso wird deutlich, dass es vielleicht jemand anderen gar nicht stören würde. In diesem Fall ist es kein Absolutheitsanspruch, sondern die Äußerung einer persönlichen Meinung oder eines Bedürfnisses, wodurch sich niemand in seinem Verhalten absolut falsch fühlt.
Vielleicht ist es ja sogar so, dass es mich persönlich gar nicht stört, ich aber weiß, dass viele andere Menschen sich dadurch gestört fühlen. Dann kann ich das kommunizieren. Auch dann kommuniziere ich keinen Absolutheitsanspruch, sondern erzähle meinem Kind etwas, das ich über die Bedürfnisse anderer Leute gelernt habe, damit es sich besser in der Welt zurechtfindet.
“Ja, und dann?”, mag sich manch einer fragen, “woher weiß ich dann, dass mein Kind das auch tut?” Also, erstens weiß ich das natürlich nicht, da mein Kind genau wie ich einen freien Willen hat und wählen kann, welchen Bedürfnissen anderer es Gehör schenkt und welchen nicht. Zweitens weiß ich dies aber auch nicht, wenn ich dem Kind mit Verurteilungen, Absolutheitsansprüchen oder gar der Androhung von Strafen zu Leibe rücke. Der wirkliche Mehrwert liegt nicht in einem folgsamen Kind. Er liegt darin, dass wir einander kennenlernen, dass das Kind die Möglichkeit bekommt, sich in seinem Umfeld zu verorten und in diesem Kontext selbst zu wählen, wer es sein möchte. Anders als bei der antiautoritären Erziehung hat es jedoch einen klaren Orientierungsrahmen: Es hat Informationen über die Bedürfnisse und Gefühle der Menschen, die ihn oder sie umgeben. Es wird nicht gezwungen, diese zu res-pektieren, doch es bekommt immer wieder die Aufforderung dazu. Und genau durch diesen Freiraum kann wirklicher Respekt entstehen, der die Grundlage aller gesunden Beziehungen ist. Indem es sich selbst immer wieder in diesem Raum erlebt und in den Gefühlen und Bedürfnissen der Menschen spiegelt, die es umgeben, lernt das Kind, mit
der Komplexität und Vielfältigkeit unseres heutigen sozialen Gefüges umzugehen.
Absolutheitsansprüche hinterfragen und loslassen
Damit dieser Prozess ungestört ablaufen kann, sind wir als Eltern gefordert, unsere Absolutheitsansprüche einen nach dem anderen loszulassen. Den Anspruch auf absolute Macht loszulassen ist für Eltern kein einfacher Prozess, kann jedoch sehr befreiend sein. Absolutheitsansprüche können auch sehr belastend sein. Wenn wir sie bewusst über Bord werfen und uns fragen, was uns eigentlich wirklich wichtig ist, machen wir einen wichtigen Schritt in unser eigenes Erwachsensein. Absolutheitsansprüche loszulassen bedeutet, tief zu hinterfragen, was wir selbst von unseren Eltern und der Gesellschaft mitbekommen haben, etwa Konzepte darüber, wie Kinder oder Erwachsene zu sein haben und wie nicht. Der Prozess des Aussortierens ist wie ein inneres Ausmisten: Was habe ich einfach als allgemeingültig übernommen und was ist wirklich meine Meinung oder mein Bedürfnis?
Wir übernehmen Verantwortung dafür, wer wir als Menschen sind und auch für jene kulturellen Werte oder sozialen Normen, die wir unseren Kindern vermitteln möchten — in dem Bewusstsein, dass es derzeit immer nur relativ kleine Teile der Gesellschaft sind, die genau diese Werte und Normen teilen. Und wir lassen unseren Kindern den Freiraum, selbst zu entscheiden, welche sozialen Normen und kulturellen Werte sie übernehmen möchten. Außerdem geben wir ihnen Gelegenheit, von klein auf zu erforschen, wie sie mit den Bedürfnissen anderer umgehen können und möchten — vor allem, wenn diese gerade den eigenen widersprechen. In Teil III werde ich tiefer in dieses Thema einsteigen.
Übung: Absolutheitsansprüche aussortieren und loslassen
1. Übernommene Absolutheitsansprüche sammeln:
Nimm dir ein Blatt Papier und mache dir eine Liste mit den besten Absolutheitsansprüchen deiner Eltern oder der Gesellschaft, in der du aufgewachsen bist. Wenn du magst, schließe dafür die Augen und versetze dich so gut es geht in deine Kindheit zurück. Vielleicht gelingt es dir, die Stimme deiner Mutter, deines Vaters oder eines Lehrers zu hören, wie sie bestimmte Absolutheitsansprüche immer wieder wiederholten, um auch ganz sicherzugehen, dass du sie für immer behältst. Oder vielleicht hörst du auch schon deine eigene Stimme, wie sie bestimmte Ansprüche an deine eigenen Kinder weitergibt.
2. Den eigenen Absolutheitsansprüchen zuwenden:
Welche absoluten Überzeugungen entdeckst du in dir, die du vielleicht nicht deinen Eltern oder Lehrern zuordnen kannst, die du jedoch mit der gleichen Vehemenz vertrittst? Schreibe auch diese auf.
3. Prioritäten setzen:
Wenn du eine schöne Sammlung von Absolutheitsansprüchen aufgeschrieben hast, suche dir die wichtigsten fünf heraus und markiere sie. Wichtig kann bedeuten, dass sie dich am meisten geformt haben oder dass du sie besonders häufig deinen eigenen Kindern gegenüber äußerst. Wichtig kann auch bedeuten, dass sie die größte emotionale Ladung in dir hervorrufen.
4. Hinterfragen:
Gehe sie nun einzeln durch und stelle zunächst ihre allgemeine Gültigkeit infrage. Stelle dir vor, dass es Menschen gibt, die das ganz anders sehen. Vielleicht hier in diesem Haus, vielleicht auch am anderen Ende der Welt. => 33
5. Das Bedürfnis identifizieren:
Als zweiten Schritt frage dich, welches Bedürfnis hinter diesem Anspruch stecken könnte und wessen Bedürfnis das sein könnte. Wenn es beispielsweise heißt, Kinder sollten abends früh ins Bett gehen: Ist es dein Bedürfnis nach einem ruhigen Abend? Ist es das Bedürfnis deines Kindes, ausreichend Schlaf zu bekommen, um das es sich selbst noch nicht gut kümmern kann? Ist es das Bedürfnis deines Partners, abends noch etwas Zeit mit dir allein zu haben? Oder steckt gar kein Bedürfnis dahinter und es ist nur noch ein leeres Konzept, das du übernommen hast?
6. Entscheiden, für welche Bedürfnisse du Verantwortung übernehmen willst:
Wenn du entdeckt hast, dass es dein Bedürfnis ist, dann kannst du dir nun überlegen, ob du das auch in Zukunft als solches kommunizieren möchtest. Zum Beispiel: “Ich möchte, dass du jetzt ins Bett gehst, sonst bist du morgen wieder so müde, dass du kaum aus dem Bett kommst.” Oder: “Ich möchte, dass du jetzt ins Bett gehst. Ich hatte einen total anstrengenden Tag und brauche heute Abend noch ein bisschen Zeit für mich.” Wenn du entdeckt hast, dass es das Bedürfnis von jemand anderem ist, kannst du dir überlegen, ob du als Vermittler für dieses Bedürfnis fungieren möchtest oder nicht.
7. Loslassen:
Jene Ansprüche, die einfach überholt sind, kannst du aussortieren und verabschieden. Du brauchst sie nicht mehr. Wenn es dir Spaß macht, kannst du das sogar in einem kleinen Ritual machen — zum Beispiel indem du sie auf ein Blatt Papier schreibst und dieses dann verbrennst. Du kannst auch die ganze Familie oder deine Kinder in ein solches Ritual einbeziehen.
Wo Beziehung beginnt
Wenn wir uns auf das Experiment einlassen, Absolutheitsansprüche loszulassen, bemerken wir schon bald, dass wir auch ganz wunderbar ohne sie zurecht kommen. Diese Erkenntnis ist deshalb verblüffend, weil wir meistens das Gegenteil annehmen. Wir denken, dass Absolutheitsansprüche durch ihre anonyme, vorgetäuschte Allgemeingültigkeit absolute Macht haben. Wir fühlen uns wohl, weil wir uns mit unseren Bedürfnissen hinter ihrer grauen Anonymität verstecken können. Lustigerweise reagieren Kinder — und auch Erwachsene — aber besser auf einen Menschen, der mit einem konkreten, echten Bedürfnis vor ihnen steht, als auf einen grauen, abstrakten und unpersönlichen Absolutheitsanspruch.
Diese Tatsache verblüfft viele Leute, da es unserem Menschenbild widerspricht. Wir gehen davon aus, dass Angst der stärkere Motivator ist: Angst, zurückgewiesen zu werden, Angst, aus einer Gruppe ausgestoßen zu werden, Angst, nicht den Anforderungen zu entsprechen. Dies sind die Hebel mit denen Absolutheitsansprüche hantieren und Menschen kontrollieren — oder es zumindest versuchen. Die Tatsache, dass die meisten Menschen auf echte Bedürfnisäußerungen ohne Machtanspruch besser reagieren, rückt die Möglichkeit in den Vordergrund, dass es vielleicht doch noch einen anderen Motivator gibt: jenen der Liebe oder Empathie. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass hier kein Machtgehabe im Spiel ist. Wir kommen nicht umhin, unseren vermeintlichen Anspruch auf Kontrolle loszulassen.
Gerade deshalb erfordert es Mut, aus dem Versteck unserer Absolutheitsansprüche hervorzukommen und uns als Menschen mit unseren Bedürfnissen zu zeigen. Zunächst fühlen wir uns nackt und verwundbar. Doch das Risiko lohnt sich, denn dann wird der Weg frei für eine Begegnung von Mensch zu Mensch. Wir können aufhören, unseren Kindern als regelpeitschende Erziehungsroboter oder Moralapostel zu begegnen, und endlich anfangen, mit ihnen in Beziehung zu sein. Wir können endlich anfangen, das Elternsein zu genießen, genau wie wir sind!
Doch damit wir uns auf dieses Abenteuer einlassen können, brauchen wir als Rüstzeug unsere Gefühlskräfte. Denn es wäre natürlich überaus naiv zu behaupten, dass unsere Kinder fortan jedes unserer Bedürfnisse widerstandslos befolgen würden. Manchmal werden sie das tun, manchmal nicht, manchmal gerne und manchmal widerwillig.
Und genau für dieses Wechselbad brauchen wir unsere Gefühlskräfte. Wir brauchen unsere Wut, um unsere Bedürfnisse durchzusetzen, wenn es wirklich wichtig ist. Unsere Trauer brauchen wir, um anzunehmen, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen. Die Freude befähigt uns, wertzuschätzen, wenn unsere Wünsche erfüllt werden. Unsere Angst hingegen brauchen wir, um mit der Ungewissheit des Unbekannten umzugehen, und unsere Scham, um uns selbst zu reflektieren.
Wie entstehen Gefühle?
Nach gängiger Meinung tauchen Gefühle einfach auf, sind also irrational, unkontrollierbar und unverständlich. Daher werden sie gerne weggepackt oder aber im Namen der Authentizität ungefiltert zugelassen. Sowohl die eine wie auch die andere Strategie geht in der Regel nach hinten los. Wegpacken rächt sich bald durch unkontrollierbare Emotionspakete oder emotionale Verstopfung. Das ungefilterte Rauslassen hingegen erzeugt Beziehungslandschaften, die eher Schlachtfeldern als blühenden Gärten gleichen. Doch bevor wir verstehen können, wie wir am besten mit Gefühlen umgehen, ist es wichtig zu begreifen, wo Gefühle herkommen bzw. wie sie entstehen.
Anders als gemeinhin angenommen, tauchen Gefühle nicht einfach auf, sondern sie werden erzeugt, und zwar von uns. Gefühle entstehen als Reaktion auf Gedanken oder Interpretationen, und zwar jedes Gefühl auf ganz bestimmte Gedanken. Das bedeutet, dass meine Gefühle davon abhängen, wie ich eine bestimmte Wahrnehmung der Wirklichkeit interpretiere. Deshalb haben verschiedene Menschen ganz unterschiedliche Gefühle zu den gleichen Erlebnissen. Und deshalb kann sogar ein und derselbe Mensch unterschiedliche Gefühle in ähnlichen oder gleichen Situationen haben.
Sehr schön kann man das beobachten, wenn man sich eine an sich neutrale Situation vorstellt und dann unterschiedliche Interpretationen an dieser Situation ausprobiert. Nehmen wir ein Kind als Beispiel, das freudig im Matsch spielt. Ich könnte diese Tatsache ohne Weiteres als falsch interpretieren. Das Kind macht sich schmutzig, das ist falsch. Vielleicht hat es eine neue Hose an, weil wir später noch zu einer Familienfeier gehen und ich Wert darauf lege, dass es ordentlich aussieht. Und nun spielt es einfach ganz unbekümmert im Matsch!
Oder ich könnte es als schade interpretieren. Schade, weil ich mich so gefreut hatte, einmal ein ordentlich angezogenes, sauberes Kind mit zur Familienfeier zu bringen. Oder schade, weil es eine so schöne helle Hose war, aus der diese Flecken wohl nicht mehr rausgehen werden. In diesem Fall erzeuge ich Trauer.
Ich könnte auch eine Angst auslösende Interpretation treffen, die ich schrecklich oder furchtbar nennen kann. Vielleicht habe ich Angst, dass mein Kind krank werden könnte, weil es ein kalter Regentag ist. Oder ich erzeuge Angst vor der Reaktion meiner Schwiegermutter, die schon immer der Meinung war, ich würde nicht gut auf das Kind aufen.
Ich könnte auch eine Scham auslösende Interpretation treffen. Scham, dass mein Kind schon wieder so schmutzig aussieht. Oder Scham, dass ich nicht gut
aufget habe und nicht verhindert habe, dass das Kind sich ganz nass macht, wo es doch gerade erst die letzte große Erkältung hinter sich hat. Die Interpretation wäre in diesem Fall “Ich bin falsch”.
Und natürlich kann ich auch ganz wunderbar Freude erzeugen, wenn ich ein Kind im Matsch spielen sehe. “Wie schön! Ein Kind das im Matsch spielt!” Die auslösende Interpretation hier ist “Das ist richtig” oder “Das ist schön”. Dieses Beispiel zeigt, dass unsere Interpretation entscheidet, welches Gefühl wir erzeugen.
Ist es wirklich so einfach?
Der eben skizzierte Vorgang, wie Gefühle entstehen, ist wirklich so einfach — bis auf einen entscheidenden Haken. Da viele von uns schon früh gelernt haben, dass bestimmte Gefühle schlecht oder unerwünscht sind, können wir diese oft nicht so ohne Weiteres produzieren. Manche Gefühlskanäle sind schon lange verstopft, während andere offenbar falsch verkabelt sind. Das führt dazu, dass wir zum Beispiel etwas als falsch interpretieren, jedoch dadurch keine Wut entsteht, sondern Trauer, Angst oder Scham.
Nun könnte man meinen, dass das doch herzlich egal ist, denn das eine Gefühl ist so unangenehm wie das andere. Leider ist es nicht egal, denn jedes Gefühl hat eine ganz eigene psycho-soziale Funktion oder Kraft, die genau auf die jeweilige Interpretation abgestimmt ist. Nur wenn Situation, Interpretation und Gefühl zusammenen, kann die Gefühlskraft sinnvoll eingesetzt werden.
Um zu begreifen, welches Gefühl mir in welcher Situation weiterhilft, ist es unabdingbar, das Wesen jeder einzelnen Kraft zu verstehen. Nur dann können wir als Eltern einen konstruktiven Umgang mit diesen Urkräften in uns selbst entwickeln und unsere Kinder darin begleiten, diesen auch in sich zu entfalten.
Und nur dann können wir unsere Gefühle als positive Beziehungskräfte ins Spiel bringen und unsere Absolutheitsansprüche in Rente schicken. In den folgenden Kapiteln werde ich auf jede der fünf Gefühlskräfte aus Sicht der Eltern eingehen. Beginnen wir mit Wut.
Wut sagt: “Stopp!”
Die Kunst, klar zu sein
Wut ist eine umstrittene, oft ungeliebte Kraft. Wut wird assoziiert mit Aggression und Gewalt. Wut kann sehr zerstörerisch sein. Für Kinder ist die Wut der Eltern beängstigend, ja sogar bedrohlich. Kinder wissen, wie abhängig sie von unserer Gunst sind, auch wenn sie das nicht immer zeigen. Und Wut drückt Missbilligung aus. Richtig eingesetzt, also ihrer Natur gemäß, schafft diese Kraft jedoch Klarheit, wo zuvor Verwirrung war, definiert Räume, die zuvor schwammig waren, und sorgt dafür, dass wir mit unseren Bedürfnissen gehört werden.
Wut als Kraft ist wie ein Schwert, das wir umgegürtet in der Scheide tragen. Nicht als Drohung, sondern vielmehr als Erinnerung an unsere Kraft, an die Kriegerin (oder den Krieger), die wir sind und der Respekt und Gehör gebührt. Kinder brauchen das, damit sie sich sicher fühlen.
Wut entsteht durch die Interpretation “Das ist falsch” oder “Ich finde das falsch”. Als Gefühlskraft ist ihre wichtigste Funktion zu verändern. Wut ist dazu da, das zu verändern, was ich ändern kann — oder es zumindest zu versuchen. Wut ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn ich auch etwas ändern kann. Sie ist fehl am Platz, wenn es sich um Umstände handelt, die ich ohnehin nicht ändern kann. Über ein umgestoßenes Glas Milch wütend zu sein, nutzt mir herzlich wenig. Schließlich wird keine Macht der Welt die ausgeschüttete Milch wieder in das Glas zurückbefördern, egal wie wütend ich bin.
Eltern brauchen ihre Wutkraft, um ...
→ für ihre Bedürfnisse einzustehen. → ihre eigenen Grenzen zu wahren, wenn sie angegriffen werden. → dem Kind in Gefahrensituationen Grenzen aufzuzeigen und es somit zu schützen. → Übergriffen des Kindes gegenüber Schwächeren Einhalt zu gebieten. → das Kind vor den Übergriffen Stärkerer zu schützen.
Wut nützt mir hier nur dann etwas, wenn ich sie einsetze, um einen Lappen zu holen und die Milch aufzuwischen, wenn mein Kind noch zu klein ist, dies selbst zu tun. Oder ich kann sie einsetzen, um einem Wunsch Nachdruck zu verleihen. Vielleicht bei einem sehr kleinen Kind dem Wunsch, dass das Glas in der Mitte vom Tisch stehen bleibt, damit genau das nicht iert. Oder bei einem größeren Kind dem Wunsch, dass es bei Tisch achtsamer ist, oder aber dem Wunsch, dass es schnell einen Lappen holt, bevor die Milch auf den Boden rinnt.
Als Eltern brauchen wir Wutkraft, um für unsere Bedürfnisse einzustehen. Vorsicht, ich sage Bedürfnisse, nicht Absolutheitsansprüche. Dieser Unterschied ist essenziell. Heute machen wir es oft umgekehrt. Wir stellen unsere Bedürfnisse als Eltern hinten an und verstecken uns hinter Absolutheitsansprüchen, die wir dann jedoch mit leidenschaftlicher Vehemenz durchsetzen.
Doch wenn wir Absolutheitsansprüche loslassen und uns nicht mehr an graues Regelwerk halten, ist es umso wichtiger, dass wir zuweilen sehr klar für unsere Bedürfnisse einstehen. Kinder tun dies schließlich auch und das ist gut so. Nur
indem sie ein erwachsenes Gegenüber haben, das seine eigenen Bedürfnisse ernst nimmt und klar artikuliert, erfahren Kinder eine natürliche Begrenzung ihrer eigenen Bedürfniserfüllung. Und diese Begrenzung ist wichtig.
Die Kunst, Grenzen zu setzen
Es gibt Situationen, da brauchen wir als Eltern unsere Wutkraft nicht nur, um für unsere Bedürfnisse einzutreten, sondern um die Würde des Menschseins zu verteidigen — was uns natürlich auch ein Bedürfnis sein kann. Diese Situationen sind: zur Selbstverteidigung, zum Schutz des Kindes oder zum Schutz eines dritten Schwachen vor dem Kind.
Selbstverteidigung bedeutet, unsere Grenzen zu wahren, ohne die Grenzen des Kindes zu verletzen. Die meisten Kinder durchlaufen beispielsweise eine Phase, in der sie die Eltern hauen — sei es, weil sie nicht bekommen, was sie wollen, sei es, weil sie gerade schlecht gelaunt oder müde sind. In dem Fall brauchen wir unsere Wutkraft, um ihnen ruhig, klar und deutlich zu sagen, dass wir nicht gehauen werden wollen. Wenn nötig, wahre ich meine Grenzen, indem ich die Handgelenke des Kindes sanft und klar festhalte, um weitere Schläge zu verhindern, ohne das Kind jedoch zu verletzen.
Zum Schutz des Kindes bedeutet, in Akutsituationen einzugreifen. Dies kann notwendig sein, um das Kind vor seinem eigenen Handeln zu schützen — etwa wenn es drauf und dran ist, auf eine viel befahrene Straße zu laufen. Oder es kann notwendig sein, um es vor dem Handeln anderer Menschen zu schützen, die stärker sind als das Kind. Hier brauche ich meine klare Wutkraft und manchmal auch meine laute Stimme, um zu seinem Schutz eine Grenze zu ziehen.
Zum Schutz Dritter bedeutet, dass wir unserem Kind auch dann Einhalt gebieten,
wenn es selbst gegenüber anderen übergriffig wird, zum Beispiel indem es den kleinen Bruder haut. Auch hierfür brauchen wir unsere Wutkraft.
Doch was geschieht, wenn wir zu viel oder zu wenig von dieser wichtigen Kraft erzeugen? Woran erkennen wir, dass wir das rechte Maß verfehlt haben?
Zu viel Wut tut selten gut
Wut ist eine sehr starke Medizin, die wir nicht unbedacht oder unnötigerweise anwenden sollten. Wut ist dann am effektivsten, wenn sie wirklich nur da eingesetzt wird, wo sie gebraucht wird. Und auch da gehört sie wohl dosiert. Besonders wichtig ist außerdem die Unterscheidung zwischen Gefühl und Emotion.
Viele Menschen tragen unterdrückte Wut mit sich herum, da der Ausdruck dieses Gefühls ihnen schon früh verwehrt wurde. Wut als Kraft einzusetzen darf jedoch keinesfalls bedeuten, unseren emotionalen Ballast über unseren Kindern zu entladen. Dies ist für Kinder kaum zu ertragen und kann stark traumatisierend sein. Im besten Fall führt es dazu, dass Kinder gegenüber uns, unseren Gefühlen und Bedürfnissen taub werden, um sich zu schützen. Eine gesunde Reaktion, die uns jedoch den Kanal für den Beziehungsaufbau abschneidet.
Wut als Kraft bedeutet also nicht, wahllose emotionale Entladung. Wut als Kraft auszudrücken bedeutet meist noch nicht einmal, unsere Stimme zu erheben. Es bedeutet jedoch auf jeden Fall, sehr klar und deutlich zu sagen, worum es mir gerade geht.
Wenn Wutkraft fehlt
Nicht weniger problematisch ist es, wenn Eltern Wutkraft fehlt. Kinder versäumen es dann, Respekt und Würdigung ihrer Eltern, anderer Menschen und deren Bedürfnisse zu erlernen, wodurch sie selbst am meisten leiden. Sie haben dann niemanden, an dem sie sich orientieren können, kein Vorbild, wie man sich um sich selbst und andere zugleich kümmert, ohne sich aufzuopfern.
Für die Eltern ist es deswegen problematisch, weil sie sich kein Gehör und keinen Raum verschaffen können im nicht endenden Strom kindlicher Bedürfnisse. Sie gehen darin unter und verlieren sich, verstecken sich entweder wieder hinter tumben Regeln, um nicht vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren, oder opfern sich auf.
Kinder fühlen sich auch nicht sicher, wenn ihre Eltern keine Wutkraft haben. Sie spüren, dass die Eltern nicht gut für sich selbst sorgen können — und dass sie im Zweifelsfalle auch nicht für ihre Kinder einstehen können.
Ausnahme: Babyzeit
Voraussetzung dafür, dass Wutkraft sinnvoll eingesetzt werden kann ist jedoch, dass die Kinder bereits eine gewisse Selbstständigkeit erlangt haben. So ist Wutkraft zum Beispiel gegenüber Babys fehl am Platz, denn Babys kann man nicht verändern. Man kann sie nur bedingungslos annehmen und lieben, wie sie sind.
Natürlich kann es vorkommen, dass uns im Umgang mit einem Baby die Geduld ausgeht, dass wir an unsere Grenzen kommen und uns einfach nicht mehr zu helfen wissen. Dies ist sogar vorprogrammiert, wenn wir viel Zeit allein mit dem Baby verbringen, wie es heute leider häufig der Fall ist. Oder wenn wir
zusätzlich noch andere Kinder zu versorgen haben.
In diesen Situationen ist es ganz normal und sogar gesund, dass Wut aufkommt. Wir können und dürfen diese Wut jedoch nicht auf das Baby richten, denn dieses kann ja nichts dafür. Ein Baby ist in seiner Bedürfnisbefriedigung vollkommen abhängig. Daher ist es die Verantwortung der Erwachsenen in seiner Umgebung, ihm alle Bedürfnisse nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen, ohne Wenn und Aber. Die Wut, die vielleicht in uns aufkommt, ist dennoch nützlich, wenn wir sie auf die Situation an sich richten. Wir können erkennen, dass nicht das Baby oder sein Verhalten falsch sind, sondern die Tatsache, dass wir allein oder auch zu zweit für dieses sorgen müssen — was unweigerlich eine Überforderung darstellt.
Diese Wut kann uns dann helfen, etwas an der Situation zu verändern, zum Beispiel indem wir uns aktiv regelmäßige Entlastung und Unterstützung suchen. Wut setzt große Kräfte frei, um Veränderungen einzuleiten. Richtig eingesetzt, kann sie Berge versetzen. Gelingt es uns also, mit dieser Kraft etwas an unserer Situation zu verändern, hat sie uns durchaus gute Dienste erwiesen und unser Baby wird es uns danken. Auf die Frage, ab wann Wutkraft in der Beziehung zu unserem Kind sinnvoll eingesetzt werden kann und wie, werde ich in Teil II noch genauer eingehen.
Trauer sagt: “Ja, so ist es.”
Nicht ganz so unbeliebt wie die Wutkraft dürfte die Trauerkraft sein. Das mag daran liegen, dass sie in ihrer ivität und Introvertiertheit weniger bedrohlich ist als die Wutkraft. Und natürlich gibt es auch hier klare Geschlechterrollen: Wut wird von Haus aus noch eher Männern zugestanden, Trauer noch eher den Frauen. Dahinter steckt die Idee, dass Männer eher die Dinge anpacken und nach ihrem Willen formen sollen, während Frauen sich in ihr Schicksal fügen und dies allenfalls beweinen. Inwieweit diese Klischees heute noch haltbar sind, muss jeder selbst wissen, nicht zu leugnen ist jedoch, dass sie immer noch wirken.
Trauer ist die Kraft wahrer Annahme. Sie entsteht durch die Interpretation, dass etwas schade ist. Schade bedeutet, es ist anders, als ich es gerne hätte, ich kann oder möchte es jedoch nicht ändern. Wenn ein Glas Milch umgeschüttet wurde, dann ist das schade. Wenn mein Kind sich weh getan hat, dann ist das schade. Es ist auch schade, wenn ich mein Kind immer wieder um etwas bitte, vielleicht auch meine Wutkraft einsetze, um mein Bedürfnis in aller Dringlichkeit auszudrücken, und mein Kind sich dennoch weigert, mir diesen Wunsch zu erfüllen.
Trauer hilft uns, dies zu akzeptieren. Sie hilft uns, zeitgleich sowohl unser Bedürfnis als auch die Tatsache, dass es gerade nicht erfüllt wird, zu würdigen. Dies bedeutet nicht, dass wir uns in einer Opferhaltung verkriechen. Es bedeutet lediglich, dass wir die Ehrlichkeit und die Weisheit haben, anzuerkennen, was gerade ist: Unser Kind hat gerade andere Prioritäten, das ist schade, ich kann es nicht ändern. Indem ich mir erlaube, dies für einen Moment ehrlich zu betrauern, bleibe ich fähig, das Kind trotzdem zu lieben. Fehlt uns diese Fähigkeit zu trauern und dadurch loszulassen, geschieht es fast unweigerlich, dass wir das Kind durch Liebesentzug bestrafen, auch wenn wir das womöglich gar nicht wollen.
Trauer ist damit ein wichtiger Schlüssel zu echter Liebesfähigkeit — jener Liebe, die auch dann trägt, wenn unser Kind anders ist, als wir es gerne hätten. Es ist diese Liebe, die Kindern einen sicheren nahrhaften Boden gibt. In diesem können sie Wurzeln schlagen, auf ihm können sie wachsen und gedeihen, wie es ihrem Wesen angelegt ist und nicht nur wie es unseren Vorstellungen entspricht.
Wenn Trauer überhand nimmt
Natürlich funktioniert auch das nur in Maßen. Reagieren wir zum Beispiel jedes Mal mit Trauer, wenn unser Kind nicht sofort unserem Wunsch stattgibt, resignieren wir. Wenn wir alles nur schade finden, werden wir zum Opfer unserer Umstände und versäumen es, unser Leben soweit wie möglich selbst zu gestalten. Dies führt meistens dazu, dass wir über links hinten doch irgendwie versuchen, unsere Wünsche durchsetzen — ohne uns jedoch klar dafür einzusetzen.
Klassisches Beispiel ist hier die Mutter, die durch ihre manipulativ eingesetzten Tränen mehr Macht ausübt, als der Vater mit seinem gezogenen Schwert. Viele Männer können aus diesem Grund ihr Leben lang nicht einfach präsent sein, wenn Frauen weinen. Sie fühlen sich sofort kritisiert, angegriffen und manipuliert.
Tränen dürfen nicht eingesetzt werden, um etwas zu erreichen. Tränen sind dafür da, etwas zu betrauern und es dadurch anzunehmen. Durch diese Annahme geschieht zuweilen Veränderung. Doch wenn geschieht diese dann von selbst. Wir können auch nicht loslassen, damit sich etwas verändert. Das ist nicht Loslassen. Loslassen bedeutet zunächst einmal anzunehmen, wie es ist, und sei es nur für diesen Moment.
Ohne Trauer geht es nicht
Wenn wir uns weigern, Trauerkraft zu erzeugen, sind wir auch nicht fähig, etwas anzunehmen, obwohl wir es gerne anders hätten. Ein Beispiel: Ein Kind verliert regelmäßig seine Mützen, weil es sie irgendwo liegen lässt. Mutter oder Vater haben schon häufig und deutlich ihrem Wunsch Ausdruck verliehen, dass es achtsamer mit seinen Sachen umgehen möge. Sie können auch ihre Wutkraft einsetzen, um dieses Bedürfnis wieder und wieder zu artikulieren und so vielleicht morgen eine Veränderung zu erzielen. Heute jedoch brauchen sie ihre Trauerkraft, um anzunehmen, dass die schöne blaue Mütze nun auch weg ist. Sie trauern darum, dass ihr Wunsch nicht erfüllt wurde — und damit würdigen sie diesen Wunsch.
Fehlt uns diese Möglichkeit, haben wir in jeder Situation nur zwei Optionen: entweder auf der sofortigen Umsetzung eines jeden Wunsches zu beharren oder alles rosarot zu malen und so zu tun, als wären wir mit allem einverstanden, indem wir unsere Bedürfnisse ausblenden.
Erstere Option entspricht natürlich dem klassischen autoritären Ansatz, in dem jeder Fingerzeig des Patriarchen als nicht anzuzweifelnder Befehl galt. Ein solches Machtsystem ist äußerst anstrengend aufrechtzuerhalten, und wir verbauen uns jede Möglichkeit einer liebevollen, respektvollen Beziehung zu unserem Kind. Dem Kind fehlt hier außerdem jede Möglichkeit, die eigene Willenskraft zu entwickeln und auch Erfahrungen damit zu sammeln, wie es mit den Bedürfnissen anderer Menschen umgehen möchte.
Die zweite Option — das Schönfärben jedes Verhaltens — hingegen entspricht eher dem antiautoritären Ansatz, der sich in den siebziger Jahren als Reaktion auf die Unterdrückung und den Machtmissbrauch im patriarchalen System entwickelte. Hier wurde zunächst einfach jedes Verhalten des Kindes akzeptiert. Und zwar nicht im Sinne der Trauerkraft, wo dennoch Raum ist für meinen Schmerz und mein Missfallen, sondern im absoluten Sinne. Hier fehlt dem Kind jeder Resonanzraum für das eigene Verhalten. Es erfährt sein eigenes Verhalten als beliebig, da es keine Reaktion darauf bekommt. Und uns als Eltern fehlt die
Möglichkeit, ehrlich mit der Tatsache umzugehen, dass es Verhaltensweisen an unseren Kindern gibt, die wir mögen, und solche, die wir nicht mögen.
Mutterängste, Vatersorgen — Aufbruch ins Ungewisse
Eltern werden zuweilen von solchen Ängsten und Sorgen geplagt, dass man schier meinen könnte, sie hätten den Verstand verloren. Das ist anstrengend, das ist mühsam — für die Eltern wie für die Kinder. Vermutlich ist es jedoch sinnvoll, sonst wäre es wohl kaum so. Die Frage ist natürlich, in welchem Maße es sinnvoll ist und wo unsere Ängste mit uns durchgehen.
Angst entsteht durch die Interpretation, dass etwas furchtbar, aufregend oder sogar schrecklich ist. Auch Angst ist eine Kraft, die wir erzeugen, wenn etwas anders ist, als wir es gerne hätten. Doch anders als bei der Wut können wir es im Fall der Angst nicht verändern. Und anders als bei der Trauer können wir es im Fall der Angst nicht akzeptieren. Oder besser gesagt: Wir wissen nicht, ob wir es verändern oder annehmen können, denn Angst ist das Signal für das Unbekannte.
So betrachtet ist es kaum verwunderlich, dass Angst ein ziemlich unbeliebtes Gefühl ist, denn was unbekannt ist, könnte auch gefährlich sein oder wehtun. Angst wird höchstens ab und zu als ganz hübsch betrachtet, wenn es darum geht, alte Frauenbilder aufzuwärmen, denen eine Portion Angst genau die richtige Dosis Hilflosigkeit verleiht, um sie zu dem idealen Opfer zu machen — das dann natürlich schön dramatisch von einem souveränen Helden gerettet werden kann.
Im wirklichen Leben steht uns Angst meistens im Weg. Sie scheint uns zu blockieren und ist leider noch lange kein Garant, dass Superman gleich um die Ecke kommt. Wir machen uns unnötige Sorgen um das Wohlergehen unseres Nachwuchses und stehen unglaubliche Ängste aus, wenn wir nicht wissen, worauf unsere Kinder zusteuern. Da scheint es absurd zu behaupten, dass dieses
Gefühl nun auch eine Kraft sein soll. Was soll denn daran bitteschön kraftvoll sein? Doch es ist so: Wut ist die Kraft, die uns hilft, etwas zu verändern, und die Trauer jene, die uns hilft, etwas anzunehmen. Angst hingegen ist die Kraft, die wir brauchen, wenn wir dem Unbekannten begegnen, weshalb weder Handlung noch Annahme unmittelbar infrage kommen.
Verschiedene Formen der Angst
Um etwas Klarheit in das Dickicht unserer Angst zu bekommen, möchte ich gerne die zu Anfang getroffenen Unterscheidungen noch einmal herholen. Als Eltern haben wir es nämlich nicht selten mit der biologischen Programmierung Angst zu tun oder erleben sie vermischt mit der Angstkraft. Indem wir hier unterscheiden lernen, tun sich ganz neue Räume auf.
Angst als biologische Programmierung zeigt sich in uns Eltern vor allem als Angst um den Nachwuchs. Es gehört zu unseren Urinstinkten, unsere Kinder vor Schaden zu bewahren. Dieser Urinstinkt ist natürlich sehr wichtig und gesund, kann jedoch zuweilen aus dem Ruder laufen und dazu führen, dass wir unser Kind zu sehr einengen. Angst als biologische Programmierung wird unmittelbar ausgelöst — durch akute Gefahr. Es handelt sich um einen Reizreaktionsmechanismus. Die biologische Programmierung Angst bedeutet also schlicht eines: Gefahr!
Angst als Gefühlskraft hat hingegen eine etwas andere Funktion. Sie deutet nicht unbedingt auf Gefahr hin. Sie zeigt uns vielmehr, dass wir die Grenzen dessen erreicht haben, was wir kennen. Hinter dieser Grenze kann alles mögliche auf uns lauern — natürlich auch Gefahr. Die Interpretation, die Angst als Gefühlskraft erzeugt, kann furchtbar oder schrecklich sein — oder auch nur aufregend. Ich nenne Angst deshalb auch gerne die magische Kraft. Mit ihr können wir dem Unbekannten begegnen. Mit ihr begeben wir uns in Bereiche, in denen wir noch nie waren und über die uns jegliche Information fehlt. Wir wissen nicht, wie wir dort sein können oder was uns dort geschehen wird. Angst
als Kraft transformiert uns und begleitet uns in die Höhle des Löwen — ohne dass wir wissen wie — ohne dass wir wissen auf welchen Wegen. Ab einem bestimmten Punkt können wir uns nur von ihr begleiten lassen und wissen, dass sie uns mitnimmt.
Wenn wir jede Angst als Signal für Gefahr nehmen, lähmen wir uns und verlieren die Fähigkeit, uns auf Neues, Unbekanntes einzulassen. Dass diese Fähigkeit jedoch gerade für Eltern von übergeordneter Bedeutung ist, dürfte auf der Hand liegen.
Angstkraft will geübt sein
Als Eltern tun wir gut daran, uns schon früh in der Angstkraft zu üben und uns gewissermaßen daran zu gewöhnen, dass wir fast jeden Tag mit etwas Neuem, häufig Unbekanntem, konfrontiert werden. Jeden Tag probiert unser Kind etwas Neues aus. Und während es unsere Aufgabe ist, das Kind vor Gefahrensituationen zu bewahren, ist es ebenso wichtig, ihm auch ein angemessenes Maß an Gefahren zuzugestehen. Und hierfür brauchen wir unsere Angstkraft.
Wenn die Dreijährige sich zum ersten Mal aufmacht, bis ganz oben auf das Klettergerüst zu steigen, wird vielen Müttern ganz schlecht vor Angst. Das ist normal, denn wir wissen nicht, ob sie das schon kann oder ob sie womöglich herunterfallen wird. Doch wir müssen ihr diese Möglichkeit zugestehen, damit sie sich entwickeln kann und lernt, selbst ihre Grenzen einzuschätzen. Diese Fähigkeit wird sie für den Rest ihre Lebens brauchen. Nicht zuletzt kann sie so auch ihre eigene Angstkraft entwickeln — doch dazu mehr in Teil II. Zunächst möchte ich noch beleuchten was geschieht, wenn zu viel oder zu wenig Angst erzeugt wird.
Wenn Angst lähmt
Wenn Angst zur Gewohnheit wird, wird sie zum Problem. Wenn wir nicht erkennen, wo wir verändernd eingreifen können, indem wir unsere Wutkraft mobilisieren, oder wo wir die Dinge einfach annehmen können, wie sie sind, auch wenn sie uns vielleicht gerade nicht in den Kram en, begeben wir uns in einen permanenten Erregungszustand. Dieser Zustand ist bestenfalls extrem anstrengend für uns und unsere Umgebung, schlimmstenfalls jedoch auch noch gesundheitsschädigend. Wir sind gelähmt zwischen Gas und Bremse: Wir wollen Veränderung, wissen jedoch nicht, ob und wie diese herbeizuführen wäre.
Für Kinder sind Eltern, die übermäßige Ängste haben, sehr anstrengend und geradezu erstickend. Wenn zu viel Angst das Kind vor jeder Situation bewahrt, in der es seine Angst erfahren könnte, indem es die Grenze des ihm Bekannten und Vertrauten berührt, ist das gefährlich. Immer wieder beobachte ich Eltern, die ihr Kind vor jedem Schaden bewahren möchten und daher immer mit ausgestreckten Armen am Klettergerüst stehen, wenn der Junior sich an seine ersten Versuche macht. Das mag bei einem Kleinkind, das kaum laufen kann, noch sinnvoll sein. Doch schon bald wird es zu einem Problem, da es dem Kind keine Möglichkeit gibt, selbst seine Grenzen auszuloten und zu spüren, wenn etwas gefährlich wird.
Das kann so weit führen, dass solchermaßen behütete Kinder sich wie Kamikaze überall herunterstürzen, in der absoluten Gewissheit, dass sie aufgefangen werden. Wie gefährlich das wiederum ist, kann sich jeder selbst ausmalen — ganz abgesehen davon, dass es für Eltern extrem anstrengend ist. Kinder, denen Gefahren und Grenzen hingegen in einem angemessenen Maße zugemutet werden, lernen selbst, mit diesen umzugehen.
Hier gilt es ganz klar auszusortieren: Wo kann ich verändernd eingreifen und wo nicht? Was kann ich annehmen, auch wenn ich es mir anders gewünscht hätte, und was nicht? Ist es wirklich so schlimm, wenn der Kleine mal ein paar Meter
in den Sand fällt? Auf keine dieser Fragen gibt es pauschale Antworten. Wir können sie uns nur immer wieder neu stellen und ehrlich hinsehen. Und wenn wir dann unser Gruselkabinett ausgemistet haben, links die Dinge, die wir ja doch beeinflussen können und rechts jene, die wir ja doch annehmen können, dann bleiben uns noch jene Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben und mit denen wir dennoch nicht Frieden schließen können. Und hierfür brauchen wir dann Angstkraft: Um dem Unbekannten zu begegnen, wissend, dass hier Gefahren lauern können, womöglich aber auch einfach nur etwas Neues.
