Stig Dagerman
DEUTSCHER HERBST
Aus dem Schwedischen, mit einer Briefauswahl und einem Nachwort von Paul Berf
Für Annemarie
INHALT
DEUTSCHER HERBST
RUINEN
BOMBARDIERTER FRIEDHOF
DIE TORTE DES ARMEN
DIE KUNST ZU SINKEN
DIE UNWILLKOMMENEN
DIE RIVALEN
VERLORENE GENERATION
DIE GERECHTIGKEIT NIMMT IHREN LAUF
KALTER TAG IN MÜNCHEN
DURCH DEN WALD DER ERHÄNGTEN
RÜCKFAHRT NACH HAMBURG
LITERATUR UND LEIDEN
ANHANG
ANMERKUNGEN
BRIEFE
NACHWORT VON PAUL BERF
BIOGRAFIEN
DEUTSCHER HERBST
Im Herbst 1946 fielen die deutschen Herbstblätter zum dritten Mal seit Churchills berühmter Rede über ein bevorstehendes Fallen des Laubs. Es war ein trister Herbst mit Regen und Kälte, Hungerkrisen im Ruhrgebiet und Hunger ohne Krisen im Rest des alten Dritten Reichs. Den ganzen Herbst über trafen Züge voller Ostflüchtlinge in den Westzonen ein. Zerlumpte, hungrige und unwillkommene Menschen wurden in dunklen, stinkenden Bahnhofsbunkern oder in den hohen, fensterlosen Riesenbunkern zusammengepfercht, die wie viereckige Gasometer aussehen und sich in eingestürzten deutschen Städten als gewaltige Monumente über die Niederlage erheben. Diese oberflächlich betrachtet bedeutungslosen Menschen drückten diesem deutschen Herbst trotz ihres Schweigens und ihrer iven Unterwerfung einen Stempel düsterer Verbitterung auf. Bedeutsam wurden sie gerade dadurch, dass sie kamen und niemals aufhörten zu kommen, und durch die Zahl, in der sie eintrafen. Vielleicht wurden sie nicht trotz, sondern wegen ihres Schweigens bedeutsam, denn was ausgesprochen wird, kann nie so bedrohlich erscheinen wie das Unausgesprochene. Ihre Anwesenheit war ebenso verhasst wie willkommen, verhasst, weil die Neuankömmlinge nichts mitbrachten als ihren Hunger und ihren Durst, willkommen, weil sie einen Verdacht nährten, den man zu gerne hegen wollte, ein Misstrauen, dem man sich zu gerne hingeben wollte, eine Hoffnungslosigkeit, von der man zu gerne besessen sein wollte.
Kann jemand, der diesen deutschen Herbst selbst erlebt hat, im Übrigen behaupten, dieses Misstrauen sei unberechtigt oder diese Hoffnungslosigkeit unbegründet? Es lässt sich eindeutig sagen, dass dieser nie versiegende Flüchtlingsstrom, der das deutsche Flachland vom Niederrhein und der Unterelbe bis zu den windigen Hochebenen rund um München überschwemmte, eines der bedeutendsten innenpolitischen Ereignisse in diesem Land ohne Innenpolitik war. Ein anderes innenpolitisches Ereignis von ähnlich großer Bedeutung war der Regen, der in den bewohnten Kellern des Ruhrgebiets zwei Fuß hoch stand.
(Man erwacht, wenn man überhaupt geschlafen hat, frierend in einem Bett ohne Decken und geht in dem kalten, bis über die Fußknöchel reichenden Wasser zum Ofen, wo man versucht, ein paar feuchte Äste eines zerbombten Baums anzuzünden. Im Wasser husten irgendwo hinter einem Kinder erwachsen und tuberkulös. Wenn man endlich ein Feuer in dem Ofen entfacht hat, den man unter Einsatz seines Lebens aus einer einstürzenden Ruine geborgen hatte und dessen Besitzer seit zwei Jahren ein paar Meter unter dieser begraben liegen, wallt Rauch in den Keller und die bereits Hustenden husten noch mehr. Auf dem Ofen steht ein Topf mit kochendem Wasser – Wasser gibt es reichlich –, und man beugt sich zu dem Wasser auf dem Fußboden hinab und hebt ein paar Kartoffeln auf, die auf dem unsichtbaren Grund des Kellerbodens liegen. Der Mensch, der bis über die Fußknöchel im kalten Wasser steht, legt diese Kartoffeln in den Kochtopf und wartet darauf, dass sie mit der Zeit essbar werden, obwohl sie schon Frost abbekommen hatten, als es einem gelang, sie aufzutreiben.
Ärzte, die ausländischen Journalisten von den Essgewohnheiten dieser Familien erzählen, berichten einem, was diese in den Kochtöpfen zubereiteten, sei unbeschreiblich. In Wahrheit ist es nicht unbeschreiblich, so wenig, wie ihre ganze Art zu existieren unbeschreiblich ist. Das anonyme Fleisch, das sie auf die eine oder andere Weise ergattert haben, oder das schmutzige Gemüse, das sie Gott weiß wo aufgetrieben haben, ist nicht unbeschreiblich, es ist äußerst unappetitlich, aber das Unappetitliche ist nicht unbeschreiblich, nur unappetitlich. Genauso kann man dem Einwand begegnen, dass die Leiden, die Kinder in diesen Kellerbassins durchmachen müssen, unbeschreiblich seien. Wenn man es möchte, lassen sie sich ganz hervorragend beschreiben, lassen sie sich so beschreiben, dass der Mensch, der vor dem Ofen im Wasser steht, diesen seinem Schicksal überlässt und zu dem Bett mit den drei hustenden Kindern geht und ihnen befiehlt, auf der Stelle zur Schule zu gehen. Es ist verraucht, es ist kalt und es herrscht Hunger in diesem Keller, und die Kinder, die in voller Montur geschlafen haben, gehen in das Wasser, das ihnen fast bis zu den Schäften der kaputten Schuhe steht, durch den dunklen Kellergang, in dem Menschen schlafen, die dunkle Treppe hoch, auf der Menschen schlafen, und in den kühlen und nassen deutschen Herbst hinaus. Bis zum Schulbeginn sind es noch zwei Stunden, und die Lehrer berichten ausländischen Besuchern von der Unbarmherzigkeit der Eltern, die ihre Kinder auf die Straße werfen. Man kann sich mit diesen Lehrern allerdings trefflich darüber streiten, was in diesem Fall
Barmherzigkeit bedeuten würde. Der nationalsozialistische Aphoristiker sprach davon, dass die Barmherzigkeit des Henkers im schnellen oder vielleicht auch sicheren Hieb bestehe. Die Barmherzigkeit dieser Eltern besteht darin, ihre Kinder vom Wasser im Haus zum Regen im Freien zu treiben, aus dem feuchtkalten Keller in das graue Wetter der Straße.
Natürlich gehen sie nicht zur Schule, zum einen, weil die Schule noch gar nicht offen ist, zum anderen, weil »zur Schule gehen« bloß einer dieser Euphemismen ist, wie die Not sie in rauen Mengen für alle hervorbringt, die eine Sprache der Not sprechen müssen. Sie gehen hinaus, um zu stehlen oder zu versuchen, mit der Technik des Diebstahls etwas Essbares aufzutreiben, oder mit einer unschuldigeren, sofern eine solche existiert. Man könnte die »unbeschreibliche« Morgenwanderung dieser drei Kinder bis zu der Uhrzeit schildern, zu der ihr Unterricht tatsächlich beginnt, und danach eine Reihe »unbeschreiblicher« Bilder von ihren Aktivitäten an den Schulpulten wiedergeben, so etwa, dass die Fenster mit Schiefertafeln vernagelt sind, um die Kälte auszusperren, diese aber gleichzeitig das Licht aussperren, weshalb den ganzen Tag eine Lampe brennen muss, eine Lampe mit so schwachem Licht, dass es nur mit größter Mühe möglich ist, den Text zu entziffern, den man abschreiben soll, oder wie die Aussicht vom Schulhof beschaffen ist, nämlich so, dass er an drei Seiten von ungefähr drei Meter hohen Ruinenbergen internationalen Zuschnitts umgeben ist und diese Ruinenberge auch als Schultoiletten dienen.