Ohne Angst geht es nicht
Nun könnte man natürlich meinen, ohne Angst wären wir doch besser dran. Ist doch ohnehin nur anstrengend und schwierig. Ganz so einfach geht es aber dann doch nicht. Wenn Angst fehlt, haben wir keine Möglichkeit, dem Unbekannten zu begegnen. Und was ist unser Kind denn anderes als ein Unbekanntes, auch sich selbst gegenüber? Da kommt dieses rätselhafte Wesen in unser Leben gepurzelt. Wir kennen es nicht. Es kennt sich selbst noch nicht. Und wir haben die unglaubliche Aufgabe, ja, das Privileg, dieses Wesen in seiner Entfaltung zu begleiten.
Und auch wenn wir die Fähigkeit entwickelt haben, unendlich zu vertrauen — was für Eltern unabdingbar ist, wenn sie nicht den Verstand verlieren wollen (doch dazu später mehr) -, brauchen wir die magische Kraft der Angst, um gemeinsam mit unserem Kind dem Mysterium Leben zu begegnen. Ohne sie könnten wir nichts Neues wagen. Ohne sie könnten wir nicht erkennen, wo es gilt, wachsam zu sein, da wir uns auf unbekanntes Territorium begeben. Ohne sie wären wir verloren in den Wirren der großen weiten Welt, unfähig zu wissen, wo es gilt, besonders achtzugeben.
Wenn Angst fehlt, können wir Risiken nicht abschätzen und überfordern unsere Kinder mit Situationen, denen ihre Angstkraft noch nicht gewachsen ist, da sie diese nicht überschauen können. Um bei unserem vorherigen Beispiel zu
bleiben: die Gefahr, von einem Klettergerüst hinunterzustürzen, kann ein Kind sehr wohl abschätzen, wenn es in seinem bisherigen Leben Gelegenheit hatte, von Kissen, Stühlen oder Sofas herunterzufallen. Es kennt das Problem. Hingegen kann es die Gefahren einer viel befahrenen Straße, zwielichtiger Gestalten an der nächsten Ecke oder übermäßigen Medienkonsums nicht einschätzen. Hier ist unsere Angstkraft gefragt. Sie lässt uns in diesen Situationen wachsam sein und bereit einzugreifen, um das Kind zu schützen oder es zumindest über die Gefahren aufzuklären und dadurch zu sensibilisieren.
Nicht minder wichtige Informationen gibt uns auch das nächste Gefühl, dem wir uns nun zuwenden werden. Durch unsere Scham können wir uns selbst infrage stellen und reflektieren. Eine wichtige Fähigkeit, solange sie nicht überhand nimmt.
“Ich bin eine schlechte Mutter” — stimmt das?
Eltern, die dieses Buch lesen, sind vermutlich Eltern, die sich nach bestem Wissen und Gewissen bemühen, einen guten Job zu machen. Ich glaube überhaupt, dass die meisten Eltern sich nach bestem Wissen und Gewissen bemühen, dass sie auf ihre Art und Weise ihr Bestes tun, auch wenn das nicht immer zum erwünschten Resultat führt. Immer wieder gibt es Momente, in denen Eltern daher mit sich selbst hadern, den eigenen Umgang mit dem Kind infrage stellen oder sich wünschen, etwas anders gehandhabt zu haben. Wenn dies geschieht, interpretieren wir unser Verhalten womöglich als falsch und von da ist es nur ein kleiner Schritt zur Selbstverurteilung. Doch ist das sinnvoll? Wem nutzt das?
Wie die anderen vier Gefühle auch ist Scham eine Kraft — oder hat zumindest das Potenzial dazu. Im Gegensatz zu den anderen Gefühlskräften richtet sie sich jedoch nicht nach außen, sondern auf uns selbst. Scham ist damit die Kraft, die Selbstreflexion ermöglicht. Selbstreflexion und die daraus entstehende Demut sind für uns als Eltern ein wichtiges Regulativ, damit wir die quasi unbegrenzte Macht nicht missbrauchen, die wir über das Kind durch seine Abhängigkeit von uns haben.
Es ist nicht leicht, wenn wir im Nachhinein erkennen, dass wir in bestimmten Situationen gerne anders gehandelt hätten. Es tut weh zu sehen, dass wir aus Schmerz, Unvermögen, Unbewusstheit, Überforderung, Gewohnheit oder einfach aufgrund von falschen Konzepten Dinge gesagt oder getan haben, die unsere Kinder verletzt und gedemütigt haben. Manchmal tut es sogar so weh, dass es ganz schwierig ist, mit sich selbst weiterzuleben.
Gesunde Schamkraft hilft uns, diesem Schmerz ins Auge zu sehen, durch unsere Wutkraft jenen Aspekten in uns Grenzen zu setzen, die Grenzen brauchen, und über unsere eigene Unzulänglichkeit zu trauern — und sie dadurch anzunehmen. Sie hilft uns auch, uns zu entschuldigen und damit für unsere Fehler Verantwortung zu übernehmen, wo das angebracht erscheint. All das sind wichtige Geschenke der Scham als Kraft.
Ungesund wird sie dann, wenn wir vor lauter Scham die Wertschätzung für das verlieren, was wir als Eltern sind und tun, jeden Tag. Wie mit den anderen Gefühlskräften auch ist hier vor allem das rechte Maß ausschlaggebend. Nur wenn Scham nicht überhand nimmt, hilft sie uns als Eltern, mit gesundem Selbstbewusstsein und zugleich demütig einen ständigen Lern- und Entwicklungsprozess einzugehen.
Sackgasse Selbstverurteilung
Wenn wir als Eltern in Selbstvorwürfen versumpfen und in diesem Sumpf der Selbstgeißelung die Wertschätzung für uns als Eltern verlieren, verlieren wir auch unsere Würde. Wenn wir unsere Würde verlieren, kommen unseren Kindern ihre Eltern abhanden. Kinder brauchen uns im Bewusstsein unserer Würde, damit sie uns achten und durch uns ihre eigene Würde erkennen können.
Nutzen wir die Scham also, um uns selbst zu reflektieren, um Reue zu fühlen, wenn wir im Nachhinein unser Handeln als unglücklich erkennen, und um Demut zu entwickeln. Demut zu entwickeln bedeutet vor allem, Perfektionsansprüche loszulassen. Wir müssen unseren Kindern keine perfekten Eltern sein, das ist nicht unsere Aufgabe.
Übung: Erkenne an, dass du immer dein Bestes getan hast
Für diese Übung schließt du am besten, nachdem du diese Zeilen gelesen hast, kurz die Augen, nimmst ein paar tiefe Atemzüge und spürst nach, was sich gerade in dir bewegt. Welche Gefühle sind gerade in dir lebendig? Ist es Wut oder Trauer oder vielleicht sogar Scham? Ist es Angst, alles falsch gemacht zu haben, oder vielleicht Freude, weil endlich jemand ausspricht, was du schon lange geahnt hast? Oder vielleicht eine Mischung verschiedener Gefühle? Was immer es ist, nimm dir einen Moment Zeit, um nachzufühlen und diese Gefühle einfach wahrzunehmen. Achte dabei auf deinen Atem.
Nach ein paar Minuten danke dir selbst ganz bewusst für alles, was du bislang als Mutter oder Vater oder andere Bezugsperson für Kinder getan hast. Auch oder besonders wenn du gerade mit dir selbst haderst. Mache dir bewusst und artikuliere, dass du immer dein Bestes getan hast. Danke dir dafür.
Unsere Aufgabe ist es, nach bestem Wissen und Gewissen unserer Liebe zu ihnen Form zu geben, auf immer neue, unvollkommene Weise. Durch unsere Liebe können sie zu liebenden Erwachsenen heranwachsen. Und Grundvoraussetzung dafür, dass wir unsere Kinder lieben können, ist die Liebe zu uns selbst. Uns selbst zu lieben bedeutet aber eben nicht, über unsere Fehler und Schwächen hinwegzugehen. Es bedeutet vielmehr, sie sehen zu können, annehmen zu können und auch vergeben zu können, immer wieder aufs Neue. So können unsere Kinder von uns lernen, dass auch sie nicht perfekt sein müssen.
Wenn Eltern unfehlbar sind
Mangelnde Scham äußert sich bei Eltern vor allem darin, dass sie sich selbst — ihr Verhalten und ihre Ansichten — nie infrage stellen. Dies entspricht natürlich stark dem klassischen Elternbild: Mutter oder Vater als starkes Vorbild mit
strengen Prinzipien, eine Art Übermensch, zu dem der kleine Heranwachsende ehrfürchtig emporsieht.
Diese Rollenverteilung ist sowohl für Eltern als auch für Kinder extrem anstrengend. Für die Eltern vor allem deshalb, weil sie dieses Bild nur mit großem Aufwand aufrechterhalten können. Sie müssen ihre Schattenseiten ausblenden, also alles Ungeliebte oder Unende und ihre Fehltritte kaschieren. Sie müssen immer recht haben oder zumindest den Anschein erwecken, alles richtig zu machen.
Für Kinder ist so ein Bild sehr beschämend. Eltern, die unfehlbar sind, neigen dazu, ihren Kindern die Schuld für alles, was schiefläuft, in die Schuhe zu schieben. Um so größer ist die Wut des Kindes dann, wenn es eines Tages bemerkt, dass die perfekte Fassade eben nur das ist — eine Fassade. Die spätestens in der Pubertät explodierende Flut von demaskierenden Anklagen zwingen Eltern genau jene Selbstreflexion nachzuholen, die über Jahre versäumt wurde. Nur leider ist es dann bereits zu spät. Wir haben ja nicht nur die Selbstreflexion versäumt, sondern vor allem haben wir all die Jahre versäumt, die wir mit unserem Kind verletzlich, fehlbar, verwundbar und menschlich hätten sein können. Beziehung war nicht möglich.
Ja, Kinder brauchen starke Eltern, die wissen, was sie wollen und was nicht. Sie brauchen aber auch Eltern, die bereit sind, sich selbst infrage zu stellen, damit auch Kinder sich selbst infrage stellen können. Und genauso brauchen sie Eltern, die sich an ihnen freuen können, genau wie sie sind — was uns zum nächsten Gefühl bringt.
“Du bist wunderbar!”
Wie schön! Endlich kommen wir nach all diesen schwierigen, ungeliebten Kräften zu der einen Kraft, die uns nicht nur Freude macht, sondern auch noch Freude ist!
Diese eine wunderbare Kraft entsteht durch die Interpretation, dass etwas richtig oder schön ist. Wir brauchen sie wie die Luft zum Atmen, da ohne sie das Leben unerträglich wird. Und wenn es uns als Eltern nicht gelingt, uns an unseren Kindern zu freuen, wird Elternschaft zu einer Qual.
Freudekraft lässt uns strahlen. Sie verleiht uns und dem Leben einen einzigartigen Glanz. Menschen, die viel Freudekraft haben bzw. erzeugen, verfügen über eine natürliche Anziehungskraft. Auch Kinder fühlen sich geradezu magisch zu freudigen Menschen hingezogen — nicht zuletzt, weil sie die Freude selbst über alles lieben. Wenn wir selbst Dinge mit Freude tun, lassen sich Kinder davon anstecken und sind gerne mit Feuereifer dabei. Und auch wir können uns von ihrer Freude anstecken lassen: die Freude an den kleinen und großen Dingen, die für uns schon ganz selbstverständlich sind!
Freude ist Wertschätzung
Freude ist ein Ausdruck von Liebe, und zwar jener der Wertschätzung oder Würdigung. Im Abschnitt über Trauer habe ich erwähnt, dass wir durch Trauer lernen, unser Kind auch dann zu lieben, wenn es sich anders verhält, als wir es gerne hätten. Das ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung unserer Liebesfähigkeit.
Durch Freude zeigen wir hingegen Liebe, die nicht bedingungslos ist. Wir zeigen, was uns gefällt und was nicht. So wichtig und schön bedingungslose Liebe ist, so essenziell ist auch die bedingte Liebe. Denn durch sie erfahren wir, was für die Menschen in unserer Umgebung schön ist und was nicht.
Indem wir unseren Kindern unsere Freude zeigen über das, was uns gerade gefällt oder was wir schön finden, bekräftigen wir dieses Verhalten ganz unmittelbar. Auf Neudeutsch würde man sagen: Die Kinder bekommen zu ihrem Verhalten. Dieses Phänomen unterscheidet sich grundlegend von den manipulativen Lobsätzen, die besonders Kindergärtnerinnen und Grundschullehrerinnen gerne verteilen. Der grundlegende Unterschied liegt darin, dass die Freude echter Wertschätzung sich immer auf Augenhöhe abspielt, sozusagen von Herz zu Herz, wenn wir schon von Liebe sprechen. Sie ist zweckfrei.
Ich freue mich nicht, wenn sich mein Kind ohne Aufforderung die Haare gekämmt hat, damit es das morgen wieder tut. Ich freue mich einfach, weil ich mich freue. Klassische Lobsätze wie “Das hast du gut gemacht” sind das positive Gegenstück zu den viel zitierten “Man-Sätzen”. Sie tun so, als wäre etwas absolut richtig und als wären die Eltern diejenigen, die befugt sind, diese absolute Wertung zu fällen. Wenn ich stattdessen sage: “ Ich freue mich, dass du dir die Haare gekämmt hast, ohne dass ich was gesagt habe”, ist dies eine persönliche Aussage, die dem Kind meine Wertschätzung transportiert, nicht mehr und nicht weniger. Ob es das dann morgen wieder tut, weiß ich nicht. Kann sein, kann sein, dass nicht.
Freude ist auch Liebe
Neben der Freude als Ausdruck unserer Wertschätzung über bestimmte Verhaltensweisen gibt es auch die reine Freude an unseren Kindern, wie sie sind,
einfach weil sie sind. Wir brauchen auch diese Freude und unsere Kinder brauchen sie auch. Diese Freude gehört zu den schönsten Seiten des Elternseins: dieses reine Glück, einen anderen Menschen einfach in unser Herz zu schließen, genau wie er ist, mit allen Ecken und Kanten. Und unsere Kinder brauchen diese Freude, die sie in unseren Augen glänzen sehen, wenn wir sie ansehen, und die unabhängig von ihrem Verhalten ist. Diese Freude bietet ihnen eine gute Basis, auf der sie all unsere anderen Gefühlskräfte spüren können, ohne sich existenziell von ihnen bedroht zu fühlen. Das ist wichtig, damit sie mit uns und unseren Gefühlen in Beziehung treten können.
Doch so schön und wichtig Freude ist, wie bei den anderen Kräften auch gibt es hier kein Schwarz oder Weiß. Wir können nicht undifferenziert sagen: je mehr Freude, desto besser, am besten sogar nur noch Freude — oder doch?
Zu viel Freude, geht das?
Auf den ersten Blick möchte man sagen: “ Nein, natürlich nicht, was für ein Blödsinn. Das Leben ist schwer genug und jetzt kommt auch noch jemand daher und will behaupten, zu viel Freude könnte ungesund sein. Was soll denn das? ” Nein, das will ich natürlich nicht. Freude ist mit Sicherheit gesund, so wie Gefühle überhaupt gesund sind. Auch möchte ich bezweifeln, dass man zu viel Freude haben kann. Zuweilen versuchen wir jedoch, nur Freude zu haben und versagen dadurch den anderen Gefühlskräften ihren natürlichen Platz. Dies mag zwar für uns nur begrenzt oder gar nicht ungesund sein, für unsere Beziehungen allerdings schon.
Wenn alles gut und richtig und schön ist, wird alles ausgeblendet oder übergangen, was uns nicht in den Kram t. Zwar gibt es Bewusstseinszustände, wo dies natürlich ist, da wir über den Dingen stehen, doch sind dies beziehungslose Zustände. Kinder hingegen brauchen uns als menschlich berührbare Eltern, nicht als Heilige. Wenn alles gut und richtig und schön ist, dann hat dies auch eine Beliebigkeit. Es ist egal, wie das Kind sich
verhält. Wie soll es da lernen, woran soll es sich orientieren, wie soll es erkennen, welches Verhalten funktioniert und welches weniger? Unsere Kinder brauchen Menschen, die “ Ja” und “Nein” sagen, die einverstanden sind und auch mal etwas dagegen haben. Sie brauchen Eltern, die wissen, was sie wollen und dafür einstehen, es dann aber auch loslassen, wenn sie sehen, dass es gerade nicht durchzusetzen ist.
Ohne Freude geht gar nichts
Kaum jemanden wird es verwundern, dass zu wenig Freude auch nicht gut ist. Trotzdem möchte ich hier noch einmal kurz darauf eingehen, denn es kommt häufiger vor, als den meisten Eltern lieb ist. Aber warum ist das so? Ist Elternsein nicht das Schönste auf der Welt oder sollte es zumindest sein? Ja, bestimmt. Eltern werden und Eltern sein erfüllt eine unserer stärksten biologischen Programmierungen — den Fortpflanzungstrieb — und wird daher als zutiefst richtig empfunden. Außerdem sind unsere Kinder absolut entzückende Wesen. Doch warum fehlt es dann im Alltag zuweilen an Freude? Den Hauptgrund hierfür sehe ich in einer überholten Vorstellung davon, was Elternsein bedeutet.
Wer es als seine Hauptaufgabe sieht, Kinder zu erziehen — sie also nach gewissen Vorstellungen zu formen -, für den ist Frustration vorprogrammiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind sich genau so entwickelt und verhält, wie unsere Konzepte oder jene der Gesellschaft es vorsehen, ist nunmal extrem gering. Das führt unweigerlich dazu, dass wir das Kind oder sein Verhalten sehr viel häufiger als notwendig, als falsch oder unangebracht empfinden. Dabei bemerken wir nicht, dass es vielleicht unsere eigenen Vorstellungen oder jene der Gesellschaft sind, die falsch oder unangebracht sind.
Auch wenn wir Absolutheitsansprüche loslassen, kann fehlendes Vertrauen in das Wesen des Kindes dazu führen, dass wir uns nicht so viel an ihm freuen, wie es eigentlich möglich oder natürlich wäre. Nehmen wir einmal an, dass unser
Kind bereits als fertiger Mensch auf die Welt kommt, so wie eine Blume im Samen auch schon fertig angelegt ist. In diesem Fall ist es lediglich unsere Aufgabe, sein Wachstum zu begleiten, indem wir ihm eine optimale Umgebung mit allen notwendigen Nährstoffen zur Verfügung stellen. Wenn wir unsere Aufgabe gut machen, wird das Kind sich gut entwickeln können, genau wie die Blume gut wachsen kann, wenn ihr die richtige Menge an Wasser, Sonnenlicht und Nährstoffen zugeführt wird. Doch wie genau die Blume wachsen wird, wie das Kind sich entwickeln wird, was für ein Mensch es werden wird, das können wir nur sehr begrenzt beeinflussen. Haben wir das einmal begriffen, dann können wir der Entfaltung unseres Kindes viel gelassener zusehen und uns einfach an ihm freuen. Denn wir wissen: Auch wenn das Kind ein ganz anderer Mensch wird, als wir es sind oder als wir es uns vorgestellt haben, das Kind ist richtig, wie es ist. Und wenn uns dies gelingt, dann machen wir dem Kind das wichtigste Geschenk überhaupt. Tiefer gehe ich auf dieses Thema im Anhang ein, wenn es um die Fähigkeit zu lieben und zu vertrauen geht.
Übung: Wertschätzung üben
Mach es dir eine Woche lang zur Aufgabe, bewusst das an deinem Kind wahrzunehmen und auszudrücken, was dir gefällt. Sei spezifisch in deinen Äußerungen, verwende Ich-Botschaften und vermeide pauschale Urteile wie “Das hast du gut gemacht”. Natürlich kannst du diese Übung auch auf andere Menschen ausweiten — oder auf dein ganzes Leben. Du wirst sehen, es ist ganz einfach: je mehr Wertschätzung wir erzeugen und ausdrücken, desto mehr Freude haben wir — an unseren Kindern, an unseren Mitmenschen und an unserem Leben.
Und nun?
Nachdem wir nun alle fünf Gefühlskräfte durchgesprochen haben, mag all dies zwar recht logisch erscheinen, doch noch weit weg von einer tatsächlich lebbaren Realität sein. Schließlich sind wir doch keine Roboter, die auf Knopfdruck Gefühl A oder Gefühl B produzieren können. Zwar können wir uns langfristig dorthin entwickeln, dass wir Gefühle bewusst und gezielt erzeugen und auch in Intensität variieren können. Zunächst sehen sich die meisten Eltern jedoch eher mit recht unvorhersehbaren Emotionswogen konfrontiert, die alles andere als kontrollierbar scheinen. Daher kann ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zur empathischen Elternschaft die liebevolle Zuwendung zu unseren eigenen emotionalen Altlasten sein.
Giftiges Familienerbe: Emotionale Altlasten
Während es sich bei Gefühlen um besagte Urkräfte handelt oder handeln kann, gleichen Emotionen oft Mülldeponien, auf denen einst relativ harmlose Stoffe und Lebensmittel zu gefährlichen Giftcocktails verkommen sind. Gerade die Intensität von Kindern kann diese Cocktails mit hoher Zuverlässigkeit zum Explodieren bringen, weshalb es für Eltern unabdingbar ist, hiermit einen guten, sicheren Umgang zu erlernen. Wenn wir es versäumen, einen solchen Umgang zu erlernen, kann es ieren, dass wir immer einen Sicherheitsabstand zu unserem Kind wahren oder unsere emotionalen Altlasten regelmäßig auf dem Kind entladen, wie ich es im Abschnitt über Wut bereits beschrieben habe. Beide Optionen sind für Eltern wie Kinder gleichermaßen schmerzhaft und unbefriedigend.
Wie entstehen Emotionen?
Da es sich bei Emotionen, wie ich den Begriff definiere, um alte, nicht ausgedrückte und daher angestaute Gefühle handelt, ist es offensichtlich, dass diese vor allem dadurch entstehen, dass Gefühle nicht zugelassen werden. Das kann verschiedene Gründe haben. Im Folgenden möchte ich einen Überblick über drei gängige Methoden geben, wie der Ausdruck von Gefühlen unterbunden wird, weshalb wir diese dann zu Emotionen anstauen. Es gibt natürlich noch weitere, doch das ist mal ein Anfang.
1. “Jetzt reiß dich doch mal zusammen!” — Unterdrückung
Für die meisten von uns ergab sich, schon als wir noch ziemlich klein waren die Notwendigkeit, Gefühle zu unterdrücken. Wir lernten, dass unser Geschrei — sei es aus Wut, Angst oder Trauer — die Eltern nervt. Vielleicht lernten wir auch, dass wir bestraft werden, wenn wir wütend sind oder traurig oder ängstlich, sei es durch Liebesentzug oder andere Konsequenzen.
Hierbei spielt es kaum eine Rolle, ob unsere eigenen Eltern uns bewusst straften oder nicht. Womöglich waren sie geleitet von der Vorstellung, dass ein Kind lernen muss, sich zu beherrschen, damit es in der Welt zurechtkommen kann, und dass man ihm das auf diese Weise beibringen muss. Oder sie konnten einfach gar nicht anders, als sich vor uns zu verschließen, wenn wir mit der ganzen geballten Gefühlskraft eines Kindes auf sie zukamen. So oder so war der Lerneffekt der Gleiche.
2. “Aber was hast du denn?” — Analyse
Nicht jeder von uns musste Gefühle unterdrücken, weil sie unerwünscht waren. Manche Eltern hatten gewiss Verständnis, dass Gefühle wichtig sind und nicht einfach weggepackt werden dürfen. Doch sie waren womöglich nicht minder hilflos im Umgang mit ihnen. Aufgrund dieser Hilflosigkeit versuchten sie, Gefühle zu analysieren oder wegzureden. Damit fehlte uns aber die Möglichkeit, einfach mit den Gefühlen zu sein und sie zu fühlen, statt über sie nachzudenken.
3. “Es wird schon wieder” — Beschwichtigung
Gut gemeint aber oft nicht gut gemacht war auch die Taktik der Beschwichtigung. Hier wurde uns, sobald ein Gefühl auftauchte, vor allem in Aussicht gestellt, dass dieses bald wieder weg sein würde. Dadurch wurde uns indirekt die Erlaubnis genommen, es einfach zu fühlen. Da ein Gefühl jedoch zunächst einfach gefühlt werden möchte, kann so eine Beschwichtigung ohne
jede böse Absicht dazu führen, dass wir aufhörten zu fühlen und begannen, Emotionen anzustauen.
Was Emotionen schwierig macht
Nun könnte man sich natürlich fragen, was denn bitteschön das Problem an der Sache sein soll. Es liegt doch wohl auf der Hand, dass nicht jeder zu jedem Zeitpunkt jedes Gefühl einfach ausspucken kann, wie es ihm gerade t. Wo kämen wir denn da hin?
Das Problem ist folgendes: Wenn ein Gefühl in einer bestimmten Situation durch eine angemessene Interpretation erzeugt wird, dann erfüllt dieses Gefühl eine ganz bestimmte Funktion, die in genau dieser Situation entscheidend ist. Wenn ich zum Beispiel sehe, wie mein Kind auf eine viel befahrene Straße zuläuft, ohne auf den Verkehr zu achten, dann werde ich dies, ohne groß nachzudenken, als falsch interpretieren, wodurch ich Wutkraft erzeuge. Diese befähigt mich, mit klarer, lauter Stimme “Stopp!” zu rufen — und zwar auf eine Art, die bei meinem Kind auch ankommt. Die Situation wurde wahrgenommen, interpretiert, das Gefühl produziert und sofort in Handlung umgesetzt. Damit ist diese Situation abgeschlossen und geklärt, die im Körper ausgeschütteten Hormone und chemischen Prozesse wurden in einer sinnvollen Handlung ihrer Bestimmung zugeführt.
Wenn dieser natürliche Ablauf gestört wird, etwa weil der Ausdruck des erzeugten Gefühls unterbunden wird, bleibt die erzeugte Kraft — und mit ihm die erzeugten Hormon- und Chemiecocktails — dennoch im System. Vielleicht interpretiere ich es als falsch, dass mein Kind mit Fingerfarben auf dem Teppich malt, unterdrücke jedoch den Ausdruck meiner Wut, weil ich ein Konzept habe, dass Kinder sich kreativ ausdrücken dürfen, wann und wie sie wollen. Oder auch nur, weil ich das Konzept habe, dass ich als Vater nicht wütend sein darf. Ich drücke sie also nicht aus, das Leben geht weiter, die Situation ist vorbei, die erzeugte Kraft hat keine Verwendung mehr und könnte im Endeffekt entsorgt
werden. Sie ist Müll. Doch was geschieht dann mit diesem Müll?
Als Kinder hatten wir noch den gesunden Impuls, diesen Müll regelmässig zu entsorgen. Für die Erwachsenen um uns herum war das dann ziemlich anstrengend und unverständlich, denn in der Regel sah das so aus, dass wir ohne ersichtlichen Grund weinten oder schrien. Selten stieß dies auf große Begeisterung oder Unterstützung, so wie es auch heute bei unseren eigenen Kindern wohl kaum auf allzu große Begeisterung stoßen dürfte. Es ist laut, es ist nervig, es ist intensiv — ja, es ist sogar kaum auszuhalten, weil es auch in uns alle alten Emotionen wieder wachkitzelt. Daher ist es kaum verwunderlich, dass versucht wird, auch diese Reinigungsaktion durch eine der oben genannten Methoden zu unterbinden.
So naheliegend diese Reaktion ist, das Ergebnis liegt auf der Hand: Der emotionale Müll bleibt im System. Und was dann geschieht, kann man am besten nachvollziehen, wenn man sich überlegt, was im Biomüll iert, wenn man es versäumt, ihn rechtzeitig auf den Komposthaufen zu bringen. Wäre er auf dem Komposthaufen mithilfe von Luft, Licht und Mikroorganismen binnen kürzester Zeit zu wunderbarem Humus geworden, verkommt er unter falschen Bedingungen zu einer stinkigen, schleimigen Masse. Ähnlich verhält es sich mit unseren Gefühlen: Wären sie zur rechten Zeit am rechten Ort eingesetzt, wären sie ein guter Nährboden für die gesunde Entwicklung unserer Beziehungen geworden. Unterdrückt und weggesperrt werden diese hingegen toxisch.
Dies hat zum Einen Auswirkungen auf die Gesundheit: Viele psychosomatische Störungen bringt man mit einem unangemessenen Umgang mit Gefühlen in Verbindung. Zum anderen bekommen unsere Mitmenschen das Gift dieser Altlasten zu spüren, wenn diese aus Versehen wieder aktiviert werden und ungefiltert aus uns herausbrechen. Wer dann in unserer Nähe ist, hat nicht gut lachen. Im Nachhinein fragen wir uns oft, was eigentlich in uns gefahren war, doch in der Situation selbst können wir kaum etwas gegen unseren Ausbruch tun.
Dieses Phänomen ist vor allem in der Beziehung zu unseren Kindern problematisch, denn sie sind unseren Ausbrüchen schutzlos ausgeliefert und haben noch keine Möglichkeit, sich gegen diese zu wehren oder abzugrenzen — sei es, indem sie uns dazu bringen, aufzuhören, oder indem sie sich innerlich distanzieren.
Oberste Priorität: Emotionale Prävention
Der eben beschriebene Ablauf ist weder pathologisch noch außergewöhnlich. Er gehört leider zu dem, was wir heute gemeinhin als einen ganz normalen sozialen Umgang bezeichnen. Trotzdem sind die meisten Eltern, wenn sie sich dies bewusst machen, unangenehm berührt und fragen sich, wie sie einen anderen Umgang mit den eigenen Emotionen entwickeln können. Diese Frage ist überaus wichtig, denn nur so können wir verhindern, dass wir diese Altlasten, die teilweise schon seit Generationen in den Familien weitergegeben werden, nicht einfach an unsere Kinder weitergeben.
Die Antwort ist, wie so oft, verblüffend einfach und doch anspruchsvoll in der Umsetzung. Es geht schlicht darum, dass wir aktive Emotionsprävention betreiben. Das bedeutet, dass wir uns regelmäßig Gelegenheit schaffen, um Altlasten zu entladen, ohne dass wir selbst oder andere Menschen dadurch Schaden nehmen. Doch was ist eine ende Gelegenheit, um zu entladen?
Raum für Entladung
Wenn ich Menschen diese Frage stelle, denken sie interessanterweise meistens zuerst an einen Ort, wo sie niemand hören kann — allein im Wald oder in einem schalldichten Raum. Ihre ersten Bedenken gelten der Frage, ob sie andere stören könnten oder ob sie wegen ihres emotionalen Ausdrucks verurteilt würden.
Meiner Erfahrung nach sind diese Bedingungen jedoch keinesfalls ausreichend, um zu einer wirklichen Entladung des Systems zu führen. Wir können vielleicht ein bisschen herumschreien — oder sogar ein bisschen viel herumschreien. Wirkliche Erleichterung, Entlastung und Entladung tritt nicht ein. Doch was dann? Was sind die Bedingungen, die wirkliche Entladung ermöglichen?
Überlegen wir doch mal, was natürlicherweise geschieht, wenn Menschen eindeutig emotional überfordernde Situationen erleben — ein Autounfall, der Tod eines geliebten Menschen oder eine andere Extremsituation. Hier gehen wir natürlicherweise in einen Schockzustand. Das System friert ein und wir fühlen genau gar nichts mehr. Eine natürliche Betäubung setzt ein, wir funktionieren wie Roboter.
Sowie die Extremsituation vorbei ist, bemerken wir vielleicht, dass wir trotzdem noch nicht ganz bei uns sind. Intellektuell wissen wir wahrscheinlich, dass wir uns furchtbar erschrocken haben oder eigentlich ganz traurig sein müssten — doch wir können nicht weinen und wir fühlen keine Angst.
Wenn wir Glück haben, taucht früher oder später ein Mensch auf, dem wir vertrauen, bei dem wir uns sicher fühlen und der uns lieb hat (oder einfach ein mitfühlender Zeitgenosse ist). In dem Moment, wo dieser Mensch ein freundliches Wort an uns richtet, uns in den Arm nimmt oder uns auch nur voller Mitgefühl ansieht, brechen unsere Gefühle ohne Rückhalt aus uns heraus. Wir entladen.
Aus diesem Beispiel können wir lernen, was wir brauchen, um wirklich zu entladen: Wir brauchen einen Menschen, dem wir vertrauen, bei dem wir uns wohlfühlen, der empathiefähig ist und uns Raum gibt, damit wir unsere überschüssigen Emotionen zulassen können. Nun könnten wir natürlich warten, bis sich zufälligerweise eine Gelegenheit ergibt, wo all diese Faktoren
zusammenkommen, wo wir dann auch noch Zeit haben und ungestört sind — wir müssten vermutlich bis zum St. Nimmerleinstag warten. Viel effektiver ist es daher, sich solche Räume zu erschaffen, in denen Entladung geschehen kann — idealerweise, bevor wir überkochen.
Übung: Bewusst entladen lernen
Damit wir emotionale Altlasten gut und sicher entladen können, brauchen wir in aller Regel die Unterstützung mindestens eines Menschen, der unser Vertrauen genießt und bei dem wir uns wohlfühlen. Das kann unser Lebensgefährte sein, das kann ein guter Freund oder eine Freundin sein, es kann aber auch ein Mensch sein, mit dem wir uns nur zu diesem Zweck zusammentun: um uns gegenseitig bei der Entladung unserer emotionalen Altlasten zu unterstützen. Wichtig ist lediglich, dass es sich nicht um den Menschen handelt, der unsere emotionale Ladung aktiviert hat.
1. Sucht euch einen Platz, wo ihr ungestört seid, und nehmt euch zwanzig Minuten Zeit. Natürlich könnt ihr euch auch eine Stunde Zeit nehmen. Wenn ihr erst mit der Übung vertraut seid, reichen auch mal zehn Minuten.
2. Verständigt euch darauf, dass alles, was ihr in diesem Rahmen miteinander teilt, auf eine besondere Weise vertraulich ist: Es wird nicht nur mit niemand anderem darüber gesprochen, auch ihr werdet einander später nicht mehr auf das ansprechen, was ihr hier geteilt habt. Solltet ihr dennoch das Bedürfnis haben, später noch einmal etwas anzusprechen, bittet den anderen um Erlaubnis, bevor ihr es ansprecht. Respektiert, wenn der andere ablehnt.
3. Teilt euch die vereinbarte Zeit auf. Wenn ihr euch zwanzig Minuten nehmt, bekommt also jeder zehn Minuten.
4. Einigt euch darauf, wer als erstes zuhört und wer als erstes spricht.
5. Als ZuhörerIn konzentrierst du dich nur darauf, einen empathischen, unterstützenden Raum für den anderen zur Verfügung zu stellen. Das funktioniert am besten, indem du einfach nur zuhörst — ohne Kommentare, ohne bestätigendes Nicken, ohne Fragen. Das mag zwar am Anfang sehr ungewohnt sein, unterstützt den anderen aber darin, sich wirklich auf die eigenen Empfindungen zu konzentrieren, statt zu sehr damit beschäftigt zu sein, wie du das findest, was er oder sie erzählt.
6. Als Sprechende(r) konzentrierst du dich ganz auf deine Gefühle, die jetzt in diesem Moment da sind, und erzählst von dem, was in dir vorgeht, was dich beschäftigt, was dich belastet oder aufregt. Lass dir Zeit. Durch den klar vereinbarten Zeitrahmen kannst du ruhig auch mal innehalten, um in dich hineinzuspüren oder zu lauschen. Folge dem Gefühl, auch wenn es dich weit in die Vergangenheit trägt. Sprich nicht so sehr über deine Gedanken, Analysen, Thesen und Ansichtsweisen, sondern bleibe bei deinen Gefühlen und Emotionen.
7. Entladen ist ein innerer Dreh, den man früher oder später herausbekommt, es ist Übungssache. Entladung geschieht auf vielfältige Weise: Tränen, Kichern, Zittern, Stöhnen und Seufzen. Zwar kann es am Anfang vorkommen, dass sich auch Schreie entladen, früher oder später finden wir jedoch zu anderen Formen der Entladung, da wir in der Wut keinen Frieden schließen können mit dem, was war. Das geschieht jedoch von selbst, wenn wir der Entladung Raum geben und dem Gefühl folgen.
8. Tauscht die Rollen. Bedankt euch beieinander.
Kleine Dramen, große Dramen
Ich hoffe, dass mit der Lektüre dieses Abschnitts über emotionale Entladung deutlich geworden ist, dass emotionale Entladung an sich kein Problem sein muss, vor allem dann nicht, wenn sie bewusst geschieht. Doch was ist mit unbewusster emotionaler Entladung? Was ist mit all den kleinen und nicht ganz so kleinen Dramen, die sich in Familien entwickeln können und dann wahre Kettenreaktionen emotionaler Entladungen herbeiführen können? Wie können wir hiermit gut umgehen und vor allem: was unterscheidet eigentlich ein Drama von einer einfachen emotionalen Entladung?
Anatomie eines Dramas
Ein Drama ist ein Spiel, in dem drei oder mehr Menschen in die Rollen von Täter, Opfer und Retter schlüpfen oder einander diese überstülpen. Das führt dazu, dass statt konstruktivem, kooperativem Dialog wüste Anklagen, Verurteilungen und Beschimpfungen hin und her geschleudert werden, meist ohne dass auch nur ansatzweise Fortschritte in Richtung einer konstruktiven Konfliktlösung gemacht werden. Dramen können daher sehr anstrengend sein.
In Gefühle & Emotionen — Eine Gebrauchsanweisung bin ich ausführlich auf das Thema Absolutheitsansprüche eingegangen und wie diese zu emotional hochgeladenen Situationen führen — die sich in der Regel dann auch entsprechend heftig entladen. Jedem Drama liegt ein solcher Absolutheitsanspruch zugrunde. Doch es gibt noch eine weitere Komponente, die häufig übersehen wird, und das ist jene der emotionalen Entladung. Auf diesen Aspekt möchte ich hier genauer eingehen.
Meine Beobachtung ist, dass Menschen, die viele emotionale Altlasten mit sich herumtragen, sehr viel häufiger Dramen erzeugen als jene, die wenige emotionale Ladungen in sich angestaut haben. Dies ließ in mir die Frage entstehen, ob nicht der vermeintliche Nebeneffekt von Dramen — nämlich heftige emotionale Entladung — in Wirklichkeit der eigentliche Seinszweck von Dramen sein könnte. Mit anderen Worten: ist es der Wunsch nach emotionaler Entladung, der uns Dramen erfinden lässt? Inzwischen bin ich überzeugt, dass es so ist: Wir erzeugen Dramen, um eine Gelegenheit zu haben, zu entladen — und nicht umgekehrt.
Eltern im Dramadreieck
Da Eltern — wie alle anderen Menschen auch — häufig große emotionale Ladungen mit sich herumschleppen und darüber hinaus noch mit einer nicht unbeträchtlichen Ansammlung von Absolutheitsansprüchen ausgestattet sind, ist es kaum verwunderlich, dass sie häufig in der Dramafalle landen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass unser Nachwuchs uns ja auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Anders als ein Erwachsener packt ein Kind nicht einfach seine Sachen und geht, wenn wir ihm zu blöd kommen. Irgendwann vielleicht schon, doch bis dahin müssen wir schon eine Menge Mist gebaut haben.
Die Versuchung, unseren emotionalen Sondermüll einfach an die nächste Generation weiterzugeben, ist daher immens. Es ist sehr einfach und naheliegend, das Kind anzumaulen, wenn man einen schlechten Tag hatte, oder es über die Maßen anzuschreien, wenn es sich mal wieder unmöglich verhält, obwohl wir ihm schon hunderttausendmal gesagt haben, dass “man” das nicht tut. Damit es uns als Eltern gelingt, unseren Müll anderweitig zu entsorgen und nicht auf unseren Kindern, sind zwei Dinge ganz wichtig: Wir müssen dafür sorgen, dass wir ausreichend Unterstützung haben, und wir brauchen Selbstdisziplin, um kontrolliert statt spontan zu entladen. Sonst ist die Gefahr groß, dass wir die Würde des Kindes verletzen, wenn uns der Kragen platzt.
Eltern brauchen Unterstützung
Eltern sein ist einer der härtesten Jobs überhaupt. Nichts fordert uns derart vielschichtig, umfassend und quasi ununterbrochen. Ohne ausreichende Unterstützung ist ständige Überforderung vorprogrammiert. Unsere emotionalen Reserven brennen aus und wir haben keine inneren Puffer mehr, um mögliche Entladungen entsprechend umzulenken. Unsere Kinder können nichts dafür, dass wir überfordert oder überlastet sind. Es ist unsere Verantwortung, entsprechende Beziehungsnetzwerke zu schaffen, in denen wir Entlastung finden. Das gilt für Eltern, die ihre Kinder gemeinsam aufziehen genauso, wie für Alleinerziehende. Die Idee, dass wir Kinder in Kleinfamilien aufziehen können, ist noch sehr jung und sie funktioniert, ehrlich gesagt, nicht besonders gut. Wir brauchen ein Beziehungsnetzwerk und unsere Kinder brauchen dieses auch, ohne geht es nicht.
Doch neben der allgemeinen Notwendigkeit, ein unterstützendes Netzwerk aufzubauen, gibt es für Eltern auch die spezifische Aufgabe, sich regelmäßig Räume zum Entladen zu schaffen. Diese Form von Unterstützung ist die effektivste Prävention, um Dramen und der unwillkürlichen Entladung von emotionalen Altlasten vorzubeugen.
Nun haben wir jedoch genug über Eltern geredet. Es wird Zeit, uns den Kindern zuzuwenden. Was für Gefühle haben Kinder? Wie entwickeln sich diese? Wie verhält es sich mit ihren Absolutheitsansprüchen, wie mit ihren emotionalen Ladungen? Bevor ich gleich in Teil II diese Themen ausführlich behandle, möchte ich an dieser Stelle noch eine Frage aufgreifen, die bislang nur indirekt beantwortet wurde. Es ist die Frage nach einer Definition von emotionaler Kompetenz.
Was ist emotionale Kompetenz?
Eine gängige Definition emotionaler Intelligenz oder Kompetenz ist die “ Fähigkeit eines Menschen, die Emotionen eines anderen zu erkennen und in adäquater Weise darauf zu reagieren.” [3]. Für mich ist diese Definition unvollständig, auch wenn sie ein guter Startpunkt ist. Im Kasten daher eine Auflistung aller Fertigkeiten, die emotionale Kompetenz für mich umfasst.
Emotionale Kompetenz ist die Fähigkeit ...
die eigenen Gefühle wahrzunehmen.
→ die Gefühle anderer zu erkennen und mitzufühlen.
→ die eigenen Gefühle bewusst zu erzeugen und zu steuern, sodass sie der jeweiligen Situation anget werden können.
→ Emotionen und Gefühle bei sich selbst und anderen zu unterscheiden.
→ emotionale Altlasten achtsam zu entladen, ohne dass wir selbst oder andere dabei zu Schaden kommen.
→ andere dabei zu unterstützen, ihre emotionalen Altlasten entsprechend zu entladen.
In Teil I habe ich erklärt, was ich unter diesen Fertigkeiten verstehe und warum ich sie für Eltern als wichtig betrachte. Wie diese mit sozialer Kompetenz verknüpft sind, wird in Teil III deutlich, wo es um ein neues Miteinander geht.
Nun ist es jedoch Zeit, dass die Gefühle der Kinder in den Mittelpunkt rücken, damit wir verstehen, wie emotionale Kompetenz überhaupt entsteht.
[3] http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/77748/emotionale-intelligenzv6.html, abgerufen am 14. Juni 2014 um 14:30 h
Teil II:
Kinder & Gefühle
Kinder haben keine Gefühle, sie sind ihre Gefühle
Kinder sind zugleich wunderbar und für Erwachsene doch furchtbar anstrengend. Beides liegt vor allem daran, dass sie ihre Gefühle unmittelbar ausdrücken — ohne Filter, ohne Reflexion, ohne Hintergedanken.
Besonders auffällig ist dies bei kleinen Kindern. Ihre Gesichter wechseln wie der Himmel an einem durchwachsenen Apriltag von heiter zu wolkig und wieder zurück, und das zuweilen binnen Sekunden. Je älter Kinder werden, desto mehr lernen sie, ihre Gefühle nicht unmittelbar auszudrücken. Sie lernen zum Beispiel, nicht einfach loszuschreien, wenn ihnen etwas nicht t, sondern etwas zu sagen. Oder sie lernen, dass bestimmte Gefühle in ihrer Umgebung auf Ablehnung stoßen und hören deshalb auf, diese Gefühle auszudrücken oder sogar sie zu erzeugen. Doch auch wenn sich das Verhältnis zu den eigenen Gefühlen im Laufe der Entwicklung verändert, kommt erst mit der Pubertät die Fähigkeit, die Erschaffung der eigenen Gefühle zu reflektieren und damit bewusst zu steuern. Wenn wir uns vor Augen führen, wie schwierig dies selbst für Erwachsene noch ist, wird es uns kaum verwundern.
Trotzdem oder gerade deshalb spielen wir als Eltern eine zentrale Rolle bei der Frage, ob unsere Kinder ihre Gefühlskräfte auf eine gesunde Art entwickeln oder nicht. Die gute Neuigkeit: Es ist einfacher als gedacht. Es ist in unseren Kindern von Natur aus angelegt, ihre Gefühlskräfte so zu entfalten, dass sie groß und stark werden. Wir müssen nicht groß eingreifen oder irgendwelche Superleistungen vollbringen, damit dies geschieht. Was uns abverlangt wird, ist jedoch die Achtsamkeit, diese natürliche Entwicklung nicht zu behindern — etwa indem wir Gefühle ablehnen, blockieren, bekämpfen oder exzessiv fördern. Gewissermaßen müssen wir uns raushalten, ohne unsere Kinder im Stich zu lassen. Wir sind gefordert, uns nicht einzumischen und trotzdem ganz da zu sein.
Beginnend mit den fünf Gefühlskräften und deren Entwicklung im Kind werde ich in diesem Teil auch die Themen Emotionen, Absolutheitsansprüche und emotionale Dramen beleuchten. Ein tieferes Verständnis dieser Kräfte und vor allem deren Entfaltung gibt uns als Eltern wichtige Hinweise darauf, wie wir dieses magische Gleichgewicht zwischen Halten und Raumgeben finden können. Die Auseinandersetzung mit Emotionen, Absolutheitsansprüchen und emotionalen Dramen zeigt uns außerdem, wie wir mit natürlicherweise auftretenden Störungen in der emotionalen Entwicklung unserer Kinder gut umgehen können — ohne ein Drama daraus zu machen.
Wie Gefühlskräfte sich entwickeln
Kinder kommen zwar mit der Anlage zu allen fünf Kräften auf die Welt, doch diese entfalten sich erst nach und nach in einem langen, vielschichtigen Prozess. Eine große Rolle spielen bei diesem Prozess natürlich die Eltern und wie sie mit ihren eigenen Gefühlen und denen der Kinder umgehen. Haben sie eine Wertung gegenüber bestimmten Gefühlen in sich selbst oder in ihren Kindern? Kinder werden das erspüren und von ihren Eltern übernehmen. Haben die Eltern viele Absolutheitsansprüche, hinter denen sie ihre Bedürfnisse verbergen, dann werden die Kinder auch diesen Trick von ihnen lernen und übernehmen. Die sogenannten negativen Gefühle unserer Kinder sind anstrengend für uns, zweifellos, vor allem wenn wir diese in uns selbst ablehnen oder als Emotionen in uns unterdrückt haben. Da unsere Kinder diese Ablehnung jedoch spüren und ihr Verhalten entsprechend anen ist es für uns Eltern wichtig zu verstehen, warum die vermeintlich negativen Gefühle für Kinder genauso wichtig sind wie für uns.
Kinder brauchen all ihre Gefühle
In Teil I habe ich die Frage gestellt, ob und wenn ja bitteschön warum Eltern ihre negativen Gefühle brauchen. Diese kräftigen Wallungen werfen uns häufig aus der Bahn und scheinen selten einen konstruktiven Beitrag zu unserem Familienleben zu leisten. Nun möchte ich die gleiche Frage in Bezug auf unsere Kinder aufwerfen.
Vor allem wenn wir eine stark romantisierte Einstellung gegenüber Kindern haben, ist der Drang sehr groß, sie in rosa Wolken zu hüllen. In unserer Liebe wollen wir ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen und sie vor allen Schwierigkeiten bewahren. Natürlich wollen wir als Eltern nichts mehr, als dass unsere Kinder glücklich sind — und zwar am besten immer. Denn wenn sie
leiden, leiden wir mit ihnen. Die Trauer, die Wut, die Angst und die Scham unserer Kinder sind schwer auszuhalten und viele Eltern verschließen an einem bestimmten Punkt ihre Herzen, um das nicht mehr fühlen zu müssen und somit irgendwie überlebensfähig zu bleiben. Das ist zwar verständlich, für Kinder jedoch ganz schwer zu ertragen, spüren sie doch genau, dass sie in dem Moment innerlich verlassen werden, wenn sie “negative” Gefühle haben — was ja schon schwer genug auszuhalten ist.
Mal ganz abgesehen davon, dass wir damit das Unmögliche versuchen, tun wir den Kindern auch keinen Gefallen, wenn wir uns bemühen, ihnen alles recht zu machen. Kinder brauchen die Erfahrung, dass Bedürfnisse frustriert werden, um ihre Gefühlskräfte zu entfalten, immer wieder. Der Mechanismus ist ganz einfach: Gefühle wie Wut, Trauer oder Angst sind dazu da, um mit Situationen umzugehen, in denen unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Diese Gefühle entstehen und entwickeln sich also erst, wenn die Dinge anders laufen, als wir sie gerne hätten. Das ist gut und richtig und gesund. Als Erwachsener wird das Kind auch immer wieder mit Situationen zu tun haben, die nicht seinem momentanen Bedürfnis entsprechen. Und in diesen Situationen wird er oder sie eben genau diese Gefühlskräfte brauchen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns einfach taub stellen und das Kind nach Lust und Laune schreien, weinen oder kreischen lassen. Damit die ablehnenden Reaktionen sich zu einer gesunden Kraft entwickeln, mit denen der junge Mensch später für alle Lebenslagen gewappnet ist, braucht es unsere Unterstützung. Nur wenn wir uns mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen auf die des Kindes beziehen, geschieht der Ausreifungs- und Ausdifferenzierungsprozess der Gefühlskräfte in die Grundausrichtungen Angst, Wut, Freude, Trauer und Scham.
Im Folgenden gehe ich alle fünf Gefühle noch einmal durch, diesmal jedoch aus Sicht des Kindes. Wie entsteht jedes einzelne Gefühl? In welchen Situationen kristallisiert es sich zu seiner Kraft? Welche Unterstützung braucht dieser Prozess von uns Eltern? Wie können wir mit der Wut, der Angst, der Trauer, der
Freude und der Scham unseres Kindes in Beziehung sein, ohne sie unwillkürlich wegmachen zu wollen oder unkommentiert über uns ergehen zu lassen? Beginnen wir mit dem ersten und grundlegenden Gefühl, mit dem ein Kind geboren wird: mit der Freude.
“Das Leben ist schön!”
Wenn Babys die Geburt gut überstehen und nicht unnötig traumatisiert werden, ist Freude das erste Gefühl, das bereits nach wenigen Tagen oder spätestens Wochen auftaucht. Es lächelt, vielleicht zunächst im Schlaf oder Halbschlaf, ohne ersichtlichen Grund oder Auslöser. Vielleicht lächelt es einfach, weil das Leben schön, die Brust warm und die Milch süß ist. Oder weil seine biologische Programmierung weiß, dass es damit alle Herzen ringsherum im Sturm erobert. So oder so, der Effekt ist der gleiche. Bereits die Freude eines Neugeborenen hat eine unbeschreibliche, magische Kraft. Wenn ein zaghaftes, fast schon zufälliges Lächeln über das kleine Gesichtchen huscht, lässt das niemanden kalt.
Sowie das Baby älter wird, kommen noch andere Gefühle hinzu, doch die Freude bleibt weiterhin eine wichtige Kraft. Kleine Kinder können sich an den einfachsten Dingen freuen und öffnen uns dadurch die Tür, es ihnen gleich zu tun. Das Spiel von Sonnenflecken an der Zimmerdecke, die liebevollen Stupser vom Vater in den Bauch bei den ersten Spielangeboten und natürlich immer wieder das Auftauchen der Mutter. All diese Kleinigkeiten sind Anlass zu manchmal stiller, manchmal laut glucksender und quietschender Freude. Und diese Freudekraft ist bereits bei kleinen Kindern ein wichtiger Trumpf, um die Herzen ihrer Mitmenschen zu gewinnen.
Was Freude braucht, damit sie groß und stark wird
Die Fähigkeit, sich am Leben zu freuen, wird uns offenbar im wahrsten Sinne des Wortes in die Wiege gelegt. Doch was muss geschehen, damit dieses zarte Pflänzchen der Freude nicht nur die Baby- und Kleinkindzeit gut übersteht, sondern mit dem Menschen zu einem großen, starken Freudebaum wird, an dem er oder sie sich ein Leben lang laben kann? Es braucht Freude und nochmal Freude: die Freude mit dem Kind und die Freude an dem Kind.
Geteilte Freude ist doppelte Freude
Die Freude mit dem Kind bedeutet, dass wir seine Freude teilen, immer wieder, jeden Tag und jeden Moment aufs Neue. Wenn wir uns auf die großen und kleinen Freudemomente einlassen, wenn wir uns verführen lassen von dem magischen Blick des Kindes auf die Welt, dann wird das Kind darin bestärkt und bestätigt, dass das Leben schön ist.
Fehlt uns als Eltern jedoch diese Fähigkeit, uns mit dem Kind zu freuen, wird die Freude des Kindes Schmerz in uns auslösen und es wird direkt oder indirekt lernen, dass es mit seiner Sicht auf die Welt falsch liegt, dass die Dinge, die ihm unbändige Freude bereiten banal, unwichtig oder lächerlich sind. Es wird lernen, dass das Leben eigentlich eine schwierige und ernste Angelegenheit ist, die nur von großen, schlecht gelaunten Menschen verstanden werden kann. Es wird lernen, sich seiner naiven, einfachen Freude zu schämen, sie nach und nach verstecken, bis sie im Verborgenen verkümmert wie ein Pflänzchen, dem Licht, Luft und Wasser fehlen.
Deine Freude ist schön!
Genauso wichtig wie die Freude mit dem Kind ist die Freude an dem Kind. Oder besser gesagt: an der Freude des Kindes. Manchmal können wir uns nicht mit dem Kind freuen. Was ihr Herz gerade höher schlagen lässt, ihre Augen strahlen lässt und sie vielleicht sogar in helle Aufregung versetzt, ist für uns nicht immer zugänglich.
Das kann bei einem ganz kleinen Kind schon der Fall sein. Etwa wenn es vor Begeisterung über die Mechanik eines Schraubverschlusses in Ekstase geraten
kann oder begeistert unsere Bücherregale ausräumt. Es kann genauso bei größeren Kindern oder Jugendlichen ieren, die gerade wieder für irgendetwas Feuer gefangen haben, das außerhalb unseres Verständnishorizonts liegt. Das ist normal und in Ordnung. Es wäre absurd, uns zu verbiegen und um jeden Preis zu versuchen, diese Freude zu teilen.
Doch wir können uns an der Freude des Kindes freuen. Wir können uns daran freuen, wie es strahlt und vor Begeisterung übersprudelt. Mit dieser Freude signalisieren wir: “Du bist schön und richtig, wenn du dich freust! Deine Freude ist schön und richtig! Deine Freude macht mir Freude, danke!” Dadurch wird die Freudekraft des Kindes gestärkt und gekräftigt.
Nicht jede Freude will bejaht werden
Leider kann oder will nicht jede Freude bejaht werden. Es gibt Freuden, die stehen in einem direkten oder indirekten Konflikt mit den Bedürfnissen der Eltern oder der Umgebung. Das kann die Freude eines Krabbelkindes sein, Bücher nicht nur aus dem Regal zu räumen, sondern diese auch zu zerfetzen. Das kann die Schadenfreude sein, mit der auf das Missgeschick eines Geschwisters reagiert wird. Darüber hinaus gibt es Freuden, die sogar den eigentlichen Bedürfnissen des Kindes widersprechen. Hierbei handelt es sich um Süchte aller Art, von denen es in unserer Gesellschaft nur so wimmelt. Etwa die Freude eines Kleinkindes, die Zuckerdose auszulöffeln. Oder die Freude eines Neunjährigen, endlos Computer zu spielen.
Diese Freuden brauchen Grenzen. Doch nicht die künstlichen, für Kinder scheinbar willkürlichen Grenzen, die durch Absolutheitsansprüche mit ihrer ewigen Litanei des “Das macht man nicht” und “Das gehört sich nicht” gezogen werden. Es braucht natürliche Grenzen, echte Grenzen, spürbare Grenzen, authentische Grenzen. Diese finden sich in den Bedürfnissen der Menschen, mit denen das Kind in enger Beziehung lebt, spürbar gemacht durch die lebendigen Gefühlskräfte dieser Bezugspersonen. Sätze wie: “Ich will nicht, dass du die
Zuckerdose auslöffelst, weil das nicht gut für dich ist und weil deine Gesundheit mir wichtig ist.” oder: “ Ich bin traurig, wenn du dich freust, wenn dein Bruder sich wehtut. Das tut mir weh, weil ich euch beide so lieb habe.” bringen genau auf den Punkt, worum es mir geht, ohne daraus einen Absolutheitsanspruch zu machen. Die Trauer signalisiert Annahme, ohne jedoch den eigenen Schmerz zu verneinen.
Nicht alles ist eitel Sonnenschein
Während Freude schon sehr früh als reine Gefühlskraft in Erscheinung tritt, ist dies bei den anderen Gefühlen nicht der Fall. Diese entwickeln sich erst nach und nach. In das Schreien eines Babys wird zwar oft dieses oder jenes hineininterpretiert — etwa Wut, Angst oder Trauer. Doch eigentlich handelt es sich dabei zunächst noch um eine biologische Programmierung, die nur einen Zweck hat: zu signalisieren, dass etwas nicht stimmt. In der Regel bedeutet es, dass ein existenzielles Bedürfnis gerade nicht erfüllt wird. Das Baby will trinken, schlafen, spielen, kuscheln oder fühlt sich irgendwie unwohl, weil ihm zu heiß oder zu kalt ist oder weil es Schmerzen hat. In Ausnahmefällen kann es sich beim Schreien auch um das Entladen emotionaler Altlasten handeln. Darauf möchte ich zu einem späteren Zeitpunkt noch zurückkommen, wenn es um Kinder und Emotionen geht.
Zunächst schreit oder weint ein Baby also einfach, wenn es nicht einverstanden ist. Dieses Schreien ist undifferenziert — es ist weder Wut noch Trauer noch Angst. Das liegt daran, dass das Baby noch keine Unterscheidung hat, was es ändern kann und was nicht. Wie soll es auch solch eine Unterscheidung haben? Schließlich hat es ja noch gar keine Fähigkeit, selbst Einfluss zu nehmen. Damit hat es auch keine Möglichkeit, etwas anzunehmen, da Annahme ja nur im Kontrast zu der Möglichkeit, etwas zu verändern, möglich ist oder Sinn macht.
Das Baby kann zunächst also nur signalisieren: “Alarm! Hier stimmt etwas nicht!”, und ist dann auf seine Bezugspersonen angewiesen, um herauszufinden,
was es ist und wie bzw. ob es behoben werden kann. Die erste Differenzierung des diffusen Nein-Gefühls in Wut und Trauer iert also in dem Moment, wo das Kleinkind zum ersten Mal die Fähigkeit hat, etwas selbst zu beeinflussen oder zu verändern. Werden dann seine Anstrengungen frustriert, erwacht seine Wutkraft.
“NEIN!”
Je mehr das Kind sich seiner Fähigkeit zu beeinflussen bewusst wird, desto mehr bildet sich die Wutkraft des Kindes aus. Auf Englisch nennt man dieses Alter dann die “Terrible Two’s”, im Deutschen wird hingegen vom Trotzalter gesprochen. Egal wie man es nennt, für die Eltern ist dies oft keine einfache Zeit. Vor allem wenn sie selbst Schwierigkeiten mit dem Thema Wut haben.
Wie Wutkraft sich entwickelt
Die Wutkraft entfaltet sich langsam. Schritt für Schritt polarisiert sich das undifferenzierte Schreien in Wut und Trauer. Wut taucht in dem Maße auf, wie das Kind sich seiner Fähigkeit, Dinge selbst zu tun, zu bewegen und zu beeinflussen, bewusst wird. Und das iert so: Zunächst erfreut das Kind sich sehr an seinen wachsenden Fähigkeiten, genau wie es sich an allem anderen erfreut. Doch es dauert nicht lange, bis es herausfindet, dass diese Fähigkeiten begrenzt sind. Das bedeutet, nicht alles gelingt so, wie das Kind es gerne hätte. Und zu allem Überfluss werden seine Pläne zuweilen auch noch von anderen Menschen durchkreuzt. Diese mögen zwar eigentlich ganz gute Absichten haben — etwa eine Verletzung oder sonst ein Unglück zu verhindern — doch das interessiert das Kind herzlich wenig. Seine Wutkraft erwacht. Das Schreien ist kein diff Alarm mehr, dass irgendetwas nicht stimmt. Es ist nun ein klares Signal, dass hier etwas falsch ist. Und es ist eine deutliche Forderung, dass es geändert werden sollte.
Die Rolle der Eltern
Wie Eltern darauf reagieren bestimmt, ob die Wutkraft des Kindes zu einem starken, gut bewachten Feuer werden kann oder zu einer schwelenden Glut
reduziert wird. Zwei klassische Reaktionsweisen und deren Auswirkungen möchte ich im Folgenden unter die Lupe nehmen.
Die erste Reaktion ist jene, Kindern ihren Willen gerade dann zu verwehren, wenn sie versuchen, diesen mit Wutkraft durchzusetzen. Dies war in klassischen patriarchalen Familienkonstellationen Aufgabe des Vaters. Mit seiner Macht, Autorität und auch Wutkraft unterdrückte er die aller anderen, wodurch er allein diktieren konnte, wie die Dinge zu laufen hatten.
Die zweite Reaktion ist das Gegenteil davon: Dem Willen des Kindes wird immer stattgegeben. Im klassisch patriarchalen Modell wird dies häufig von der Mutter ausagiert, insbesondere den Söhnen gegenüber.
Leider sind beide Strategien nicht wirklich zielführend, wenn es darum geht, unser Kind bei der Entwicklung einer gesunden Wutkraft zu unterstützen. Bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass beide auf einer Ablehnung der Wutkraft basieren. Im ersten Fall lernt das Kind, dass Wut nichts bringt und lernt daher, sich eher anzubiedern als für sich einzustehen. Im zweiten Fall muss es nie Wut erzeugen, da ihm schon beim kleinsten Anzeichen jeder Weg geebnet wird. Beide Strategien vergällen uns jede Freude im Zusammensein mit unserem Kind.
Doch wenn diese beiden gängigen Strategien nicht greifen — was braucht unser Kind dann von uns, um eine gesunde, respektvolle, kraftvolle Wutkraft auszubilden? Sie brauchen zwei Dinge: Würdigung ihrer Wutkraft und Widerstand. Sehen wir sie uns nacheinander an.
Wutkraft will gewürdigt sein
Wie alles im Leben gedeiht auch Wutkraft vor allem dann am besten, wenn sie gewürdigt wird. Wutkraft zu würdigen bedeutet, sie zu erkennen und in ihrem Wesen gutzuheißen, auch dann, wenn wir nicht mit dem einverstanden sind, was sie bezwecken möchte. Wutkraft zu würdigen bedeutet anzuerkennen, dass das Kind gerade dabei ist, die Fähigkeit zu entwickeln, für seine Bedürfnisse einzustehen, und dass das wichtig und gesund ist. Es bedeutet letztendlich sogar, sich über die Wut des Kindes zu freuen, da wir sie als richtig interpretieren. Erst wenn Wut diese Grundwürdigung erfahren hat, können wir ihr gesunden, respektvollen und natürlichen Widerstand entgegensetzen, an dem sie sich ganz entfalten kann.
Wutkraft braucht Widerstand, um sich zu entfalten
Kinder wollen und müssen ihre Wutkraft entfalten. Dafür brauchen sie eine Welt, die ihnen Widerstand bietet. Und die natürliche Welt tut dies ja auch. So hebt sich ja beispielsweise die Schwerkraft nicht plötzlich auf, wenn ein Dreijähriger einen Tobsuchtsanfall bekommt, weil sein Bauklotzturm nun zum x-ten Mal umgefallen ist. Das ist Widerstand. Wir können das auch Unveränderlichkeit, Stabilität oder Zuverlässigkeit nennen. Entdeckt das Kind seine Fähigkeit, Einfluss zu nehmen, entdeckt es die Formbarkeit der Welt. Zugleich entdeckt es auch die Unveränderlichkeit oder Stabilität der Welt, da beides Hand in Hand geht. Es sind zwei Seiten derselben Münze, zwei Pole menschlicher Erfahrung.
An diesem Widerstand kann die Wutkraft sich auf natürliche Weise brechen. Achtung: Dieses Brechen hat nichts mit dem zu tun, was man in der klassischen autoritären Erziehung darunter verstand, nämlich den Willen eines Kindes zu brechen. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Es handelt sich um einen natürlichen und notwendigen Prozess, in dem die Wutkraft des Kindes ihre natürlichen Grenzen erfährt. Wenn der Turm aus Bauklötzen immer wieder umfällt, dann lernt das Kind anhand dieser Erfahrung, wie es ihn anders bauen muss. Diese Art von natürlichem Widerstand ist vergleichsweise einfach anzunehmen. Viel schwieriger gestaltet es sich in Beziehungen, in denen Widerstand in Form von den Bedürfnissen der anderen auftritt. Hier sind auch
Erwachsene oft gefordert, denn man weiß ja, der andere könnte auch anders wollen.
Bedürfnisse sind also nicht unveränderlich, doch sie sind zunächst einmal gegeben. Wenn das Kind das Bedürfnis hat, noch länger aufzubleiben, die Mutter hingegen das Bedürfnis, einen ruhigen Abend zu verbringen, dann kann dieser Bedürfniskonflikt einen natürlicher Widerstand darstellen, mit dem beide Seiten umgehen müssen.
Wenn Eltern hingegen die eigenen Bedürfnisse immer hinten anstellen, um ihr Kind glücklich zu machen, so fehlt dem Kind diese wichtige Erfahrung natürlichen Widerstands. Kinder suchen dann gezielt nach diesem Widerstand, zum Beispiel indem sie immer mäkeliger und heikler werden. Irgendwann kann man ihnen gar nichts mehr recht machen und verzweifelt schier an ihnen. “Was wollen sie denn?”, fragt man sich zu Recht. Sie wollen Widerstand und Unveränderlichkeit, damit sie ihre Wutkraft entfalten können und auch damit sie sich gehalten fühlen können von dieser Unveränderlichkeit.
“Nein heißt nein” — Wenn Wut nichts bringt
Wenn Eltern-Kindbeziehungen auf Macht aufgebaut sind, werden Eltern sehr genau darauf achten, dass das Kind die Kraft seiner Wut nicht erkennt. Diese Kraft wäre eine Bedrohung für die absolute, künstliche Hierarchie, die in patriarchalen Strukturen aufrechterhalten werden soll. Deshalb wird gezielt darauf geachtet, dass das Kind so früh wie möglich lernt, dass seine Wut machtlos ist. Dahinter steckt die Angst, dass das Kind die Eltern tyrannisieren wird und ihnen seinen Willen aufzwingt, wenn es erst seine Wutkraft und die damit verbundene Einflussmöglichkeit auf die Dinge entdeckt hat. Diese Angst ist verständlich und nachvollziehbar. Bei genauem Hinsehen erkennen wir jedoch, dass es einfach eine Projektion des elterlichen Machtgebarens in diesen Beziehungen ist. Es sind die Eltern, die dem Kind mit ihrer Wutkraft ihren Willen aufzwängen. Wenn Eltern kein Problem mit Wut als Kraft haben, können
sie gut mit der Wut ihres Sprösslings präsent sein, ohne sich von ihr zu irgendetwas gezwungen zu fühlen. Ihre Wahlfreiheit, welche Bedürfnisse des Kindes sie erfüllen möchten und welche nicht, bleibt in vollem Maße erhalten.
Das Märchen von der Konsequenz
In diesem Zusammenhang wird gerne von “Konsequenz” gesprochen. Hat man einmal entschieden, dem Kind etwas zu verwehren, sollte man auf gar keinen Fall nachgeben, egal wie wütend es wird. Eltern, die besonders gut darin sind, ihre Herzen zu verschließen, werden gerne als konsequent gelobt. Bei diesen Eltern wissen die Kinder woran sie sind, so die Theorie, und lernen sehr schnell, ihren eigenen Willen loszulassen und dem der Eltern unterzuordnen. Angeblich soll ihnen das Sicherheit geben. Ich denke an dieser Stelle sollten wir uns dringend die Frage stellen, welche Form von Sicherheit hier vermittelt wird. Das Kind lernt hier, dass die Menschen, die ihm am nächsten stehen, die es angeblich am meisten auf der Welt lieben und von denen es auch noch existenziell in nahezu allen Belangen abhängig ist, es mit großer Konsequenz in seinen Bedürfnissen ablehnen und mit seinen Schmerzen allein lassen. Die einzige Sicherheit, die hierdurch erlernt werden kann, ist jene, dass Zuneigung durch Unterordnung erkauft werden kann. Ist es wirklich das, was wir unseren Kindern mitgeben wollen?
In der Praxis funktioniert die Theorie von der Konsequenz außerdem eher selten. Bestenfalls scheitert es an der mangelnden Konsequenz der Eltern, weil diese es nicht schaffen, so dermaßen gegen ihre Natur zu gehen und den Kindern ihre Herzen zu verschließen. Schlimmstenfalls kapitulieren die Kinder. Sie lernen, ihre Wut herunterzuschlucken, die Zähne zusammenzubeißen und den Eltern nach dem Mund zu reden. Die unterdrückte Wut bahnt sich jedoch früher oder später einen Weg an die Oberfläche. Entweder gegenüber den kleineren Geschwistern oder spätestens in der Pubertät gegenüber den Eltern. In vielen Fällen iert weder das eine noch das andere. Die Eltern bleiben konsequent — und die Kinder auch. Es kommt zu einem erbitterten Machtkampf, der sich über Jahre hinziehen kann, manchmal ein Leben lang.
Darüber hinaus lernen Kinder am Vorbild der Eltern. Sie lernen, für Wut taub zu werden, genau wie ihre Eltern es sind. Das gewünschte Ergebnis, nämlich dass sie zu empathischen, verantwortungsvollen Menschen heranwachsen, denen die Bedürfnisse anderer wichtig sind, wird um ein Vielfaches verfehlt.
Wenn wir das Wesen der Wutkraft verstanden haben und wissen, wie wichtig es ist, diese Kraft in sich zu entwickeln und zu entfalten, dann verstehen wir auch, wie fatal es ist, wenn Kinder lernen, dass sie damit nichts erreichen. Sie lernen, dass sie machtlos sind und dass sie keine Möglichkeit haben, für ihre Bedürfnisse einzustehen. Außerdem lernen sie an unserem Vorbild, die Wutkraft anderer an sich abprallen zu lassen. Bedeutet das, dass wir Kindern immer ihren Willen lassen sollten? Wohl kaum. Denn dann werden sie nicht nur tatsächlich zu kleinen Tyrannen. Sie werden auch sehr unglücklich — und wir dazu.
“Na gut, wenn du unbedingt willst” — Wenn Kinder immer ihren Willen bekommen
Gut gemeint, aber sicher nicht gut gemacht ist der Versuch, Kindern immer ihren Willen zu lassen. Beim kleinsten Anzeichen von Missmut oder unter Androhung eines Wutausbruchs wird jedem Wunsch stattgegeben — sei es, dass das Kind länger aufbleibt, obwohl die Eltern dringend etwas Zeit für sich bräuchten, ihm das gewünschte zweite Eis spendiert wird oder es ein eigenes Menü gekocht bekommt.
Dies wird häufig gemacht, damit die Kinder nicht wütend werden. Wenn wir ehrlich sind, wird hier die Wutkraft des Kindes genauso abgelehnt, wie wenn man versucht, sie zu unterdrücken. Nur ist die Methode hier eine andere.
Das Ergebnis sind leider keine glücklichen Kinder. Jeder, der schon mehr mit solchen Kindern zu tun hatte oder es selbst ausprobiert hat, weiß, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Kinder, denen man versucht, alles recht zu machen, gehören zu den unglücklichsten und unleidlichsten Zeitgenossen. Sie können zu regelrechten Quälgeistern mutieren. Wenn wir verstehen, dass die Entfaltung der Wutkraft an sich ein Bedürfnis ist, dann können wir besser begreifen, was Kinder eigentlich brauchen und wie wir ihnen das geben können, ohne sie zu entwürdigen oder uns auf einen Machtkampf mit ihnen einzulassen.
“Kinder brauchen Grenzen” — stimmt das?
Als man bemerkte, dass Kinder durch die Entgrenzung der antiautoritären Erziehung zuweilen zu kratzbürstigen Tyrannen ohne jedes Mitgefühl wurden, kam man zu dem Schluss, dass sie Grenzen brauchen. Leider setzte man dies oft wieder mit dem alten, autoritären Verständnis von Grenzen gleich — also Grenzen, die von Absolutheitsansprüchen, von Regeln und Moral gezogen werden statt von Bedürfnissen. Solche Grenzen sind künstlich, da sie auf Konzepten und Ideen basieren statt auf echten Bedürfnissen, die in diesem Moment real sind. Kinder verstehen solche Grenzen nicht, da sie sie nicht spüren können. Sie sind abstrakt. “Man tut das nicht.” — wer ist “man”? Und wer hat entschieden, dass “man” das nicht tut?
Das authentische Bedürfnis der Mutter oder des Vaters hingegen sind in diesem Moment real und relevant. Das bedeutet nicht, dass das Kind jedem Bedürfnis der Eltern sofort nachkommt und die eigenen Bedürfnisse unterordnet. Manchmal wird es das tun und manchmal nicht. Genau wie die Eltern die eigenen Bedürfnisse manchmal hinten anstellen werden und manchmal nicht. Dieses Wechselspiel ist das, was Beziehungen auf Augenhöhe ausmacht. Wie das genau ablaufen kann, wird in Teil III genauer thematisiert.
Wenn Kinder mit ihrer Wutkraft an Grenzen stoßen und erfahren, dass sich zwar manches ändern lässt, anderes jedoch nicht, dann beginnen sie, eine weitere,
ganz wichtige Kraft auszubilden. Es ist die Kraft der Trauer.
“Aua, ich habe mir wehgetan!”
Mit der Fähigkeit zu beeinflussen und der Entwicklung der Wutkraft kommt auch ein Bewusstsein über die eigene Ohnmacht. Das Kind erkennt, dass es nicht alles verändern kann. Um dies anzunehmen, braucht das Kind die Kraft der Trauer. Im Wechselspiel dieser beiden Kräfte — der verändernden Wutkraft und der annehmenden Trauerkraft — lernt das Kind seine Macht, aber auch seine Ohnmacht kennen. Da diese beiden Bereiche sich mit der Entwicklung des Kindes laufend wandeln, muss die Balance der beiden Kräfte immer wieder neu austariert werden.
Wie Trauerkraft sich entwickelt
Zuvor wurde beschrieben wie Wutkraft, wenn sie auf natürliche Grenzen stößt, natürlich bricht. Wenn dies geschieht, entwickelt sich Trauer. Das wütende Schreien des Kindes wird zu einem Schluchzen. Hat es Mutter oder Vater eben noch wütend von sich gestoßen, nimmt es nun das Angebot für eine tröstende Umarmung dankbar an. Es kuschelt sich in die großen Arme und weint oft herzzerreißend — weil die Welt ist, wie sie ist, weil der Versuch, sie nach dem eigenen Willen zu formen, gescheitert ist.
Die Rolle der Eltern
Wie bei der Wutkraft spielt es auch bei der Trauer eine wichtige Rolle, wie Eltern auf das Erscheinen dieser Kraft reagieren. Davon hängt ab, ob sie zu einem starken, klaren Strom in der Seele des Kindes wird oder zu einem trüben Tümpel, der nach Möglichkeit gemieden wird. Und auch hier gibt es zwei klassische Herangehensweisen. Die erste ist — wie bei der Wutkraft — der
Versuch, diese Kraft zu unterdrücken, ihr einfach keinen Raum zu geben. Das Kind soll annehmen, was geschieht, doch ohne auf jene Kraft zuzugreifen, die ihm von Natur aus dafür gegeben ist — ein klassisch partriarchaler Ansatz. Die zweite Herangehensweise — auch ähnlich der Wutkraft — ist jene, der Trauer jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen oder, wenn das nicht möglich ist, zumindest eine Ersatzbefriedigung herbeizuschaffen. Wird bei der ersten Variante der Trauerkraft ihr natürlicher Raum versagt, fehlt bei der zweiten das Verständnis ihrer eigentlichen Funktion. Und auch diese beiden Strategien entspringen einer Ablehnung gegenüber dieser Kraft.
“Jetzt stell dich nicht so an!” — wenn Tränen tabu sind
Vielen Kindern wird gesagt, dass sie sich “nicht so anstellen” sollen. Gemeint ist, dass sie nicht so empfindlich reagieren sollen, dass ihre Reaktion übertrieben ist. Und tatsächlich: Kinder können Umstände als Weltuntergang empfinden, die wir Erwachsenen mit einem Schulterzucken als Lappalie abtun. Es bedarf einer großen Empathiefähigkeit, um nachzufühlen, was in dem Kind gerade vorgeht. Und manchmal scheitern wir, selbst wenn wir ein großes Einfühlungsvermögen besitzen, weil es für uns einfach nicht nachvollziehbar ist. So ist es kaum verwunderlich, dass viele Erwachsene Kindertränen als lästige Erscheinung abtun, die zwar dazu gehört, aber doch hoffentlich so schnell wie möglich wieder aufhört.
Dazu trägt sicher auch noch ein anderer Faktor bei: Kindertränen sind anstrengend, weil sie uns an unsere eigene Verletzlichkeit erinnern. Wie in Teil I beschrieben haben viele von uns schon früh gelernt, unsere Tränen herunterzuschlucken. Wenn unsere Kinder ihren Kummer nun ungefiltert in die Welt hinausschluchzen, geraten auch unsere alten Schmerzen in Bewegung — eine recht unangenehme Empfindung. Deshalb ist die Option, die Trauer des Kindes einfach abzustellen, durchaus verlockend. Welche Alternativen es gibt und warum diese vielleicht für alle Beteiligten besser sind, wird in Teil III thematisiert.
Kindern wird ihre Trauer auch oft deshalb abgesprochen, weil man Angst hat, sie zu verzärteln. Besonders bei Jungen, aber auch bei Mädchen, hat man Bedenken, sie könnten verweichlichen. Dahinter steckt die Annahme, dass das Leben ein harter Konkurrenzkampf ist, den man mit offenem Herzen nicht oder nur unter großen Schmerzen bestehen kann. Wenn wir ihnen ihre Tränen früh abgewöhnen, so die Theorie, können sie mit den harten Seiten des Lebens besser zurecht kommen. Doch die Trauer ist jene Kraft, die uns erst befähigt, unerwünschte Umstände wirklich anzunehmen. Wenn wir uns dies bewusst machen, verstehen wir auch, wie unsinnig es ist zu meinen, ohne diese Kraft kämen unsere Kinder im Leben besser zurecht. Tatsächlich ist es so, dass Erwachsene, denen diese Kraft genommen wurde, eine Art emotionale Amputation erlitten haben, mit deren Folgen sie ein Leben lang zu kämpfen haben.
Doch neben der Sorge, Kinder zu verzärteln gibt es auch andere Gründe, Kindern ihre Trauer abzusprechen — etwa weil man davon ausgeht, dass die Kinder nur weinen, um ihren Willen durchzusetzen. Sätze wie “da kannst du heulen so viel du willst, das bringt dir gar nichts” oder “ hör auf zu heulen, das ändert doch eh nichts” sind Ausdruck dieses Unverständnisses. Tatsächlich ist das Weinen des Kindes jedoch ein Zeichen dafür, dass es annimmt, dass es loslässt, dass es um den nicht erfüllten Wunsch trauert.
Egal warum wir Kindern ihre Trauer verwehren, wir entziehen ihnen damit die Fähigkeit, etwas wirklich anzunehmen. Sie müssen es dann entweder verändern oder wegschieben. Das Herz bleibt zu. Eine ziemlich anstrengende und, ironischerweise, auch traurige Art durchs Leben zu gehen.
Neben der Unterdrückung gibt es noch eine weitere, weniger auffällige und meistens sehr gut gemeinte Methode, Kindern ihre Trauerkraft zu verwehren. Hier erfüllen wir dem Kind jeden Wunsch, sobald es anfängt zu weinen, oder versuchen, es durch eine Ersatzbefriedigung zu trösten.
“Ist doch nicht so schlimm” — wenn Trauer weggewischt wird
Nach bestem Wissen und Gewissen handeln viele Eltern, wenn sie sich von den Tränen des Kindes erweichen lassen und ihm dann jeden Wunsch erfüllen. Zwar ist es schön, dass ihre Herzen erreichbar sind für den Schmerz des Kindes. Nur die Schlussfolgerung, was das Kind nun braucht, ist nicht unbedingt zielführend. Das hat verschiedene Gründe.
Zum einen ist es so, dass Trauer ja da ist, um anzunehmen. Der Trauerprozess — ob er nun nach dem Tod eines geliebten Menschen über Jahre andauert oder nach einer kleinen Enttäuschung nur wenige Minuten — ist der natürliche Mechanismus, durch den wir etwas wirklich annehmen und, so wie es gerade ist, in unser Herz lassen können. Durch ihn werden wir fähig, immer wieder aufs Neue offenen Herzens durchs Leben zu gehen und auch jene Seiten als Teil dieses Lebens anzunehmen, die wir gerne anders hätten.
Diese Kraft kann sich nur in Situationen ausbilden, in denen wir sie brauchen. Wir sind also darauf angewiesen, dass wir immer wieder mit Umständen konfrontiert sind, die wir gerne anders hätten, die sich jedoch nicht unserem Willen beugen. Das können unpersönliche Umstände sein — wie der verschüttete Kakao oder der verregnete Sonntag. Es können und müssen irgendwann aber auch persönliche Umstände sein — wie ein Bedürfniskonflikt mit einem Spielkameraden, der Mutter, dem Vater.
Wenn Kinder also ihren Willen bekommen, wenn sie weinen, dann richtet dies zweifachen Schaden an. Zum einen bekommen sie eine Gefühlsverwirrung, da sie merken, dass sie mit Trauerkraft Veränderung erzielen. Da dies eigentlich die Funktion der Wutkraft ist, wird diese geschwächt und außerdem die Kraft der Trauer verwehrt. Sie lernen, dass sie durch Opfergebahren und Manipulation ihre Ziele besser erreichen, als wenn sie klar für diese einstehen. Zum anderen lernen sie nicht, widrige Umstände anzunehmen — eine Fähigkeit, die sie ihr Leben lang brauchen werden.
Wenn eine Ersatzbefriedigung, zum Beispiel in Form eines Trostpflasters, angeboten wird, wird das Kind um seine Trauer betrogen. Es ist zwar gut gemeint, dem Kind wird jedoch signalisiert, dass seine Trauer unerwünscht und überflüssig ist. Das Bonbon oder die Schokolade legen sich wie ein süßer Kleister über die salzigen Tränen, der Kloß im Hals bleibt aber bestehen. Das eigentliche, wenn auch nicht bewusste Anliegen des Kindes bleibt ihm verwehrt: zu trauern, damit es diese wichtige Kraft entfalten kann.
Auch Trauerkraft braucht Widerstand — doch wie viel?
Damit dies geschehen kann, braucht es wie bei der Wutkraft Widerstand. Es braucht Unveränderlichkeit. Doch nicht jeder Widerstand und jede Unveränderlichkeit führen automatisch zur Entfaltung einer gesunden Trauerkraft. Ausschlaggebend ist das Verhältnis der anzunehmenden widrigen Umstände zur Trauerfähigkeit des Kindes.