Gleichzeitig wäre es angebracht, die »unbeschreiblichen« Aktivitäten zu beschreiben, mit denen die Menschen, die in ihrem Wasser daheim geblieben sind, ihren Tag ausfüllen, oder die »unbeschreiblichen« Gefühle, von denen die Mutter dreier hungriger Kinder erfüllt ist, wenn diese sie fragen, warum sie sich nicht schminkt wie Tante Schulze und danach Schokolade und Konserven und Zigaretten von einem alliierten Soldaten bekommt. Und die Ehrlichkeit und der moralische Verfall in diesem wassergefüllten Keller sind jeweils so »unbeschreiblich«, dass die Mutter antwortet, nicht einmal die Soldaten der Befreiungsarmee seien so barmherzig, mit einem schmutzigen, abgearbeiteten und rasch alternden Körper vorliebzunehmen, wenn die Stadt voller jüngerer, stärkerer und saubererer Körper ist.)
Zweifellos war dieser herbstliche Keller ein innenpolitisches Ereignis von größtem Gewicht. Ein weiteres solches Ereignis waren das Gras, die Büsche und die Moose, die zum Beispiel in Düsseldorf und Hamburg auf den Ruinenbergen grünten (es ist das dritte Jahr in Folge, in dem Herr Schumann auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz in der Bank an den Ruinen des Nachbarviertels vorbeikommt, und er streitet sich täglich mit seiner Frau und seinen Arbeitskollegen darüber, ob dieses Grün nun als Fortschritt oder als Rückschritt betrachtet werden muss). Die weißen Gesichter von Menschen, die im vierten Jahr in Bunkern leben und so auffällig an Fische erinnern, wenn sie ins Tageslicht hochkommen, um Luft zu schnappen, und die auffallend roten Gesichter gewisser junger Frauen, die einige Male im Monat mit Schokoladentafeln, einer Schachtel Chesterfield, Füllfederhaltern oder Seifen unterstützt werden, waren zwei andere, leicht festzuhaltende Fakten, die diesen deutschen Herbst prägten, so wie sie, wenn auch in etwas geringerem Maße, da die Lage sich durch die kontinuierlich eintreffenden Ostflüchtlinge verschlechtert hat, selbstverständlich auch den vorigen deutschen Winter, Frühling und Sommer geprägt haben.
Aufzählungen sind natürlich immer trostlos, erst recht, wenn trostlose Dinge aufgezählt werden, aber sie können in bestimmten Fällen dennoch notwendig sein. Wenn man einen Kommentar wagen möchte zu der Stimmung von Verbitterung den Alliierten gegenüber, vermischt mit Selbstverachtung, von Apathie, von einer allgemeinen Neigung zu Vergleichen zum Nachteil des Gegenwärtigen, die dem Besucher in diesem trüben Herbst sicherlich entgegenschlug, ist es unerlässlich, eine Reihe konkreter Ereignisse und körperlicher Zustände in Erinnerung zu behalten. Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass die Bemerkungen, die auf eine Unzufriedenheit mit und sogar auf ein Misstrauen gegenüber dem guten Willen der siegreichen Demokratien hindeuteten, nicht in einem luftleeren Raum oder von einer Theaterbühne mit ideologischem Repertoire herab geäußert wurden, sondern in ganz konkreten Kellern in Essen, Hamburg oder Frankfurt am Main. Zum herbstlichen Bild der Familie in dem wassergefüllten Keller gehört nämlich auch ein Journalist, der die Familienmitglieder vorsichtig auf ausgelegten Brettern balancierend über ihre Ansichten zur neu gegründeten deutschen Demokratie befragt, ihre Hoffnungen und Illusionen erfahren will – und vor allem: ihnen die Frage stellt,
ob es der Familie unter Hitler besser gegangen sei. Die Antwort, die der Besucher daraufhin erhält, führt dazu, dass er sich schleunigst mit einer Verbeugung aus Wut, Ekel und Verachtung rückwärts aus dem übelriechenden Raum zurückzieht und in einem gemieteten englischen Automobil oder amerikanischen Jeep Platz nimmt, um eine halbe Stunde später bei einem Drink oder einem guten Glas echten deutschen Biers in der Bar des Pressehotels eine Betrachtung über das Thema »Der Nationalsozialismus lebt in Deutschland« zu schreiben.
Diese Auffassung vom geistigen Zustand im Deutschland des dritten Herbstes, die dieser Journalist und mit ihm viele andere Journalisten oder ausländische Besucher generell in der Welt verbreiteten, womit sie dazu beitrugen, diese zum Eigentum der Welt zu machen, war natürlich in einem gewissen Sinne zutreffend. Man fragte Kellerdeutsche, ob es ihnen unter Hitler besser gegangen sei, und diese Deutschen antworteten: ja. Man fragt einen ertrinkenden Mann, ob es ihm besser gegangen sei, als er noch auf dem Kai stand, und der Ertrinkende antwortet: ja. Man fragt jemanden, der bei zwei Scheiben Brot am Tag hungert, ob es ihm besser gegangen sei, als er bei fünf Scheiben hungerte, und erhält zweifellos die gleiche Antwort. Jede Analyse der ideologischen Verfassung des deutschen Volks in diesem schweren Herbst, dessen Grenzen natürlich auch bis in die Gegenwart hinein verschoben werden müssen, solange die verschärften Formen von Elend und Not, die ihn kennzeichneten, weiter aktuell sind, liegt gründlich falsch, wenn sie nicht zugleich in der Lage ist, ein möglichst unauslöschliches Bild von der Lebenswelt und Lebensweise zu vermitteln, zu der die Menschen, die man analysiert, verurteilt sind. Ein anerkannt versierter französischer Journalist riet mir mit den besten Absichten und im Interesse der Objektivität, lieber deutsche Zeitungen zu lesen, als mir deutsche Wohnungen anzusehen oder an deutschen Kochtöpfen zu riechen. Ist das nicht in etwa die Einstellung, die weltweit einen großen Teil der öffentlichen Meinung bestimmt und den jüdischen Verleger Gollancz aus London veranlasste, nach seiner deutschen Reise im Herbst 1946 »die westlichen Werte in Gefahr« zu sehen, Werte, die im Respekt vor der Persönlichkeit bestehen, selbst wenn diese Persönlichkeit unsere Sympathie und unser Mitleid verwirkt hat, also in der Fähigkeit, auf das Leiden zu reagieren, ganz gleich, ob dieses Leiden nun unverschuldet oder selbst verschuldet ist.
Man hört die Stimmen, die sagen, dass es früher besser war, isoliert sie aber von dem Zustand, in dem ihre Besitzer sich befinden, und lauscht ihnen, wie man einer Stimme im Äther lauscht. Man nennt das Objektivität, weil einem die Phantasie fehlt, sich diesen Zustand vorzustellen, ja, man würde eine solche Phantasie aus Gründen des Anstands zurückweisen, weil sie an ein unangemessenes Mitleid appelliert. Man analysiert; in Wahrheit ist es Erpressung, die politische Einstellung des Hungrigen zu analysieren, ohne gleichzeitig auch den Hunger einer Analyse zu unterziehen.
Über die Grausamkeiten der Vergangenheit, verübt von Deutschen in und außerhalb von Deutschland, kann es selbstverständlich nur eine Meinung geben, weil es über die Grausamkeit an sich, wie und von wem auch immer sie ausgeübt wird, nicht mehr als eine Meinung geben kann. Eine andere Frage lautet, ob es nun richtig ist, ja, ob es nicht wiederum grausam ist, das Leiden der Deutschen, von dem in diesem Buch unter anderem berichtet wird, als gerecht zu betrachten, weil es zweifellos die Folge eines gescheiterten deutschen Eroberungskriegs ist. Schon aus juristischer Perspektive ist eine solche Sichtweise grundlegend falsch, weil die deutsche Not kollektiv ist, während die deutschen Grausamkeiten es trotz allem nicht waren. Des Weiteren sind Hungern und Frieren aus dem gleichen Grund nicht in die Strafmaße juristischer Gerechtigkeit aufgenommen worden wie Folter und Misshandlungen, und ein moralisches Urteil, das die Angeklagten zu einem menschenunwürdigen Dasein verurteilt, also zu einem Dasein, das den menschlichen Wert der Verurteilten senkt, statt ihn zu heben, was doch die unausgesprochene Absicht irdischer Gerechtigkeit sein sollte, hat sich selbst das Fundament für seine Legitimität entzogen.