Am Anfang hat das Kind noch wenig Fähigkeit zu trauern. Wie bereits beschrieben, hat es zunächst vor allem eine biologische Programmierung die sagt: “ Hier läuft was falsch.” Sowie sich dann Veränderungsfähigkeit und Wutkraft entwickeln, entfaltet sich auch die Trauerkraft durch die Konfrontation mit Unveränderlichkeit. Zwar mag diese Kraft am Anfang sehr groß und stark erscheinen — man denke nur an die heißen Tränen, die ein Zweijähriger aus scheinbar nichtigem Anlass vergießen kann — doch ihre Fähigkeit anzunehmen, ist noch relativ klein.
Nehmen wir mal als Beispiel den Verlust eines geliebten Spielzeugs. Ein Zweijähriger muss vielleicht tatsächlich all seine Trauerkraft aufwenden, um so einen Verlust zu verarbeiten. Es bringt ihn an den Rand seiner Trauerkapazität. Er schluchzt als würde die Welt untergehen. Und für ihn ist das auch so. Bei einem Zehnjährigen sieht das schon anders aus. Er ist vielleicht ein bisschen
geknickt und guckt traurig in die Welt, doch es dauert nicht lang und er hat den Verlust verarbeitet. Bei einem Erwachsenen, dem ein geliebtes (Technik)Spielzeug abhanden kommt, ist es vielleicht ein Trauer-Moment, weil es weg ist. Wenig später wird dann vielleicht schon Wutkraft mobilisiert, um sich einen Ersatz zu besorgen.
Was sich hier zeigt, ist die wachsende Trauerkapazität. In einer organischen Entwicklung steigt diese im Laufe der Zeit. Wir deuten dies auch als Zeichen von Reife. Damit dies gut geschehen kann, brauchen wir immer neue Widerstände, an denen sich unsere Trauerkraft entwickeln kann. Diese dürfen jedoch nicht zu groß sein, dann überfordern sie uns und setzen sich als Traumata in unserem System fest, um zu einem späteren Zeitpunkt gefühlt zu werden, wenn die Trauerkapazität gestiegen ist. Sie dürfen aber auch nicht zu klein sein, denn dann fehlt der Trauerkraft die Gelegenheit, sich zu entfalten.
Ein Verständnis dieses Kräfteverhältnisses ist sehr wichtig, damit wir als Eltern das Kind in der Entwicklung seiner Trauerkraft weder über- noch unterfordern. Da es ja im Laufe der Zeit auch zunehmend die Bedürfnisse seiner Mitmenschen sind, die dem Kind als Widerstände begegnen, haben wir als Eltern einen großen Einfluss darauf, wie vielen Widerständen das Kind wann ausgesetzt ist. Von einem Säugling zu verlangen, dass es auch nur irgendeinen widrigen Umstand betrauert und annimmt, ist widersinnig und sehr schädlich. Hier ist es Aufgabe der Eltern, die eigenen Bedürfnisse entweder komplett hinten anzustellen oder anderweitig zu befriedigen.
Das ändert sich mit Eintritt in das berühmte Trotzalter — bei manchen Kindern beginnt dies bereits mit eineinhalb, bei anderen erst mit drei. Hier braucht das Kind langsam und Stück für Stück die Erfahrung, dass auch andere Menschen Bedürfnisse haben. Im Laufe der Jahre wird die Konfrontation mit den Bedürfnissen anderer dann immer größer, wodurch das Kind die Gelegenheit hat, seine wachsenden Wut- und Trauerkräfte an ihnen zu entfalten. Damit dies reibungslos ablaufen kann, brauchen Kinder Trost. Doch keinen Trost, der versucht, uns unsere Trauer zu nehmen, sondern Trost, der uns in der Entfaltung
dieser Kraft begleitet.
Echter Trost macht nicht die Trauer weg
Wenn wir die Trauer eines Kindes spüren und unser Herz nicht verschließen, ist es ein natürlicher Impuls, es zu trösten. Und dieser Impuls ist ganz wichtig, denn das Kind braucht unseren Trost in diesen Momenten. Doch es braucht diesen nicht, wie vielleicht oft geglaubt wird, damit es aufhört zu weinen. Das wäre falscher Trost. Diesem gelingt es vielleicht, die Tränen zu stoppen. Doch dem Kind wird dadurch nicht geholfen, es wird nur mit dem Schmerz allein gelassen. Bestenfalls weint es dann heimlich unter der Bettdecke, wo es das endlich in Ruhe darf. Schlimmstenfalls frisst es den Schmerz in sich hinein.
Doch wenn das Kind unseren Trost nicht braucht, um mit dem Weinen aufzuhören, wofür braucht es ihn dann? Ganz einfach: Es braucht den Trost, damit es weinen kann. Durch die Trauer findet es zu einer Annahme der Situation.
Auch Erwachsene brauchen zuweilen diese Form des Trostes, zum Beispiel wenn sie einen großen Verlust zu betrauern haben. Dann suchen sie sich diesen oft unbewusst und ganz spontan. Es scheint alles in Ordnung zu sein, die Gefühle fest im Griff. Doch dann begegnen sie dem liebevollen Blick eines Menschen, dem sie vertrauen, und brechen in Tränen aus. Was ist geschehen? Das System hat nur auf einen Moment gewartet, wo es durch die Unterstützung eines anderen seine eigenen Grenzen ausweiten kann. Durch die liebevolle Präsenz kann es das annehmen, was es allein nicht annehmen konnte.
Das Gleiche geschieht bei Kindern. Sie brauchen unsere liebevolle Präsenz und Annahme — eigentlich unsere Trauerkraft —, um ihre eigene zu entfalten. Unsere Präsenz gibt ihnen die Möglichkeit, ihre eigene Trauerkraft weiter zu
entfalten. Dadurch entwickelt sich auch ihre Fähigkeit, das anzunehmen, was sie gerne anders hätten — jedes Mal ein Stückchen mehr.
Damit wir dem Kind das geben können, müssen wir selbst mit dieser Kraft im Reinen sein. Nur dann können wir in diesen Momenten einfach bei unserem Kind sein, es in den Arm nehmen, wenn es das wünscht, oder einfach still daneben sitzen. Ohne es zu irgendetwas zu drängen, ohne zu beschwichtigen, ohne eigentlich überhaupt irgendetwas zu tun. Es braucht nichts weiter als unsere stille, liebevolle Präsenz, die signalisiert: Ich bin da, ich würdige deine Trauer. Dadurch lernt das Kind: Diese Trauer darf da sein, sie ist wichtig, richtig und schön.
Wird das Kind ewig weinen? Die Frage scheint absurd, doch diese Angst taucht immer wieder ganz irrational auf. Es hängt von der Größe des Verlustes ab, der betrauert wird. Und auch davon, ob dabei auch noch Emotionen entladen werden, worauf zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer eingegangen wird. Doch jede Trauer hat ihren ganz natürlichen Verlauf und klingt früher oder später von allein ab. Wir müssen nicht eingreifen und wir müssen keine Angst haben, dass das Kind bis zum Ende seiner Tage weinend in unseren Armen liegen wird. Und manchmal ist es gut, auch uns selbst daran zu erinnern, wenn eine Trauerwelle über uns zusammenschlägt.
Doch was geschieht, wenn weder Trauer noch Wut, weder Annahme noch Veränderung anstehen? Was geschieht mit Kindern, wenn sie sich nicht nur der Grenzen ihrer eigenen Macht, sondern auch jener der Eltern bewusst werden? Sie werden sich des großen Unbekannten bewusst. Sie entdecken das Mysterium. Um dem zu begegnen, brauchen sie die Kraft der Angst.
“Mama, lass die Tür auf!”
An einem bestimmten Punkt in seiner Entwicklung — manchmal früher, manchmal später — wird das Kind sich des Unbekannten, der Ungewissheit bewusst. Das Kind lernt eine neue Gefühlskraft kennen: die Angst! Und ähnlich wie bei Wut und Trauer will auch Angst haben geübt sein. Das Kind wird seine Angstkraft für den Rest seines Lebens brauchen, um mit Veränderungen, Abenteuern und immer neuen Ungewissheiten umzugehen. So ist es kein Wunder, dass es auch hier, ähnlich wie bei Wut und Trauer, unterbewusst nach Situationen sucht, in denen es dieses wichtige Gefühl erfahren kann.
Wie Angstkraft sich entwickelt
Ein Baby kommt angstfrei auf die Welt. Die biologische Programmierung, die der aufkeimenden Freudekraft erstmals ein undifferenziertes “Nein” entgegensetzt, ist weder Wut noch Trauer oder Angst. Das Neugeborene benötigt auch noch keine Angstkraft, da es noch nicht bewusst Bekanntes und Unbekanntes unterscheidet. Alles ist neu, alles ist unbekannt. Aus dem wohligen Schoß der Mutter taucht es ein in die Geborgenheit der elterlichen Fürsorge. Keimt irgendein Bedürfnis in ihm auf, wird dieses idealerweise liebevoll erfüllt.
Diese Geborgenheit wird dem Baby bald vertraut und selbstverständlich. So ist die Welt: wohlig, warm und süß. Nach dieser grundlegenden Annahme der Welt erfolgt die schrittweise Erkenntnis, dass nicht die ganze Welt so ist. Das Kind wird sich zunehmend der Tatsache bewusst, dass es eine Welt jenseits der Geborgenheit der eigenen Familie gibt. Es entdeckt das Unbekannte. Und diese Entdeckung iert nicht einmal, sie iert immer wieder. Mit jedem Mal wird das Kind sich einer weiteren Dimension dieses Unbekannten bewusst. Und je mehr es davon erforscht und sich vertraut macht, desto größer offenbart sich ihm paradoxerweise der Raum des Unbekannten.
Wann dieser Prozess einsetzt, lässt sich nicht genau sagen, da es stark davon abhängt, wie das Kind aufwächst und welche Erfahrungen es macht.
In der klassischen Kleinfamilie zum Beispiel, in der das Baby im Alltag der ersten Monate fast ausschließlich bei Mutter und Vater ist, beginnt es oft im Alter von acht Monaten zu “fremdeln”. Es unterscheidet plötzlich zwischen bekannten und unbekannten Personen, es weigert sich nun, sich von weniger vertrauten Menschen hochnehmen zu lassen. Wird dies respektiert und zugleich der Kontakt mit anderen immer wieder angeboten, kann man sehr schön beobachten, wie das Kind innerlich mit sich ringt: Die Neugier ringt mit der Angst, die Abenteuerlust mit der Sehnsucht nach Vertrautem. Die erste Auseinandersetzung mit Angstkraft ist iert.
Andere Kinder machen diese Erfahrung erst deutlich später. Entweder weil ihr Radius von Anfang an weiter gesteckt ist — etwa weil sie in einer Großfamilie aufwachsen — oder weil sie vor Kontakt mit dem Unbekannten komplett geschützt werden, sodass sie nur die Vertrautheit ihres Heimes kennen. Der Prozess bleibt aber der gleiche: Anziehung und Ablehnung des Unbekannten stehen in stetem Wechselspiel. Mal siegt das eine, dann das andere. Und in diesem Wechselspiel entwickelt das Kind seine Angstkraft. Manchmal kann man sehr schön beobachten, wie die Abenteuerlust siegt, es all seinen Mut zusammennimmt und mit seiner Angst einen Schritt in das Unbekannte macht, etwa indem es sich von dem Arm der Mutter in den der Tante reichen lässt. Und manchmal möchte es dann sofort wieder zurück in den Arm der Mutter.
Dieser Prozess setzt sich immer weiter fort. Man könnte sogar sagen, er hört nie auf. Immer neue Grenzen wollen von dem Kind erforscht und auch überschritten werden, immer neue Facetten der Welt erobert werden. Irgendwann ist es dann das Monster unter dem Bett oder das Gespenst hinter dem Vorhang, das selbst in der Vertrautheit des eigenen Zuhauses plötzlich die Angst vor dem Unbekannten — dem Dunklen — auftauchen lässt. Immer wieder werden die Eltern aufgefordert sicherzustellen, dass da auch ganz bestimmt nichts ist, oder das
Licht anzulassen, um den mysteriösen Raum der Dunkelheit aus dem Zimmer zu verbannen.
Wird dem Kind dieser natürliche Entwicklungsprozess zugestanden, der zu einer gesunden, reifen Angstkraft führt, dann wird es sein Leben lang auf diese Kraft zugreifen können, um den Herausforderungen und Abenteuern des Lebens ins Auge zu sehen. Doch was macht es aus? Was können wir Eltern tun, um eine solche Entwicklung zu begünstigen und wie stehen wir unwissentlich im Weg?
Die Rolle der Eltern
Wie bei Wut und Trauer ist es auch bei der Entwicklung von Angstkraft entscheidend, dass das Kind nicht nur Gelegenheit bekommt, diese auszubilden, sondern vor allem im rechten Maß. Ein Zuviel ist genauso schädlich wie ein Zuwenig. Wenn das Kind im Übermaß mit dem Unbekannten, dem nicht Kontrollierbaren und nicht so ohne weiteres Akzeptierbaren konfrontiert wird, dann wird es traumatisiert statt lebenstüchtig. Wird es hingegen überbehütet, fehlt ihm die Möglichkeit, sich mit dem Unbekannten zu befassen und zu lernen, dass dort neben Gefahren auch viel Aufregendes und Schönes wartet und umgekehrt. Es kann diese wichtige Fähigkeit nicht ausbilden und wird vielleicht sein Leben lang damit zu ringen haben. Es wird nicht wissen, wie man denn nun damit umgeht, wenn etwas weder schade noch falsch noch richtig ist. Die wichtige Kraft, die das Leben eigentlich dafür vorgesehen hatte, wurde nicht ausgebildet.
“Da musst du doch keine Angst haben” — wenn Angst klein geredet wird
Auch bei der Angstkraft lässt es sich wunderbar auf partriarchale Modelle zurückgreifen, um die Grenzen und Schwierigkeiten mancher Ansätze zu zeigen. Im klassischen Verständnis sind es natürlich die Jungen, denen Angst verwehrt
wurde, entweder indem sie gezielt unterdrückt oder willentlich darüber hinweggegangen wurde. Man war der Auffassung, Angst würde sie schwach machen. Wenn sie bereits früh lernen würden, Angst nicht zuzulassen, dann würden sie zu mutigen, männlichen und — klar — furchtlosen Mannsbildern heranwachsen. Um gefügige Soldaten heranzuziehen, schien diese Taktik besonders erfolgversprechend.
Leider hat diese Herangehensweise eine verheerende Nebenwirkung: Wird Angst konsequent ausgeblendet, fehlt jedes Gefühl für die eigenen Grenzen. Das mag wie gesagt erwünscht sein, wenn es darum geht, dass Soldaten, ohne mit der Wimper zu zucken, in den sicheren Tod marschieren. Ich gehe jedoch davon aus, dass die meisten Eltern heute andere Ziele oder Wünsche für ihre Kinder haben. Wir wollen, dass unserer Kinder ihre Grenzen kennen, diese einschätzen können und dadurch bewusst mit ihnen umgehen lernen. Und natürlich wollen wir auch, dass sie den Mut haben, diese Grenzen immer wieder zu hinterfragen, auszudehnen und zu überschreiten.
Was brauchen Kinder also, damit sie sich mit der Angstkraft vertraut machen können, ja vielleicht sogar mit ihr anfreunden können? Wie können sie lernen, dass Angst einfach eine natürliche Begleiterscheinung ist, wenn wir etwas Neuem begegnen? Mehr noch als eine Begleiterscheinung: Es ist die Kraft, die wir brauchen, um dem Unbekannten zu begegnen und uns vielleicht sogar darauf einzulassen.
Statt dem Kind die Angst auszureden, können wir diese benennen. Indem wir das Gefühl benennen und dann einfach bei dem Kind bleiben, zeigen wir ihm: Es ist ok, dass es da ist, das ist normal. Wenn wir dem Kind dann noch signalisieren — verbal oder non-verbal — dass es über die Angst-Grenze gehen kann oder auch nicht und dass beides in Ordnung ist, kann das Kind das innere Wechselspiel voll auskosten und erleben. Vielleicht geht es zur Tante auf den Arm, vielleicht nicht. Wie es sich entscheidet, ist unwichtig. Angstkraft entwickelt sich ja an der bewussten Wahrnehmung der Grenze und der Auseinandersetzung damit. Sie geschieht nicht, wenn wir das Kind über diese
Grenze schieben, zum Beispiel indem wir es einfach der Tante herüberreichen und sein Protestgeschrei als übertrieben abtun. Sie geschieht auch nicht, wenn wir ihm die Entscheidung abnehmen, indem wir sagen: “ Bleib lieber bei mir, hier bist du sicher.”
Es ist also die bewusste Auseinandersetzung mit der Angst-Grenze, die Angstkraft wachsen lässt. Damit wird auch die Fähigkeit des Kindes, sich dem Unbekannten zu stellen, ausgebildet. Wenn wir das verstanden haben, wird auch deutlich, warum wir Kinder nicht vor dieser Erfahrung schützen dürfen. Da es jedoch mindestens so häufig vorkommt wie die Unterdrückung oder das Übergehen der Angst, möchte ich an dieser Stelle auch hierauf eingehen.
“Das ist zu gefährlich” — wenn Angst ferngehalten wird
Wohl behütet und gut umsorgt soll unser Nachwuchs sein. Das zumindest sagt der Mutterinstinkt und der des Vaters sicher auch. Da kann es leicht ieren, dass wir alles tun, um unser Kind vor allem Unbekannten und damit potenziell Gefährlichem fernzuhalten. Wir tun dies, wie so vieles, nach bestem Wissen und Gewissen. Leider verwehren wir unseren Kindern damit die Möglichkeit, Angstkraft auszubilden. Sie werden ihr Leben lang auf einen sehr engen Radius begrenzt sein. Sie werden ihr Leben nur im Umfang dessen, was bereits vertraut ist, leben können. Wie der Vogel, der seinen Käfig nicht verlässt, obwohl die Tür offen steht, bleiben sie Gefangene dessen, was sie kennen.
Auch diese Konditionierung hat ihren Platz und erfüllt in bestimmten Kulturkreisen noch heute ihre Funktion. Indem vor allem Mädchen so aufgezogen werden, fügen sie sich später von ganz allein in ein Leben auf engstem Radius. Es ist für uns schwer vorstellbar, doch ihnen geht es wie dem Vogel in seinem vertrauten Käfig. Sie wollen das Haus nur verlassen, wenn es unbedingt nötig ist, und auch dann am liebsten in Begleitung. Nur in der Vertrautheit der bekannten Umgebung können sie sich Leben vorstellen.
Auch hier denke ich, dass die meisten von uns heute andere Wünsche für unsere Kinder haben. Wir wollen, dass sie dem Unbekannten ins Auge sehen können und sich auf das Abenteuer des Lebens einlassen können. Und wir wollen, dass sie dies tun, ohne waghalsig und unvernünftig zu sein, sondern in vollem Bewusstsein der Risiken. Damit Kinder das entwickeln können, müssen wir ihnen auch hier die Gelegenheit geben zu üben. Wir müssen ihnen den Raum geben, Situationen zu suchen, in denen die Grenzen des Bekannten ausgedehnt werden. Und Kinder tun dies von Natur aus ständig! Sie tun dies nicht, um sich selbst Schaden zuzufügen, sondern sie tun das, weil sie instinktiv wissen, wie wichtig dieser Prozess für ihre Entwicklung ist.
Angstkraft braucht Abenteuer — doch wie viel ist zu viel des Guten?
Bei echten Abenteuern weiß man nicht, wie sie ausgehen. Damit wir Kindern diesen Raum geben können, sind wir Eltern selbst auf unsere Angstkraft angewiesen. Kinder wollen auf Bäume klettern oder bei einer Freundin übernachten, obwohl sie noch nicht wissen, ob das gut gehen wird. Diese Ungewissheit müssen wir als Eltern aushalten, genau wie sie — und dafür brauchen wir unsere Angstkraft.
Wir müssen unseren Kindern erlauben, echte Risiken einzugehen — nicht zu viel und nicht zu wenig, doch immer ein bisschen über den Raum des Bekannten hinaus. Nur so kann sich dieser Raum ausdehnen und sie können zugleich ihre Angstkraft entfalten. Wenn Kindern immer genügend Raum gegeben wird, um diese Grenze zu erforschen, ohne dass sie gedrängt oder gehindert werden, dann lernen sie von ganz alleine, sehr gut auf sich zu achten. Das macht das Elternsein dann wesentlich entspannter. Angstkraft lehrt Kindern also nicht nur, über die Grenzen des Bekannten hinauszuwachsen, sondern auch, dabei selbst auf sich aufzuen.
Bedeutet das, dass Kinder sich nie etwas tun werden oder gar dass wir sie nie auf Risiken aufmerksam machen müssen, die sie vielleicht noch nicht abschätzen können? Natürlich nicht. Kinder werden sich wehtun. Sie werden nicht nur auf Bäume hinaufklettern, sondern auch herunterfallen. Sie werden gelegentlich den eigenen Mumm überschätzen, wenn sie morgens der Freundin übermütig versprechen, am Abend bei ihr zu übernachten. Abends kann das dann ganz anders aussehen, zum ersten Mal ohne Eltern in einem fremden Bett.
Kinder werden sich wehtun und sie werden dies betrauern. Um eine Grenze abzustecken, muss man sich nicht nur von einer Seite an sie herantasten, sondern gelegentlich auch von der anderen. Doch was ist mit der Gefahr, dass sie sich ernsthaft etwas tun? Etwa, dass sie von einem Auto überfahren werden oder sich beim Sturz vom Baum den Arm brechen? Zum Ersten: Kinder bis etwa acht Jahre können die Geschwindigkeit und damit die Gefahr von Autos in der Regel nicht richtig einschätzen. Hier sind sie also auf uns angewiesen. Zum Zweiten: Bei Gefahren, die vor allem von dem Kind selbst abhängen — wie die Geschicklichkeit beim Klettern oder der Umgang mit einem scharfen Messer —, ist es meines Erachtens wesentlich gefährlicher, das Kind kontinuierlich von der Erforschung seiner Angst-Grenze fernzuhalten, als diese zuzulassen und damit auch das Risiko einer Verletzung in Kauf zu nehmen. Ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind sich ernsthaft etwas tut, nicht wesentlich höher, wenn es nie gelernt hat, mit Risiken umzugehen, die eigenen Grenzen kennenzulernen und die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln?
Und selbst wenn es uns gelingen sollte, das Kind unter enormen Anstrengungen über Jahre sozusagen komplett zu überwachen, irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, wo das Kind ohne diesen künstlichen Puffer, den wir um es errichtet haben, mit der Welt konfrontiert sein wird. Spätestens dann wird es komplett überfordert sein, wenn es nicht schon zuvor über Jahre die Gelegenheit hatte, seine Kapazitäten und Fähigkeiten Schritt für Schritt zu entwickeln.
Natürlich bedeutet das nicht, dass ich meine Kinder einfach mir nichts, dir nichts von einer Gefahr in die andere laufen lasse. Mal davon abgesehen, dass Kinder
instinktiv auf sich selbst achten, wenn man ihnen nur die Gelegenheit dazu gibt, mache ich meine Kinder sehr gerne auf Risiken aufmerksam. Ich tue dies jedoch im Bewusstsein, dass sie selbst am besten einschätzen können, wo ihre Grenzen liegen. Ich stelle ihnen einfach meine Lebenserfahrung zur Verfügung. Da ich jedoch nicht im Körper meines Kindes stecke, kann ich nicht wissen, welcher Baum ein Problem ist und welcher nicht. Doch wenn das Kind merkt, dass ihm zugemutet wird, selbst darauf zu achten, wird es viel achtsamer sein. Und dies kann es eben nur, wenn ich ihm dies nicht abnehme und es — sicherheitshalber — von der gefährlichen Grenze fernhalte.
Unsichtbare Gefahren
Wie bereits in Teil I angesprochen gibt es Gefahren, die Kinder nicht ohne unsere Aufklärung verstehen können, wo sie auf unsere Hilfe angewiesen sind, damit sie lernen können, diese richtig einzuschätzen. Zentral ist hier heutzutage sicher das Thema Sucht. So wenig effektiv es ist, Kinder mit absoluten Verboten und drakonischen Strafen von Suchtmitteln wie Zucker, Fernseher, Computer, Zigaretten, Drogen etc. fernzuhalten, so wichtig ist es, mit ihnen über unsere diesbezüglichen Sorgen und Ängste zu sprechen. In der heutigen Welt ist es unrealistisch und wohl kaum erstrebenswert, sie hiervon komplett fernzuhalten. Wir können jedoch Schonräume errichten, in denen sie später mit diesen in Kontakt kommen. Dies hat den Vorteil, dass sie einen bewussteren Umgang mit Suchtmitteln erlernen können, wovon sie ihr Leben lang profitieren werden. Damit das gelingt, müssen wir mit ihnen über das Thema Sucht sprechen — wie es sich anfühlt, wie es funktioniert, wie man damit umgehen kann. Und neben der Artikulation unserer Ängste brauchen wir auch das Vertrauen in unsere Kinder, dass sie in letzter Konsequenz gut auf sich aufen werden, wenn wir ihnen nur die Gelegenheit und den Raum dazu lassen.
Mit Freude und Wut, Trauer und Angst ist unser Kind erst mal gut gerüstet für die große, weite Welt. Wenn es uns gelingt, die Entfaltung dieser Kräfte geduldig und liebevoll zu begleiten, dann ist schon viel gewonnen. Doch es gibt noch eine Kraft, die wir uns dringend ansehen sollten, bevor unser Gefühlskom
komplett ist. Es handelt sich um die Scham.
“Du solltest dich schämen!”
Ich vermute, dass mit kaum einem Gefühl in der Kindererziehung so viel Schindluder getrieben wurde wie mit der Scham. Dies ist auch nicht verwunderlich, wenn man sich wieder in Erinnerung ruft, dass Kindererziehung lange vor allem darauf abzielte, Kinder nach einem bestimmten Schema zu formen. Scham schien hier ausgezeichnet geeignet, um Kinder selbst dazu anzustiften, sich den gewünschten Formen anzuen. Und dieses Muster setzt sich fort. Die meisten Erwachsenen haben bewusst oder unbewusst noch mit diesen inneren Stimmen der Selbstverurteilung und des Selbstzweifels zu tun.
Doch auch Scham ist eine Kraft, die eine ganz wichtige Funktion erfüllt. Wir können sie unseren Kindern nicht nehmen, wir können sie lediglich so begleiten, dass sie sich zu einer gesunden inneren Kraft ausbilden kann — genau wie die Wut, die Trauer, die Freude und die Angst. Ohne Scham sind wir zu keiner Selbstreflexion fähig. Sie ist ein wichtiges soziales Regulativ, das in keiner inneren Landschaft fehlt und auch nicht fehlen darf.
Wie Schamkraft sich entwickelt
Scham tauchte in der Geschichte der Menschheit vermutlich als letztes Gefühl auf. Es ist sozusagen unser jüngstes Gefühl. Und es scheint eng mit unserem Menschsein verknüpft. Das suggeriert zumindest die Geschichte im Garten Eden, als Adam und Eva sich zum ersten Mal ihrer Selbst bewusst wurden — und sich schämten. Doch was ist Scham eigentlich und wofür brauchen wir sie?
In Kindern entwickelt sich die Scham erst nach den anderen Gefühlen, genau wie es auch in der Entwicklung des Menschen war. Und mit Entwicklung dieser
Kraft wird auch das Ich-Bewusstsein des Menschen geboren. Wenn ein sehr kleines Kind etwas anstellt — etwa ein Telefonbuch aus dem Regal zieht und in höchster Konzentration zerfetzt oder einer Zimmerpflanze freudig die Erde abgräbt —, kann man ihm zwar deutlich sagen, was man davon hält, man wird in dem kleinen Gesichtchen jedoch keine Spur von Scham entdecken. Es wird einen nur mit höchstem Interesse und in absoluter Unschuld ansehen, womöglich leicht verwundert, dass es bei seiner wichtigen Aufgabe unterbrochen wurde. Vielleicht wird es, wenn es schon etwas größer ist, wütend werden, da es diese Unterbrechung als falsch empfindet. Doch schämen wird es sich nicht.
Irgendwann ändert sich dies. Und zwar dann, wenn zum ersten Mal im Bewusstsein des Kindes ein kausaler Zusammenhang zwischen einer äußeren Begebenheit und dem eigenen Verhalten hergestellt wird. Bei dieser äußeren Begebenheit kann es sich um die wütende oder traurige Reaktion eines Mitmenschen handeln. Oder aber um ein zerbrochenes Glas, das das Kind in seinem übermütigen Gestikulieren vom Tisch gefegt hat. War dies früher einfach nur ein interessantes, an sich jedoch neutrales Phänomen, ist das Kind nun plötzlich betroffen, es schämt sich. Die Interpretation, die dies auslöst, ist: “ Ich bin falsch.”
Scham iert nicht, wie zuweilen angenommen wird, weil dies dem Kind eingeredet wurde, etwa durch Schimpfen. Es iert einfach so, weil das Kind sieht, dass das eigene Verhalten unerwünschte Konsequenzen hatte und dies reflektiert. Durch die Scham, die das Kind in diesem Moment verspürt, entsteht nicht nur eine Reflexion über das eigene Verhalten, sondern auch der an sich natürliche Wunsch, es wieder gutzumachen. Das ist unsere natürliche Reaktion auf Fehler: lernen und Wiedergutmachung. Der Mechanismus hierfür ist die Scham.
Doch was sind die Voraussetzungen, damit Scham sich zu diesem wichtigen Regulativ entwickeln kann? Was braucht das Kind von seinen Eltern, damit es ein gesundes Verhältnis zu den eigenen Schwächen und Fehltritten entwickeln kann?
Die Rolle des Menschenbildes
Ausschlaggebend bei der Entwicklung der Schamkraft ist die Einstellung der Eltern zu dem Kind und sogar zum Menschsein an sich. Welche Annahmen Eltern haben — über sich selbst, den Menschen im Allgemeinen und damit auch über ihr Kind —, bestimmt, ob sie das Kind bei der Entfaltung einer gesunden Schamkraft begleiten können oder nicht. Es geht also erst mal darum, unser Menschenbild unter die Lupe zu nehmen. Gehe ich beispielsweise davon aus, dass der Mensch von Natur aus kooperativ und sozial ist, dann werde ich anders mit ihm umgehen, als wenn ich ihm ein egoistisches und selbstsüchtiges Wesen unterstelle.
Viele der klassischen Erziehungsansätze gehen von Letzterem aus und agieren eigentlich aus Angst vor dieser schlechten Natur des Menschen. Wenn man diese schlechte Natur nicht durch Absolutheitsansprüche in die Schranken weist, so die dahinterliegende Annahme, werden Kinder zu egozentrischen, maßlosen Erwachsenen. Man muss sie erziehen, damit sie zu guten Menschen werden. Zwar mag dies auf den ersten Blick veraltet und absurd erscheinen. Doch wenn wir ehrlich hinsehen, entdecken wir, dass der Umgang mit Kindern heute noch vielfach von dieser Annahme geprägt ist.
Ein Beispiel hierfür ist die fast reflexartige Reaktion der meisten Erwachsenen, Kinder zu schimpfen, wenn sie einen Fehler gemacht haben — zum Beispiel ein Glas umgestoßen. Die Idee ist, dass man dem Kind ganz klar sagen muss, dass dies falsch ist, weil das Kind das sonst nicht bemerkt. Nur wenn die Eltern das Verhalten klar verurteilen, wird es dem Kind nicht egal sein und es wird dies nicht wieder tun. Man geht davon aus, dass das Kind keine eigene Motivation hat, Dinge nicht zu zerstören oder anderweitig Schaden anzurichten.
Doch wenn wir uns in unsere eigene Kindheit zurückversetzen — stimmt das
wirklich? War es uns egal, wenn wir etwas ausgefressen hatten? Oder waren wir nicht eigentlich betroffen, erschrocken, verlegen? Ich denke, wir waren das. Zumindest solange wir noch nicht gelernt hatten, uns diesen Gefühlen zu verschließen — doch dazu später mehr.
Wie sieht es hingegen aus, wenn ich annehme, dass der Mensch von Natur aus kooperativ und sozial ist? Dann werde ich das Gleiche wohl auch von Kindern annehmen und eine vertrauensvolle Haltung ihnen gegenüber haben. Ich werde davon ausgehen, dass es ihnen ein natürliches Bedürfnis ist, sich so zu verhalten, wie es ihrem sozialen Umfeld entspricht. Ich werde nicht davon ausgehen, dass das Kind geschimpft werden muss, wenn es einen Fehler macht. Es wird mir naheliegender erscheinen, dass es vielleicht sogar Trost braucht, damit es sich nicht selbst verurteilt und die natürliche Betroffenheit in Erfahrungslernen umwandeln kann. Und es wird Hilfe brauchen, um herauszufinden, wie es den Schaden wieder gutmachen kann.
Die Aufgabe der Eltern
Damit diese Form der Begleitung gelingt, müssen wir Eltern unsere Hausaufgaben gemacht haben. Wir brauchen eine liebevolle, vergebende und zugleich verantwortungsvolle Haltung gegenüber unseren eigenen Fehltritten, um diese unserem Kind entgegenbringen zu können. Wenn wir selbst noch glauben, dass wir ständig gegen unsere eigene schlechte Natur ankämpfen müssen, dann werden wir das auch bewusst oder unbewusst unseren Kindern vermitteln.
Es liegt zunächst an uns, die Stimmen in unserem Kopf zu hinterfragen, die uns selbst für Fehler schimpfen — so wie es vielleicht unsere Eltern oder zumindest unsere Lehrer früher getan haben. Erst dann können wir auch in realen Stresssituationen anders agieren. Eigentlich geht es darum, die Idee loszulassen, dass Fehler falsch sind. Und wenn wir verstanden haben, dass Fehler vor allem wehtun — uns selbst und anderen — dann wird uns auch klar, welch große
Herausforderung es ist, einen guten Umgang mit ihnen zu erlernen.
Alles Unschuld oder was?
“Moment mal,” mag manch einer nun einwenden, “ aber was ist denn mit solchen Schäden, die nicht aus Versehen zugefügt werden, wie das oben genannte umgestoßene Glas? Was ist, wenn ein Kind mit Absicht Böses tut? ” In diesem Fall spielt unser Menschenbild eine noch größere Rolle. Was glauben wir? Schadet das Kind anderen, weil es ihm Freude macht, Böses zu tun, oder gar weil es böse ist? Oder tut es anderen weh, weil es selbst so verletzt wurde und keinen anderen Weg kennt, diese emotionale Altlast zu entladen?
Nun kann man dies natürlich als philosophische oder vielleicht sogar politische Frage betrachten. Schließlich basiert ja unser gesamtes strafendes Rechtssystem auf der Prämisse, dass ein Mensch, der Böses tut, bestraft werden muss, damit er es nicht wieder tut.
Leider beobachten wir gerade das grandiose Scheitern dieser Strategie: Bei Menschen, die erst im Gefängnis wirklich kriminalisiert werden, bei Wiederholungstätern, die auch die Aussicht auf die schlimmste Strafe offenbar nicht von weiteren Vergehen abhalten konnte. Zugleich ist es ein offenes Geheimnis, dass der allergrößte Anteil der Straftäter unter traumatisierenden Umständen aufgewachsen ist und häufig bereits in der Kindheit emotionaler, sexueller oder physischer Gewalt ausgesetzt war. Die Idee, dass vielleicht eher hier anzusetzen wäre, um eine wirkliche Besserung zu erzielen, macht immer mehr Schule. Eines der erfolgreichsten Rehabilitationsprogramme für Straftäter erprobt diesen Ansatz — und erzielt damit außerordentliche Ergebnisse.
Ein Blick auf “böse Menschen”
Gemeinsam mit seiner Frau Ellika Linden arbeitet der zu Anfang erwähnte Indianerälteste Manitonquat seit über dreißig Jahren mit Schwerverbrechern. In seinem Buch “Ending Violent Crime” beschreibt er seine Arbeit, die erstaunlich erfolgreich ist. Die Rückfallquote liegt bei 5-10 %. Das ist sensationell niedrig, vor allem im Vergleich zu einer allgemeinen Rate von 65-85 %. [4] Noch erstaunlicher scheinen diese Ergebnisse, wenn man in Betracht zieht, dass das Programm mit einem minimalen Budget auskommt. Wie macht er das?
Manitonquats Fokus liegt darauf, Straftätern ihre Würde zurückzugeben. Er tut dies, indem er zuallererst ihre ursprünglich gute Natur anerkennt. Das ist sein erster Schritt. Darauf aufbauend bringt er ihnen bei, einander zuzuhören und dabei emotionale Altlasten zu entladen. So können ihre Wunden heilen. Er erklärt ihnen, es sei nicht ihre Schuld, dass sie als Kinder nicht das bekommen haben, was sie gebraucht hätten, um zu verantwortungsvollen, liebevollen Erwachsenen zu werden. Zugleich betont er, dass es wichtig ist, eine Wiedergutmachung für die begangenen Taten anzustreben. Es ist für das Opfer und für den Täter wichtig. Nur so kann wirkliche Heilung geschehen.
Was können wir aus diesem extremen Beispiel über den Umgang mit unseren kleinen “Straftätern” lernen? Was sagt es uns über Kinder, die scheinbar absichtlich anderen wehtun? Betrachten wir diese Fragen im Kontext der beiden häufigsten Umgangsformen mit dem Thema Scham: der bewussten Verstärkung durch absolute Verurteilung und der künstlichen Abschwächung durch Verharmlosung.
Die Wucht absoluter Urteile
Immer noch weitverbreitet ist der Ansatz, Kinder anhand von Absolutheitsansprüchen das Schämen zu lehren. Dahinter steckt die simple Idee, dass man Kindern beibringen muss, wie sie zu sein haben. Der Satz “Das gehört
sich nicht” ist ein klassisches Beispiel dieser Einstellung. Die Annahme ist, dass man Kindern sagen muss, wie ein gutes Kind ist und wie ein böses. Dann muss man dafür sorgen, dass sie zu guten Kindern werden, indem man sie lehrt, sich für Fehlverhalten zu schämen. Die berühmten Aussprüche wie “Du solltest dich schämen!” oder “Schämst du dich denn nicht?” mögen zwar etwas aus der Mode gekommen sein, die dahinterliegende Haltung jedoch nur bedingt. Wir versuchen, die Schamkraft des Kindes in Besitz zu nehmen, da wir meinen, so das Kind am effektivsten kontrollieren und steuern zu können.
Leider missbraucht dieser Ansatz das ureigentliche kindliche Bedürfnis, gut und richtig zu sein, um geliebt zu werden. Dies hat schwerwiegende Konsequenzen für die Entwicklung des Kindes. Seine natürliche Tendenz zur Kooperation und zur Selbstreflexion nimmt massiven Schaden, der nur durch hohen Aufwand wieder geheilt werden kann.
Das Kind mag nun zwar aus Angst vor Beschämung oder Strafe kooperieren. Der Preis hierfür ist jedoch hoch. Es hat keine Möglichkeit, seinen eigenen inneren Kom dafür zu entwickeln, was für ein Mensch es sein möchte, welches Verhalten es ganz persönlich als richtig oder falsch empfindet. Hierfür würde es seine eigene Schamkraft brauchen. Da für Kinder eine absolute Verurteilung durch ihre Bezugspersonen jedoch eine existenzielle Bedrohung darstellt — schließlich sind sie sich ihrer Abhängigkeit nur allzu bewusst —, lernen sie, ihre Scham effektiv auszublenden. Sie tun dies, um sich vor der Wucht dieses Gefühls zu schützen. Verstärkt durch die Verurteilung der Erwachsenen droht es, sie zu überwältigen.
Doch was dann? Soll man immer so tun, als wäre alles eitel Sonnenschein, jedes Verhalten akzeptieren, egal wie daneben man es findet? Sehen wir uns diese Möglichkeit einmal genauer an.
Wenn immer alles super ist
Die Idee scheint naheliegend und vielleicht sogar verlockend. Man könnte sich eine Menge anstrengender Auseinandersetzungen mit dem Nachwuchs sparen. Jeder tut, was ihm gefällt und gut ist. Ha, ist doch super!
Leider ist das in der Praxis nicht so super, denn binnen kürzester Zeit stehen Bedürfniskonflikte auf dem Programm. Der eine will seine Ruhe haben, während der andere gerade das dringende Bedürfnis hat, eine Kochtopfband zusammenzustellen und zum Proben anzustiften. Wer darf nun tun und lassen, was er will, wenn es kein absolutes Richtig und Falsch mehr gibt? Und was ist mit dem Bedürfnis des Kindes, von seiner Umgebung gesehen zu werden und diese zu spüren?
Wenn alles, was das Kind tut, als “super” oder “in Ordnung” abgehakt wird, fehlt dem Kind jede Orientierung, was für die Menschen in seiner Umgebung angenehm ist und was nicht. Wie soll es dann lernen, welches Verhalten funktioniert und welches nicht? Das Kind ist auf dieses dringend angewiesen, um sich zu orientieren.
Fehlt dieses , so ergeht es ihm wie den Kindern in den grausigen Experimenten vergangener Jahrhunderte, wo mit Kindern nicht gesprochen wurde, um die ursprüngliche Sprache des Menschen herauszufinden. Heute verwundert es uns kaum, dass diese Kinder nicht sprechen lernten — weder aus sich heraus noch konnten sie dies später nachholen, als man dann mit ihnen sprach. Der Mensch als soziales Wesen kommt zwar mit der angelegten, hoch differenzierten Fähigkeit, Sprache zu verstehen und zu produzieren, auf die Welt. Er braucht jedoch Beziehung, um diese Fähigkeit auch zu entfalten.
Genauso verhält es sich mit der Entwicklung unseres ureigenen, ganz persönlichen Gespürs für richtig und falsch. Wir kommen zwar mit der natürlichen Veranlagung, dieses zu entwickeln, auf die Welt. Ohne Beziehungen
zu anderen Menschen, aus denen wir Informationen dazu gewinnen können, haben wir keine Möglichkeit, es zu entfalten.
Doch um welche Informationen geht es hier, wenn nicht um absolute “das ist richtig” / “das ist falsch”-Standpunkte? Es geht um ganz einfache s wie “Ich mag es, wenn du dich in meinen Arm kuschelst” oder “Ich mag es nicht, wenn du mich unterbrichst” oder “ Es tut mir weh, wenn du so mit deinem Bruder umgehst”.
Solche Botschaften sind wesentlich differenzierter und auch komplexer als absolute Aussagen, denn sie sind nicht nur bei jedem Menschen, sondern auch je nach Situation verschieden. Das Kind wird nicht darauf reduziert, ein relativ simples Set sozialer Regeln auswendig zu lernen und sein inneres Navi auf Autopilot zu stellen.
Vielmehr lernt es anhand von unzähligen Situationen, wie vielfältig und komplex menschliche Bedürfnisse und Beziehungen sind. Wenn diese ihm, wie oben nahegelegt, in Form von Ich-Botschaften mitgeteilt werden, bleibt dem Kind auch der Raum, sein eigenes richtig und falsch zu formulieren. Dies geschieht durch seine natürliche Schamkraft.
Manchmal versuchen wir auch, wohlmeinend, das Kind vor eben dieser Scham zu schützen, indem wir die Konsequenzen seines Handelns herunterspielen. Sätze wie “Ach, das macht doch nichts” oder “Ist nicht schlimm” versuchen das Kind vor der eigenen Scham zu bewahren, können aber leicht Beliebigkeit vermitteln. Viel besser unterstützen wir das Kind, wenn wir in seiner Betroffenheit bei ihm sind, es trösten, ohne Scham oder Trauer wegzuwischen, und ihm zeigen, wie es den Schaden wieder gutmachen kann. Genau wie Wutkraft will auch Scham von uns gewürdigt werden. Es ist eine wichtige Kraft, die das Kind hier ausbildet: Es lernt, die Angemessenheit des eigenen Verhaltens zu reflektieren, wodurch es fähig wird, gegebenenfalls Anungen vorzunehmen. Diese Fähigkeit wird es ein Leben lang brauchen.
Kinder schämen sich von ganz allein
Das Thema Scham ist ein komplexes Thema. Zu viel wurde dieses Gefühl missbraucht, zu sehr haben die meisten Eltern noch damit zu ringen, zu sehr sind wir alle vereinnahmt von Konzepten, wie wir selbst und erst recht unsere Kinder zu sein haben. Hier spielt mit Sicherheit unserer eigene familiäre Prägung eine entscheidende Rolle. Einen mindestens ebenso großen Einfluss dürfte die kontinuierliche Gehirnwäsche durch Werbebotschaften haben. MarketingExperten haben das Thema Familie seit Beginn der Industrialisierung für sich besetzt und ausgebeutet.
All dies erschwert uns einen natürlichen Umgang mit diesem so wichtigen Gefühl — also einen Umgang, der weder von einer künstlichen Verstärkung durch Beschämung noch von einem leeren Raum durch Schönreden geprägt ist. Kurz: einen Raum, in dem das Kind liebevoll angenommen ist und in dem das Gefühl der Scham einfach da sein darf. Und genau diesen braucht das Kind, um in seiner Entwicklung einen Schritt weiterzukommen, sein Verhalten zu reflektieren und gegebenenfalls anzuen oder wieder gutzumachen.
Nun bin ich alle fünf Grundgefühle aus der Sicht des Kindes durchgegangen. Ich habe bei jedem Gefühl beleuchtet, wie es sich im Kind entwickelt und was Kinder von ihrer Umgebung brauchen, damit das zu einer großen und starken Kraft heranreifen kann. Bevor ich mich in Teil III den Grundzügen eines neuen Miteinanders auf Augenhöhe zuwende, möchte ich abschließend zu Teil II noch auf die Themen emotionale Entladung und Dramen aus Sicht des Kindes eingehen. Es ist normal, dass diese Phänomene bei Kindern auftauchen, genau wie bei Erwachsenen. Die Frage ist, wie gehen wir damit um, damit aus diesen kleinen Störungen nicht größere Probleme werden? Das ist Thema des nächsten Kapitels: Störungen in der emotionalen Entwicklung.
[4] Manitonquat Medicine Story: Ending Violent Crime/Acabar con la delincuencia, Story Stone Publishing, Greenville, 2011, S. 24 5 Jens Asendorpf: Psychologie der Persönlichkeit.
Störungen in der emotionalen Entwicklung
Ich kann alle Eltern beruhigen, die bei der Lektüre der vorhergehenden Seiten den Eindruck bekommen haben, sie hätten schrecklich viele Fehler gemacht. Das ist ok, dieses Schamgefühl bedeutet schließlich einfach nur, dass wir anfangen, uns selbst zu reflektieren. Und es ist auch ok, da es selten oder fast gar nicht vorkommt, dass ein Kind diese Entwicklung der eigenen Gefühlskräfte in einer optimal unterstützenden Umgebung durchläuft. Das bedeutet, dass es immer wieder zu Störungen in der Entwicklung kommt. Das ist insofern nicht schlimm, als auch diese Störungen und Schmerzen zum Leben dazu gehören. Sie sind nicht falsch, auch wenn wir natürlich lieber ohne sie leben würden.
Kinder erfahren, genau wie Erwachsene, größere oder kleinere Traumata, auch wenn wir unser Bestes tun, um gut auf sie aufzuen. Behüten wir sie zu gut, laufen wir zudem Gefahr, sie genau dadurch zu traumatisieren — wie ich bei dem Thema Angstkraft bereits beschrieben habe. Wir tun jedoch gut daran zu lernen, was unsere Kinder von uns brauchen, wenn es zu einer Überforderung gekommen ist oder wenn sie begonnen haben, Absolutheitsansprüche auszubilden. Sehen wir uns diese beiden Themen an, bevor wir uns in Teil III der Eltern-Kind-Beziehung zuwenden.
Kinder und emotionale Altlasten
Nicht nur Erwachsene schleppen emotionale Altlasten mit sich herum. Auch bei Kindern kann es vorkommen, dass sie in bestimmten Situationen Gefühle nicht sofort entladen können. Das liegt meistens daran, dass eine Situation Gefühle in einer Intensität hervorruft, die so nicht gefühlt werden können — es würden sozusagen die Sicherungen durchbrennen. Ehe dies geschieht, stellt der
Organismus auf Durchzug — ähnlich wie bei einem Sicherungskasten heute die Sicherung rausspringt, ehe das gesamte System ausbrennen würde. Eine sehr praktische Einrichtung — solange sich dann jemand darum kümmert, die Überlastung aus dem System zu nehmen und die Sicherung wieder einzuschalten.
Anders als bei einem elektrischen System ist es bei uns jedoch nicht selbstverständlich, dass wir überschüssige Ladungen sofort rauslassen. Das ist auch gut so, denn der Lernschritt, kontrolliert zu entladen, ist ein wichtiger in unserer sozialen Entwicklung. Problema-tisch wird dieser Lernschritt nur, wenn wir in der Mitte stecken bleiben — wir lernen, die Ladung zu kontrollieren, vergessen jedoch, wie wir sie auch kontrolliert entladen können. Damit Kinder den ganzen Lernprozess gut durchlaufen können, brauchen sie unsere Unterstützung.
Wenn Kinder sehr klein sind, entladen sie alles sofort oder bei nächster Gelegenheit. Je älter sie werden, desto mehr warten sie auf ende Gelegenheiten, um zu entladen — genau wie wir Erwachsenen.
Wenn Kinder emotional entladen
In Teil I habe ich ausführlich beschrieben, was wir Erwachsenen brauchen, um zu entladen. Bei Kindern läuft dieser Prozess ganz ähnlich ab. Auch sie entladen dort, wo sie sich sicher, geborgen und geliebt fühlen — und das ist natürlich primär bei den eigenen Eltern. Wer kennt nicht das Phänomen, dass unsere Kinder sich bei anderen Leuten vorbildhaft verhalten, und kaum sind Mutter oder Vater wieder da, werden sie zu irrationalen, kaum zu bändigenden kleinen Dämonen? So nervig, anstrengend und aufreibend das ist: Wir müssten uns eigentlich geschmeichelt fühlen, wenn unser Nachwuchs in unserer Gegenwart seinen ganzen emotionalen Schrott entlädt — es bedeutet, dass sie sich sicher fühlen!
Gut mit emotionaler Entladung umgehen:
1. Lerne, emotionale Entladung zu erkennen.
2. Mache dir klar, dass diese weder rational ist noch etwas mit dir zu tun hat. Du musst sie also weder verstehen noch unterbinden.
3. Mache dir bewusst, dass du nicht mehr und nicht weniger tun musst, als präsent und empathisch bei deinem Kind zu sein.
4. Erinnere dich daran, dass jede Entladung ihr natürliches Ende findet.
5. Achte auf deine Grenzen.
Doch mit dieser Erkenntnis allein ist es natürlich nicht getan. Die Entladung bleibt nervig und anstrengend, nicht zuletzt, weil sie unsere eigenen Altlasten aktiviert.
Im Kasten auf der linken Seite habe ich die Punkte zusammengefasst, die sich meiner Erfahrung nach im Umgang mit emotionaler Entladung als hilfreich erwiesen haben — übrigens nicht nur mit Kindern.
1. Woran erkenne ich emotionale Entladung?
Schritt eins, erkenne emotionale Entladung, ist leichter gesagt als getan, wenn ich nicht weiß, woran ich diese erkennen soll. Doch es ist ganz einfach, emotionale Entladungen zu erkennen. Meiner Erfahrung nach kann das jeder Mensch bzw. tut dies bereits ganz automatisch, nur oft ohne sich dessen bewusst zu sein.
Neben den klassischen Merkmalen, die ich im Kasten aufgelistet habe, ist für viele Menschen eines der sichersten Signale die eigene Anspannung, die unvermittelt auftaucht, wenn sie sich mit emotionaler Ladung konfrontiert sehen — oder besser gesagt spüren. Diese tritt ganz automatisch auf, wenn wir mit dem Phänomen emotionaler Entladung noch nicht ausreichend vertraut
Merkmale emotionaler Entladung:
1. heftige Gefühlsäußerungen, die in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Situation stehen
2. irrationale Beschwerden, Argumente und Anschuldigungen
3. gemischte Gefühle, die manchmal nicht wirklich zuzuordnen sind
Aus Erfahrung wissen wir, dass emotionale Entladungen gefährlich sein können. Menschen werden oft sehr verletzend, wenn sie entladen. Diese Erfahrung führt bei uns zu einer unwillkürlichen Anspannung, wenn wir eine Entladung wittern — und genau diese Anspannung kann für uns ein wertvolles Signal sein, um uns bewusst zu machen, womit wir es zu tun haben.
2. Warum sind Entladungen irrational?
Wenn emotionale Ladungen aktiviert werden, dann hat das in der Regel sehr wenig mit der derzeitigen Situation zu tun. Das System sucht sich einfach eine Gelegenheit, um die überschüssige emotionale Energie loszuwerden, und dabei ist ihm jeder Aufhänger recht. Es ist daher verlorene Liebesmüh mit einem Menschen, dessen System gerade im Entladungsmodus ist, eine Diskussion zu führen. Das zeigt einfach nur, dass wir nicht verstanden haben, worum es gerade geht.
3. Was bedeutet es, empathisch bei meinem Kind zu sein?
Empathie ist die Bereitschaft und die Fähigkeit, mit dem anderen mitzufühlen, uns sozusagen in ihn hineinzuversetzen und das zu fühlen, was er gerade fühlt. Wissenschaftliche Untersuchungen haben inzwischen nachgewiesen, dass diese Fähigkeit in uns Menschen angelegt ist und nicht nur die Fantasie irgendwelcher Gutmenschen ist. Wir haben sogar eigene Gehirnzellen, die genau dafür zuständig sind, die Gefühlszustände unseres Gegenübers zu spiegeln — die sogenannten Spiegelneuronen.
Empathisch bei unserem Kind sein bedeutet, ihm unseren inneren Raum zur Verfügung zu stellen, indem wir mit ihm mitfühlen. Wir fühlen, was das Kind fühlt, jedoch ohne uns von den Gefühlen überwältigen oder vereinnahmen zu lassen. Gelingt uns dies — die Gefühle einfach in uns da sein zu lassen, ohne
uns in ihnen zu verlieren oder sie verändern zu wollen —, schaffen wir dem Kind einen Raum, in dem es die eigenen Gefühle ausbreiten kann.
Dadurch geschieht Folgendes: Indem wir dem Kind unseren eigenen inneren Raum zur Verfügung stellen, vergrößern wir vorübergehend seinen inneren Raum. Dadurch steigt seine Kapazität, mit bestimmten Gefühlen umzugehen. Was zuvor überwältigend war und deshalb ausgeblendet werden musste, kann nun gefühlt werden.
4. Wie findet eine Entladung ihr Ende?
Manchmal haben wir große Angst vor Entladungen, weil wir den Eindruck haben, sie könnten nie aufhören. Meiner Erfahrung nach trifft das nicht zu. Wie alles im Leben haben auch Entladungen ein natürliches Ende — und sei es, weil der Entladende einfach erschöpft ist.
Je nachdem, wie stark die Ladung zuvor unterdrückt war und wie heftig der Auslöser, bahnt sie sich mehr oder weniger vehement einen Weg an die Oberfläche. Manchmal kommen Entladungen auch sehr langsam an die Oberfläche — ähnlich wie Magma, die ja auch nicht immer als sprühende Fontäne aus dem Vulkan schießt, sondern zuweilen ganz gemächlich hervorquillt. So oder so gibt es eine relativ kurze Phase der Eskalation, gefolgt von einem langsamen, natürlichen Abebben. Dies geschieht umso schneller, je besser der Raum dafür gehalten wurde. Je mehr Entladungen wir bewusst erlebt haben, ohne einzugreifen, desto gelassener können wir diesen Prozess verfolgen.
5. Wie achte ich auf meine Grenzen?
Entladungen können zuweilen recht heftig zugehen. Wenn der andere sich der Tatsache, dass er gerade entlädt, nicht bewusst ist — etwa weil er von dem Konzept Entladung noch nie etwas gehört hat —, dann wird er dazu tendieren, uns oder jemand anderem die Schuld für seine heftigen Emotionen in die Schuhe zu schieben. Und genau das ist natürlich bei Kindern oft der Fall. Da kann es schnell mal wüste Anklagen und Beschimpfungen regnen, ist die Rede von der “blöden Mama” und Ähnlichem. Hier ist es wichtig, damit wir gut für unsere Kinder und uns selbst sorgen können, dass wir klar unsere Grenzen ausdrücken — gegebenenfalls auch mit der notwendigen Portion Wutkraft unterlegt.
Unsere Grenzen artikulieren bedeutet in diesem Fall zu sagen, was uns t und was nicht, wo wir uns einen anderen Umgang wünschen oder ein Tonfall uns verletzt. Durch diese Äußerungen bekommen unsere Kinder eine Rückmeldung, welche Form ihre Entladung nehmen kann, ohne zu verletzen. Sätze wie: “ Ich verstehe, dass du wütend bist, und das ist auch in Ordnung. Ich mag aber nicht, wenn jemand so mit mir spricht. Da werde ich sauer.” signalisieren klare Annahme für das Gefühl und auch den Ausdruck des Gefühls, während es auch deutlich macht, was uns nicht gefällt und welche Reaktion wir darauf haben. Ähnlich verhält es sich, wenn Kinder versuchen, mit ihrer emotionalen Ladung umzugehen, indem sie kleinere oder größere Racheakte verüben. Auch hier ist es wichtig, klar zu sagen, was uns t und was nicht, und zugleich einen Raum für Entladung anzubieten.
Kinder, Dramen und Absolutheitsansprüche
Nicht nur Eltern gehen gerne mal ins Drama, auch Kinder sind sehr gut darin, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen und alles in den düstersten Farben zu malen. Diese Fähigkeit prägt sich natürlich umso mehr aus, je mehr sie genau das vorgelebt bekommen. Und auch wenn die Eltern keine Drama-Stars sind, an Vorbildern fehlt es in der Welt von heute nun wirklich nicht. Jeder Film, jede Fernsehserie und sogar jedes Märchen ist voll von dem Zeug, aus dem unsere Dramen sind. Es ist also kaum verwunderlich, wenn unsere Kinder auch diese Klaviatur einmal ausprobieren. Die Frage ist nur: Wie gehen wir gut damit um?
Welche Reaktion ermutigt sie, aus dem Dramadreieck wieder auszusteigen, und welche lässt das Drama eskalieren?
Deine Meinung — meine Meinung
Zunächst einmal: Für Kinder ist es ganz normal, nicht zwischen persönlichen Empfindungen und Absolutheitsansprüchen zu unterscheiden. Sie sind dermaßen verhaftet mit ihrem Erleben, dass beides für sie ein und dasselbe ist: Was sie als falsch, schade oder furchtbar empfinden und was absolut falsch, schade oder furchtbar ist. Das bedeutet noch nicht, dass ihnen eine Karriere als Hauptdarsteller einer lebenslangen Seifenoper bevorsteht. Es bedeutet jedoch sehr wohl, dass sie uns brauchen, um Schritt für Schritt den Unterschied zu erlernen.
Wie Kinder lernen, Absolutheitsansprüche abzubauen:
1. erkennen, dass die eigene Meinung subjektiv ist
2. Bedürfnisse herausschälen
3. Lösungen finden
Wir können diesen Prozess ganz konkret unterstützen, indem wir ihnen für absolutes Erleben immer wieder subjektive Formulierungen anbieten. Machen
wir ein einfaches Beispiel: zu Abend gibt es Gemüsesuppe. Florian mag keine Gemüsesuppe. Er sagt: “Das ist eklig!” — eine absolute Aussage, die auch wirklich verletzend sein kann, wenn man sich viel Mühe bei der Zubereitung eines leckeren Abendessens gegeben hat. Gelingt es uns, nicht auf diese Einladung zum Drama anzuspringen, können wir ihm eine relative Formulierung anbieten. Zum Beispiel: “Du magst keine Gemüsesuppe.” Wir können auch noch weitergehen und sagen: “ Es ist ok, dass du die Suppe nicht magst. Ich mag nicht, dass du sie eklig nennst, denn mir schmeckt sie.” Hierdurch entsteht ein Gegenüberstellen von verschiedenen subjektiven Wahrnehmungen, ohne dass eine davon verurteilt wird.
Das mag bei so einem einfachen Beispiel nach Haarspalterei aussehen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass selbst erwachsene Menschen bei diesem einfachen Schritt immer wieder Probleme haben. Genau diese Probleme führen dazu, dass es ihnen sehr schwer fällt, gemeinsam verbindende Lösungen für Konflikte zu finden. Auf dieses Thema werde ich genauer in Teil III eingehen.
Zurück zu den Kindern mit ihren Absolutheitsansprüchen. Wie gesagt können wir sie darin unterstützen, diese loszulassen, indem wir ihnen immer wieder die Subjektivität ihrer Wahrnehmung bewusst machen — ohne diese jedoch zu verurteilen oder zu kritisieren, nur weil sie anders ist als unsere eigene. Das setzt natürlich voraus, dass wir selbst nicht ins Drama springen. Doch es gibt noch einen weiteren Schritt, der notwendig ist, um ein mögliches Drama abzuwenden: die Kristallisation der Bedürfnisse.
Das Bedürfnis herausschälen
Bleiben wir für einen Moment bei unserem einfachen Beispiel von Florian und seiner Gemüsesuppe. Hier ist es keine Zauberei zu erkennen, was hinter der Äußerung von Florian steckt. Vermutlich hätte er gerne etwas anderes zu essen. Das ist die naheliegende Möglichkeit. Es könnte auch sein, dass es um etwas ganz anderes geht. Wie in Teil I bereits genauer beleuchtet könnte es auch sein,
dass er eigentlich nur einen Anlass sucht, um zu entladen. Die sichere Methode, um das herauszufinden, ist jene, sich an das Bedürfnis heranzutasten.
Ich mache das am liebsten mit einer einfachen Frage oder Feststellung: “Du hättest lieber etwas anderes zu essen.” Wenn hier ein “Ja” kommt, kann ich einen Vorschlag zu einer Lösung des Problems machen, der für mich auch funktioniert. Zum Beispiel: “ Dann gehe doch in die Küche und guck mal, ob du etwas findest, was du gerne essen möchtest.” Manchmal müssen verschiedene Varianten angedacht werden, bis eine gefunden wird, die greift. Und manchmal ist die Antwort vielleicht auch: “Es tut mir leid, wir haben nichts anderes im Haus.” Was auch immer die Antwort ist, durch diesen Prozess lernt das Kind, wenn es mit einer Situation unzufrieden ist, das eigene Bedürfnis zu identifizieren und konstruktiv Lösungen zu finden, wie es dieses Problem lösen kann. Oder es lernt, dass es ok ist, ein Bedürfnis zu haben, auch wenn dieses gerade nicht erfüllt werden kann. Auf diesen Prozess wird auch in Teil III noch sehr viel detaillierter eingegangen als hier, denn ganz so einfach ist das natürlich nicht immer — vor allem wenn wir als Eltern das selbst nicht gelernt haben.
Die Dramavariante dieser Szene kennen wir sicher alle. Ich möchte sie der Vollständigkeit halber nur ebenso darstellen und auch beleuchten, was das Kind hier lernt. Spulen wir also zurück zu der Stelle an der Florian sagt: “Das ist eklig!” Als Entgegnung auf diese Kampfansage hat man als Mutter oder Vater natürlich schnell jede Menge knackiger Absolutheitsansprüche auf Lager. Hier eine kleine Auswahl: “Es wird gegessen was auf den Tisch kommt!”, “Du undankbares Kind!”, “ Die Kinder in Afrika wären froh, wenn sie so etwas zu essen bekommen würden!”, “Du hast aber auch immer was auszusetzen!” und so weiter. Die Schilderung der weiteren Eskalation können wir uns, denke ich, ersparen. Was das Kind hier lernt? Es lernt, dass seine Bedürfnisse falsch sind. Es lernt, dass es selbst falsch ist. Es lernt, dass es beschämt wird, wenn es Bedürfnisse äußert. Es lernt nicht, sich um die Lösung seiner Bedürfnisse zu kümmern. Dass das Essen danach keinem mehr richtig schmeckt, liegt auf der Hand.
Soweit alles klar — und nun?
Nachdem wir uns nun mit den fünf Gefühlen im Kind, deren Entwicklung, den gängigen Umgangsformen damit und möglichen Störungen befasst haben, ist es leicht, sich als Eltern überwältigt zu fühlen. So komplex mögen diese ganzen Dynamiken und Befindlichkeiten erscheinen, dass die Versuchung naheliegt, einfach doch wieder auf Autopilot zu schalten und das Erziehungsprogramm unserer eigenen Eltern mit leichten Anungen abzuspulen. Schließlich möchte man ja noch etwas anderes in diesem Leben betreiben als Nabelschau. Und vor allem: Was soll das überhaupt bringen, wenn man nun jede Gefühlsregung des Kindes und der Eltern mit Feuereifer überwacht. Wo bleibt denn da die Spontaneität im Umgang miteinander, wo die Authentizität?
Ich kann solche Empfindungen gut verstehen, vor allem weil ich sie selbst zuweilen habe. Und ich glaube auch, dass das ganz gesund ist. Es verhindert, dass wir diese ganze Sache zu ernst nehmen. Natürlich ist Kinder aufziehen die wichtigste Arbeit der Welt. Und natürlich sollten wir diese Arbeit mit der größtmöglichen Liebe und Sorgfalt auf uns nehmen. Doch gerade weil sie so wichtig ist, dürfen wir uns selbst nicht so ernst dabei nehmen. Es ist nicht unsere Aufgabe, unseren Kindern perfekte Eltern zu sein. Es ist unsere Aufgabe, ihnen gute Eltern zu sein. Und was sind gute Eltern? Gute Eltern sind echte Menschen mit echten Macken, echten Gefühlen, echten Herausfoderungen und echten Fragezeichen, die jedoch von Herzen ihr Bestes geben und sich dafür wertschätzen.
Die hier festgehaltenen Einsichten über die Natur der Gefühlskräfte, ihre Entwicklung und auch, wie sie Schaden nehmen, sind nicht dazu gedacht, Eltern noch mehr unter Druck zu setzen, als sie es ohnehin schon sind. Im Gegenteil, ich hoffe, dass Eltern hierin Entlastung finden, indem sie verstehen, wie alles in ihrem Kind seinen Platz und seine Ordnung hat. Ein wütendes, trauriges oder ängstliches Kind hat kein Manko, sondern es macht gerade eine wichtige Entwicklung durch.
So wie Kinder kognitive Fähigkeiten immer wieder üben und über die Jahre weiter entwickeln müssen, brauchen auch die Gefühlskräfte langjährige Übung. Das bedeutet, dass Kinder immer wieder wütend, traurig, freudig und ängstlich werden und auch dass sie sich schämen. Wenn wir als Eltern wissen, dass dies ein natürlicher Entwicklungsprozess ist und Kinder in diesem Prozess vor allem unsere Annahme brauchen, dann können wir diesen vielleicht wesentlich entspannter begleiten.
In Teil III dieses Buches — Ein neues Miteinander — liegt der Fokus auf dem Wechselspiel zwischen den Gefühlen und Bedürfnissen der Eltern und jenen des Kindes. Je besser wir dieses Wechselspiel verstehen, desto einfacher fällt es uns, diese Kräfte miteinander tanzen zu lassen, wodurch ein lebendiges, authentisches, erfüllendes und herausforderndes Miteinander auf Augenhöhe möglich wird.
Teil III:
Ein neues Miteinander
In Beziehung mit Gefühl
In Teil I und Teil II des Buches bin ich sehr ausführlich auf die Qualität und Funktion der einzelnen Gefühle eingegangen. Ich habe erklärt, dass jedes Gefühl eine wichtige Aufgabe hat, wodurch deutlich wurde, weshalb Kinder wie Eltern ihre Gefühle brauchen. In Teil III geht es nun darum, genauer zu verstehen, wie diese Kräfte zusammenwirken, um das zu formen, was Menschen verbindet und Familien im Innersten zusammenhält: unsere Beziehungen.
Wenn wir uns ansehen, was die genaue Funktion der einzelnen Gefühle ist, wird deutlich, dass ihre Aufgabe vor allem sozialer Natur ist. Gefühle formen unser Miteinander. Sie definieren, wie wir mit was und wem in Beziehung stehen. Entscheide ich beispielsweise, dass etwas falsch ist und erzeuge dadurch Wutkraft, definiere ich dadurch eine andere Beziehung, als wenn ich entscheide, dass es richtig oder schön ist.
Im ersteren Fall werde ich Einfluss nehmen. Ich werde versuchen einzugreifen, zu verändern, zu formen. Dies kann zu einem Konflikt führen, muss es aber nicht. Vielleicht ist mein Eingreifen ja sogar willkommen! Endlich tut jemand etwas! In dem Fall wird es von meinem Gegenüber oder einem anderen Beteiligten als richtig interpretiert und dadurch bekräftigt. So formt sich unsere Beziehung weiter. Oder vielleicht wird meine Wutkraft — meine Interpretation — von anderen als falsch verurteilt. Dann kommt es zum Konflikt, was unsere Beziehung in einer anderen Weise formen wird. Im zweiten Fall — wenn ich etwas als schön oder richtig interpretiere und dadurch Freudekraft erzeuge — bekräftige ich das, was da ist, durch meine Wertschätzung und Würdigung.
Nehmen wir ein Beispiel: In einer fiktiven Familie gibt es eine Vereinbarung, dass alle sich pünktlich zu den Mahlzeiten einfinden, damit diese wichtige gemeinsame Zeit einen ruhigen Rahmen hat. Nun kam es in letzter Zeit
wiederholt vor, dass eines der Kinder — ein neunjähriger Junge namens Jan — mittags später als sonst von der Schule nach Hause kam. Auf Nachfrage kam heraus, dass seit Kurzem ein neues Kind in die Klasse gekommen ist, das den gleichen Schulweg wie Jan hat. Die beiden haben es sich zur Gewohnheit gemacht, auf dem Spielplatz haltzumachen und sich auszutoben.
Wenn Mutter oder Vater dies als falsch interpretieren, dann werden sie Wutkraft erzeugen und diese einsetzen, um die Situation zu verändern. Sie werden Jan auffordern, in Zukunft pünktlich zu sein und sich später mit dem anderen Kind zu treffen. Oder sie werden eine andere Lösung suchen. Jans ältere Schwester findet es womöglich richtig, dass die Eltern entsprechend eingreifen, da sie sich auch immer bemüht, pünktlich zum Essen da zu sein, statt nach der Schule noch mit ihren Freundinnen zu quatschen. Hierdurch bekräftigt sie die Wut der Eltern, da ihr Eingreifen ihrem Bedürfnis entspricht — in diesem Fall das Bedürfnis, dass die getroffene Vereinbarung von allen genauso gewürdigt wird wie von ihr. Die jeweils getroffenen Interpretationen formen die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern in diesem Moment. Man könnte auch sagen: Sie positionieren sich zueinander.
Doch spielen wir auch noch eine andere Variante durch: Die Eltern finden es richtig oder schön, dass Jan offenbar einen neuen Freund hat. Bislang war er in seiner Klasse eher ein Außenseiter und hat sich schwer getan, Freunde zu finden. Durch ihre Freude bekräftigen sie Jan darin, dass diese neue Freundschaft wichtig ist und dass er sich dafür Zeit nimmt. Dies kann auch die große Schwester richtig und schön finden — oder eben nicht. Vielleicht freut sie sich, nach der Schule erstmal ihre Ruhe zu haben und mit Mutter oder Vater über erwachsenere Themen zu sprechen, als wenn der kleine Bruder sie gleich nervt. Oder sie findet es falsch — eben weil, wie oben angeführt, sie sich selbst immer Mühe gibt, pünktlich zu sein. In dieser zweiten Variante sehen wir, dass sich die verschiedenen Familienmitglieder auch wieder zueinander — oder besser gesagt: zu dem Verhalten der anderen — positioniert haben und dadurch ihre Beziehung geformt haben. Diese ist dann geprägt von Unterstützung oder Widerstand, von Ermutigung oder von eingreifen und lenken wollen.
Wir könnten jetzt noch beliebig viele Konstellationen durchspielen: Die Eltern finden es falsch, die Schwester ergreift jedoch für den kleinen Bruder Partei, da sie weiß, wie schwer er sich tut, Freunde zu finden. Sie findet also die Wutkraft der Eltern falsch. Vielleicht nutzt sie ihre eigene Wutkraft dann gleich dazu, um das Mittagessen allgemein um eine halbe Stunde nach hinten zu verschieben, da das auch ihrem Bedürfnis entsprechen würde, noch etwas Zeit mit ihren Freundinnen zu verbringen. Jede neue Variante würde zu neuen Positionierungen innerhalb der Familie in dieser einen Situation führen.
Und diese Beispiele bezogen sich bislang noch auf lediglich zwei Gefühlskräfte: Wut und Freude! Viel komplexer wird das Ganze natürlich, wenn wir alle fünf Gefühle miteinbeziehen. Dann haben wir die ganze Klaviatur menschlicher Beziehungskonstellationen vor uns. Und auf dieser spielen wir — zuweilen recht unbedarft — in unserem Tanz der Beziehungen, Bedürfnisse und Gefühle, den wir Leben nennen. Damit aus diesem Zusammenspiel eine Sinfonie und keine Kakofonie wird — auch wenn widerstreitende und gemeinhin als schwierig betrachtete Gefühle im Spiel sind —, braucht es ein bewusstes Verständnis für diese Kräfte, die unsere Beziehungsgefüge definieren.
In jeder der soeben angedachten Konstellationen formen sich die Beziehungen innerhalb der Familie neu oder entwickeln sich weiter. Ein reifer und kraftvoller Zugang zu unseren Gefühlen befähigt uns zu erfüllenden und authentischen Beziehungen, gerade auch in schwierigen Situationen.
Die Rolle der Bedürfnisse
Im oben genannten Beispiel wird immer wieder auf einen wichtigen, jedoch häufig vernachlässigten Faktor im zwischenmenschlichen Bereich eingegangen: unsere Bedürfnisse. Es ist von dem Bedürfnis der Eltern die Rede, einen ruhigen Rahmen für die gemeinsame Mahlzeit zu haben. Es ist von Jans Bedürfnis die Rede, noch Zeit mit seinem neuen Freund zu haben. Und es ist von dem Bedürfnis seiner Schwester die Rede, mit den Eltern ohne den kleinen Bruder
über erwachsene Themen zu sprechen. All diese verschiedenen Bedürfnisse — und in den oben aufgeführten Varianten waren noch einige mehr im Spiel — sind ausschlaggebend dafür, welche Interpretation wir treffen bzw. wie wir uns zu dem Verhalten eines anderen Menschen positionieren.
Welche Interpretationen Menschen treffen, hängt unmittelbar mit ihren Bedürfnissen zusammen. Ob ich eine Situation — wie etwa Jans Zuspätkommen — als richtig oder falsch interpretiere, ist kaum jemals willkürlich. Mal ganz davon abgesehen, dass meine Interpretation meistens völlig unbewusst abläuft, spielen meine eigenen Bedürfnisse eine große Rolle: Ist es mir ein Bedürfnis mit der ganzen Familie gemeinsam zu essen oder nicht? Ist es mir wichtig, dass getroffene Vereinbarungen gewürdigt werden oder nicht? Ist es mir ein Anliegen, dass mein Kind Freunde findet oder lege ich darauf keinen großen Wert?
Der Zusammenhang zwischen Bedürfnis und Interpretation dürfte offensichtlich sein. Weniger offensichtlich ist für die meisten Menschen der große Spielraum, der sich zwischen Bedürfnis, Interpretation und Gefühl auftut. Dadurch, dass sowohl Bedürfnis als auch Interpretation häufig unbewusst sind, folgen sie bei den meisten Menschen vorgefertigten Mustern oder eingefahrenen Abfolgen. Das führt dazu, dass viele Menschen keine Verantwortung für ihre Bedürfnisse, ihre Interpretationen oder ihre Gefühle übernehmen. Spricht man sie darauf an, erntet man bestenfalls noch ein ratloses Schulterzucken nach dem Motto: “ Na und, ich fühl halt so, kann ich doch nichts dafür.” Und in diesem Niemandsland des Bewusstseins spielen sich genau jene Prozesse ab, die in zwischenmenschlichen Beziehungen immer wieder für unnötige Schwierigkeiten sorgen.
Zu einem gewissen Grad stimmen sie sogar, dieses ratlose Schulterzucken und diese Behauptung, dass man halt so fühlt. Wenn wir uns die Funktionsweise unseres Gehirns genauer betrachten, erkennen wir, dass es dort tatsächlich eingefahrene Autobahnen gibt, entlang derer innerhalb von Millisekunden immer wieder aufs Neue die gleichen Muster abgespult werden. Bestimmte eingefahrene Abfolgen von “Situation — Bedürfnis — Interpretation — Gefühl”
sind zuweilen so schnell, dass wir erst, wenn alles vorbei ist, merken, was da überhaupt iert ist. Das ist an sich auch nicht gut oder schlecht. Manche dieser Muster funktionieren vielleicht sehr gut und sorgen für einen hohen Grad an Zufriedenheit in unseren Beziehungen und damit in unserem Leben. Andere Muster funktionieren womöglich weniger gut, weshalb es wiederholt zu unbefriedigenden und schmerzhaften Konflikten kommt.
Dank der modernen Hirnforschung weiß man inzwischen jedoch auch, dass diese Autobahnen sich im Laufe der Zeit verändern können oder sich sogar ganz neue Verbindungen bilden können. Doch das geschieht nicht von jetzt auf gleich. Das Gehirn ist zwar in einem nie endenden Lern- und Entwicklungsprozess, doch dieser vollzieht sich langsam. Nur Verknüpfungen, die immer wieder und wieder aktiviert werden, bilden sich zu tragfähigen Verbindungen und werden schließlich zu neuen Autobahnen. Uns dies bewusst zu machen, hilft uns zu verstehen, warum manche Veränderungen im Denken, Fühlen und Handeln länger dauern, als uns lieb ist. Und es hilft uns auch, geduldig mit uns zu sein, wenn wir uns zum gefühlt dreitausendsten Mal in der gleichen Schlaufe ertappen.
Bedürfnisse und Beziehungen
Um Licht in das Dunkel unserer automatisierten Abläufe zu bringen, ist es gut, ein paar Dinge zu klären: Unsere Bedürfnisse sind das, worum es uns in Beziehungen eigentlich geht. Genauso geht es den anderen um ihre Bedürfnisse. Nun ist es ja so, dass Bedürfnisse an sich in Beziehungen nicht zwangsläufig ein Problem darstellen müssen. Im Gegenteil: Es gibt doch fast nichts Schöneres, als wenn ein Mensch etwas braucht und ich das Bedürfnis habe, es ihm oder ihr zu geben. Ich habe zum Beispiel eine liebe Freundin, die sehr gerne für andere Menschen kocht. Ich lasse mich zufällig sehr gerne bekochen. Oder ich habe gerade das Bedürfnis, durch dieses Buch anderen Menschen mitzuteilen, was ich über Gefühle, Bedürfnisse und Beziehungen gelernt habe. Wenn Eltern gerade das Bedürfnis haben, darüber etwas zu erfahren und dazu ein Buch zu lesen, stimmen unsere Bedürfnisse ebenso überein. Es herrscht Bedürfniskompatibilität
— also meine Bedürfnisse und die des anderen en zueinander wie ein Topf und sein Deckelchen. Wie schön!
Schwierig wird es bekanntermaßen erst dann, wenn meine Bedürfnisse in scheinbarem oder tatsächlichem Konflikt mit den Bedürfnissen des anderen stehen. Und genau hier brauchen wir ja dann unsere Gefühlskräfte. Diese sind in uns angelegt, damit wir klar für unsere Bedürfnisse einstehen können (Wut), annehmen können, wenn wir nicht bekommen was wir wollen (Trauer), damit umgehen können, wenn wir nicht wissen, ob unsere Bedürfnisse einen Raum haben (Angst), uns selbst zu reflektieren, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen (Scham), und zu würdigen, wenn wir es bekommen (Freude).
Zunächst mag es etwas egoistisch klingen, Beziehungen auf Bedürfnisbefriedigung zu reduzieren. Doch für mich gehört zu Bedürfnissen auch der Wunsch, dass es den von mir geliebten Menschen gut geht, oder der Wunsch nach harmonischen Beziehungen — Neigungen, die man sonst eher als selbstlos bezeichnen würde. Auch der Wunsch, unsere Gaben mit anderen Menschen zu teilen, ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis.
Damit harmonische Beziehungen möglich werden, auch wenn gerade keine Bedürfniskompatibilität gegeben ist, muss ich lernen, die Bedürfnisse anderer fast genauso wichtig zu nehmen, wie meine eigenen. Diese Fähigkeit könnte man als soziale Kompetenz bezeichnen.
Was ist soziale Kompetenz?
In den letzten Jahren wird vermehrt über soziale Kompetenz oder die so genannten “soft skills” gesprochen, weil deutlich wurde, dass diese Fähigkeiten einen weitaus größeren Beitrag zur Zufriedenheit, aber auch zum Erfolg eines Menschen leisten, als bisher angenommen wurde. Traditionell war die Familie
mit der Entwicklung dieser wichtigen Kompetenz betraut bzw. wurde davon ausgegangen, dass diese sich von selbst irgendwie nebenbei entwickelt.
Dies erklärt auch, weshalb deren Förderung in unserem Bildungssystem bislang immer noch sträflich vernachlässigt wird. Erst seit relativ kurzer Zeit gibt es Diskussionen darüber, ob die Familie vielleicht mit dieser Aufgabe überfordert ist. Doch was ist soziale Kompetenz überhaupt?
Eine meiner Meinung nach recht brauchbare Definition sozialer Kompetenz stammt aus dem Lehrbuch “Psychologie der Persönlichkeit” von Jens Asendorpf: “ Demnach setze sich die soziale Kompetenz aus zwei Komponenten zusammen, Konfliktfähigkeit und Kooperationsbereitschaft. Sozial kompetente Menschen verfügten demnach über die seltene Gabe, diese zwei eher gegensätzlich scheinenden Verhaltensweisen situativ so einzusetzen, dass es ihnen möglich wird, eigene Ziele innerhalb sozialer Beziehungen zu erreichen, ohne die Beziehung zu gefährden. Somit sei soziale Kompetenz als der optimale Kompromiss zwischen Selbstverwirklichung und sozialer Verträglichkeit zu sehen. ” [5]
Doch wie erlangt man diese angeblich so seltene Gabe? Der Schlüssel liegt in unseren Gefühlskräften.
Gefühle und soziale Kompetenz
Unsere Gefühle befähigen uns dazu, für uns einzustehen (Wut), Bedürfnisse loszulassen (Trauer), uns auf das Unbekannte einzulassen (Angst), uns selbst zu reflektieren (Scham) und wertzuschätzen (Freude). Damit diese sich ganz entfalten können, brauchen Kinder und Jugendliche Situationen, in denen sie mit Bedürfniskonflikten konfrontiert sind. Wie genau aus Bedürfniskonflikten soziale Kompetenz entsteht, möchte ich im Folgenden erläutern. Denn wenn wir
diesen Mechanismus verstanden haben, können wir zunehmend entspannt mit solchen Situationen umgehen.
Es gibt im Grunde genommen zwei Möglichkeiten, auf Bedürfniskonflikte zu reagieren: Gewalt oder Kreativität. Der Weg der Gewalt führt häufig zu einer Abwärtsspirale, bei der am Ende meist für alle Beteiligten mehr verloren als gewonnen wurde. Gewalt — sei es physische, verbale oder emotionale — wird in dem Fall gewählt, wenn es an sozialer Kompetenz fehlt. Der Weg der Kreativität wird dann nicht als Alternative wahrgenommen, obwohl er ausnahmslos zu erfüllenderen, befriedigenderen und nachhaltigeren Lösungen führt als der Weg der Gewalt.