Das Prinzip von Schuld und Vergeltung könnte zumindest einen Anschein von Berechtigung erhalten, wenn die Verurteilenden selbst einem Prinzip verpflichtet wären, das dem vollständig widerspricht, als dessen Folge die meisten Deutschen diesen Herbst als eine kalte und verregnete Ruinenhölle erleben mussten. Doch das ist nicht der Fall: Die kollektive Anklage, die gegen das deutsche Volk erhoben wird, gilt ja im Grunde genommen dem Gehorsam in absurdum, einem Gehorsam auch in Fällen, in denen Ungehorsam das einzig menschlich Berechtigte gewesen wäre. Aber ist nicht der gleiche Gehorsam
letzten Endes in allen Staaten der Welt charakteristisch für das Verhältnis des Individuums zu seiner Obrigkeit? Selbst in sehr milden Zwangsstaaten ist es unvermeidlich, dass die Pflicht des Bürgers zum Gehorsam dem Staat gegenüber mit seiner Pflicht zur Liebe zu oder zum Respekt vor seinem Nächsten kollidiert (das Räumkommando, das die Möbel einer Familie auf die Straße wirft, der Offizier, der einen Untergebenen in einem Gefecht sterben lässt, das diesen überhaupt nichts angeht). Entscheidend ist letztlich die prinzipielle Anerkennung des Zwangs zu gehorchen. Ist diese Zustimmung erst einmal erteilt worden, zeigt sich schnell, dass dem Staat, der Gehorsam verlangt, Mittel und Wege zur Verfügung stehen, selbst in den widerwärtigsten Fällen Gehorsam zu erzwingen. Der Gehorsam dem Staat gegenüber gilt uneingeschränkt.
Der Journalist, der sich rückwärts aus dem wassergefüllten Keller im Ruhrgebiet zurückzog, ist deshalb, sofern seine Reaktion von bewussten moralischen Prinzipien geleitet war, eine unmoralische Person, ein Heuchler. Er selbst sieht sich als Realist, aber niemand ist weniger Realist als er. Er hat mit eigenen Ohren das Bekenntnis der hungrigen Familie gehört, dass es ihr unter Hitler besser gegangen sei. Wenn er von vielen anderen Familien in vielen anderen und vielleicht etwas besseren Kellern oder Wohnräumen das gleiche Bekenntnis gehört hat, schließt er daraus, dass das deutsche Volk immer noch nationalsozialistisch infiziert ist. Sein Mangel an Realismus besteht dabei darin, dass er die Deutschen als einen fest zusammengeschweißten Block betrachtet, nationalsozialistische Kälte ausstrahlend, und nicht als eine Vielfalt hungernder und frierender Individuen. Die Antwort auf seine knifflige Frage empört ihn nicht zuletzt, weil er es als die Pflicht der deutschen Kellermenschen betrachtet, politische Lehren aus der Kellerfeuchtigkeit, aus der Schwindsucht, aus dem Mangel an Nahrung, Kleidung und Wärme zu ziehen. Der Kern dieser Lehren sollte sein, dass Hitlers Politik und ihr eigenes Mitwirken an deren Durchführung sie ins Verderben, also in diesen wassergefüllten Keller gestürzt haben. So wahr das auch sein mag, deutet die Problemstellung bei dem Betreffenden trotzdem auf fehlenden Realismus und mangelnde psychologische Einsicht hin.
Man verlangte von den Menschen, die gerade den deutschen Herbst durchlitten, dass sie aus ihrem Unglück lernen sollten. Man bedachte dabei nicht, dass der
Hunger ein ausgesprochen schlechter Pädagoge ist. Wer wirklich hungert, klagt wegen seines Hungers nicht sich selbst an, wenn er vollkommen hilflos ist, sondern die, von denen er glaubt, Hilfe erwarten zu können. Ebenso wenig fördert der Hunger die Suche nach ursächlichen Zusammenhängen, da dem permanent Hungrigen die Kraft fehlt, einen anderen Zusammenhang zu erkennen als den nächstliegenden, was in seinem Fall bedeutet, dass er denen, die das Regime gestürzt haben, das früher für seine Versorgung verantwortlich war, vorwirft, diese Versorgung jetzt schlechter durchzuführen, als er es gewohnt war.
Das ist natürlich nicht besonders moralisch gedacht, aber der Hunger hat nichts mit Moral zu tun. »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral …« Die Dreigroschenoper wurde in diesem Herbst an verschiedenen Orten in Deutschland aufgeführt und begeistert aufgenommen, allerdings mit einer anderen Art von Begeisterung als früher: Was zuvor beißende Gesellschaftskritik war, ein mit teuflischer Schärfe formulierter offener Brief an die soziale Verantwortung, hat sich in das hohe Lied der sozialen Verantwortungslosigkeit verwandelt.
Ein ebenso erbärmlicher Pädagoge ist der Krieg. Versuchte man, dem Kellerdeutschen seine Lehren aus dem Krieg zu entlocken, erfuhr man leider nicht, dass dieser ihn gelehrt habe, das Regime zu hassen und zu verachten, das diesen Krieg begonnen hat, ganz einfach, weil ständige Lebensgefahr einen selten mehr als zwei Dinge lehrt: Angst zu haben und zu sterben.
Die Situation, in die der Besucher das deutsche Volk im Herbst 1946 versetzt fand, war kurz gesagt so, dass es als eine moralische Unmöglichkeit erschien, irgendwelche Schlussfolgerungen aus seiner ideologischen Einstellung zu ziehen. Hunger ist ja eine Form von Unzurechnungsfähigkeit, nicht nur ein körperlicher, sondern auch ein psychischer Zustand, der wenig Raum für lange Gedankengänge lässt, was dazu führte, dass einem natürlich viele Dinge zu Ohren kamen, die zwar sehr unangenehm berührten, einem in der momentanen Situation aber kein Recht auf selbstsichere Prognosen gaben. Ich persönlich habe nichts gehört, was abstoßender war als die Bemerkung eines Bankdirektors in
Hamburg, der fand, die Norweger sollten eigentlich dankbar sein für die deutsche Besatzung, weil diese ihnen eine ganze Reihe von Gebirgsstraßen beschert habe!
Apathie und Zynismus (»… dann kommt die Moral …«) waren zwei Zustände, die auch die Reaktionen auf die beiden wichtigsten politischen Ereignisse charakterisierten: die Hinrichtungen in Nürnberg und die ersten freien Wahlen. Die Hamburger standen in grauen Trauben vor den Anzeigenbrettern, auf denen bekannt gegeben wurde, dass man die Todesurteile vollstreckt habe. Niemand sagte ein Wort. Man las es lediglich und ging anschließend weiter. Man wirkte nicht einmal ernst, nur teilnahmslos. In einer höheren Mädchenschule in Wuppertal fanden sich die Schülerinnen am 15. Oktober zwar in Trauerkleidung ein, auf eine Brücke in Hannover hatte jemand in der Nacht mit großen Ewigkeitsbuchstaben Pfui Nürnberg gepinselt, vor einem Plakat in der U-BahnStation, das einen Bombenangriff darstellte, packte mich ein Mann am Arm und zischte: »Die das getan haben, werden nicht verurteilt.« Aber das waren nur Ausnahmen, die die deutsche Teilnahmslosigkeit nur noch zusätzlich herausstrichen. In einem totenstillen Berlin sah es am 20. Oktober, dem Geburtsdatum der freien Wahlen, genauso aus wie an allen anderen toten Sonntagen. Es gab nicht einen Hauch von Enthusiasmus oder Freude in den stillen Wählerscharen.
Den ganzen Herbst über fanden in verschiedenen Teilen Deutschlands Wahlen statt. Die Wahlbeteiligung mag überraschend lebhaft gewesen sein, aber die politischen Aktivitäten beschränkten sich auf die Prozedur der Stimmabgabe. Die Situation war außerdem so, dass Schlussfolgerungen aus dem Wahlausgang mit äußerster Vorsicht gezogen werden müssen. Ein sozialdemokratischer Sieg und eine kommunistische Niederlage – zwei nackte Fakten, aber längst nicht so eindeutig, wie es in einer normal funktionierenden Gesellschaft der Fall wäre. Die sozialdemokratische Wahlpropaganda setzte sich kraftvoll mit außenpolitischen Problemen auseinander, will sagen mit Russland, die kommunistische größtenteils mit den Problemen im Land, will sagen mit Brot. Da die Verhältnisse in den Kellern so waren, wie sie waren, wäre es falsch zu sagen, die Wahlergebnisse deuteten auf einen demokratischen Instinkt beim deutschen Volk hin, dagegen richtig zu sagen, dass die Angst offenbar stärker
war als der Hunger.
So falsch es auch ist, anhand von verbitterten Vokabeln, die einem aus deutschen Kellern zugeworfen werden, generelle Schlussfolgerungen über die Verankerung des Nationalsozialismus bei den Deutschen zu ziehen, muss es als ein ebenso großer Irrtum betrachtet werden, das Wort Demokratie im Zusammenhang mit den Stimmzahlen des Herbstes in den Mund zu nehmen. Lebt man auf der Schwelle zum Hunger, kämpft man in erster Linie nicht für eine Demokratie, sondern darum, sich möglichst weit von dieser Schwelle zu entfernen. Man fragt sich sogar, ob diese freien Wahlen nicht zu einem allzu frühen Zeitpunkt stattfanden. Als Erziehung zur Demokratie waren sie jedenfalls einigermaßen sinnlos, da ihnen auf außenpolitischer Ebene so viele bedeutsame negative Faktoren zuwiderliefen: Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der deutschen Politiker führte dazu, dass die freien Wahlen von Skeptikern misstrauisch als eine taktische Finte der Alliierten beäugt wurden, mit der sie die Unzufriedenheit mit der Versorgungspolitik von den alliierten auf die deutschen Behörden übertragen wollten. Ein Blitzableiter und sonst nichts. Die Voraussetzungen für die Demokratie hießen nicht freie Wahlen, sondern eine verbesserte Versorgungssituation und ein Dasein mit Hoffnung. Alles, was dieses Dasein hoffnungsloser machte: gekürzte Rationen und als Kontrast dazu das gute Leben der alliierten Soldaten, die schlampigen Demontagen, bei denen beschlagnahmtes Material liegen blieb und im Herbstregen verrostete, die Unart, fünf deutsche Familien obdachlos zu machen, um Platz für eine alliierte Familie zu schaffen, und vor allem die Methode, Militarismus mittels eines Militärregimes ausrotten zu wollen, also zu versuchen, Verachtung für deutsche Uniformen in einem Land zu erwecken, das von alliierten Uniformen überschwemmt wurde, das alles trug auch dazu bei, den Nährboden für eine Demokratie unfruchtbarer statt vorteilhafter zu machen, obwohl Letzteres ein selbstverständliches Interesse hätte sein müssen.
Der Journalist, der sich aus dem herbstlichen Keller zurückzog, hätte mit einem Wort demütiger sein sollen, demütig angesichts des Leidens, so selbstverschuldet es auch sein mochte, weil selbstverschuldetes Leiden genauso schwer zu ertragen ist wie unverschuldetes, man empfindet es gleichermaßen stark im Bauch, in der Brust und in den Füßen, und diese drei höchst konkreten
Schmerzen sollten nicht aufgrund der nasskalten Brise der Verbitterung vergessen werden, die aus einem verregneten deutschen Nachkriegsherbst hochwallte.
RUINEN
Wenn jeder andere Trost aufgebraucht ist, muss man eine neue Art von Trost erfinden, selbst wenn er absurd anmuten sollte. In deutschen Städten iert es einem häufig, dass Menschen den Fremden bitten, ihnen zu bestätigen, dass gerade ihre Stadt die am meisten verbrannte, zerstörte und zertrümmerte in ganz Deutschland ist. Es geht nicht darum, in seiner Betrübnis Trost zu finden, die Betrübnis selbst ist zum Trost geworden. Dieselben Leute reagieren missmutig, wenn man ihnen sagt, man habe andernorts Schlimmeres gesehen. Und vielleicht hat man auch gar nicht das Recht, das zu sagen; jede deutsche Stadt ist am schlimmsten, wenn man in ihr leben muss.
Berlin hat seine amputierten Kirchtürme und endlosen Reihen von zerstörten Regierungspalästen, deren geköpfte preußische Säulen ihre griechischen Profile auf den Bürgersteigen ruhen lassen. In Hannover sitzt König Ernst August vor dem Bahnhofsgebäude auf dem einzigen fetten Pferd Deutschlands und ist so ziemlich das Einzige, was in einer Stadt, die einst Hä für vierhundertfünfzigtausend Menschen besaß, ohne eine Schramme davongekommen ist. Essen ist ein Albtraum aus entblößten, frierenden Eisenkonstruktionen und aufgerissenen Fabrikmauern.
Die drei Rheinbrücken Kölns liegen seit zwei Jahren gesunken auf Grund, der Dom steht düster, rußig und einsam mitten in einem Ruinenhaufen, und in seiner Seite klafft eine Wunde aus frischen roten Backsteinen, die in der Dämmerung zu bluten scheint. Die kleinen, drohenden, schwarzen Mittelaltertürme sind in Nürnbergs Wallgräben gestürzt, und in den Kleinstädten des Rheinlands ragen die Rippen aus ausgebombten Fachwerkhän. Trotzdem gibt es eine Stadt, die Geld dafür nimmt, eine Ruine zu zeigen: das verschont gebliebene Heidelberg, dessen alte, schöne Schlossruine in der Zeit der frischen Ruinen wie eine teuflische Parodie wirkt.
Ansonsten ist es überall am schlimmsten – ja, vielleicht. Aber wenn man auf Rekorde erpicht ist, wenn man Experte für Ruinen werden will, wenn man sich ein Musterbeispiel für alles wünscht, was eine ausradierte Stadt an Ruinen zu bieten haben kann, wenn man nicht eine Stadt aus Ruinen, sondern eine ganze Ruinenlandschaft sehen möchte, öder als eine Wüste, wilder als ein Gebirge und so phantastisch wie ein Angsttraum, erfüllt vielleicht nur eine Stadt alle Voraussetzungen – Hamburg.
Es gibt ein Gebiet in Hamburg, das einst ein Stadtteil mit breiten, geraden Straßen, Plätzen und Grünflächen, fünfstöckigen Hän mit Vorgärten, Garagen, Gaststätten, Kirchen und öffentlichen Toiletten war. Es beginnt an der Station einer Vorortbahn und erstreckt sich noch ein gutes Stück an der nächsten vorbei.
Man fährt eine Viertelstunde mit dem Zug und hat ununterbrochen Aussicht auf etwas, das aussieht wie eine gigantische Müllkippe für kaputte Hausgiebel, einsame Hauswände, die mit ihren leeren Fensterlöchern wie aufgerissene Augen auf die Züge hinabstarren, undefinierbare Häreste mit breiten, schwarzen Erinnerungen an Brandrauch, hoch und kühn herausgehauen wie Siegesdenkmäler oder klein wie mittelgroße Grabsteine.
Rostige Eisenträger ragen wie die Steven vor langer Zeit gesunkener Schiffe aus den Schutthaufen. Meterschmale Säulen, die ein künstlerisches Schicksal aus eingestürzten Häblocks herausgeschnitten hat, erheben sich aus weißen Haufen zerbrochener Badewannen oder grauen Haufen aus Stein, zerbröselten Ziegeln und kaputtgebratenen Heizkörpern. Behutsam behandelte Fassaden, denen etwas fehlt, wofür sie Fassaden sein könnten, stehen dort wie Bühnenbilder von Theateraufführungen, aus denen niemals etwas wurde.
Alle Muster der Geometrie sind in dieser dreijährigen Variante von Guernica und Coventry vertreten, viereckige Quadrate aus Schulwänden, kleine oder große Dreiecke, Rhomben und Ovale aus den Außenmauern der riesigen
Mietskasernen, die hier noch im Frühjahr 1943 zwischen den Stationen Hasselbrook und Landwehr aufragten.