Um bei dem zuvor angeführten Beispiel zu bleiben: Noch vor ein oder zwei Generationen wäre der gewalttätige Weg der Konfliktbehebung selbstverständlich gewesen. Die Mutter oder wahrscheinlich noch eher der Vater hätten ihre Macht dazu eingesetzt, Jan klarzumachen, dass er gefälligst in Zukunft pünktlich zu Hause zu sein habe. Es hätte vermutlich noch nicht einmal die Notwenigkeit oder das Interesse bestanden, Jan nach den Gründen für seine Verspätung zu fragen. Das Prinzip “Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst ...” hätte völlig ausgereicht, um jeden Konflikt scheinbar aus der Welt zu räumen. Hier ist Wutkraft gepaart mit einem Absolutheitsanspruch am Werk. Eine solche Wutkraft sieht sich berechtigt, die eigenen Interessen auch mit Gewalt durchzusetzen, denn sie sind ja absolut richtig. Es ist genau dieser Ausdruck, der Wut so einen schlechten Namen gegeben hat.
Kreativität als Antwort auf einen Bedürfniskonflikt bedeutet, dass nach Lösungen gesucht wird, welche die größtmögliche Zufriedenheit aller Beteiligten erreichen. Solche Lösungen nenne ich gerne “Verbindende Lösungen”, da sie die Bedürfnisse aller verbinden. Sie unterscheiden sich vom klassischen Kompromiss darin, dass dieser häufig einen fahlen Beigeschmack hat — weil keiner wirklich mit der Lösung glücklich ist. Nicht umsonst ist eine der ersten Assoziationen mit dem Wort “Kompromiss” der Ausdruck “fauler Kompromiss”.
Bei verbindenden Lösungen einigt man sich nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern man nutzt das Energiepotenzial von Konflikten für einen kreativen und kooperativen Quantensprung. Wenn es gut läuft, ist das Ergebnis besser als der Status Quo vor dem Konflikt.
Damit dies möglich wird, müssen wir kreativ werden und über unseren eigenen Tellerrand hinausblicken. Das gelingt nur, wenn zumindest einer der Beteiligten fähig ist, die Bedürfnisse des oder der anderen wirklich zu begreifen. Sonst wird es ihm nicht möglich sein, gangbare Lösungen zu entwickeln. Natürlich wird dieser Prozess enorm erleichtert, wenn alle Beteiligten gut darin sind, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen, auszudrücken und auch die der anderen zu hören.
Sehr schwierig wird es — wie es leider häufig der Fall ist —, wenn einer oder mehrere Beteiligte nicht klar wissen, was sie wollen oder das nicht deutlich ausdrücken, übrigens ein Zeichen mangelnder Wutkraft. Genauso schwierig wird es, wenn es an Fähigkeit oder Bereitschaft fehlt, die Bedürfnisse der anderen zu hören, vor allem wenn sie auf den ersten oder auch den zweiten Blick nicht mit den eigenen kompatibel sind. Um dazu fähig zu sein, brauchen wir zunächst unsere Angstkraft. Sie hilft uns, der Ungewissheit ins Auge zu sehen, ob es zwischen dem eigenen Bedürfnis und dem des anderen eine verbindende Lösung geben wird. Damit ist sie der Schlüssel zu Kreativität.
Wenn wir außerdem noch gut mit Trauer- und mit Schamkraft gerüstet sind, fällt es uns umso leichter, uns auf das Wagnis des Unbekannten einzulassen: Wir wissen, dass wir im Zweifelsfall fähig sein werden, das Nichtzustandekommen einer verbindenden Lösung zu betrauern und damit anzunehmen. Und wir wissen auch, dass wir durch unsere Schamkraft fähig sind, uns selbst zu hinterfragen.
Und natürlich brauchen wir unsere Freude, um unsere eigenen Bedürfnisse und die des anderen zu würdigen. Sie hilft uns außerdem anzuerkennen, wie schön und richtig es ist, sich die Zeit zu nehmen, verbindende Lösungen zu entwickeln, statt auf Patentlösungen zurückzugreifen. Denn wir wissen: jedes Mal, wo es uns gelingt, gemeinsam mit dem Kind eine gute Lösung zu finden, ist unsere Beziehung ein kleines bisschen stärker geworden. Und das ist wunderschön.
[5] Jens Asendorpf: Psychologie der Persönlichkeit. 4. Auflage. Springer, Berlin 2007
Wie entsteht soziale Kompetenz?
Wenn wir uns bewusst machen, wie komplex die Herausforderungen sozialer Konfliktsituationen sind, so scheint es wiederum wenig verwunderlich, dass soziale Kompetenz als “seltene Gabe” bezeichnet wird. Und wenn man sich so umsieht in der Welt — sei es im Kleinen oder im ganz Großen — so sieht man schnell, dass es daran offenbar wirklich mangelt.
Viele Menschen sehnen sich nach Alternativen zum gewaltvollen Konfliktlösungsansatz, wenige sind in der Lage, diesen konsequent zu wählen. Wenn uns klar ist, dass dies nicht — wie so oft unterstellt wird — ein Ausdruck mangelnder Bereitschaft ist, sondern vielmehr ein Ausdruck mangelnder Kompetenz, dann verstehen wir auch die Dringlichkeit, diese Fähigkeit zunehmend auszubilden.
Und noch etwas wird mit Blick auf die Komplexität sozialer Kompetenz deutlich: Sie lässt sich nicht theoretisch vermitteln, sie muss in vielfältigen Situationen immer wieder aufs Neue erprobt, erforscht, weiterentwickelt und verfeinert werden. Die notwendigen Gefühlskräfte bilden sich über einen mehr als zehn Jahre dauernden Reifeprozess zu dem Entwicklungsstadium aus, das uns auch in schwierigen Situationen nicht im Stich lässt, sondern zu konstruktiven Lösungen beiträgt. Damit sich ein solcher Entwicklungsprozess vollziehen kann, braucht es die wiederholte Erfahrung von Bedürfniskonflikten, die konstruktiv, kreativ und auf Augenhöhe gelöst werden. In diesen müssen Kinder wie Jugendliche in wachsendem Ausmaß eingebunden werden, wie es ihrem Entwicklungsstand entspricht.
Dieser Prozess kann in drei Stufen beschrieben werden: eigene Bedürfnisse wahrnehmen und artikulieren lernen. Die Bedürfnisse anderer anerkennen lernen. Selbst aktiv, konstruktiv und kreativ zur Findung einer verbindenden
Lösung beitragen. Sehen wir sie uns nacheinander an und beleuchten vor allem, welchen Beitrag wir als Eltern im jeweiligen Stadium leisten können, um die Entwicklung dieser wichtigen Fähigkeiten zu unterstützen.
Drei Lernschritte bei der Entwicklung sozialer Kompetenz:
1. die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und artikulieren
2. die Bedürfnisse anderer anerkennen
3. aktiv, konstruktiv und kreativ verbindende Lösungen (mit)entwickeln
Lernschritt 1: Die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken
Kinder kommen mit dieser Fähigkeit zur Welt. Das weiß jeder, der mal mehr als flüchtigen Kontakt mit einem Säugling hatte. Dieser weiß nicht nur, was er will (auch wenn er es nicht bewusst wahrnehmen kann), er hat auch keinerlei Probleme damit, sein Bedürfnis kundzutun. Eher im Gegenteil. Ein Baby kann gar nicht anders, als seine Bedürfnisse der Welt mitzuteilen. Doch diese angeborene Fähigkeit geht für viele Menschen im Laufe ihres Lebens verloren.
Je älter das Kind wird, desto mehr wird es sich auch der Tatsache bewusst, dass die eigenen Bedürfnisse im Widerspruch zu denen anderer Menschen stehen
können. Ein Beispiel sind die berühmten Sandkastenprügeleien, bei denen sich angeblich auch Eltern regelmäßig in die Haare kriegen. Viel bedrohlicher als ein Bedürfniskonflikt mit einem Gleichaltrigen ist es jedoch für Kinder, wenn ihre Bedürfnisse nicht mit denen der Eltern zusammenen.
Im Fall von Jan in unserer Geschichte ist es vielleicht das Bedürfnis, die neu aufkeimende Freundschaft zu pflegen. Oder nach der Schule ein bisschen abzuschalten und frische Luft zu schnappen. Je nachdem, welche Erfahrungen Jan bislang mit seinen Eltern gemacht hat, wird es ihm leichtfallen, diese Bedürfnisse erstens wahrzunehmen und zweitens zu artikulieren — oder eben nicht.
Wenn Jans Familie über eine hohe soziale Kompetenz verfügt, dann werden sie den Bedürfniskonflikt als Einladung wahrnehmen, gemeinsam eine neue Lösung zu finden. In diesem Fall wird Jan keine Schwierigkeiten haben, sich mitzuteilen. Er wird auf viele Erfahrungen zurückgreifen können, aus denen er weiß, dass sie eine gute Lösung finden werden. Er wird auch seine Eltern und seine ältere Schwester immer wieder erlebt haben, wie sie ihre Bedürfnisse ausdrücken.
Wenn Jan allerdings immer wieder gesehen hat, dass Bedürfniskonflikte zu Verurteilung, Zurückweisung oder Streit führen, wird es für ihn wesentlich schwieriger sein, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen oder gar zu äußern. In diesem Fall wird er die aktive Unterstützung brauchen, um es zu erlernen.
Wie wir als Eltern Lernschritt 1 unterstützen können
Als Eltern können wir viel tun, um Kinder in Lernschritt 1 zu unterstützen — oder diesen Lernschritt zu verhindern. Der Kasten gibt Überblick über fünf Möglichkeiten, Kinder mit diesem wichtigen Schritt nicht allein zu lassen.
Möglichkeiten, Lernschritt 1 zu unterstützen im Überblick:
1. Nach den Bedürfnissen des Kindes fragen
2. Deutlich machen, dass Bedürfniskonflikte kein Problem sind
3. Probeformulierungen als Frage anbieten
4. Lösungsvorschläge antesten
5. Vorbild sein: die eigenen Bedürfnisse ausdrücken
1. Nach den Bedürfnissen des Kindes fragen
Im Fall von Jan könnten seine Eltern ihn fragen, was er sich wünscht, und dies auf eine Art tun, die signalisiert, dass sie auch bereit sind, abweichende Bedürfnisse anzunehmen. Oder sie können, wie bei dem Beispiel von Florian und seiner Gemüsesuppe, selbst eine Bedürfnisformulierung anbieten. Das macht natürlich nur Sinn, wenn das Bedürfnis auf der Hand liegt.
2. Deutlich machen, dass Bedürfniskonflikte kein Problem sind
Hierbei können Sätze helfen wie zum Beispiel: “ Damit wir eine Lösung finden können, die für alle funktioniert, müssen wir erst mal wissen, was sich jeder von uns wünscht.” Das ist Lichtjahre entfernt von: “Was soll das? Warum bist du schon wieder zu spät gekommen?” oder “ Die Kinder in Afrika wären froh, wenn sie so etwas zu essen hätten.”
3. Probeformulierungen als Frage anbieten
Manchmal wird auch die Nachfrage nicht zu einer befriedigenden Antwort führen — oft weil dem Kind selbst nicht klar ist, was es will. In dem Fall können wir es unterstützen, indem wir versuchen, sein Bedürfnis zu erraten, und ihm so eine Formulierung anbieten. Zum Beispiel: “Kann es sein, dass du nach der Schule einfach noch ein bisschen Zeit zum Abschalten brauchst?” Oder: “ Ist es so schön mit deinem neuen Klassenkameraden zu spielen, dass du einfach die Zeit vergisst?”
4. Lösungsvorschläge testen
Manchmal kann auch das Testen von Lösungsvorschlägen Aufschluss über die Bedürfnisse geben. Diese kann man testen mit Sätzen wie: “Würde es dir helfen, pünktlich zu kommen, wenn wir das Essen eine Viertelstunde später machen?” oder: “ Würde es das Problem lösen, wenn du deinen neuen Freund einfach mal zum Spielen einladen würdest?” Ob die getestete Lösung Widerstand oder Freude auslöst, gibt Aufschluss über die Bedürfnisse des Kindes.
5. Vorbild sein: die eigenen Bedürfnisse ausdrücken
Natürlich ist die beste Methode, einem Kind beizubringen, seine Bedürfnisse auszudrücken, wenn man es selbst tut. Das ist auch für Lernschritt 2, Bedürfnisse der anderen anerkennen, von übergeordneter Bedeutung. Da dies jedoch auch vielen Erwachsenen — und vor allem Eltern — erstaunlich schwerfällt, gibt es vorweg noch zwei Übungsvorschläge, wie diese verloren gegangene Fertigkeit wieder aktiviert werden kann.
Übung 1: Bedürfnisse bewusst wahrnehmen
Mache es dir für eine Woche zur Angewohnheit, mehrmals täglich kurz innezuhalten und dich zu fragen: “Was sind gerade meine Bedürfnisse? Was würde ich mir gerade wünschen?”
Nimm es einfach zur Kenntnis. Gehe an diese Fragen mit der Neugier und Objektivität eines Forschers heran. Nimm die Antworten, die in dir auftauchen, nicht zu ernst. Schau, ob es dir gelingt, sie mit einer gewissen Leichtigkeit zu betrachten und dann wieder loszulassen. Bei dieser Übung geht es zunächst nur darum, es dir zur Angewohnheit zu machen, deinen Bedürfnissen Aufmerksamkeit zu schenken.
Übung 2: Bedürfnisse kommen lassen
Diese Übung kannst du zusätzlich oder anstelle von Übung 1 machen. Du brauchst dafür ein einfaches Schreibheft.
Für mindestens eine Woche, nimm dir täglich etwa 5-10 Minuten Zeit. Setze dich mit deinem Heft und einem Stift an einen Ort, an dem du ungestört bist, und schreibe oben auf die erste Seite den Satzanfang “Ich will ...”. Darunter schreibst du dann in Stichpunkten alle Vervollständigungen dieses Satzes, die dir spontan und unzensiert einfallen. Lass so weit wie möglich die Kontrolle über deine Gedanken los, diese Worte sind nur für dich und schreibe einfach, was dir in den Sinn kommt. Es kann etwas ganz Großes sein, wie ein neues Zuhause, oder etwas ganz Kleines, wie ein Stück Schokolade. Es kann etwas sein, mit dem du — nüchtern betrachtet — einverstanden bist, oder etwas, das du dir eigentlich gar nicht wünschst.
Ziel der Übung ist es, auf diese Weise unseren Willen zu klären. Da die meisten von uns recht früh gelernt haben, den eigenen Willen zu unterdrücken, brauchen wir solche Übungen, um den inneren Zugang zu unseren Bedürfnissen wieder freizuschaufeln bzw. im Gehirn die entsprechenden synaptischen Verbindungen wiederherzustellen.
Wie Lernschritt 1 verhindert wird
Bevor wir uns nun Lernschritt 2 zuwenden, scheint es sinnvoll zu beleuchten, wie Lernschritt 1 häufig verhindert wird. Dies geschieht vor allem dadurch, dass Kindern bewusst oder unbewusst beigebracht wird, dass ihre Bedürfnisse unwichtig sind. Dies ist ein klassisches Lernziel herkömmlicher patriarchaler Erziehungsansätze. Früher war es ja sogar erklärtes Ziel der körperlichen Züchtigung, den Willen des Kindes zu brechen und es gefügig zu machen. Und auch wenn diese Einstellung heutzutage nicht mehr salonfähig ist, spukt sie immer noch durch die Weiten unseres kollektiven Unterbewusstseins. Bei dem Negativbeispiel von Florian und seiner Gemüsesuppe wurde auch deutlich, wie leicht es uns iert, dass wir Kindern beibringen, dass ihre Bedürfnisse unwichtig sind, indem wir sie für diese verurteilen, beschämen oder lächerlich
machen.
Eltern, deren Bedürfnisse nicht ernst genommen wurden, als sie selbst Kinder waren, gibt es zuhauf. Besser gesagt: Ich kenne sehr wenige Erwachsene, deren Bedürfnisse, als sie selbst Kind waren, ernst genommen wurden. Es ist eine Herausforderung, diesen Automatismus nicht an die Kinder weiterzugeben. Immer wieder wird eine Stimme in unserem Kopf auftauchen, die unsere Kinder heftig verurteilt und angreift, wenn sie Bedürfnisse artikulieren. Es werden Sätze auftauchen wie: “Man kann eben nicht immer alles haben was man will, das muss sie/er lernen.” Oder: “ Wenn ich ihm das jetzt durchgehen lasse/ihm seinen Wunsch erfülle, dann verwöhne ich ihn.” Oft ist es so, dass der Freimut, mit dem Kinder ihre Bedürfnisse äußern, an die Schmerzen und aufgestauten Emotionen unserer eigenen unerfüllten Bedürfnisse rührt. Wenn wir uns diesem Ballast nicht liebevoll zuwenden, wird es uns nicht gelingen, zugleich authentisch zu sein und unseren Kindern die Kenntnisnahme und den Ausdruck ihrer Bedürfnisse zuzugestehen.
Lernschritt 2: Die Bedürfnisse anderer anerkennen
Beziehung auf Augenhöhe entsteht da, wo die Wahrnehmung von und die Fürsorge für die eigenen Bedürfnisse in einem gesunden, dynamischen Gleichgewicht mit der Wahrnehmung von und der Fürsorge für die Bedürfnisse der anderen steht. Damit dies gelingen kann — also damit diese beiden Pole in ein gesundes Gleichgewicht gebracht werden können —, müssen wir in der Lage sein, beides wahrzunehmen. Und das ist leichter gesagt als getan. Es gibt viele Erwachsene, die das nicht können. Zugleich kenne ich mittlerweile ein paar Kinder, die diese wichtige Fähigkeit aufgrund der sozialen Kompetenz ihres Umfelds ganz natürlich entwickelt haben. Und ich kenne Kinder, die ihre Umgebung in der Entwicklung von sozialer Kompetenz unterstützen, indem sie rigoros einfordern, dass gefälligst so und nicht anders miteinander umgegangen wird.
Ging es in Lernschritt 1 also darum zu lernen, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, geht es in Lernschritt 2 darum, die Bedürfnisse der anderen neben den eigenen Bedürfnissen anzuerkennen.
Was Lernschritt 2 zuweilen schwierig macht
Meistens ist es so, dass, wenn Lernschritt 1 schwierig war, Lernschritt 2 weniger schwierig ist und umgekehrt. Es ist ganz logisch: Menschen, die keine Schwierigkeiten haben, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken, sind oft nicht so gut darin, die Bedürfnisse anderer anzuerkennen. Umgekehrt ist es für Menschen, die sich ständig sehr der Bedürfnisse aller anderen bewusst sind, viel schwieriger, sich über ihre eigenen Bedürfnisse klar zu werden.
Es lässt sich leider auch nicht leugnen, dass es hier eine Geschlechtergrenze gibt, die uns — ob aufgrund von Prägung oder Sozialisierung oder beidem — eher in die eine oder in die andere Richtung tendieren lässt. Um es klar zu sagen: Männer sind oft besser darin, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken, Frauen hingegen die der anderen. Doch das soll keine Entschuldigung sein oder gar durch Schubladendenken alte Vorurteile aufwärmen. Es kann nur hilfreich sein, sich selbst ehrlich anzugucken, wo die eigenen Stärken und Schwächen in Bezug auf Bedürfnisanerkennung liegen.
Was Kinder betrifft, so kommen sie zwar mit der Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse kundzutun, auf die Welt, die Bedürfnisse anderer anzuerkennen ist ihnen jedoch nicht in die Wiege gelegt. Es ist als Potenzial angelegt, entfaltet sich wie so vieles jedoch nur, wenn es entsprechend gefördert und gefordert wird. Das geschieht zum Beispiel durch Eltern, die gut darin sind, klar ihre eigenen Bedürfnisse auszudrücken — allerdings ohne sie dem Kind aufzuzwingen.
Mit der Entwicklung mitgehen
Anspruchsvoll wird die Begleitung dieses Prozesses für Eltern vor allem dadurch, dass die Fähigkeit des Kindes, die Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen, in dem Maße steigt, wie es auch fähig ist, auf diese einzugehen. Ist ja eigentlich logisch: Solange das Kind nicht auf andere Rücksicht nehmen kann, da es selbst ein einziges Bedürfnispaket ist, macht es wenig Sinn, die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen. In dem Maße, wie seine Fähigkeit zunimmt, die eigenen Bedürfnisse auch mal zurückzustellen oder anderweitig zu befriedigen, kann und muss es auch lernen, die Bedürfnisse anderer anzuerkennen.
Diese Entwicklung geschieht, so wie eigentlich alle großen Entwicklungen im Menschen, in winzig kleinen Schritten. Normalerweise wird dies als der Weg des Kindes in die Unabhängigkeit betrachtet. Ich betrachte ihn lieber als den Weg des Kindes in die Beziehungsfähigkeit. Unabhängigkeit bedeutet: Das Kind braucht uns nicht mehr. Beziehungsfähigkeit bedeutet: Das Kind lernt, dass es nicht nur selbst auf andere angewiesen ist, sondern andere auch auf das Kind. Dieses Lernen ist überaus wichtig — schließlich wird es sich damit auch seiner Verantwortung als menschliches Wesen gegenüber seinen Mitmenschen genau in dem Maße bewusst, wie es diese auch tragen kann.
Für Eltern bedeutet das, dass sie zunächst, mit Geburt des Kindes, von einem Tag auf den anderen die eigenen Bedürfnisse zu 100 % denen des Nachwuchses unterordnen müssen. Das gelingt den meisten Eltern ziemlich gut, was vermutlich daran liegt, dass sie in dieser Zeit in einem starken Hormonrausch sind, der die Glücksgefühle frischer Verliebtheit an Intensität noch einmal um ein Vielfaches übersteigt. In diesem Rausch ist vieles möglich und wird sogar mit Freude getan, was sonst nicht leistbar wäre.
Wenn Eltern dennoch bemerken, dass sie an ihre Grenzen kommen und irgendwo massive Bedürfnisdefizite aufbauen, müssen sie sich an andere
Erwachsene oder Heranwachsende wenden, um Unterstützung zu bekommen. Von dem Baby können und dürfen sie das nicht erwarten. Gerade weil das Baby so abhängig ist, ist es in dieser Phase extrem wichtig, dass es keine größere Bedürfnisfrustration erlebt.
Danach braucht es allerdings einen Prozess, in dem das Kind Schritt für Schritt mit der Tatsache vertraut gemacht wird, dass andere Menschen genauso Bedürfnisse haben, die wichtig sind — vor allem auch die eigenen Eltern.
Wie wir als Eltern Lernschritt 2 unterstützen können
Dafür braucht das Kind Eltern, die nach und nach mehr die eigenen Bedürfnisse kommunizieren und gleichwertig neben die des Kindes stellen. Dies muss mit ganz kleinen Schritten beginnen — zum Beispiel bei einem Einjährigen, der begeistert Bücher aus dem Regal zieht und ausprobieren möchte, ob alle gleich klingen, wenn man ihnen Seiten rausreißt, und bei einem Vater, der das Bedürfnis hat, dass seine Bücher intakt bleiben. Bereits hier kann er mit der Kommunikation eines Bedürfnisses beginnen, indem er sagt: “ Das mag ich nicht. Das sind meine Bücher, die mag ich gerne, und wenn du das machst, gehen sie kaputt. Deshalb mag ich das nicht.”
Wenn es sich bei unserem Beispielbaby um einen typischen Einjährigen handelt und nicht um die Reinkarnation von Gandhi, wird er seinen Vater vermutlich mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund verwundert ansehen, nur um sich dann erneut seinem aktuellen Projekt zuzuwenden. Das ist normal. Etwas anderes zu erwarten wäre absurd, schließlich wird das Baby zum ersten Mal mit der Tatsache konfrontiert, dass auch Papa Bedürfnisse hat und dass diese Bedürfnisse Papa wichtig sind.
Als nächsten Schritt würde ich anstelle des Vaters das Kind liebevoll
hochnehmen — was vielleicht Protestgeschrei hervorrufen wird — und ihm die Altpapierkiste anbieten. Ich würde ihm zeigen, dass es dort auch viele verschiedene Papiersorten zum Zerreissen gibt: alte Rechnungen, dünnes billiges Papier von der Postwurfsendung des Discounters um die Ecke, der sich nicht um den “Werbung nein Danke” Aufkleber auf dem Briefkasten schert, und vielleicht auch das etwas festere Hochglanzpapier eines alten Magazins.
Wenn ich Glück habe, stürzt der Kleine sich mit Wonne in diese neuen Schätze. Wenn nicht, wird er schnurstracks zu meinem Bücherregal zurückkrabbeln und da weitermachen, wo er aufgehört hat. Ich würde das mit der gleichen Erklärung noch ein paar Mal probieren. Sollte es sich wirklich als dringliches Bedürfnis meines Sprösslings herausstellen, Bücher aus Regalen zu ziehen und sie zu zerreißen (ein Bedürfnis, das anscheinend erstaunlich viele Babys haben), dann würde ich meine geliebten Bücher außer Reichweite räumen und unten ein Fach mit alten Telefonbüchern und anderen Flohmarktbüchern einrichten, die getrost zerrissen werden dürfen.
Durch diese Schritte würdige ich das Bedürfnis des Babys genau wie meine eigenen. Ich stelle nicht mein Bedürfnis über das des Babys oder umgekehrt. Die Aufgabe, eine verbindende Lösung für den Bedürfniskonflikt zu finden, liegt in dem Fall jedoch bei mir, da das Baby das noch nicht kann. Wie sollte es auch! Es weiß vermutlich nichts von der Existenz der Altpapierkiste, genauso wenig wie von der Existenz alter Telefonbücher. Indem der Vater jedoch angefangen hat, sein Bedürfnis zu kommunizieren und dann Schritte einzuleiten, damit dieses gewürdigt wird, lernt das Baby auf ganz natürliche Art, dass auch Papa Bedürfnisse hat.
Diese Kommunikation wird, je älter das Kind wird, nicht nur immer häufiger vorkommen, sondern auch immer größere Themenbereiche umfassen. Bis das Kind schließlich in der Pubertät mit der ganzen Bandbreite elterlicher Bedürfnisse vertraut ist bzw. diese auch kommuniziert bekommt. Damit es lernt, diese anzuerkennen, brauchen Eltern ihre Wutkraft, um die eigenen Bedürfnisse immer wieder deutlich zu artikulieren, auch wenn sie nicht sofort gehört werden.
Denn auch das hört nicht auf. Genau wie das Baby nicht sofort verständnisvoll nickt und die Bücher zurück in das Regal räumt, so wird der Teenager nicht von sich aus jeden Tag gewissenhaft die Wohnung staubsaugen, nur weil die Mutter das Bedürfnis nach einer gemeinsam sauber gehaltenen Wohnung kundgetan hat. Und es braucht die Erfahrung, dass die Bedürfnisse der Eltern nicht über die eigenen hinweggehen, wie wenn dem Baby einfach sein Spiel genommen wird, sondern nach verbindenden Lösungen gesucht wird.
Das führt uns direkt zu Lernschritt 3: aktiv, konstruktiv und kreativ verbindende Lösungen (mit)entwickeln. Zuvor möchte ich jedoch noch genauer beleuchten, wie Lernschritt 2 häufig verhindert wird, und noch einen Übungsvorschlag machen, um unsere eigene Fähigkeit zu schärfen, die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen.
Wie Lernschritt 2 verhindert wird
Viele Kinder erfahren diesen Prozess nie, da die Eltern gar keine Notwendigkeit sehen, ihre eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren. Auf die dahinterliegenden Gründe bin ich im Laufe des Buches vielfach eingegangen: entweder weil sie sich lieber hinter Absolutheitsansprüchen verstecken (z.B.: “ Kinder sollten abends früh zu Bett gehen”) oder weil sie nie aus der Rolle herauskommen, die eigenen Bedürfnisse komplett denen des Kindes unterzuordnen. Beides sind Konfliktvermeidungsstrategien, die uns vielleicht kurzfristig das Leben erleichtern, für die wir auf lange Sicht jedoch einen hohen Preis bezahlen. Sie verhindern erstens, dass unser Nachwuchs soziale Kompetenz entwickelt, was langfristig sehr unangenehm wird. Und zweitens leidet unsere Beziehung zu unseren Kindern sehr darunter — sei es, weil sie von offenen Machtkämpfen oder versteckten Sabotageakten zerrüttet wird, sei es, weil wir uns zum Lakai unserer Kinder degradieren.
Im ersten Fall wird der Konflikt vermieden, weil Absolutheitsansprüche als eine Art höheres Gesetz herangezogen werden, wodurch weder die Bedürfnisse des
Kindes noch die des Erwachsenen wirklich eine Rolle spielen. Um bei dem bereits zuvor erwähnten Beispiel der Bettgehzeit zu bleiben: Durch den Absolutheitsanspruch, Kinder sollten früh zu Bett gehen, erübrigt sich jede Frage danach, ob die Kinder vielleicht noch aufbleiben wollen oder die Erwachsenen das Bedürfnis nach einem ruhigen Abend für sich haben. Es entbrennen leicht Machtkämpfe über die Richtigkeit bestimmter Regeln und den Anspruch, sie durchzusetzen. Diese Kämpfe kosten viel Energie, Zeit und Kraft — und gehen meistens völlig an den Bedürfnissen aller Beteiligten vorbei.
Im zweiten Fall wird der Konflikt vermieden, indem dem Kind alles recht gemacht wird. Das kann als Erziehungsideal gesehen werden, wie es zuweilen dem Ansatz der antiautoritären Erziehung unterstellt wird. Es kann jedoch auch einem schieren Unvermögen der Eltern entspringen, für ihre eigenen Bedürfnisse einzustehen (Lernschritt 1). Bezogen auf das Beispiel Bettgehzeit heißt das oft: Kinder dürfen so lange aufbleiben, wie sie wollen, auch wenn das bedeutet, dass die Erwachsenen keinen Raum für sich haben, um den Tag ausklingen zu lassen. Das schadet beiden: den Kindern, weil sie ohne die Bedürfnisse anderer keinen Referenzrahmen für ihre eigenen Bedürfnisse haben, und den Eltern, weil sie ständig zu kurz kommen, wodurch sie über kurz oder lang enorme Aggressionen aufbauen. Außerdem bleibt die Entwicklung wirklicher Beziehungsfähigkeit auf der Strecke.
Übung: Die Welt durch die Augen eines anderen sehen
Diese Übung lässt sich gut machen, wenn du gerade einen Konflikt mit jemandem hast, den du nicht verstehst. Dann ist sie natürlich auch sehr anspruchsvoll. Du kannst also ruhig auch erst einmal mit einer weniger geladenen Beziehung starten und dir einfach jemanden aussuchen, den du besser verstehen möchtest.
1. An einem Ort, an dem du ungestört bist, nimm dir zwei Blatt Papier und einen
Stift. Auf das erste schreibst du deinen eigenen Namen und legst es auf den Boden. Auf das zweite schreibst du den Namen der anderen Person und legst es an eine andere Stelle auf den Boden, einfach dort wo es sich gerade end anfühlt.
2. Stelle dich dann mit beiden Füßen auf das Papier mit deinem Namen, führe dir den Konflikt oder eure Beziehung allgemein vor Augen und frage dich, welche Bedürfnisse du in diesem Kontext hast. Du kannst diese laut aussprechen und dir vorstellen, sie der anderen Person mitzuteilen. Verwende Ich-Botschaften. Nachdem du einige genannt hast, kannst du dir einen Moment Zeit nehmen, um diese auf dem Papier mit deinem Namen zu notieren.
3. Lege das Papier dann wieder dorthin, wo es vorher lag und stelle dich dann mit beiden Füßen auf das Blatt mit dem Namen der anderen Person. Nimm dir nun einen Moment Zeit, um dich so gut wie möglich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen.
4. Vielleicht magst du sogar damit experimentieren, die Körperhaltung des anderen einzunehmen. Was sind die Bedürfnisse des anderen in dieser Situation/diesem Konflikt/dieser Beziehung? Beginne, auch diese Bedürfnisse laut auszusprechen. Wenn du einige genannt hast, kannst du auch hier die Bedürfnisse auf das Papier schreiben.
5. Du kannst diesen Prozess sogar noch ein paar Mal wiederholen und dadurch eine Art Dialog zwischen euch beiden entstehen lassen. So werden sich die Bedürfnisse jedes Einzelnen immer klarer herausschälen.
Lernschritt 3: aktiv, konstruktiv und kreativ verbindende Lösungen (mit)entwickeln
Damit kommen wir zum dritten, alles entscheidenden Lernschritt: der aktiven, konstruktiven und kreativen Lösungs(mit)entwicklung. Das “mit” steht in Klammern, denn idealerweise ist dies ein kooperativer Prozess. Wie zuvor bereits am Beispiel des Vaters und seines bücherzerfetzenden Babys deutlich wurde, genügt es oft auch, wenn nur eine Person diesen Lernschritt vollzogen hat und aktiv verbindende Lösungen sucht, welche die Bedürfnisse aller Beteiligten bestmöglich würdigen.
Ohne diesen 3. Lernschritt führen Schritt 1 und Schritt 2 nirgendwohin. Wenn wir nicht fähig sind, kreative Lösungen für Bedürfniskonflikte zu entwickeln, dann führt die Artikulation der eigenen Bedürfnisse, gekoppelt mit der Anerkennung der Bedürfnisse anderer, direkt in die Ratlosigkeit, in einen Machtkampf oder in ein wenig erbauliches Wechselbad zwischen beiden.
Ehrlich gesagt: Meine Beobachtung ist, dass wir zu Schritt 1 und 2 erst dann wirklich fähig werden, wenn wir Schritt 3 verstanden haben und wissen, dass er funktioniert. Sonst ist es viel zu bedrohlich, uns durch Artikulation der eigenen Bedürfnisse verletzlich zu machen. Und es ist viel zu beängstigend, sich für die Bedürfnisse des anderen zu öffnen, die nicht zu unseren en, wenn wir nicht wissen, dass es eine verbindende Lösung gibt. Wir werden dann immer entweder die eigenen Bedürfnisse ausblenden oder die des anderen oder beide und uns hinter Absolutheitsansprüchen verschanzen.
Leider haben viele Erwachsene Lernschritt 3 noch weniger vollzogen als Lernschritt 1 und 2. Viele Eltern werden diesen also womöglich gemeinsam mit ihren Kindern gehen müssen. Kinder machen uns das einerseits einfacher als andere Menschen, denn sie sind eben von Haus aus zunächst sehr gut darin, ihre Bedürfnisse zu äußern, und sie lieben uns mit einer Hingabe und Inbrunst, die ihresgleichen sucht. Sie geben uns immer noch eine Chance und verlassen uns nicht — oder frühestens in der Pubertät. Andererseits ist es für viele Erwachsene schwieriger, mit Kindern eine Beziehung auf Augenhöhe einzugehen, denn sie haben selbst nur hierarchische Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern
erlebt — oder überhaupt nur hierarchische Beziehungen erlebt.
Die Entwicklung einer verbindenden Lösung beginnt mit der Annahme, dass es eine solche Lösung gibt. Um zu dieser Einstellung zu gelangen, ist es sehr hilfreich, eine Unterscheidung zwischen Bedürfniskonflikten und Lösungskonflikten zu treffen. Um diese Unterscheidung treffen zu können, müssen wir zunächst klar zwischen Bedürfnissen und Lösungen differenzieren.
Ein Bedürfnis ist ein Verlangen, das jedoch auf unterschiedliche Art gestillt werden kann. Eine der bekanntesten Klassifizierungen von Bedürfnissen stammt von dem US-amerikanischen Psychiater Abraham Maslow: die Bedürfnispyramide. Ein Blick auf diese Pyramide zeigt, dass Bedürfnisse jeder Stufe ganz unterschiedlich befriedigt werden können.
Egal ob es sich um ein existenzielles Bedürfnis handelt, wie etwa dem nach Nahrung oder um ein höher angesiedeltes, wie dem Bedürfnis nach Anerkennung, beide können auf unzählig verschiedene Arten und Weisen befriedigt werden. Wenn ich zum Beispiel Hunger habe, gibt es viele Möglichkeiten, diesen zu stillen: ich kann Brot oder Obst essen, eine komplette Mahlzeit zubereiten oder bei einem Schnellimbiss etwas in mich hineinschieben. Wenn ich mir Anerkennung wünsche, gibt es wohl so viele unterschiedliche Wege diese zu erlangen, wie es Menschen auf der Welt gibt. Das bedeutet, dass Bedürfnisse auf sehr vielfältige Weise befriedigt werden können. Sie gleichen damit offenen Fragen, also Fragen, die auf sehr unterschiedliche Weise beantwortet werden können.
Hierin unterscheidet sich ein Bedürfnis grundlegend von einer Lösung. Bei einer Lösung handelt es sich um eine konkrete Vorstellung davon, wie ein bestimmtes Bedürfnis befriedigt werden kann. Wenn ich also beispielsweise sage, ich habe das Bedürfnis, eine Fischsemmel zu essen, benenne ich damit in Wahrheit nicht mein Bedürfnis, sondern eine Lösung für mein Bedürfnis. Die Fischsemmel ist eine mögliche Antwort auf die Frage nach Nahrung. Genau so verhält es sich, wenn ich sage, ich möchte eine berühmte Autorin werden. Auch hier benenne ich nicht mein Bedürfnis — das nach Anerkennung — sondern eine Lösung für dieses Bedürfnis. Eine Lösung gleicht damit einer Ja-Nein-Frage — entweder ich stimme zu oder nicht, entweder ich bekomme das, was ich möchte, oder nicht.
Diese Unterscheidung mag auf den ersten Blick wie müßige Erbsenzählerei erscheinen. Und das ist sie auch, solange kein Konflikt vorliegt. Sobald sich zwei Menschen jedoch nicht einig sind, erweist sich diese Unterscheidung als ausschlaggebend. Eben weil ein Bedürfnis auf viele unterschiedliche Weisen erfüllt werden kann, eine Lösung jedoch nur einen Weg als richtig ansieht, ist eine Unterscheidung der beiden Ebenen ein wichtiger Schritt in Richtung einer verbindenden Lösung. Nur auf der Ebene der Bedürfnisse ist überhaupt Raum, um kreativ zu werden und eine verbindende Lösung zu entwickeln! Solange wir uns auf der Ebene des Lösungskonfliktes bewegen, gleiten wir fast zwangsläufig
in Diskussionen, Streitereien und Rechthabereien ab. Denn entweder der eine bekommt seinen Willen oder der andere.
Gelingt es uns, von der Ebene des Lösungskonfliktes auf jene des Bedürfniskonfliktes zu wechseln, erkennen wir, dass es unzählig viele Möglichkeiten gibt, verbindende Lösungen zu entwickeln. Man könnte daher sogar behaupten, dass es gar keine Bedürfniskonflikte gibt, dass also jeder Konflikt zwischen zwei oder mehr Parteien ein Konflikt der Lösungsansätze ist.
Stricken wir das klassische Familiendrama um die Bettgehzeit fort. Dahinter könnten von Seiten der Eltern verschiedene Bedürfnisse liegen: das Bedürfnis, etwas Zeit für sich zu haben, oder das Bedürfnis, einen entspannten Morgen zu haben, da die Kinder ausgeschlafen aufstehen und nicht übermüdet aus dem Bett gezerrt werden müssen. Für die Eltern ist eine naheliegende Lösungsstrategie für diese beiden Bedürfnisse, die Kinder früh ins Bett zu schicken.
Diese Strategie steht möglicherweise im Konflikt mit den Lösungsstrategien der Kinder. Vielleicht hat der Kleine, der erst seit kurzem in die Schule geht, noch ein starkes Bedürfnis, sich zu bewegen. Seine Lösungsstrategie ist es, die Schlafanzuganziehzeit zur Tobezeit umzugestalten und sowohl den großen Bruder als auch den Vater zu Raufereien zu animieren. Der Große hingegen möchte vielleicht auch einmal Zeit mit den Eltern ohne den kleinen Bruder verbringen. Seine Lösungsstrategie ist es, das Bettgehen soweit als möglich hinauszuzögern. Listen wir uns einmal die Bedürfnisse und Lösungsstrategien auf, um einen Überblick zu bekommen:
Eltern Bedürfnis
großes Kind
- Zeit für sich - stressfreier Start in den Tag - Zeit mit den Eltern ohne den kleinen Bruder
Lösungsstrategie - Kinder gehen beide früh zu Bett
- zögert das Bettgehen so weit wie möglich raus
Betrachten wir nun ausschließlich die Ebene der Bedürfnisse und vergessen wir für einen Moment die unterschiedlichen Lösungsstrategien, sehen wir sofort, dass diese an sich gar kein Problem sind und überhaupt nicht miteinander in Konflikt stehen müssen. Die Bedürfnisse der Eltern sind so nachvollziehbar wie jene der Kinder und keines muss einem anderen den Raum nehmen. Auf dieser Ebene betrachtet scheint es sogar offensichtlich, dass es nicht nur eine verbindende Lösung gibt, sondern viele.
Es gibt sehr viele verschiedene Möglichkeiten, dem älteren Sohn sein Bedürfnis nach Zeit mit den Eltern ohne den kleinen Bruder zu befriedigen — nicht nur wenn der kleine Bruder im Bett ist oder nur am Abend. Genauso kann das Bedürfnis des kleinen Bruders nach Bewegung auf vielfältige Weise gestillt werden und nicht ausschließlich mit einer Rauferei zur Bettgehzeit. Und schließlich können die Bedürfnisse der Eltern womöglich auch unterschiedlich gestillt werden. Vielleicht ist es für den Kleinen besser, einen Mittagsschlaf zu machen, statt früh zu Bett zu gehen, damit er morgens ausgeschlafen ist. Und vielleicht müssen die Kinder gar nicht schlafen, um den Wunsch der Eltern nach Zeit für sich zu respektieren. Sie könnten in dieser Zeit auch lesen oder etwas anderes tun, woran sie Freude haben.
Welche Kombination der Vielzahl möglicher Lösungen sich am Ende als jene verbindende Lösung erweisen wird, die für alle funktioniert, wird für jede Familie anders sein und sich auch im Laufe der Zeit wandeln. Eine echte verbindende Lösung erkennen wir jedoch unweigerlich daran, dass jeder mit ihr zufrieden ist. Darin unterscheidet sie sich grundlegend von vielen Kompromissen, die sich oft dadurch auszeichnen, dass sie niemandem wirklich gerecht werden.
Bei verbindenden Lösungen bekommen alle Beteiligten das, was sie brauchen, wenn auch nicht auf die Weise, die sie sich als Strategie überlegt hatten. Damit verbindende Lösungen gefunden werden können, müssen wir also bereit sein,
unsere eigenen Konzepte einer Lösung zu hinterfragen oder auch loszulassen. Das wird mit der Zeit immer einfacher. Je mehr wir sehen, dass viele Wege nach Rom führen, desto weniger müssen wir daran festhalten, genau unseren Weg auch allen anderen schmackhaft zu machen oder gegen massiven Widerstand durchzusetzen.
Wie wir als Eltern Lernschritt 3 unterstützen können
Als Eltern können wir zwei entscheidende Maßnahmen ergreifen, um Lernschritt 3 zu unterstützen. Erstens können wir selbst immer wieder unsere eigenen Lösungskonzepte loslassen und Vorschläge für verbindende Lösungen machen. Die Reaktion unserer Kinder wird uns sofort zeigen, ob es uns gelungen ist, in Richtung einer verbindenden Lösung zu denken, oder ob wir in Wahrheit immer noch in unseren eigenen Vorstellungen gefangen sind. Sie werden sofort abwehrend reagieren, wenn unser Vorschlag ihre Bedürfnisse nicht wirklich berücksichtigt. Ihr Widerstand wird deutlich weniger werden, sobald wir uns in Richtung einer verbindenden Lösung bewegt haben.
Zweitens können wir unsere Kinder ermutigen, ihre Intelligenz und Kreativität für die Entwicklung solcher Lösungen zu aktivieren, indem wir sie selbst nach Vorschlägen fragen. Hierfür ist es hilfreich, zunächst noch einmal zu wiederholen, was die verschiedenen Bedürfnisse sind. Erst dann macht eine Frage nach einer verbindenden Lösung Sinn.
Gerade in komplexen Situationen entstehen verbindende Lösungen vor allem dann, wenn mehrere Familienmitglieder ihre Sicht auf die Situation zusammenbringen und durch Nutzung ihrer kollektiven Intelligenz eine ganz neue Möglichkeit andenken. Damit dies gelingt, müssen wir wissen, wie wir miteinander reden können, ohne uns in die Haare zu kriegen.
Diskussion und Dialog
Ausschlaggebend für den Erfolg einer gemeinsamen Lösungssuche ist die Art, wie wir miteinander reden. Nach dem Motto: Der Ton macht die Musik. Ich unterscheide hier gerne zwischen Dialog und Diskussion, wobei ich “Dialog” für den Prozess des “Miteinander-Redens” verwende, “ Diskussion” hingegen für das “Gegeneinander-Reden”. Ob es sich bei einem Gespräch um einen Dialog oder eine Diskussion handelt, liegt nur an der Haltung der Gesprächsteilnehmer. Wir können über das gleiche Thema mit einer Haltung der Diskussion oder einer Haltung des Dialogs reden.
Im Falle einer Diskussion liegt mein Hauptfokus beim Zuhören darauf, Schwachstellen in der Argumentation des anderen aufzudecken und die Unterschiede zu meinem Standpunkt hervorzuheben. Ich suche, kurz gesagt, nach Angriffspunkten. Ich möchte einhaken um den anderen — gegen seinen Willen — von der Richtigkeit meiner Sichtweise zu überzeugen. Ich bin nämlich viel mehr daran interessiert, mein nächstes Argument für meine Position auszuarbeiten, als den anderen zu verstehen. Das Wort “aber” taucht ständig auf — ausgesprochen oder als Unterton. Oft ist es so, dass es im Laufe einer Diskussion schon nach relativ kurzer Zeit gar nicht mehr um die Inhalte geht, sondern darum, zu gewinnen. Das ist, wenn wir ehrlich sind, eine ziemlich frustrierende Art, miteinander zu reden.
Bei einem Dialog sieht die Sache ganz anders aus. Es ist faszinierend, wie wir über genau das gleiche Thema — allein durch die Änderung unserer inneren Haltung und damit unseres Kommunikationsstils — ein befruchtendes, erhellendes, konstruktives und verbindendes Gespräch führen können. Die Haltungsänderung liegt zunächst einmal darin, dass ich ein aufrichtiges Interesse daran habe, den anderen wirklich zu verstehen. Ich höre also zu, wirklich. Und während ich zuhöre, bin ich vor allem an den Gemeinsamkeiten interessiert: Was sehen oder empfinden wir ähnlich? Wo gibt es Überschneidungen oder Kompatibilitäten in unseren Bedürfnissen und Lösungsansätzen? Wenn wir sprechen, spielt vor allem das Wort “und” die Hauptrolle — entweder
ausgesprochen oder eben als Unterton. Statt dass ich meine Energie darauf verwende, den Standpunkt des anderen falsch zu reden, konzentriere ich mich darauf, Anknüpfungspunkte zu finden, wo ich das meine dazulegen kann.
Wie Lernschritt 3 verhindert wird
Die größte Herausforderungen bei der Entwicklung verbindender Lösungen ist meiner Erfahrung nach die Überwindung der Idee, dass es Bedürfniskonflikte überhaupt gibt. Anders ausgedrückt: Solange wir denken, dass es zu wenig Zeit, Raum, Aufmerksamkeit, Geld, Energie oder andere Ressourcen hat, um die Bedürfnisse aller zu decken, wird es sehr schwer für uns sein, uns auch in Stresssituationen immer wieder der Möglichkeit zu öffnen, dass es eine verbindende Lösung gibt.
Ich habe es mir daher zu Gewohnheit gemacht, in all meinen Beziehungen die Arbeitshypothese zugrunde zu legen, dass es keine Bedürfniskonflikte gibt, sondern nur Lösungskonflikte. Diese Arbeitshypothese schützt mich ein Stück weit vor der Versuchung, frühzeitig das Handtuch zu werfen und zu sagen: “ Wusste ich’s doch, irgendwann geht es doch wieder darum, wer sich durchsetzt: ich oder du.”
Übung: Dialog und Diskussion erforschen
Dies ist eine Übung, die man am besten zu zweit oder zu dritt machen kann. Suche dir also einen Spielgefährten, mit dem du Dialog und Diskussion gerne erforschen möchtest.
Sucht euch ein Thema aus, über das ihr euch herrlich streiten könntet. Am besten wählt ihr eines, bei dem ihr keine allzu große emotionale Ladung habt, wo ihr jedoch gut unterschiedliche Standpunkte beziehen könnt. Wenn euch keines einfällt, könnt ihr es ja mal mit den klassischen Themen wie Frauenquote, Kopftuchdebatte, Abschaffung des Militärs, das Zölibat in der Kirche oder Ähnlichem probieren.
Nehmt euch etwa 10-15 Minuten Zeit, um über dieses Thema zu diskutieren. Geht ganz bewusst auf Konfrontation und übertreibt die klassischen Merkmale der Diskussion — mangelndes Zuhören, Fokus auf Unterschieden, Unterbrechen, häufige Verwendung des Wortes “aber” etc. Nehmt euch genügend Zeit, um wirklich einen Diskussionsmodus zu finden und um diese Art zu kommunizieren zu erforschen.
Nehmt euch noch einmal 10-15 Minuten, um nun über das gleiche Thema einen Dialog zu führen. Hier liegt der Fokus auf Zuhören, Verstehen und dem Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten. Lasst euch ausreichend Zeit, um auch hier wirklich in diesen Kommunikationsmodus einzutauchen. Ihr werdet wissen, dass es euch gelungen ist, einen wirklichen Dialog zu führen, wenn ihr euch beide danach bereichert fühlt und den Eindruck habt, tiefere Einblicke in ein Thema bekommen zu haben, das ihr zuvor anders gesehen habt.
Tauscht euch über eure Erfahrungen aus. Welcher Kommunikationsmodus ist euch vertrauter? Ist es euch wirklich gelungen, sauber bei einem Modus zu bleiben? Oder habt ihr beobachtet, dass ihr abgleitet? Was hat mehr Spaß gemacht? Was nehmt ihr für den Alltag mit?
Was dann iert ist so vorhersehbar und zermürbend, dass ich gerne die Mühen auf mich nehme, ein paar kreative Extrarunden zu drehen, bis sich die verbindende Lösung zeigt.
Verbindende Lösungen in Gruppen: Es geht!
Bislang habe ich mich in meinen Schilderungen sehr auf individuelle Interaktionen konzentriert. Also, wie gehen wir mit Konflikten um, wenn ich etwas anderes möchte als mein Kind? Das habe ich vor allem getan, um die Beispiele zu vereinfachen und so bestimmte Dynamiken besser darstellen zu können. Es ist mir jedoch sehr wohl bewusst, dass wir es häufig mit wesentlich komplexeren Situationen zu tun haben — schlicht weil wir oft in Familien zusammenleben, die aus mehr als zwei Personen bestehen. Wie sieht es hier mit dem Erarbeiten verbindender Lösungen aus? Ist das realistisch?
Ja, das ist es. Es ist nicht nur realistisch, es gibt auch eine bewährte Methode, die wahre Wunder leisten kann, wenn einfache Gespräche versagen. Diese Methode nennt sich “Systemisches Konsensieren”.
An der Universität Graz entwickelt, nutzt das Systemische Konsensieren genau jenes Prinzip, nach dem gute Freunde schon immer ihre Entscheidungen getroffen haben. Statt nach der größtmöglichen Übereinstimmung zu suchen, konzentriert man sich darauf, die Lösung zu finden, die auf den geringsten Widerstand stößt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Lösungen, die weniger als 30 % Widerstand in einer Gruppe von Menschen hervorrufen, gut von allen mitgetragen werden. Ausnahmen hierzu bilden Entscheidungen, die bei Einzelnen massiven Widerstand auslösen. Es ist schlimmer für uns, etwas tun zu müssen, was uns massiv missfällt, als genau unseren Willen zu bekommen.
Zur Verdeutlichung möchte ich eine Geschichte aus meiner Familie erzählen. Vor einiger Zeit standen die Ferien vor der Tür und wir alle hatten große Lust, einige Tage wegzufahren. Wir Erwachsenen hatten die Idee, auf eine Berghütte zu fahren, und freuten uns schon riesig auf ein paar Tage Stille, Natur und pure Erholung. Mein kleinerer Sohn war von der Idee ebenso begeistert wie wir —
was man von dem älteren leider nicht behaupten konnte. Er hatte massive Widerstände gegen den Vorschlag. Sowohl eine klassische Mehrheitsentscheidung als auch eine noch viel klassischere autoritäre Entscheidung hätten beide zu dem gleichen eindeutigen Ergebnis geführt. Ich muss wohl niemandem erklären, dass ein Urlaub mit einem unglücklichen Teenager niemanden glücklich gemacht hätte.
Wie setzten uns also zusammen und überlegten gemeinsam, welche Möglichkeiten es gäbe. Ich ermutigte meine beiden Söhne, möglichst viele Vorschläge zu machen, und schrieb jeden Vorschlag auf. Nach nur zehn Minuten hatten wir eine Liste von zehn Vorschlägen. Darunter waren alle erdenklichen Varianten. Ich erinnere mich unter anderem an eine kostspielige Fernreise, einen Städteurlaub und einen Urlaub zu Hause. Auch die Idee, getrennt Urlaub zu machen oder bei der Oma, tauchte auf. Die ursprüngliche Variante, die ganze Zeit gemeinsam auf der Hütte zu verbringen, setzten wir auch hinzu. Dann ging es an die Abstimmung mittels Systemischem Konsensieren.
Und das ging so: Jeder hatte zu jedem Vorschlag null bis zehn Stimmen zu vergeben, wobei null Stimmen null Widerstand und zehn Stimmen maximalen Widerstand ausdrücken. Beim Systemischen Konsensieren spricht man auch von W-Stimmen, wobei das W für Widerstand steht. Wir einigten uns darauf, dass zehn W-Stimmen gleich einem Veto sein sollten — also jeder Vorschlag, zu dem einer von uns zehn W-Stimmen äußern würde, wäre automatisch aussortiert. Wir verpflichteten uns also, eine Lösung zu entwickeln, die für alle annehmbar sein würde.
Bei der ersten Runde hatten wir zwar einen Vorschlag, der unter den 30 % Gruppenwiderstand lag — und zwar jener, die ganze Zeit auf der Hütte zu verbringen — , dieser rief jedoch bei meinem älteren Sohn die zu erwartenden zehn W-Stimmen hervor. Damit kam dieser nicht infrage. Da jedoch keine der anderen Varianten unter 30 % erreicht hatten, waren wir gefordert, noch kreativer in unserer Erarbeitung der Lösungsvorschläge zu sein.
Wir studierten die bisherigen Ergebnisse und begannen, Ergebnisse mit eher wenig Widerstand zu kombinieren. Heraus kamen Hyb-ridlösungen nach dem Motto: erst ein paar Tage auf der Hütte, dann noch ein Wochenende in einem Hotel am See. Diese Variante bekam letztlich den Zuschlag, da sie sowohl unter 30 % Gruppenwiderstand lag als auch kein Veto bekam. Wir hatten also eine verbindende Lösung gefunden, die für alle funktionierte.
Der ganze Prozess nahm etwa zwanzig Minuten in Anspruch und war für alle Beteiligten sehr lehrreich. Wir lernten sowohl uns selbst als auch einander besser kennen und verstanden, in welche Richtung wir denken mussten, um zu Lösungen zu kommen, die eine Chance haben würden, konsensiert zu werden.
Das Verfahren des Systemischen Konsensierens führt dazu, dass Menschen einander besser zuhören, denn anders als bei Mehrheits- oder Machtentscheidungen ist dies hier die Erfolg versprechende Strategie. Nur durch Zuhören können wir einander wirklich verstehen und somit Lösungsvorschläge ausarbeiten, die für alle Beteiligten funktionieren. Der Prozess des Systemischen Konsensierens fördert und fordert in uns die Entwicklung aller drei Lernschritte: das Äußern der eigenen Bedürfnisse, die Anerkennung der Bedürfnisse der anderen und das Suchen nach verbindenden Lösungen.
Für kleinere alltägliche Entscheidungen kann übrigens auch ein Schnellverfahren verwendet werden. Hier verwenden wir die Arme zum Abstimmen: beide Arme unten bedeutet kein Widerstand, einer oben bedeutet etwas Widerstand, beide oben bedeutet großer oder maximaler Widerstand — und damit gegebenenfalls auch ein Veto, sofern dies vereinbart oder erwünscht ist. So kann sehr schnell der Widerstand zu einem oder mehreren Vorschlägen gemessen werden, ohne große Rechenaufgaben anzustellen. [6]
Nachdem ich nun recht ausführlich die grundlegenden Lernschritte bei der Entwicklung sozialer Kompetenz skizziert habe, möchte ich mich noch dem Thema Macht zuwenden, das gerade in der Eltern-Kind-Beziehung immer
wieder eine Rolle spielt. Wenn wir in Entweder-Oder-Denken abgleiten (also: entweder ich bekomme meinen Willen oder du), dann zeigt sich schneller, als wir bis drei zählen können, die hässliche Fratze der Macht. Die Versuchung, unsere Macht zu nutzen, um unseren Willen, unsere Meinung oder einfach das, was uns wichtig ist, durchzusetzen, ist gerade für Eltern sehr groß. Es lässt sich nun mal nicht abstreiten, dass wir als Eltern große Macht haben, einfach dadurch, dass unsere Kinder so abhängig von uns sind. Wie wir gut damit umgehen, ist vielleicht eine unserer größten Herausforderungen.
[6] www.sk-prinzip.net, abgerufen am 29. Mai 2014 um 19 h
Der Umgang mit Macht
Im Laufe des Buches habe ich das Thema Macht immer wieder gestreift. Ich habe erwähnt, wie es bis vor gar nicht langer Zeit für Eltern selbstverständlich war, Macht über ihre Kinder auszuüben — und für viele Eltern ist es das bis heute. Es wird sogar als die ureigentliche Aufgabe der Eltern gesehen. Eine gute Erziehung bedeutet(e), Kindern die eigenen Vorstellungen — oder jene der Gesellschaft — durch Machtausübung aufzuzwingen. Versäumte man dies, so die gängige Vorstellung, würden Kinder sich zu unausstehlichen, selbstsüchtigen, asozialen Erwachsenen entwickeln.
Zugleich merken immer mehr Eltern und Erzieher, wie anstrengend, zermürbend und wenig erfolgreich es ist, Macht gegen Kinder einzusetzen, in dem Versuch, diese nach dem eigenen Willen oder dem der Gesellschaft zu formen. Und das schlimmste daran ist: Es macht Beziehung unmöglich. Doch weil wir als Eltern oft noch keine funktionierenden Alternativen zu den alten Machtstrategien entwickelt haben, fallen wir in Stresssituationen ganz automatisch auf das zurück, was wir kennen: Wir bemühen uns, ein Machtgefälle herzustellen und dieses zu nutzen, um unseren Willen — und sei es zum Wohle der Kinder! — durchzusetzen.
Der zu Anfang bereits erwähnte Psychologe Thomas Gordon war einer der Pioniere im Gebiet der respektvollen Eltern-Kind-Beziehung. In einer Zeit, in der es noch als nie hinterfragte Hauptaufgabe der Eltern galt, Kinder durch Belohnung und Strafe, Lob und Tadel zu formen, zeigte er mit bewundernswerter Geduld auf, welch verheerende Konsequenzen der Gebrauch von Macht auf Kinder, Eltern und die Eltern-Kind-Beziehung hat. Er hat ganze Bände mit seiner Argumentation gefüllt und ich möchte gerne auf seine Bücher verweisen, falls irgendjemand hier noch genauer wissen will, warum das System von Belohnung und Strafe nicht funktioniert bzw. wie kostspielig es ist.
An dieser Stelle möchte ich lediglich einen Satz von ihm zitieren, der meine Erfahrung mit dem Thema Macht in der Eltern-Kind-Beziehung aufs Beste zusammenfasst: “ Es ist paradox, aber wahr, dass Eltern durch den Gebrauch der Macht an Einfluss verlieren und durch Aufgabe ihrer Macht oder der Weigerung, sie auszuüben, mehr Einfluss auf ihre Kinder haben werden. ” [7] Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir uns mit dem Unterschied zwischen Macht und Autorität befassen.
Der Unterschied zwischen Macht und Autorität
Mir ist aufgefallen, dass wir Macht und Autorität oft verwechseln. Oder wir denken, dass Autorität von Macht kommt — und dass Macht von Autorität kommt. Kurz: Es fällt uns schwer, das eine ohne das andere zu denken. Doch was ist eigentlich die Beziehung zwischen Macht und Autorität? Wie bedingen und beeinflussen sie einander und wie gehen wir als Eltern damit gut um?
Beginnen wir mit dem Thema Macht. Im klassischen Sinne begreifen wir Macht als die Möglichkeit, über jemanden oder etwas zu bestimmen. Wir sind es gewöhnt, dass Macht über etwas oder jemanden ausgeübt wird. Macht bedeutet, im Extremfall, die Fähigkeit zu lenken und den eigenen Willen einem anderen aufzuzwingen. Dies wird im herkömmlichen Sinne entweder durch Strafe erreicht — also dass es wehtut, wenn wir dem Willen des Machtausübenden nicht nachkommen — oder indirekter durch Belohnung oder andere Formen der Manipulation.
Macht ist das Ideal der autoritären Erziehung, auf die ich im Laufe dieses Buches immer wieder Bezug genommen habe. Ihr Ziel ist es, ein möglichst hohes Maß an Kontrolle auszuüben und dadurch ein braves oder gehorsames Kind zu bekommen. Dies wird erreicht, indem der Wille des Kindes gebrochen wird und es lernt, sich dem Willen Erwachsener unterzuordnen. Dieses ist eine ideale Vorbereitung auf ein Leben als zuverlässiger, loyaler und befehlstreuer Angestellter, Soldat oder auf ein Leben als brave, unterwürfige Ehefrau. Ich
weiß, dass ich hier Bilder heraufbeschwöre, die teilweise überholt sind, doch nur teilweise. Die Macht dieser Bilder ist stark und viele leben in unserem Unbewussten munter weiter und prägen eben gerade in schwierigen Situationen unseren Umgang miteinander — vor allem mit unseren Kindern.
Doch wie verhält es sich mit der Autorität? Ist sie nicht gleichzusetzen mit der Möglichkeit, Befehle zu erteilen, Strafen anzusetzen, Belohnungen zu gewähren — so ist es doch auch im Begriff “autoritäre Erziehung” gemeint? Ja, dieses Bild von Autorität gibt es. Doch ich nenne dies auch gerne falsche Autorität, da sie auf Formen von Gewalt beruht. Sobald die Gewaltanwendung aufhört — oder die Möglichkeit dazu nicht mehr gegeben ist, wie in der Pubertät —, löst diese Form von Autorität sich in Luft auf, als wäre sie nie da gewesen. Besser gesagt: Sie verkehrt sich in ihr genaues Gegenteil. Aller Widerstand, aller Trotz, aller Schmerz und alle Rachsucht, die sich über Jahre angestaut haben, suchen sich nun mit aller Macht ihren Weg an die Oberfläche. Dort richten sie mindestens so viel Schaden an, wie die gewaltvolle Machtausübung es all die Jahre zuvor getan hat, wenn auch zuweilen im Verborgenen.
Wirkliche Autorität beruht nicht auf der Möglichkeit, Schmerz zuzufügen, zu strafen, Macht auszuüben oder zu belohnen. Sie beruht vielmehr auf Kompetenzen, die wir haben, die andere an uns schätzen und auf der Fähigkeit, diese so zu teilen, dass andere davon profitieren. Ich nenne das gerne natürliche Autorität.
Für ein kleines Kind haben die Eltern eine solche natürliche Autorität. Es ist für das kleine Kind offensichtlich, dass diese großen Menschen alle möglichen Fähigkeiten haben, die das Kind nicht hat, die jedoch für dieses sehr wichtig sind. Das kann die Fähigkeit sein, ein ersehntes Spielzeug von einem Schrank herunterzuholen oder das Kind durch die Luft zu wirbeln, bis es vor Vergnügen quietscht. Es kann aber auch die Fähigkeit sein, Gefahrensituationen richtig einzuschätzen oder in schwierigen Situationen gute Entscheidungen zu treffen. Und diese Liste ließe sich natürlich endlos fortsetzen. Wichtig ist folgende Erkenntnis: Wir müssen Kinder nicht von unserer Autorität überzeugen.
Unsere Autorität ist für Kinder offensichtlich, vor allem wenn sie klein sind. Unser größte Herausforderung besteht darin, ihr Vertrauen in unsere Autorität nicht zu verletzen, indem wir diese missbrauchen, um ihnen unseren Willen aufzuzwingen. Gelingt uns dies, wird unser Einfluss auf unsere Kinder im Laufe der Jahre nicht abnehmen, sondern zunehmen, denn sie werden wissen, dass wir ein guter Gesprächspartner sind, wenn es um die wirklich wichtigen Fragen im Leben geht. Sie werden uns zurate ziehen.
Statt Kindern, von denen wir Gehorsam einfordern, haben wir dann Kinder, die uns Gehör schenken. Doch dieses Gehör ist ein Geschenk. Kinder wählen nach den gleichen Kriterien aus wie wir, wem sie Gehör schenken. Vor allem, wenn sie älter werden. Sie wählen Personen, die ihnen zuhören, die sie nicht verurteilen und die ihre eigene Meinung nicht über die ihre stellen, auch wenn sie auf mehr Lebenserfahrung beruht.
Natürliche Hierarchien
Die natürliche Autorität und die Ratgeberfunktion der Eltern kann man auch als natürliche Hierarchie bezeichnen. Ich persönlich mochte den Begriff Hierarchie nie sonderlich. Ich verband ihn mit starren Machtstrukturen, in denen Herrscher und Lakaien sich in unwürdigen Spielchen ergehen, die weit von allem entfernt sind, was ich als erstrebenswerte Beziehungen betrachte. Trotzdem konnte ich nicht leugnen, dass es das Phänomen der natürlichen Hierarchien gibt, und je mehr ich mich damit befasst habe, desto weniger Schwierigkeiten hatte ich damit.
Eine Definition von Hierarchie, die mir bei einer Neueinschätzung geholfen hat, war die der “göttlichen Ordnung”. Ich habe das für mich mit “ natürliche Ordnung” übersetzt und gesehen, dass es ja tatsächlich in allem auf der Welt eine natürliche Über- und Unterordnung gibt. Anders als in unseren künstlichen
Machthierarchien handelt es sich hier tatsächlich um wertungsfreie Ordnungsgefüge, die jedoch wichtig sind, um die Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen zu definieren.
Was natürliche Hierarchien von künstlichen Machthierarchien unterscheidet, ist die Abwesenheit von Wertung: etwa, dass die Bedürfnisse, Meinungen und Sichtweisen der Eltern wichtiger seien als die des Kindes und deshalb Vorrang hätten. In natürlichen Hierarchien sind die Bedürfnisse aller Systemteile wichtig, denn in ihrer Über- und Unterordnung besteht eine wechselseitige Abhängigkeit — sie sind interdependent. Die Tatsache der Über- und Unterordnung sagt jedoch viel über die Art der Beziehung aus bzw. über die Funktionen, die jeder für den anderen zu erfüllen hat.
Genau so verhält es sich bei der natürlichen Hierarchie zwischen Eltern und Kindern. Sie sagt viel über die Funktion aus, die jeder für den anderen zu erfüllen hat, also über die Beziehung zwischen beiden. Eltern erfüllen in ihrer Überordnung die Funktion, für den untergeordneten Systemteil, also das Kind, Sorge zu tragen — und nicht umgekehrt. Sie haben die Abhängigkeit und Bedürftigkeit des Kindes, die ihnen anvertraut wurde, zu würdigen. Sie dürfen diese Abhängigkeit nicht missbrauchen, indem sie diese verwenden, um ihre eigenen Interessen durchzubringen.
Zugleich hat das Kind als untergeordneter Systemteil die Pflicht, den übergeordneten, versorgenden Teil zu würdigen und zu achten. Denn die Eltern sind auf ihre Weise davon abhängig, dass das Kind dies tut. Das hat jeder von uns schon einmal schmerzlich erfahren, der sich die Rebellion eines Kindes durch Machtausübung aufgehalst hat. Unsere Pseudomasche “Du brauchst mich, ich brauche dich nicht”, mit der wir das Kind mit einem manipulativen “Tschüss!” vom Spielplatz weglotsen wollen, wird dann zu einem Bumerang, wenn das Kind gerade dann nicht kommt und uns schmerzlich bewusst wird: “ Mist, ich kann ja gar nicht ohne den kleinen Racker weg, was mach ich denn jetzt?” Und wenn der Kleine das einmal heraus hat, dann dreht er den Machtspieß eiskalt um und lässt uns zappeln, bis er Lust und Laune hat,
aufzubrechen. Das hat er schließlich von uns gelernt.
Doch auch, wenn wir unseren Kindern in diesem Punkt ein Vorbild sind, wird es immer wieder vorkommen, dass es seine natürliche Achtung und Würdigung vergisst. Das ist normal. Das iert uns Erwachsenen genauso — vor allem gerade dann, wenn eines unserer Bedürfnisse frustriert wird. Auch hier können wir als Eltern die Würdigung nicht aufzwingen, was wieder ein Machtmissbrauch wäre. Aber wir können immer wieder klar und deutlich unser Bedürfnis danach ausdrücken. Wenn unsere Kinder von uns gelernt haben, dass Bedürfnisse wichtig sind und gewürdigt gehören, dann werden sie uns über kurz oder lang auch Gehör schenken — was nicht bedeutet, dass wir nicht immer wieder für unser Bedürfnis einstehen müssen. Doch auch das ist normal.
Vereinbarungen statt Regeln
Natürlich ist es überaus ermüdend, wenn wir die gleichen Themen und Konflikte immer wieder durchkauen müssen. Das trifft auch zu, wenn wir sehr gut darin sind, konstruktiv verbindende Lösungen zu finden. Es kostet einfach Zeit und Energie, die wir vielleicht lieber für anderes verwenden würden. Daher liegt die Versuchung immer wieder nahe, sich doch auf ein paar Absolutheitsansprüche zurückzuziehen — oder zumindest auf bestimmte Regeln.
Dagegen ist ja auch nichts einzuwenden. Regeln sind theoretisch ein ganz wichtiges und bewährtes Instrument, um das Zusammenleben von Menschen zu vereinfachen. Theoretisch. Praktisch zeigt sich immer wieder, wie anstrengend und energieintensiv es ist, Regeln auch durchzusetzen. Nicht selten kommt es zu Prinzipienreiterei und Grabenkämpfen zwischen Moralaposteln und Freiheitskämpfern. Gibt es nicht eine andere Möglichkeit?
In einer Beziehung auf Augenhöhe haben Regeln eigentlich nur dann einen
Platz, wenn es sich um Vereinbarungen handelt. Der Unterschied scheint auf den ersten Blick womöglich haarspalterisch zu sein, ist er aber nicht. Eine Vereinbarung ist eine Übereinkunft zwischen zwei Menschen, eine Regel wird meistens von einem (meist hierarchisch höher gestellten) Menschen aufgestellt, ohne andere Menschen, die ebenso von der Regel betroffen sind, mit einzubeziehen. Diesem hierarchisch höher gestellten Menschen kommt natürlich dann auch die unangenehme Aufgabe zu, diese Regel durchzusetzen — egal ob er gerade Lust dazu hat oder ob ihm gerade wirklich etwas an der Einhaltung gelegen ist.
Machen wir ein Beispiel. Die vierzehnjährige Emma hat die Angewohnheit entwickelt, direkt nach der Schule in voller Lautstärke Musik zu hören, und zwar so, dass die Wände wackeln. Der Vater fühlt sich durch diese Angewohnheit gestört, da er zu dieser Zeit gerne ein Nickerchen hält — und überhaupt kein großer Fan von dieser Musikart ist. Er könnte nun eine Regel aufstellen, vielleicht sogar mit Rückendeckung einer Hausordnung, die ihm recht gibt, dass bis 15 Uhr nur mit Kopfhörern Musik gehört werden darf. Die normale Reaktion der Tochter in diesem Fall ist heutzutage: “ Warum, wer sagt das und wer bist du eigentlich, darüber zu bestimmen?”.
Falls sie diese Regel ignoriert — was meines Erachtens ziemlich wahrscheinlich ist, wenn es sich um eine normale Vierzehnjährige handelt —, ist der Vater in die klassische Situation gedrängt, Konsequenzen ziehen zu müssen, auf gut deutsch, zu strafen. Blöderweise muss er das laut Regel sogar dann, wenn es ihn an diesem speziellen Tag gar nicht gestört hat, da er ohnehin nicht schlafen wollte. Aber Regel ist eben Regel.
Alternativ könnte er nach dem zuvor beschriebenen Schema der gemeinsamen Lösungsfindung vorgehen, jedoch mit der Zielsetzung, eine Vereinbarung zu erarbeiten, die das Problem nicht nur für heute, sondern auch mittel- bis langfristig löst. In diesem Fall würde er sein Bedürfnis ausdrücken, sich bemühen, Emmas Bedürfnis zu verstehen, und dann mit ihr gemeinsam an einer Regelung arbeiten, die für beide gut funktioniert. Das mag zwar etwas länger
dauern (realistisch gesehen etwa zehn Minuten) als Variante eins, wo er einfach die Regel diktiert. Doch diese Zeit ist gut investiert, denn die Wahrscheinlichkeit, dass Emma in diesem Fall kooperiert und die Vereinbarung von sich aus respektiert, ist sehr hoch. Das bedeutet nicht, dass der Vater sie nicht von Zeit zu Zeit daran erinnern muss, doch der Verweis auf eine gemeinsam erarbeitete und getroffene Vereinbarung ist eine andere Sache als das Bestehen auf einer Regel. Sie läuft eher nach folgendem Schema ab: “Hey, wir hatten doch ausgemacht, dass du erst ab 15 Uhr laut Musik hörst, hast du das vergessen?” Ein deutlich anderer Ton als: “Es wird nicht vor 15 Uhr Musik gehört, wie oft soll ich dir das noch sagen!” Doch auch hier kann es natürlich vorkommen, dass Emma sich nicht an die Vereinbarung hält. Was dann? Gute Miene zum bösen Spiel? Oder gibt es nicht doch so etwas wie natürliche Konsequenzen?
Natürliche Konsequenzen vs. Strafen
In der Einleitung habe ich bereits erwähnt, dass es inzwischen nicht nur in Pädagogenkreisen in Mode gekommen ist, statt Strafen Konsequenzen zu sagen. Leider spricht unser Nachwuchs nicht immer sehr positiv auf diesen feinen Unterschied an. Wir sprechen von Konsequenzen — sie sagen oft immer noch geradeheraus Strafen, da es für sie genau das ist. Und oft haben sie leider recht.
Doch heißt das nun, dass unerwünschtes Verhalten gar keine Konsequenzen haben sollte? “Da könnte ja jeder tun und lassen was er will!” ist eine beliebte Entgegnung auf so ein Ansinnen. Zunächst einmal: Ich finde die Idee, dass jeder tun und lassen kann was er will, an und für sich nicht verkehrt. Sie ist meines Wissens ja sogar in irgendeiner Form im Grundgesetz aller Demokratien verankert. Und zugleich ist es im Zusammenleben offensichtlich, dass die Freiheit des Einzelnen Grenzen hat — nämlich genau da, wo sie beginnt, die Freiheit des anderen einzuschränken.
Was bedeutet das nun für einen respektvollen Umgang miteinander, einen
Umgang, in dem wir Machtansprüche loslassen und Strafen auch nicht mehr unter dem politisch-pädagogisch korrekten Mäntelchen “Konsequenzen” einsetzen wollen?
Es gibt neben den Konsequenzen, die von Kindern und Jugendlichen schlicht als Strafen entlarvt werden, auch solche, die man tatsächlich als natürliche Konsequenzen bezeichnen kann. Diese können wir in zwei Kategorien unterteilen: Naturgesetze und soziale Konsequenzen.
Zwei Formen natürlicher Konsequenzen
1. Naturgesetze
2. Soziale Konsequenzen
Beginnen wir mit den Naturgesetzen. Diese sind am einfachsten zu verstehen, da wir alle mit ihnen vertraut sind. Ein Beispiel für ein Naturgesetz als Konsequenz ist, wenn mein Kind sich dagegen entscheidet, einen Pullover anzuziehen, und dann friert. Die Tatsache, dass es friert, ist eine natürliche Konsequenz seiner Entscheidung, keinen Pullover anzuziehen. Ein weiteres Beispiel ist Zeit. Wenn das Kind spät zu Bett geht, wird es am nächsten Tag müde sein, wenn es herumtrödelt, wird womöglich die Zeit fehlen, um noch eine Geschichte vorzulesen. Dies sind keine Strafen, die wir verhängen, es sind natürliche Abfolgen, die von sich aus eintreten.
Ein wichtiger Aspekt des Heranwachsens besteht darin, mit solchen
Naturgesetzen oder natürlichen Konsequenzen unserer Entscheidungen einen Umgang zu lernen und dadurch immer bessere Entscheidungen zu treffen. Wenn wir dem Kind allerdings die Möglichkeit vorenthalten, diese Entscheidungen zu treffen, und es dann auch noch vor den Konsequenzen schützen, enthalten wir ihm diesen wichtigen Lernraum vor.
Der zweite Bereich der natürlichen Konsequenzen ist sozialer Natur. Wenn ein Kind sich in einem sozialen Gefüge wie einer Familie asozial verhält, dann hat dies die natürliche Konsequenz, dass in den anderen Familienmitgliedern Ablehnung, Wut, Widerstand und Ähnliches entsteht. Asoziales Verhalten bedeutet in diesem Fall, dass dem Kind die Bedürfnisse der anderen egal sind oder dass Vereinbarungen missachtet werden, ohne sie neu zu verhandeln. Als natürliche Konsequenz des asozialen Verhaltens sinkt die Bereitschaft der anderen Familienmitglieder, noch auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. Wenn hier nichts unternommen wird, droht eine Abwärtsspirale, wo keiner mehr auf den anderen schaut und der Haussegen mächtig schief hängt. Es braucht daher einen Dialog, der das verloren gegangene Gleichgewicht wieder herstellt. Und dieser Dialog muss eingefordert werden.
Folgendes Beispiel dürfte verdeutlichen, worin der Unterschied zu einer klassischen Strafaktion liegt: Wenn ich mein Kind darum bitte, den Tisch abzuräumen, etwa weil wir eine Vereinbarung haben, dass dies zu seinen Aufgaben gehört, und mein Kind diese Bitte ignoriert, weil es lieber gerade etwas anderes tun möchte, dann hat dies zumindest in mir eine ganz natürliche Konsequenz: Meine — normalerweise recht hohe — Motivation, auf die Bedürfnisse meines Kindes einzugehen, nimmt ab. Wenn ich an einem bestimmten Tag, innerhalb einer bestimmten Woche oder gar eines Monats immer wieder in meinen Bedürfnisäußerungen ignoriert werde, dann leidet meine Bereitschaft, auf die Bedürfnisse meines Kindes einzugehen dermaßen, dass ich am liebsten in Streik gehen würde. Und das sage ich auch.
Oberflächlich betrachtet sieht es dann sehr nach einem Machtspiel oder einer klassischen Strafaktion aus, nach dem Motto: “ Wenn du nicht den Tisch
abräumst, dann fahre ich dich nicht zu deiner Freundin.” Der Unterschied ist jedoch der: die Unmutsäußerung meinerseits zielt nicht darauf ab, meinen Willen durchzusetzen, sondern die Beziehungsebene in Ordnung zu bringen, das verloren gegangene Gleichgewicht wieder herzustellen.
Das könnte zum Beispiel folgendermaßen ablaufen: “ Ich merke, wenn ich dich drei Mal bitte, den Tisch abzuräumen, ohne dass etwas iert, obwohl wir vereinbart haben, dass das zu deinen Aufgaben gehört, bin ich nicht wirklich motiviert, jetzt meinen Nachmittag darauf zu verwenden, dich zu deiner Freundin zu fahren.” Manchmal lautet die Antwort darauf: “Dann fahre mich halt nicht zu ihr, ich kann auch ihre Mutter bitten, mich zu holen.” In einem klassischen Machtkampf würde so eine Antwort erfolgreich den Machthebel, den ich angesetzt habe, aushebeln. Ich könnte den Tisch selber abräumen, das Verhältnis zwischen uns beiden wäre für den Moment gestört und ich hätte eindeutig den Kürzeren gezogen. Gewissermaßen habe ich meinem Sprössling das Angebot gemacht: tausche Fahrt zur Freundin gegen Tischabräumen, was ja ganz und gar nicht meine Absicht war.
Ich kann die Situation noch verschlimmern, indem ich sage: “Solange der Tisch nicht abgeräumt ist, darfst du nicht zu deiner Freundin.” Das ist wie eine Einladung zum Krieg. Die natürliche Antwort darauf ist in irgendeiner Form: “ Wer bist du, mir zu sagen, ob ich zu meiner Freundin darf oder nicht, du bringst mich ja noch nicht einmal hin!” Wie es dann weitergeht kann jeder sich selber denken. Klar ist, dass wir auf dieser Schiene unserem eigentlichen Ziel kein Stück näher kommen, eher im Gegenteil.
Anders verhält es sich, wenn meine Ansage gar kein Versuch der Machtausübung war, sondern der Wunsch nach Beziehungsaufbau.
In dem Fall könnte meine Antwort folgendermaßen aussehen: “ Darum geht es mir nicht. Ich nehme mir gerne Zeit, um dich zu deiner Freundin zu fahren, genauso wie ich mir gerne Zeit nehme, um viele andere Dinge für dich zu tun.
Du bist mein Kind, das macht mir Freude und ich sehe es auch als meine Aufgabe. Ich werde dann traurig/wütend/frustriert, wenn ich merke, dass ich mit meinen Anliegen von dir im Regen stehen gelassen werde. Ich denke das würde dich auch frustrieren. Mir geht es nicht darum, dass ich nichts mehr für dich tun möchte. Mir geht es darum, dass auch ich Bedürfnisse habe und dass ich brauche, dass diese gehört und gewürdigt werden, genau wie deine. Mich ärgert es, wenn wir Vereinbarungen treffen und diese nicht eingehalten werden, obwohl ich dich mehrmals darum bitte.”
Der springende Punkt ist der: Bin ich bereit, mein Kind trotzdem zu der Freundin zu fahren? Nur dann ist es kein Machthebel. Und natürlich bin ich genauso frei wie mein Kind, auch mal zu sagen: “Nein, heute habe ich keine Lust, dich zu fahren.” Ein Machthebel ist es dann, wenn ich das verwende, um Gehorsam zu erpressen, wenn es sich indirekt oder direkt um einen “Wenn ... dann ...”-Satz handelt.
“Ja, aber Moment mal”, mag sich nun manch einer denken, “ wieso sollte denn mein Kind dann den Tisch abräumen, wenn es unabhängig davon seinen Willen bekommt?” Ganz einfach, aus dem gleichen Grund, warum wir Dinge für unser Kind tun: weil wir ihm wichtig sind.
Bedeutet das, dass es das garantiert tun wird, wenn ich auf diese Weise mit ihm kommuniziere? Mit Sicherheit nicht. Bedeutet das, dass der Tisch vielleicht bis zum Abend unaufgeräumt bleibt oder es doch wieder an mir hängen bleibt, vielleicht sogar, obwohl ich das Kind zur Freundin gefahren habe? Schlimmstenfalls vielleicht ja. Was uns das Ganze dann bitteschön bringt? Es stößt in unseren Kindern wieder und wieder den Reflexionsprozess darüber an, in welcher Beziehung sie mit uns leben wollen und welchen Beitrag sie dazu leisten können. Sie werden zu bewussten Beziehungsgestaltern statt zu Befehlsverweigerern oder -ausführern.