Durch diese gigantische Einöde fährt der Zug bei normaler Geschwindigkeit etwa eine Viertelstunde, und in dieser Zeit entdecken meine Führerin und ich vom Zugfenster aus keinen Menschen in dem Areal, das früher zu den am dichtesten besiedelten Hamburgs gehörte. Der Zug ist wie alle deutschen Züge voll, aber außer uns beiden schaut kein Mensch aus dem Fenster, um einen kleinen Teil vom vielleicht fürchterlichsten Ruinenfeld Europas zu sehen, aber als ich aufschaue, begegne ich Blicken, die besagen: »Jemand, der nicht hierher gehört.«
Durch sein Interesse an Ruinen verrät der Fremde sich sofort. Immun zu werden, braucht seine Zeit, aber man wird es. Meine Führerin ist es seit langem, hat aber ein ganz persönliches Interesse an der Mondlandschaft zwischen Hasselbrook und Landwehr. Sechs Jahre hat sie dort gewohnt, sie aber seit einer Nacht im April 1943, als der Bombensturm über Hamburg hinwegfegte, nicht mehr wiedergesehen.
Wir steigen in Landwehr aus dem Zug. Ich finde eigentlich, dass wir die Einzigen sein müssten, die den Zug verlassen, aber das sind wir nicht. Außer Touristen gibt es auch noch andere, die einen Grund haben, hierher zu kommen, es gibt Menschen, die hier wohnen, obwohl man es vom Zug aus nicht sieht. Ja, selbst von der Straße aus sieht man es kaum. Wir gehen eine Weile auf den früheren Bürgersteigen der früheren Straßen und suchen nach einem früheren Haus, das wir nicht finden. Wir weichen den verzerrten Resten von etwas aus, was sich bei näherer Untersuchung als ausgebrannte Autos herausstellt, die auf dem Rücken im Schutt liegen. Wir schauen durch gähnende Löcher in zerstörte Hä hinein, in denen die Eisenträger sich rankenartig durch die Stockwerke winden. Wir stolpern über Wasserrohre, die sich aus den Ruinen schlängeln. Wir bleiben vor Hän stehen, deren Außenwand weggerissen wurde wie in einem dieser populären Dramen, bei denen der Zuschauer das Leben auf mehreren Etagen gleichzeitig verfolgen kann.
Hier hält man dagegen vergeblich Ausschau nach etwas, das auch nur ansatzweise an menschliches Leben erinnert. Einzig die Heizkörper klammern sich noch wie große, verängstigte Tiere an die Wände, aber ansonsten ist alles, was brennen konnte, verschwunden. Es ist an diesem Tag nicht windig, aber wenn eine Brise geht, klirrt der Wind in diesen Heizkörpern und der ganze totenstille frühere Stadtteil wird von einem seltsam hämmernden Geräusch erfüllt. Dann iert es manchmal, dass sich unverhofft ein Heizkörper löst und herabfällt und jemanden tötet, der dort unten geht und in den Eingeweiden der Ruine nach Kohle sucht.
Nach Kohle zu suchen – das ist einer der Gründe dafür, dass Menschen bei Landwehr aus dem Zug steigen. Mit einem verlorenen Schlesien im Kopf, angesichts der Aussicht, das Saargebiet zu verlieren, und mit einem Ruhrgebiet, dessen Status alles andere als unumstritten ist, nennen sarkastische Deutsche die Ruinen Deutschlands einzige Kohlengruben.
Aber sie, in deren Gesellschaft ich ein Haus suche, das es nicht gibt, ist nicht so sarkastisch. Sie ist eine deutsche Halbjüdin, die Terror und Krieg dadurch überlebt hat, möglichst unsichtbar zu sein. Sie war in Spanien, bis Franco es ihr unmöglich machte, dort zu bleiben, und kehrte nach Francos Sieg nach Deutschland zurück. Sie wohnte in der Nähe von Landwehr, bis das Haus von englischen Bomben zertrümmert wurde. Sie ist eine drahtige, verbitterte Frau, die bei den Bombenangriffen auf Hamburg ihre gesamte Habe, ihren Glauben und ihre Hoffnung jedoch bei den Bombenangriffen auf Guernica verloren hat.
Wir gehen auf diesem endlosen, chaotischen Friedhof umher, auf dem man sich kaum orientieren kann, weil es nichts gibt, was den einen ausradierten Häblock vom anderen trennt. An einer stehen gebliebenen Wand hängt noch ein Straßenschild und wirkt höhnisch, von einem ganzen Haus ist nichts übrig außer der Toreinfahrt, die von einer sinnlos erhalten gebliebenen Hausnummer gekrönt wird. Die Schilder alter Obstläden oder Metzgereien, die unter den Trümmern begraben wurden, ragen wie Grabinschriften aus dem Schutt, aber im
Nachbarhaus funkelt auf einmal ein Licht aus einem Keller.
Wir sind zu einem Abschnitt gekommen, der das Glück hatte, dass in ihm die Keller verschont geblieben sind. Die Hä sind eingestürzt, aber die Kellerdecken haben gehalten, was für Hunderte ausgebombter Familien ein Dach über dem Kopf bedeutet. Wir schauen durch die kleinen Fenster in die kleinen Zimmer mit nackten Zementwänden, mit Ofen, Bett, Tisch und bestenfalls einem Stuhl hinein. Auf dem Fußboden sitzen Kinder und spielen mit einem Stein, auf dem Ofen steht ein Topf. In der Ruine darüber flattert weiße Kinderwäsche auf einer Leine, gespannt zwischen einem verbogenen Wasserrohr und einem herabgestürzten Eisenträger. Der Rauch der Öfen bahnt sich einen Weg durch die Risse in auseinanderfallenden Mauern. Vor den Kellerfenstern warten leere Kinderwagen.
Ein Zahnarzt und einige kleine Lebensmittelläden haben sich ebenfalls auf dem Grund einer Ruine eingerichtet. Überall dort, wo es noch einen Zipfel Erde gibt, pflanzt man Rotkohl.
»Die Deutschen sind jedenfalls ein tüchtiges Volk«, sagt meine Führerin und schweigt.
Jedenfalls. Das klingt, als würde sie es bedauern.
Etwas weiter die Straße hinab steht ein englischer Lastwagen mit tuckerndem Motor. Ein paar englische Soldaten sind ausgestiegen und machen plappernd Kniebeugen vor einigen kleinen Kindern.
»Die Engländer sind jedenfalls nett zu den Kindern«, sagt sie daraufhin.
Es klingt, als würde sie auch das bedauern.
Aber als ich sie wegen des Verlusts ihres Zuhauses bedauern will, ist sie eine von sehr wenigen, die sagen:
»Das fing in Coventry an.«
Die Bemerkung hört sich fast zu klassisch an, um echt zu erscheinen, aber in ihrem Fall ist sie es. Sie weiß von allem, was im Krieg geschehen ist, und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, ist ihr Fall so tragisch.
Es gibt in Deutschland nämlich eine große Gruppe ehrlicher Antifaschisten, die enttäuschter, heimatloser und besiegter sind als die nationalsozialistischen Mitläufer es jemals sein werden, enttäuscht, weil die Befreiung nicht so radikal ausfiel, wie sie es sich vorgestellt hatten, heimatloser, weil sie sich weder mit der deutschen Unzufriedenheit solidarisieren wollen, in deren Zutaten sie zu viel versteckten Nationalsozialismus zu erkennen meinen, noch mit der alliierten Politik, deren Nachsicht früheren Nazis gegenüber sie mit Bestürzung beobachten, und schließlich besiegt, weil sie bezweifeln, dass sie als Deutsche irgendeinen Anteil am alliierten Endsieg haben können, und weil sie gleichzeitig nicht so überzeugt davon sind, dass sie als Gegner der Nazis keinen Anteil an der deutschen Niederlage haben. Sie haben sich zu vollständiger ivität verurteilt, da Aktivität die Zusammenarbeit mit den zwielichtigen Elementen bedeuten würde, die sie in zwölf Jahren Unterdrückung hassen gelernt haben.
Diese Menschen sind Deutschlands schönste Ruinen, aber bis auf Weiteres genauso unbewohnbar wie die eingestürzten Hämassen zwischen Hasselbrook und Landwehr, die in der nassen Herbstdämmerung beißend und
bitter nach erloschenen Bränden riechen.
BOMBARDIERTER FRIEDHOF
Auf einer Brücke in Hamburg steht ein Mann und verkauft eine kleine, praktische Vorrichtung, die man an sein Messer klemmen kann, wenn man Kartoffeln schälen möchte. Als er vorführt, dass die Schalen durch diese neue Erfindung unglaublich dünn werden können, spielt er so großes Theater, dass wir alle, die am Brückengeländer gestanden und beobachtet haben, wie schwere, schwarze Lastkähne, randvoll mit Ruinenschutt, den Kanal hinaufgestakt werden, uns losreißen und ihn umringen. Man wird bestimmt nicht satt davon, Witze über seinen Hunger zu machen, nicht einmal in Hamburg, aber über ihn zu lachen, beschert einem eine angenehme Form des Vergessens, und im Deutschland der Not zögert man selten, davon Gebrauch zu machen.
Der Verkäufer auf der Brücke hält seine einzige kleine Demonstrationskartoffel in die Herbstsonne und sagt, dass es zwar eine Mordsarbeit sei, Kartoffeln zu schälen, so groß, wie die Rationen seien, aber … Es ist die gleiche Art Humor, die ein Fischhändler in der Nähe aufweist, als er eine große, empörte Tafel in seinem leeren Schaufenster aufstellt: Unglaublich, jetzt die Fischrationen zu erhöhen, da es doch soo an Einschlagpapier fehlt. Der Mann hat die Lacher auf seiner Seite, die Käufer dagegen nicht – noch nicht.
Aber am Ende der Brücke befindet sich eine Straßenbahnhaltestelle. Eine kleine, alte Frau mit einem großen Sack Kartoffeln ist gerade auf die Einstiegsplattform hinaufgestiegen, als die Bahn sich in Bewegung setzt. Ihr Sack kippt um, der Knoten in der Schnur löst sich und die Alte schreit, als der Wagen an uns vorbeirollt und die Kartoffeln auf die Fahrbahn der Brücke trommeln. In die Menschengruppe, die sich um den Verkäufer drängt, kommt heftige Bewegung, und als die Straßenbahn vorbei ist, steht er fast allein am Brückengeländer, während sein Publikum sich zwischen hupenden englischen Armeeautos und kriegsbemalten Volkswagen um die Kartoffeln balgt. Schüler füllen ihre Ranzen, Arbeiter stopfen sich die Taschen voll, Hausfrauen öffnen ihre Handtaschen für das begehrteste Gemüse Deutschlands – und zwei Minuten später stehen alle
lachend und kaufwillig um den Verkäufer einer Erfindung zur Gewinnung von Deutschlands dünnsten Kartoffelschalen geschart, nach einem dieser jähen Stimmungsumschwünge von Wut zu Gutmütigkeit, die den Hamburger so spannend und seine Gesellschaft so riskant machen.
Aber warum lacht Fräulein S. nicht? Als ich die Brücke in Begleitung von Fräulein S. verlasse, frage ich sie ganz offen, warum sie nicht gelacht habe, aber statt mir zu antworten, sagt sie verbittert:
»Das ist das Deutschland von heute – sein Leben für eine Kartoffel zu riskieren.«
Aber im Grunde kann man von Fräulein S. auch nur erwarten, dass sie nicht über die Not auf Hamburgs Straßen lacht. Fräulein S. ist nach dem Zusammenbruch Angestellte einer Arbeitsbehörde in Hamburg, war jedoch früher Besitzerin eines Fischgeschäfts, das bei den Phosphorbombenangriffen 1943 ausbrannte. Nun verbringt sie zwei Stunden am Tag damit, einen Ruinendistrikt zu inspizieren, zu kontrollieren, dass alle Arbeitsfähigen arbeiten, und dafür zu sorgen, dass all jene, die sich nicht um sich selbst kümmern können, gepflegt werden. Die Person, die mir Fräulein S. vorstellte, vertraute mir an, diese sei eine von vielen Deutschen, die Nazis seien, ohne es zu wissen, und die tödlich beleidigt wären, wenn man anzudeuten wagte, dass ihre Ansichten mit denen der Nationalsozialisten übereinstimmten. Es heißt, Fräulein S. sei sehr verbittert, aber gleichzeitig dankbar für eine Arbeit, die ihr die Möglichkeit gebe, ihre Verbitterung auf hoher Temperatur zu halten. Fräulein S. ist zweifellos energisch und rührig, aber zugleich eine Bestätigung für die Auffassung, die viele, aber natürlich nicht alle Gegner der Nationalsozialisten teilen: dass fragwürdige Ansichten im Deutschland von heute der Preis für Energie sind.
Es ist verlockend, sich mit einer Frau, die nicht weiß, dass man etwas von ihr weiß, über Politik zu unterhalten, vor allem, wenn diese Frau eine Deutsche ist und angeblich mit den Nazis sympathisiert, ohne es zu wissen. Welche Partei
wählt man dann eigentlich? (In Hamburg sind kürzlich Kommunalwahlen gewesen.)
Fräulein S. zögert nicht eine Sekunde mit ihrer Antwort. Für sie gibt es nur eine Partei, »die Sozialdemokraten natürlich«, aber wenn man genauer wissen möchte, warum sie ausgerechnet für die Sozialdemokraten gestimmt hat, kann sie dafür ebenso wie ein großer Anteil der sozialdemokratischen Wähler keine rationale Begründung anführen. Tatsächlich hat Fräulein S. ihre Partei wie Massen von gleichgesinnten Deutschen nach dem Ausschlussverfahren ausgewählt: Die CDU kommt nicht in Frage, da man nicht religiös ist, die Kommunisten gehen nicht, weil man Angst vor den Russen hat, die liberale Partei ist zu klein, um überhaupt eine Rolle spielen zu können, die konservative ist zu unbekannt, bleiben also die Sozialdemokraten, wenn man wählen möchte, und man wählt, obwohl man sich sagt, dass es keine Rolle spielt, wer eine Wahl in einem Land gewinnt, das ohnehin besetzt ist.
Wir gelangen zu einem großen Ruinenplatz, auf dem ein hoher, einsamer Aufzugschacht von den Bomben vergessen wurde. Einige Ruinenarbeiter rollen langsam einen kleinen Wagen voller Schrott und Steine über die freie Fläche, und als sie sich der Straße nähern, tritt vollkommen sinnlos eine Frau mit einer roten Fahne auf die Fahrbahn und hält den Verkehr auf, den es überhaupt nicht gibt.
»Sehen Sie, Herr D.«, sagt die frostgeschädigte Frau in meiner Gesellschaft und legt die Hand auf meinen Arm, »wir Deutsche finden, dass es allmählich Zeit wird, dass die Alliierten aufhören, uns zu bestrafen. Denn was immer man über uns Deutsche sagen kann, was immer unsere Soldaten in fremden Ländern getan haben, die Strafe, die uns jetzt auferlegt wird, haben wir nicht verdient.«
»Strafe?«, frage ich. »Warum halten Sie es für eine Strafe, dass es Ihnen jetzt so geht, wie es Ihnen geht?«
»Nun, weil es schlechter statt besser geworden ist«, antwortet Fräulein S. »Wir haben das Gefühl zu sinken, und dass es bis zum Grund noch weit ist.«
Und dann erzählt sie mir die beliebte und leider allzu gut belegte Geschichte von dem englischen Hauptmann, der eine Anfrage dazu, warum die Engländer die Hamburger Bahnhöfe nicht wiederaufbauen lassen, mit den Worten beantwortete: Warum sollten wir euch Deutschen helfen, in drei Jahren auf die Beine zu kommen, wenn es genauso gut dreißig dauern kann.