Eltern, die einen solchen Umgang mit ihren Kindern pflegen, haben mir erzählt,
dass gerade die Auseinandersetzungen, wo sie in dem Moment nicht gehört wurden und dann doch den Tisch selbst abgeräumt haben, im Nachhinein zu der größten Verhaltensänderung bei dem Kind geführt haben. Manche Kinder müssen in dem Moment unserer Aufforderung bei ihrem “Nein” bleiben, um ihre Würde zu bewahren. Es wäre müßig, unsere Lebenszeit und -kraft darauf zu verwenden, sie ihnen zu nehmen. Es ist sogar so: Je mehr wir in dem Moment auf Gehorsam beharren, desto größer wird die Notwendigkeit, die eigene Würde zu verteidigen. Unterlassen wir diese Form von Machtausübung jedoch und beschränken uns auf eine — vielleicht sogar dringliche — Bedürfnisäußerung, hat unser Kind die Chance, sich von selbst auf seine Liebe und Wertschätzung für uns zu besinnen. Dieser Prozess braucht Raum. Kinder sind uns im Stillen dankbar, wenn wir es unterlassen, unsere Macht zu missbrauchen, um über Liebesentzug unseren Anspruch durchzusetzen — gerade wenn er eigentlich “legitim” gewesen wäre, etwa weil er auf einer Vereinbarung beruhte.
Ist Kontrolle wirklich besser als Vertrauen?
Wer kennt ihn nicht, den Spruch “Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser”. Was in geschäftlichen Belangen seinen Platz haben mag, trifft auf die Eltern-KindBeziehung nicht zu. Die Idee, dass wir unsere Kinder unter Kontrolle haben sollten, ist Gift für eine gesunde Beziehung mit ihnen. Sie ist ungefähr genauso hilfreich wie die Idee, unseren Lebensgefährten unter Kontrolle haben zu wollen — also gar nicht.
Doch es ist gerade die Angst vor Kontrollverlust, die es zu Anfang für uns schwierig macht, die eingetretenen Pfade zu verlassen. Vor allem wenn wir den Gedanken verinnerlicht haben, dass es Aufgabe der Eltern ist, ihre Kinder im Griff zu haben, tun wir uns mit der Vorstellung schwer, nicht die Kontrolle über unsere Kinder zu haben.
Auch die Idee, dass wir unseren Kindern auf keinen Fall zeigen sollen, dass wir auch von ihnen abhängig sind, um unseren Machtstatus nicht zu gefährden, ist
hier kontraproduktiv. Gerade diese Verletzlichkeit, die wir zeigen, ist der Schlüssel zum Erfolg — nicht als Manipulation, nicht als Schuldmechanismus und damit als indirekte Machtausübung, sondern einfach als das, was sie ist: “ Du brauchst mich, ich brauche dich, wir brauchen einander. Wir können daraus ein Problem machen, indem wir immer ängstlich darum schielen, ob wir auch ja unseren Teil einfordern. Oder wir können es als etwas Schönes betrachten und es uns zur Freude machen, Dinge füreinander zu tun. ” Gelingt uns dieser Schritt aus dem Paradigma der Machtausübung, das bis vor kurzem noch der Standardumgang zwischen Erwachsenen und Kindern war, gelingt uns ein wichtiger Schritt in ein neues Miteinander, das geprägt ist von gegenseitigem Respekt und auch von Wertschätzung für das, was wir teilen.
Gemeinsam Leben gestalten
Unser Umgang ist dann Ausdruck eines “Macht-mit”-Denkens statt “Machtüber”. “Macht-mit” bedeutet, dass wir unsere Einfluss- und Gestaltungsfähigkeiten zusammenfügen, um das Leben auf eine Weise zu gestalten, die es für alle Beteiligten so freudvoll und erfüllend wie möglich macht. Diese Form der Machtausübung ermächtigt uns im wahrsten Sinne des Wortes zu Kooperation und Erfüllung, während die klassische Form des “Machtüber ”-Ausübens meistens dazu führt, dass am Ende keiner bekommt, was er möchte. Das Beispiel mit dem Tisch abräumen hat dies verdeutlicht.
“Doch was ist mit der Disziplin?” werde ich gelegentlich gefragt. Wie sollen Kinder denn Disziplin lernen, wenn sie immer machen können, was sie wollen? Meine Gegenfrage hierzu lautet: Wie sollen Kinder Selbstdisziplin erlernen, wenn sie immer zu allem gezwungen werden, wenn sie nie den Raum haben zu merken, dass es an ihnen liegt, sich für etwas einzusetzen oder eben nicht.
Es ist diese freiwillige und durchaus freudvolle Selbstdisziplin, die es mir seit vielen Jahren ermöglicht, mit großer Begeisterung vielfältige Projekte voranzutreiben. Die Vorstellung, dass Kinder Disziplin durch Zwang erlernen, ist
meines Erachtens überholt. Zwang erzeugt inneren Widerstand, der noch Jahre später nachwirken und zu einem echten Problem werden kann, gerade wenn es gilt, in Stresssituationen Leistungen zu erbringen.
Der Paradigmenwechsel von “Macht-über” in “Macht-mit” wird nicht nur unsere eigene Beziehung zu unseren Kindern ein Leben lang bereichern. Sie rüstet auch unsere Kinder für einen reifen, offenen und schönen Umgang mit anderen Menschen — beruflich oder privat, mit den eigenen Kindern oder im Freundeskreis.
Beziehung unter erschwerten Bedingungen
Bevor wir das Thema Macht hinter uns lassen, möchte ich es nicht versäumen, auch über Schule zu sprechen. Zwar habe ich dieses Buch, wie zu Anfang bereits angekündigt, vor allem für Eltern geschrieben, doch ich weiß auch, dass es viele Pädagogen gibt, die sich einen anderen Umgang mit unserem Nachwuchs wünschen und sich von Herzen darum bemühen. Immer wieder habe ich auch Lehrer, Erzieher und andere Pädagogen in meinen Seminaren und Trainings sitzen. Daher weiß ich um ihre aufrichtige Sehnsucht, eine neue Art von Beziehung zu Kindern und Jugendlichen aufzubauen.
Leider haben sie hier sehr schlechte Karten. Die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche in der Regel nicht freiwillig zur Schule gehen, macht es sehr schwierig, eine Beziehung auf Augenhöhe aufzubauen. Das bedeutet nicht, dass es unmöglich ist, und ich weiß, es gibt Lehrer, denen das trotzdem gelingt. Ich möchte jedoch an dieser Stelle würdigen, dass dies unter massiv erschwerten Bedingungen geschieht.
Nun mag sich in manch einem ein Absolutheitsanspruch rühren, der da heißt: “ Ja, aber Kinder müssen doch in die Schule gehen! Sie müssen doch schließlich
etwas lernen. Und wenn Schule freiwillig wäre, wer würde denn dann noch hingehen! ” Ich möchte auch diesen Absolutheitsanspruch infrage stellen. Es gibt genügend Beispiele von Kindern, die auch ohne Schule jede Menge gelernt haben. Trotzdem kann eine Schule etwas ganz Wunderbares sein, und ich wünsche mir Schulen, die Kinder auch freiwillig besuchen würden. Auch solche Schulen gibt es bereits, nur leider viel zu wenige.
Die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung bestätigen diese Haltung. Wir wissen heute, dass Lernen dann geschieht, wenn Begeisterung vorhanden ist. [8] Zudem wurde in zahlreichen Studien bewiesen, dass Bewegungsmangel schon nach relativ kurzer Zeit zu messbaren und nicht unerheblichen Einbußen unserer Intelligenz führt. [9] Was das für das Konzept von zehn Pflichtschuljahren bedeutet, die primär sitzend zugebracht werden, kann sich jeder selbst überlegen. In diesem Zusammenhang ist es klar, dass unser bisheriger Ansatz von Zwangsbeschulung überholt ist. Leider sind unsere Möglichkeiten, dies als Pädagogen unmittelbar zu ändern, nicht groß, und Lehrer sind die erste Zielscheibe kindlicher Wut über das längst überholte System.
Wenn es Pädagogen wirklich ein Anliegen ist, eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen, kommen sie nicht umhin, dies zum Thema zu machen. Transparenz darüber, was der Rahmen ist, der vorgegeben ist und den auch der Pädagoge selbst nicht verändern kann, ist hilfreich. Ebenso kann dann der Raum abgesteckt werden, der gemeinsam gestaltet werden kann. Es können gemeinsam Vereinbarungen entwickelt und konsensiert werden, wie wir miteinander umgehen wollen, um die gemeinsame Zeit so fruchtbar und gewinnbringend zu gestalten, wie es unter diesen Umständen möglich ist.
Eltern und Schule
Auch Eltern sind immer wieder mit der Herausforderung konfrontiert, mit den Bedürfnissen des Kindes einerseits respektvoll umzugehen und zugleich im Rahmen der Gegebenheiten zurechtzukommen. In Deutschland herrscht derzeit
Schulpflicht. Das ist eine Tatsache, die wir als Eltern nicht unmittelbar ändern können, vielleicht auch gar nicht wollen.
In den meisten anderen Ländern gibt es die Möglichkeit, Kinder nicht in die Schule zu schicken und alternative Bildungswege zu suchen. Dies erleichtert den Dialog mit dem Nachwuchs zum Thema Schule. Denn auch wenn die Schule nicht perfekt ist: Die Möglichkeit zu wählen, stärkt die Mündigkeit und Eigenverantwortung des Kindes. Auch später im Leben wird es immer mit Situationen zu tun haben, die nicht perfekt sind. Es hat jedoch in viel größerem Maße die Möglichkeit zu wählen. Auf diesen Freiraum können wir unsere Kinder mit Schulpflicht schlecht vorbereiten.
Doch auch im Rahmen der Schulpflicht können wir immer wieder den Dialog suchen, um einen guten Umgang mit diesem Umstand zu finden. Wir können gemeinsam die richtige Schule wählen und Strategien entwickeln, um mit der gewählten Schule gut umzugehen. Transparenz, dass der Zwang in die Schule zu gehen gesetzlich vorgegeben ist und dass wir als Eltern lediglich ausführendes Organ sind, erleichtert auch diesen Dialog. Genauso können wir ehrlich unseren Wunsch ausdrücken, dass unser Nachwuchs in die Schule geht und einen guten Abschluss macht. Womöglich hat sich das in unserem Leben als eine gute Strategie für unser weiteres Leben erwiesen — oder wir haben genau das versäumt und meinen, es wäre anders besser gewesen. Für all diese Bedürfnisse können wir einstehen, auch ohne Absolutheitsansprüche, und damit einen Dialog auf Augenhöhe zu diesem wichtigen Thema führen.
[7] Thomas Gordon, Die Familienkonferenz, Heyne Gruppe München, 2004, S. 207- 208
[8] gerald-huether.de/populaer/veroeffentlichungen-von-gerald-huether/texte/ begeisterung-gerald-huether/index.php, abgerufen am 9. Juni 2014 um 20:30 h
[9] www.gfg-online.de/s/wissenschaftsartikel/quelle_2009- 02_10.pdf, abgerufen am 9. Juni 2014 um 20:30 h
Was Kinder von uns brauchen
Jetzt sind wir mit unserem kleinen Büchlein fast am Ende und es ist mir durchaus bewusst, dass die Vielzahl an Inputs, Beispielen und Herangehensweisen zum Thema Gefühle, Absolutheitsansprüche, Beziehungsfähigkeit, natürliche Hierarchien und Ähnliches zu diesem Zeitpunkt womöglich im Kopf des Lesers wild durcheinander purzeln. Zum einen möchte ich dazu anregen, dieses Buch nicht wie einen Roman von A bis Z einmal durchzulesen und dann auf den Stapel der gelesenen Bücher zu legen. Das wäre wohl wenig sinnvoll. Wesentlich gewinnbringender und erfolgversprechender ist es, die kleine Gefühlskunde immer wieder zurate zu ziehen und bestimmte agen genau dann wieder zu lesen, wenn ein Thema gerade aktuell ist. Es ist als eine Art Kom gedacht, an dem man sich immer wieder ausrichten kann, oder auch als Landkarte, die man ja auch immer wieder hervorholen muss, egal wie gründlich man sie vor Reiseantritt studiert hat.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb möchte ich an dieser Stelle das Viele auf vier einfache Punkte herunterbrechen, die uns im Alltag dabei helfen können, in den emotionalen Wogen nicht die Orientierung zu verlieren. Diese sind kein Ersatz für alles vorher gesagte, sie fassen es vielmehr auf eine Art zusammen, die hoffentlich leichter zu greifen ist.
Was unsere Kinder von uns brauchen im Überblick:
1. Einfach da sein
2. Einfach zuhören
3. Gefühle benennen
4. Bedürfnisse benennen
1. Einfach da sein
Das hört sich natürlich nach einem Supervorschlag an: einfach da sein. Sind wir nicht ohnehin da? Und was bitteschön soll “einfach” in dem Fall bedeuten? Also, erstens sind wir oft nicht da und zweitens, wenn wir schon da sind, dann eben nicht einfach.
Da sein bedeutet auch innerlich anwesend sein. Anders ausgedrückt: präsent sein. Kinder spüren unsere (innere) An- oder Abwesenheit sehr deutlich. Sie brauchen jedoch nicht nur unsere physische Anwesenheit, sondern auch unsere innere Anwesenheit. Es nützt ihnen wenig, wenn wir zwar physisch da sind, jedoch emotional oder in Gedanken mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind. Das Smartphone ist hierbei nur die jüngste Ausdrucksform der inneren Abwesenheit. Auch ohne Smartphone kann man sich wunderbar ausklinken.
Bedeutet das, dass wir ständig innerlich wie äußerlich absolut präsent sein müssen? Natürlich nicht. Das wäre erstens unmöglich und zweitens unsinnig. Es ist ja ganz normal und in Ordnung, dass uns in unserem Leben alles Mögliche beschäftigt. Es wäre sogar schlimm, wenn wir ständig mit unserer inneren und äußeren Aufmerksamkeit an unserem Kind kleben würden. Das Kind braucht auch den Raum unserer Abwesenheit — der inneren wie der äußeren —, um sich entfalten zu können.
Doch genauso braucht es eben auch den Raum unserer inneren und äußeren Anwesenheit. Und vor allem in Momenten, die schwierig sind, braucht es diese Anwesenheit umso mehr.
Ich betone das hier an erster Stelle weil ich aus eigener Erfahrung und Beobachtung weiß, wie leicht wir dies vergessen. Gerade in (emotionalen und anderen) Stresssituationen verfallen wir nur allzu gerne in irgendeine Form des Aktionismus. Es ist nicht leicht, den vielfältigen Zwängen und den Drängen zu widerstehen, die uns in diesen Momenten anfallen: dem Drang, es wieder gutzumachen, dem Drang zu trösten, dem Drang, einen Schuldigen zu finden und vieles andere mehr.
Besinnen wir uns in diesen Momenten, die uns vielleicht auch überfordern, vor allem zunächst einmal darauf, dass das Kind hier unsere Anwesenheit braucht, dann ist das schon die halbe Miete. Wir müssen zunächst gar nichts tun oder verstehen. Wir müssen auch keine Meinung zu dem haben, was sich abspielt. Wir müssen zunächst einfach nur da sein.
2. Einfach zuhören
Der nächste Punkt ist schon etwas konkreter, doch vermutlich nicht minder anspruchsvoll wie der eben genannte: einfach zuhören. Das bedeutet zunächst einmal vor allem eines: nichts sagen. Einfach zuhören bedeutet auch, eigene Gedanken, Wertungen und Meinungen zunächst einmal zur Seite zu stellen und sich ganz für die momentane Welt des Kindes zu öffnen, diese in sich aufzunehmen, ohne sich jedoch in ihr zu verlieren.
Zuhören wird in unserer Kultur massiv unterschätzt. Wir legen großen Wert
darauf, uns ausdrücken zu können. Wir besuchen Kurse und lesen schlaue Bücher, wie wir Anliegen, Bedürfnisse, Wünsche und Gedanken am besten formulieren, damit der andere sie auch hören kann. Doch dass auch das Zuhören ein höchstanspruchsvoller, alles andere als iver Prozess ist, wird meistens außer Acht gelassen.
Zuhören bedeutet, dass ich mich innerlich leer mache, um für die Gedanken und Gefühle des anderen Raum zu schaffen. In diesem Raum kann sich das Gehörte mit bereits Bekanntem verknüpfen, wodurch Verstehen erst möglich wird.
Für Kinder ist “einfach zuhören” ein wichtiger Ausdruck von “einfach da sein”. Im Zuhören findet unsere einfache, innere und äußere Anwesenheit einen konkret erfahrbaren Ausdruck. Viele emotional schwierige Situationen lösen sich scheinbar von selbst auf, wenn wir zuhören. Die meisten Konflikte lassen sich durch Zuhören beheben. Indem wir einfach da sind und zuhören, sortieren sich viele Dinge von allein, und das Kind findet wieder zu seiner eigenen Klarheit zurück.
3. Gefühle benennen
So wichtig es ist, da zu sein und zuzuhören, so wichtig ist es manchmal auch, Gefühle zu benennen. Bei kleinen Kindern ist das genauso wichtig wie die Benennung eines Baumes als “Baum” und die einer Straße als “Straße”. Es handelt sich um schlichtes Vokabellernen. Indem ich dem Kind den Namen des Gefühls nenne, das es gerade spürt, lernt es, wie dieses heißt. Das mag sich banal anhören, ist es jedoch nicht.
Allzu häufig werden Gefühle nicht benannt oder falsch benannt. Indem ich Wut als Wut, Trauer als Trauer und Angst als Angst benenne, helfe ich dem Kind, schon früh Unterscheidungen zu treffen. Es lernt: “Ah, das ist es, was gerade mit
mir iert! So heißt das!” Indem ich es benenne und signalisiere, dass ich das kenne, dass das normal und verständlich ist, helfe ich dem Kind, auch schwierige Gefühle anzunehmen und als normalen Teil des Lebens kennenzulernen.
Nehmen wir als Beispiel die Situation, dass ein Vierjähriger auf dem Spielplatz seine liebste Sandschaufel verlegt hat. Wie gründlich auch gesucht wird, sie ist und bleibt unauffindbar. Schließlich geben alle frustriert auf und machen sich auf den Heimweg. Der Kleine ist deutlich niedergeschlagen. Indem die Mutter sagt: “Bist traurig, dass deine Schaufel weg ist, oder?”, benennt sie das Gefühl. Wenn er das bejaht kann sie vielleicht noch hinzufügen: “ Das verstehe ich. Ich bin auch traurig, wenn ich etwas verliere, das mir wichtig ist.” In dem Fall bekommt er die Botschaft: Ich sehe dein Gefühl, so heißt es, ich kenne das auch, das Gefühl ist für diese Situation völlig angemessen und in Ordnung. Danach kann es so stehen gelassen werden. Es muss nicht gesagt werden, dass das bald vorbeigeht, denn es ist ja nichts Schlimmes. Es muss nicht gesagt werden, dass das blöd ist, dass die Schaufel weg ist. Und sie muss auch nicht weggemacht werden, indem ihm gleich eine neue Schaufel versprochen wird. Die Trauer darf einfach da sein und ihren Lauf nehmen.
Doch wie ist es, wenn der Kleine nicht traurig ist, sondern wütend? In dem Fall würde ich auch das Gefühl benennen. Doch dann auch das Signal geben, dass dieses Gefühl zwar in Ordnung ist, jedoch hier gerade nicht weiterhilft. Ich könnte sagen: “ Ich kann total verstehen, dass du sauer bist, dass deine Schaufel weg ist, ich weiß, wie gerne du sie gemocht hast. Leider hilft Sauerwerden hier gerade gar nicht weiter. Davon kommt die Schaufel auch nicht wieder und wir haben schon alles versucht, um sie wieder zu finden, da kann man wütend werden, so viel man will, das ist nur anstrengend. ”
Wie zuvor beschrieben wird es stark vom Alter, dem Charakter und dem emotionalen Entwicklungsstand des Kleinen abhängen, wie er darauf reagiert. Doch er hat die Information erhalten, dass dieses Gefühl an sich zwar in Ordnung ist, jedoch in diesem Fall nicht hilfreich. Vielleicht wollte er mit
seinem Wutanfall auch bezwecken, dass sofort eine neue Schaufel gekauft wird. In dem Fall kann ich ihm helfen, das eigene Bedürfnis klar auszudrücken, indem ich es zunächst für ihn benenne.
4. Bedürfnisse benennen
Genauso wichtig wie das Benennen von Gefühlen ist das Benennen von Bedürfnissen. Gerade am Anfang ist es ja häufig so, dass sowohl die Gefühlsals auch die Bedürfnisäußerungen äußerst diffus sind. Es wird einfach geschrieen oder geschmollt oder sonst wie protestiert, ohne dass klar artikuliert wird, was eigentlich das Problem, geschweige denn der Wunsch ist. Bei Kleinkindern kann uns diese Angewohnheit zuweilen ziemlich nerven und die meisten Eltern legen großen Wert darauf, das Kind immer wieder dazu anzuhalten, die eigenen Bedürfnisse nicht nur durch ein diffuses Quieken und Fingerzeigen auszudrücken, sondern in mehr oder weniger vollständigen Sätzen zu formulieren. Das sind die Momente, wo aus dem berühmten “Äh-Äh” ein klar artikuliertes “ Wasser!” wird.
Doch mit diesem Entwicklungsschritt allein ist es natürlich nicht getan. So wichtig es in dieser Phase ist, den Ausdruck der eigenen Bedürfnisse zu fördern und zu fordern, so wichtig ist es auch später noch, wenn die Bedürfnisse komplexer, vielschichtiger und vielleicht auch schwieriger sind.
Immer wieder kommt es zu Situationen, wo Kinder emotionale Ausbrüche haben, ohne dass klar ist, warum. In dem Moment ist neben dem Benennen des Gefühls die Identifikation und der Ausdruck des Bedürfnisses wichtig. Das ist meistens so lange kein Problem, wie dieses Bedürfnis sofort befriedigt werden kann. Um bei dem Beispiel oben zu bleiben: Wenn mein Kind Wasser will und ich welches bei mir habe, ist es für mich sehr naheliegend, dem Kind bei seiner Bedürfnisformulierung zu helfen, das Bedürfnis zu befriedigen und wieder Ruhe herzustellen.
Wenn es sich jedoch um ein Bedürfnis handelt, das gerade nicht unmittelbar befriedigt werden kann — wie das Bedürfnis, die Schaufel wieder zu finden —, tendieren wir Erwachsenen oft dazu, die Bedürfnisformulierung zu vernachlässigen. Nach dem Motto: “ Was bringt es denn schon, wenn mein Kind mir sagt, was es will, und das gerade nicht geht? Dann mache ich ja alles nur noch schlimmer, wenn ich ihm dabei helfe, das zu formulieren! ” Doch genau diese Annahme ist falsch. Eines der Grundbedürfnisse ist es nämlich, die eigenen Bedürfnisse auszudrücken und anerkannt zu bekommen. Wir wollen, dass unsere Bedürfnisse gewürdigt werden — auch wenn sie nicht unmittelbar befriedigt werden können. Die Tatsache, dass ein bestimmtes Bedürfnis gerade nicht befriedigt werden kann, tut weh. Wenn ich die Bedürfnisäußerung des Kindes nicht unterstütze oder gar versuche, diese zu unterbinden, lasse ich das Kind mit diesem Schmerz allein.
Viele Eltern haben Angst vor den Bedürfnissen ihrer Kinder. Das liegt zuweilen daran, dass sie Angst vor den Gefühlsausbrüchen haben, die mit einer Bedürfnisfrustration bei Kindern einhergehen kann. Oder aber daran, dass die Eltern sich an den eigenen Schmerz nicht erfüllter Bedürfnisse erinnert fühlen. Oder daran, dass sie denken, sie wären dann — wie es ja bei dem Säugling tatsächlich war — immer noch für die Bedürfnisbefriedigung verantwortlich. All das ist verständlich. Nichts davon hilft uns jedoch dabei, Kinder bei der Entwicklung ihrer Fähigkeit zu unterstützen, ihre Bedürfnisse auszudrücken.
Was uns jedoch sehr wohl hilft ist die Erkenntnis, dass allein die Würdigung des Bedürfnisses schon ein wichtiger Beitrag zur akuten Schmerzlinderung ist — vielleicht der wichtigste von allen. Es ist ein Ausdruck von Empathie, in irgendeiner Form zu sagen “ Hey, ich weiß, du hast dir das echt gewünscht, und jetzt klappt das nicht. Wie schade!” So lassen wir das Kind nicht allein mit seinem Schmerz, sondern geben ihm zu verstehen: Es ist ok, Bedürfnisse und Wünsche zu haben, und es ist normal, dass es wehtut, wenn diese nicht erfüllt werden. Das ist ok, es gehört zum Leben dazu, ich kenne das.
Mit dieser Grundbotschaft hat das Kind eine gute Basis, sich auch in schwierigen Situationen liebevoll den eigenen Bedürfnissen zuzuwenden, diese auszudrücken — und zu wissen, dass nicht jedes Bedürfnis erfüllt wird. Wenn es weiß, dass an all dem nichts falsch oder komisch ist — dass es sich seiner Bedürfnisse weder schämen, noch sie allein mit sich herumtragen muss —, dann kann es diese auch später gut wahrnehmen und ausdrücken, ohne andere damit zu terrorisieren.
Mit dieser Zusammenfassung, was Kinder von uns brauchen, möchte ich Teil III abschließen. Im Anhang gehe ich noch auf die Themen Liebesfähigkeit und Vertrauen ein, die für ein erfülltes Elternsein von übergeordneter Bedeutung sind.
Anhang
Von der Biologie zur Liebesfähigkeit
Wir lieben unsere Kinder, zweifellos. Kaum ein Gefühl ergreift so dermaßen von uns Besitz, verzehrt und verschlingt uns so vehement wie die Liebe zu unseren Kindern. Wie eine Freundin, frisch gebackene Mutter, neulich zu mir sagte: “ Ich hätte nie gedacht, dass man das eigene Kind so lieben kann!” Doch was ist diese Liebe eigentlich, die da über uns hereinflutet, kaum dass wir dieses kleine Wesen zum ersten Mal in den Armen halten — dieses Gefühl, das uns nie ganz verlässt, egal wie viel Ärger wir auch mit diesem Menschen haben mögen, sowie das Leben seinen Lauf nimmt? Wir nennen es Liebe, doch was meinen wir damit?
Zu Anfang habe ich ja bereits einige Unterscheidungen angeführt, die ich in Bezug auf die Gefühlswelt getroffen habe, wie etwa die Differenzierung von biologischer Programmierung und Fähigkeiten bzw. Zuständen oder jene von Gefühlen und Emotionen. An dieser Stelle möchte ich dieses Thema noch einmal aufgreifen, um den Kreis zu schließen und die Mutter- oder Vaterliebe genauer unter die Lupe zu nehmen.
Wir beginnen unsere Reise als Eltern im Bann einer biologischen Programmierung — zum einen jener Programmierung der Verliebtheit oder zumindest des Fortpflanzungstriebes, zum anderen jenes hormonell induzierten Ausnahmezustandes, der Mutter- oder Vaterliebe heißt. Ähnlich wie im Zustand der Verliebtheit öffnet dieser Hormonrausch in uns die Möglichkeit, die Schönheit, das Licht, die Vollkommenheit im anderen zu sehen. Die meisten Eltern sind ganz verzaubert von ihrem Nachwuchs und können sich nicht vorstellen, dass es schon jemals so ein schönes Baby auf der Welt gab. Und ähnlich wie in der Phase erster schwerer Verliebtheit können wir uns in dieser Phase auch schwer vorstellen, dass dieses kleine Wesen auch andere, weniger
göttliche Seiten haben könnte. So vollkommen sind unser Rausch und unser Glück.
Natürlich ändert sich das in beiden Fällen im Laufe der Zeit. Wir erkennen mit zunehmendem Alter immer deutlicher, dass es Wesenszüge in diesem heranwachsenden Menschen gibt, die wir gerne mögen — und andere, mit denen wir weniger gut können. Das ist natürlich normal. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um?
Damit wir auch mit den Seiten, die uns nicht so entsprechen, gut umgehen können, sind wir gefordert, unsere Liebesfähigkeit zu entwickeln. Der große Vorteil am Elternsein ist, dass die Stärke der biologischen Programmierung uns in diesem Prozess helfen kann. Sie hilft uns, immer wieder den Kontakt zu dem Guten und Schönen im anderen zu finden, auch während wir mit den anderen Seiten ringen.
Dein Kind ist anders als du — wie schön!
Für viele Eltern ist diese Erkenntnis eine erstaunliche: “Mein Kind/unser Kind, ist ganz anders als wir!” Diese Erkenntnis stellt uns vor eine wichtige Frage: “Sind wir bereit, dieses Wesen, das so anders ist als wir, anzunehmen, wie es ist?” Erfahrungsgemäß ist es sehr leicht, diese Frage spontan mit “Ja, klar!” zu beantworten, und sehr schwierig, das im Alltag dann auch so zu fühlen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb hilft es uns, immer wieder zu dieser Frage zurückzukehren, uns an ihr auszurichten. So entwickeln wir nach und nach die Fähigkeit, wirklich zu lieben und unser Kind in seiner Gesamtheit anzunehmen.
Das bedeutet nicht, dass ich zu allem “Ja” und “Amen” sage. Es bedeutet jedoch sehr wohl, dass ich seine Gefühle und Bedürfnisse respektiere und mit ihnen in
aufrichtige Beziehung trete. Und es bedeutet auch, dass ich mich immer wieder für die Gesamtheit seines Wesens öffne und es in mein Herz schließe. In Teil I, als es um Trauerkraft ging, habe ich davon gesprochen, wie Trauer unser Herz öffnen kann und uns befähigt, unser Kind auch dann anzunehmen, wenn es anders ist, als wir es gerne hätten. Und als es dann um die Freudekraft ging, habe ich davon gesprochen, wie wichtig es ist, einerseits bedingte Freude und Würdigung auszudrücken und andererseits eine Grundfreude an dem Kind in seinem So-Sein zuzulassen. Setzen wir dieses Puzzle zusammen, ergibt sich ein wunderbarer Teppich der Wertschätzung, auf dem die Beziehung zwischen uns und unseren Kindern sich entfalten kann. Und dann wird der Weg des Elternseins zu einem zutiefst bereichernden und lohnenden Weg: vom hormonell induzierten Rausch zu wahrer Liebesfähigkeit.
Damit dieser Weg gelingt, tun wir gut daran, neben unserer Liebesfähigkeit auch noch eine weitere Fähigkeit auszubilden. Es handelt sich um die Fähigkeit zu vertrauen.
Von der Angst ins Vertrauen
Wie im Kapitel über Angst in Teil I bereits angesprochen leiden Eltern unter vielfältigen Ängsten und Sorgen. Zum Teil sind diese, wie bereits erwähnt, biologisch programmiert und Ausdruck unseres Triebes, unseren Nachwuchs vor allem Unheil zu bewahren. Zum Teil sind sie Fehlentwicklungen unseres hyperaktiven Verstandes, der sich mit Fleiß alle möglichen Schreckensszenarien zusammenschustert und sich so die Zeit vertreibt. Und zum Teil sind sie eine gesunde Kraft, die es uns ermöglicht, gemeinsam mit unserem Kind dem Unbekannten immer wieder neu zu begegnen.
Doch jenseits von diesen Auffächerungen gibt es eine Ebene, bei der es nicht um einzelne Situationen, Menschen oder Begebenheiten geht und Ängste, die wir in Bezug auf diese erzeugen oder eben nicht. Auf dieser Ebene geht es vielmehr um unsere Einstellung zum Leben und zur Welt als Ganzes. Einstein soll einmal
gesagt haben: “Die wichtigste Erkenntnis meines Lebens ist die, dass wir in einem liebenden Universum leben.” [10] Aus einer solchen Erkenntnis erwächst Vertrauen. Nicht die Art von Vertrauen, die wir einem Menschen schenken, weil wir gute Erfahrungen mit ihm gemacht haben und wissen, dass er uns nicht enttäuschen wird. Sondern jene Art von Vertrauen, die nichts mit Einzelpersonen zu tun hat, sondern dem Leben in seiner Gesamtheit gilt. Früher haben vor allem Religion und Glaube vielen Menschen geholfen, diese Art von Vertrauen zu entwickeln. Heute haben diese Zugänge für eine wachsende Anzahl von Menschen ihre Gültigkeit verloren. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir ohne ein Grundvertrauen in den Lauf des Lebens gut zurechtkommen.
Mitunter fällt es uns schwer, Vertrauen zu entwickeln, denn das Leben folgt einer komplett anderen, nicht-linearen Logik oder inneren Ordnung, die für unseren Verstand nicht zu greifen ist. Gerade in unserer Kultur, die den Verstand derart betont, ist es schwierig, für Vertrauen als Herzensdisziplin zu argumentieren. Es macht — rational betrachtet — einfach keinen Sinn, Vertrauen zu haben. Zugleich ist es aber so, dass das Leben extrem schwierig, anstrengend und kompliziert wird, wenn wir nicht vertrauen. Wir kommen in die unangenehme Lage, alles kontrollieren zu wollen — ein unmögliches Unterfangen.
Eltern brauchen Vertrauen
Kinder, als Ausgeburt des Lebens, konfrontieren uns mehr als alles andere auf der Welt mit dieser Tatsache. Das ist ein Teil ihrer Magie. Als Eltern verlieren wir schnell den Verstand, wenn wir versuchen, das Leben und dazu noch unsere Kinder zu kontrollieren. Wir werden zu reinen Nervenbündeln — und Elternsein ist ja so schon anstrengend genug! Wenn wir also vor unserem Jobantritt als Eltern noch nicht gelernt haben zu vertrauen, dann wird es höchste Zeit, dass wir das nun nachholen. Und haben wir uns all die Baby-, Kleinkind- und Kinderjahre durchgemogelt — spätestens mit der Pubertät kommen wir nicht mehr aus, vom Erwachsenenalter ganz zu schweigen. Irgendwann müssen wir loslassen und sagen: “Wird schon seinen Sinn haben.”
Kinder brauchen Eltern, die vertrauen
Für unsere Kinder ist es auch sehr schwierig, mit Eltern zusammenzuleben, die nicht fähig oder bereit sind zu vertrauen. Eltern geben ihr Misstrauen in das Leben und die Welt an Kinder weiter, wodurch diese sich sehr unsicher fühlen. Außerdem ist es für Kinder fast unmöglich, Selbstvertrauen zu entwickeln, wenn die Eltern kein Urvertrauen in ihre Kinder haben. Und die Entscheidung, Vertrauen in die eigenen Kinder zu haben, ist letztlich eine irrationale Herzentscheidung: Schließlich kennen wir diese Wesen ja nicht! Sie verändern sich jeden Tag! Wer weiß, welche Ideen, Gedanken, Gefühle und Impulse morgen in ihnen auftauchen werden?
Wie entwickeln wir Vertrauen?
Das Leben will vorwärts gelebt werden, kann jedoch nur rückwärts verstanden werden. Je wacher und achtsamer wir durch unser Leben gehen, desto mehr offenbart sich uns eine innere Ordnung, die alles zusammenhält. Das mag sich sehr mystisch anhören, ist es aber nicht. Es ist die schlichte Erkenntnis, dass alles irgendwie Sinn macht, auch wenn es oberflächlich betrachtet gar nicht so aussieht. Es ist die Einsicht, dass wir vieles erst Jahre später verstehen. Und Vertrauen ist die Weisheit, die eigenen Urteile und Wertungen in den Bereichen hintanzustellen, die wir ohnehin nicht kontrollieren können.
Folgende Geschichte illustriert dieses Phänomen sehr gut. Sie handelt von einem alten Mann, der allein mit seinem Sohn in einem Dorf lebte. Eines Tages war der Sohn verschwunden. Die Nachricht breitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf aus und schon bald kamen die anderen Dorfbewohner zu dem alten Mann, um ihn zu bemitleiden. Wer sollte ihm jetzt bei der Feldarbeit helfen, wer das Holz hacken und das Haus in Ordnung halten? Doch der alte Mann sagte nur: “ Wir werden sehen, wer weiß, wofür es gut ist.”
Nach einiger Zeit kehrte der Sohn zurück und brachte eine Herde Wildpferde mit, die er im Wald gefunden hatte. Auch diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf und schon bald tauchten die Dorfbewohner wieder bei dem Alten auf, diesmal um ihm zu gratulieren. “Du hattest recht!”, sagten sie, “es war gar kein Unglück, sondern ein Glück, dass dein Sohn fortgegangen ist!” Doch der alte Mann sagte nur: “ Wir werden sehen, wer weiß, wofür es gut ist.”
Wenig später wurde der Sohn beim Zureiten der Pferde abgeworfen und brach sich beide Beine. Wie zuvor breitete auch diese Nachricht sich rasend schnell im Dorf aus und wieder kamen die Dorfbewohner, um den Alten zu bemitleiden. Seine Reaktion war wieder die gleiche: “ Wir werden sehen, wer weiß, wofür es gut ist.”
Kurz darauf brach Krieg aus. Alle jungen Männer wurden in die Armee eingezogen. Nur der Sohn des Alten nicht, da er sich beide Beine gebrochen hatten. Erneut kamen die Dorfbewohner zu dem Alten, diesmal wieder um ihn zu beglückwünschen. Da sagte der Alte: “ Wann werdet ihr wohl endlich aufhören, ständig zu sagen: Das ist gut, das ist schlecht? Habt ihr immer noch nicht verstanden, dass wir nie wissen können, wofür etwas gut ist? ”
Ich habe diese kleine Gefühlskunde mit einer Geschichte begonnen und möchte sie nun mit dieser Geschichte abschließen. In der Geschichte am Anfang des Buches ging es um die Magie der Kinder. Diese Geschichte handelte nun von der Magie des Vertrauens. Diese Magie gibt uns Eltern die Kraft, die Gelassenheit und die Weisheit, unsere Kinder in eine Welt zu begleiten, in der sie über uns hinauswachsen werden.
[10] www.lebenszitate.com/albert-einstein.html, abgerufen am 10. Juni um 18 h
Danksagung
An allererster Stelle möchte ich meinen Kindern danken. Von ihnen habe ich am allermeisten gelernt über die Beziehung auf Augenhöhe und wie wichtig es ist, dass wir gut miteinander umgehen, und wie das geht. Danke für eure Geduld mit meinen Lernschritten!
Ein riesengroßer Dank gilt auch meiner langjährigen Freundin Chiara Jana Greber. Ohne die Dialoge mit ihr, die kritischen Reflexionen und auch wertschätzenden Ermutigungen würde es dieses Buch wohl kaum geben.
Ein großes Dankeschön gilt auch meinem Lebensgefährten Christian für die Geduld, die er mit mir hatte, als ich wochenlang kaum ansprechbar war, weil ich so in das Schreiben dieses Buches vertieft war. Besonders danken möchte ich ihm jedoch für seine Bereitschaft, mir und den Kindern immer wieder auf Augenhöhe zu begegnen und “ ein neues Miteinander” zu leben.
Teresa Heidegger und Lars Steinberg danke ich für ihr und die wertvollen Inputs zum Manuskript.
Arvin danke ich für die gelungenen Zeichnungen für das Cover, auch wenn sie letztendlich nicht verwendet wurden. Ganz vorne habe ich einen für dich versteckt.
Mechthild Borries-Knopp und ihrer Schwester Waltraud danke ich für die klare und liebevolle Auflistung meiner Tippser — und für ihre Ermutigung!
Meinen Eltern, denen dieses Buch gewidmet ist, danke ich für ihre tiefe Liebe und Unterstützung.
Gefühle & Emotionen — Eine Gebrauchsanweisung
Gefühle und Emotionen bestimmen unser Leben, ob wir wollen oder nicht. Wir investieren viel Zeit und Geld, um bestimmte Gefühle zu vermeiden und andere möglichst oft zu erfahren. Was Gefühle oder Emotionen jedoch sind und wozu wir sie überhaupt haben, ist uns meist nicht bewusst.
Das kann sich jetzt ändern. In einfachen, klaren Worten führt diese Gebrauchsanweisung durch unsere Gefühlswelt. Wut, Angst, Freude, Trauer oder Scham – jedes Gefühl erfüllt eine wichtige Funktion in unserem Leben. Jedes Gefühl ist eine Kraft, die gezielt eingesetzt werden möchte, wenn sie gebraucht wird.
Schritt für Schritt zeigt dieses Buch nicht nur, was Gefühle sind, sondern auch, wie wir sie bewusst erzeugen und einsetzen können. Damit Gefühle nicht mehr irrationale Empfindungswallungen sind, denen wir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, sondern positive Kräfte, mit denen wir unser Leben gestalten können.
Im Herbst 2014 ist eine komplett überarbeitete Neuauflage erschienen, in die alle Erkenntnisse der letzten Jahre eingeflossen sind.
ISBN 978-3940773-01-2, ISBN e-book: 978-3940773-03-6
Seminare zum Thema
Chiara Jana Greber wurde von Vivian Dittmar ausgebildet und autorisiert, die Inhalte der “Gebrauchsanweisung” in Seminarform weiterzugeben und erfahrbar zu machen. Informationen und aktuelle Termine finden sich unter www.kraftdergefuehle.de
beziehungsweise Beziehung kann man lernen
Wir stecken in einer gesellschaftlichen Beziehungskrise. Die alten Modelle, in denen klar vorgegeben war, wer das Sagen hat, funktionieren für die allermeisten Menschen heute nicht mehr. Und nicht nur in Paarbeziehungen. Auch in Eltern-Kind-Beziehungen, Lehrer-Schüler-Beziehungen und Arbeitsbeziehungen zeigt sich immer klarer, dass Beziehungen auf Augenhöhe gelebt werden wollen.
Aber wie geht das?
Das Buch “beziehungsweise” hat erstaunlich klare Antworten auf einige der schwierigsten Fragen unserer Zeit:
→ Was ist die Grundlage für gesunde, reife Beziehungen?
→ Warum sind Beziehungen heute oft so schwierig?
→ Wie kann ich Nähe leben, ohne mich erdrückt zu fühlen, und wie kann ich Distanz zulassen, ohne Angst zu haben, verlassen zu werden?
→ Wie können wir gut mit den Themen Macht und Abhängigkeit in Beziehungen umgehen?
→ Wie können wir gut mit schwierigen Emotionen und Konflikten in Beziehungen umgehen?
Unsere wachsende Unabhängigkeit voneinander stellt uns vor nie dagewesene Herausforderungen im Umgang miteinander. Doch Beziehung ist nicht etwas, das funktioniert oder nicht — Beziehung ist ein Prozess, den wir gestalten.
Und wie das geht, können wir lernen.
Voraussichtliches Erscheinungsdatum: Mitte 2015
ISBN: 978-3-940773-77-7, ISBN e-book: 978-3-940773-30-2