Mittlerweile sind wir zu einem großen, düsteren und vernarbten Gebäude gekommen, das aussieht wie eine baufällige Großstadtschule, aber Hamburgs ehemaliges Gestapogefängnis ist. Die Treppenaufgänge und die Waschräume auf den Treppenabsätzen schweigen sich diskret darüber aus, was sich hier noch im Vorjahr abgespielt hat. Wir tasten uns in einem langen, stockfinsteren Korridor voller peinlicher Gerüche voran. Plötzlich klopft Fräulein S. an eine hohe Eisentür, und wir betreten eine der Gemeinschaftszellen, einen großen, kahlen Raum mit Zementboden und einem Fenster, das fast vollständig mit Backsteinen zugemauert ist. Eine einsame Glühbirne hängt von der Decke herab und beleuchtet unbarmherzig drei Luftschutzbetten, einen Eisenofen, der von feuchtem Brennholz qualmt, eine kleine Frau mit fast blendend weißer Gesichtsfarbe, die vor dem Ofen steht und in einem Topf rührt, einen kleinen Jungen, der auf dem Bett liegt und apathisch zu der Lampe hochstarrt.
Fräulein S. lügt und erklärt, wir suchten eine Familie namens Müller. Die Frau hat kaum bemerkt, dass wir eingetreten sind. Ohne von ihrem Topf aufzuschauen, sagt sie, Hans könne heute nicht hinausgehen, da er keine Schuhe habe.
»Zu wie vielen wohnen Sie hier?«, erkundigt sich Fräulein S., geht zu ihr und wirft einen Blick in den Topf.
»Zu neunt«, sagt die müde Frau, »acht Kinder und ich. Ausgewiesen aus Bayern. Wir wohnen hier seit Juli. Diese Woche haben wir Glück gehabt und Holz bekommen. Letzte Woche haben wir Glück gehabt und Kartoffeln bekommen.«
»Und wie kommen Sie zurecht?«
»Na, so«, sagt die Frau, hebt den Löffel aus dem Topf und macht eine resignierte, durch die Zelle schweifende Geste. Dann rührt sie weiter. Der Rauch brennt uns in den Augen. Der Junge liegt vollkommen stumm und regungslos auf dem Bett und starrt an die Decke. Die Frau merkt nicht, dass wir gehen.
Das ganze Gefängnis ist voller Familien, die 1943 von Hamburg nach Bayern evakuiert und im Sommer 1946 von der bayerischen Regierung ausgewiesen worden sind. Als wir wieder an die frische Luft kommen, meine ich, in der Stimme von Fräulein S. eine finstere Befriedigung zu erahnen.
»Die Engländer hätten uns doch helfen können. Sie hatten die Chance zu zeigen, was Demokratie ist, aber sie haben sie nicht ergriffen. Sehen Sie, Herr D., es wäre etwas anderes gewesen, wenn wir Deutsche in den Hitlerjahren in Saus und Braus gelebt hätten, aber wir waren arm, Herr D. Und haben wir nicht alles verloren: Heim, Familien, Besitz? Und Sie glauben ja gar nicht, wie wir unter den Bombenangriffen gelitten haben! Müssen wir noch mehr bestraft werden – sind wir nicht schon genug gestraft worden?«
Wir besuchen einen Keller unter einer Schusterwerkstatt, wo drei Personen und ein Säugling in einem übelriechenden Zimmer ohne Fenster wohnen. Ich rufe mir in Erinnerung, was mir ein kluger Deutscher über den häufig beklagten Mangel an Schuldgefühlen bei der deutschen Zivilbevölkerung gesagt hat – bei
den Soldaten sieht es teilweise anders aus. Schon möglich, dass man weiß, dass es in Coventry begann, aber dort war man nun einmal nicht dabei. Man war in Hamburg dabei, in Städten wie Berlin, Hannover und Essen erlebte man drei Jahre täglicher Todesangst. Man muss diesen Mangel beklagen, man braucht ihn nicht zu verstehen, aber man könnte sich andererseits auch in Erinnerung rufen, dass eigenes Leiden das Verständnis für das Leiden anderer abstumpft.
Fräulein S. und ich beenden den Tag in einer ehemaligen Schultoilette in Altona. Die Schule selbst ist zertrümmert, aber in der Schultoilette auf dem Hof wohnt eine sudetendeutsche Familie mit drei Kindern. Der Mann sucht in den Ruinen nach Eisendraht und lebt davon, Schmuckgegenstände zu verkaufen, die er aus dem Draht fertigt. Es sieht verblüffend ordentlich aus in diesem Pissoir, und der Mann freut sich rührend, endlich ein eigenes Zuhause zu haben, und erzählt ohne geheucheltes Mitgefühl, wie sehr er sich freute, als es ihm endlich gelungen war, den Mieter, der vor ihm dort wohnte, zum Umzug zu überreden. Zu der Zeit war das Pissoir noch ein Pissoir, und der Vorgänger gab auf, nachdem er in dieser Altonaer Schultoilette durch die Schwindsucht in schneller Folge seine Mutter, seinen Vater, seine Frau und seine Tochter verloren hatte.
Bevor wir nach Hamburg zurückkehren, nimmt Fräulein S. mich zu einer Straße mit, die an einem jüdischen Friedhof vorbeiführt. Der Friedhof ist bombardiert worden, die Grabsteine sind rauchgeschwärzt und abgebrochen. Im Hintergrund steht eine verstümmelte Kirche mit schwarzen Mauern. Einige schwarzgekleidete Menschen knien vor frischen, dunklen Grabhügeln.
Dann sagt Fräulein S.: »Das ist Deutschland, Herr D., ein bombardierter Friedhof. Ich bleibe hier immer einen Moment stehen und schaue ihn mir an, wenn ich in diese Richtung unterwegs bin.«
Es ist ein Moment der Andacht, dessen Zeuge ich in der kleinen Straße in Altona werden darf, ein kurzer Moment des Glücks für einen Menschen, der Gott dafür dankt, dass er in der Hölle leben darf.
Doch als ich mich diskret abwende, um sie mit ihrem bitteren Glück allein zu lassen, lese ich auf einem großen, an einer Ruinenmauer aufgespannten Transparent eine riesige Reklame für »Die lustige Witwe«. Die Witwe ja – aber die lustige?
DIE TORTE DES ARMEN
Tief in einem verfallenen Park am Stadtrand von Hamburg wohnt ein älterer liberaler Rechtsanwalt zusammen mit einem Autor populärer Schelmenromane. Der Park liegt in einem Teil Hamburgs, in dem die Straßen von nichts anderem beleuchtet werden als den Scheinwerfern vorbeijagender englischer Autos. In der Dunkelheit berührt man unsichtbare Arme oder hört unsichtbare Worte vorbeihuschen und erinnert sich mit leichtem Schaudern an den Rat erfahrener alliierter Korrespondenten, nicht ohne die Begleitung eines Revolvers durch die finsteren Straßen Hamburgs zu gehen. Der Park ist wildwüchsiger, als man bei Tageslicht glaubt, aber am Ende findet man eine sichere Treppe, klingelt und wird in ein geräumiges, großbürgerliches Foyer mit einem Schirmständer und einem Dienstmädchen aus Schlesien gebeten. Die Standuhr des Salons und die Meter von Lederbänden mit Goldschnitt in den Bücherregalen, der flauschige Teppich, der Kronleuchter und die Ledersessel weisen keinerlei Anzeichen dafür auf, die Bekanntschaft von Bombardements und Wohnungsnot gemacht zu haben. Und wie ist es mit dem Anwalt und dem Autor?
Die beliebteste Parole der bürgerlichen Wahlpropaganda ist die Behauptung, die Niederlage hätte die Klassengesellschaft in Deutschland abgeschafft. Man wirft den Arbeiterparteien vor, im Kampf gegen ihre bürgerlichen Gegner eine Fiktion als Keule zu schwingen. Tatsächlich war es kein Zufall, dass die Klassenkampfparolen im Wahlherbst 1946 mit besonderer Bitterkeit vorgebracht wurden. Die These von der Klassenlosigkeit Deutschlands ist eine zynische Verdrehung der Tatsachen. Statt ausradiert zu werden, sind die Klassengrenzen nach dem Zusammenbruch sogar noch schärfer geworden. Die bürgerlichen Ideologen verwechseln Armut mit Klassenlosigkeit, wenn sie behaupten, nahezu alle Deutschen befänden sich in der gleichen wirtschaftlichen Notlage. Es mag in gewisser Weise zutreffen, dass die meisten Deutschen arm sind und viele früher Wohlhabende ihr Vermögen verloren haben, aber es gibt in Deutschland einen Unterschied zwischen den weniger Armen und den Ärmsten der Armen, der größer ist als der Unterschied zwischen Wohlhabenden und Besitzlosen in einer halbwegs normal funktionierenden Gesellschaft.
Während die Ärmsten der Armen in den Kellern der Ruinen, in Bunkern oder ausgedienten Gefängniszellen wohnen und die Mittelarmen sich in den verbliebenen Mietskasernen mit einer Familie pro Zimmer zusammenzwängen, wohnen die weniger Armen wie der liberale Anwalt und der Autor in ihren alten Villen oder den größten Wohnungen der Städte, die sich nicht einmal Mittelarme leisten können. Der Anwalt hat zwar recht, wenn er sagt, die englischen Bomben hätten die Klassengrenzen überschritten, wenngleich die weniger dicht bebauten Villenviertel glimpflicher davongekommen sind als die Mietskasernen, aber zur Verteidigung des Klassenkampfs muss man hinzufügen, dass die Bankkonten nicht bombardiert wurden. Deren Guthaben sind zwar teilweise eingefroren, sodass man nicht mehr als zweihundert Mark im Monat abheben kann, eine bescheidene Summe, wenn man bedenkt, dass dies auf dem Schwarzmarkt exakt dem Preis für ein halbes Kilo Butter entspricht, aber auch hier muss man im Namen der Gerechtigkeit ergänzen, dass ein normaler Arbeitslohn bei einhundertzwanzig Mark im Monat liegt und dass sich Geld, das aus Sicherheitsgründen daheim verwahrt wurde, selbstverständlich der Kontrolle der Behörden entzieht.
Letzteres hat übrigens die absurdesten, unglaublichsten und ungerechtesten Konsequenzen. Ein gängiges Urteil in den Entnazifizierungsprozessen lautet, dass der Angeklagte, wenn er ein nationalsozialistischer Aktivist gewesen ist, seine Wohnung verliert, die stattdessen einem ehemals politisch Verfolgten zugesprochen wird. Eine nette Geste, die aber leider häufig sinnlos ist, weil die ehemals politisch Verfolgten sich in finanzieller Hinsicht irgendwo zwischen den Mittelarmen und den Ärmsten der Armen befinden und es sich gar nicht leisten können, die Miete für eine große Aktivistenwohnung zu bezahlen, die daraufhin von Menschen mit Geld übernommen wird, also von denen, die in der Zeit des Nationalsozialismus und an diesem viel Geld verdient haben.
Der liberale Anwalt und sein Freund, der Autor von Schelmenromanen, sind niemals Nazis gewesen. Der Anwalt war vor 1933 Mitglied der alten liberalen Partei, und der Schriftsteller ist einer der eher selten anzutreffenden Erfolgsautoren, die es während der Hitlerjahre vorzogen, nicht zu schreiben,
sondern von ihrem Geld zu leben. Während wir Tee ohne Zucker trinken und eine Torte essen, die sich unter ihrer dünnen Schicht aus sorgsam gefälschter Sahne als gewöhnliches deutsches Krisenbrot entpuppt, enthüllt der Anwalt unter seinem silbrig weiß resignierten Äußeren eine leidenschaftliche Desillusionierung, die im verbittert teilnahmslosen Deutschland relativ selten ist und in normalen Ländern meistens hysterischer Jugend zugeschrieben wird. Es scheint in gewissen bürgerlichen Kreisen zur guten deutschen Nachkriegserziehung zu gehören, dass Herren mittleren Alters erklären, sie hätten zwölf Jahre lang mit einem Bein im Konzentrationslager gestanden, eine Sitte, die auch in den schlechtesten, noch nicht entnazifizierten Kreisen anzutreffen ist. Wesentlich seltener hört man diese Worte mit echtem statt falschem Pathos, aber dieser Meister der spröden Resignation, der sich über das ebenso spröde Meißener Porzellan beugt, beherrscht diese Kunst.
»Wir haben die Engländer als Befreier begrüßt, aber das scheinen sie nicht gewusst zu haben. Wir waren bereit, alles zu tun, nicht um das alte Deutschland, sondern um eine neue Demokratie auf die Beine zu stellen. Aber wir durften nicht alles tun. Heute sind wir von den Engländern enttäuscht, weil wir ganz deutlich den Eindruck haben, dass sie den Wiederaufbau sabotieren und dem, was geschieht, teilnahmslos gegenüberstehen, weil sie stärker sind als wir.«
»Wir« – das kann die liberale Partei sein, die in Norddeutschland klein ist, aber wegen ihrer antifaschistischen Haltung einen guten Ruf genießt, die in Süddeutschland dagegen groß und suspekt ist und von sich behauptet, »liberal im Denken, sozial im Handeln und deutsch im Fühlen« zu sein, aber mit »wir« kann auch vieles andere gemeint sein. »Wir« kann der Teil der intellektuellen deutschen Mittelschicht sein, der mit Herz und Seele gegen die Nazis war, deswegen aber trotzdem niemals leiden musste und vielleicht auch nicht leiden wollte, der sich niemals einen Gegner suchte, den es zu bezwingen galt, und der nun eine Art antifaschistische »jalousie de métier«, einen Brotneid, auf die legitimierten Nazigegner, die politisch Verfolgten pflegt. Zwei Gewissen in seiner Brust zu haben, ein gutes und ein schlechtes, fördert weder die ideologische noch die psychische Klarheit. Enttäuschung und bewusste Desillusionierung bilden zweifellos den einfachsten Ausweg aus einem solchen seelischen Dilemma.
Der Schriftsteller ist elastischer konstruiert und erzählt lachend, die Programme der Parteien seien vorerst noch so unklar formuliert, dass die Leute zu einer falschen Wahlveranstaltung gingen und, wenn überhaupt, erst am Ausgang merkten, dass sie die Sozialdemokraten statt der Christdemokraten oder die Liberalen statt der Konservativen besucht hätten. Er selbst illustriert die ideologische Verwirrung auf vortreffliche und humoristische Weise. Er behauptet, der geborene Nazigegner zu sein, hat aber dennoch die CDU gewählt, jene Partei, die sich die christliche nennt und von der es heißt, sie habe so gut wie alle früheren Nazis unter ihrem Kreuz versammelt, und zwar, damit es ihm erspart bleibe, die Planwirtschaft zu erleben und sein Geld zu verlieren. Um sein Gewissen zu retten, hat er jedoch seine konservative, aber mittellose Schwester überredet, für ihn die Sozialdemokraten zu wählen.
Die Gewohnheit, optimistische Romane zu schreiben, sitzt tief, obwohl der letzte fünfzehn Jahre zurückliegt. Er versichert mir auf Ehre und Gewissen, dass höchstens ein Prozent der deutschen Qualitätsmenschen Nazis gewesen seien, woraufhin der Anwalt trocken den Mangel an Qualität in Deutschland beklagt. Letzterer beschuldigt allerdings die Engländer, die Bevölkerung durch eine gezielte Aushungerungspolitik im gleichen Maße demoralisiert zu haben wie die Nazis, »die schlechten Menschen schlechter und die guten Menschen wankelmütiger« gemacht zu haben, um sie am Ende in die Arme irgendeiner suspekten Bewegung zu treiben, wenn diese es sich nur zur Aufgabe mache, ihre alltäglichen Probleme zu lösen.
Es ist natürlich eine bittere Wahrheit, dass Hunger für jede Form von Idealismus ungeeignet ist. Die ideologische Wiederaufbauarbeit im heutigen Deutschland hat ihren mächtigsten Gegner nicht in den überzeugten Reaktionären, sondern in den indifferenten Massen, die mit ihrer politischen Überzeugung bis nach dem Essen warten. Angesichts dieser Erkenntnis hat sich die geschliffenste Wahlpropaganda darauf beschränkt, für die Zeit nach dem Wahlsieg nicht Frieden und Freiheit, sondern einen praktischen Speiseschrank zu versprechen, unzugänglich für Ratten und Diebe, und Deutschlands bekanntester Brotlaib ist im Herbst 1946 zusammen mit einem scharfen Brotmesser auf kommunistischen
Wahlplakaten zu sehen. Als General Kœnig, der Befreier von Paris, an einem verregneten Tag im Oktober unter dem kugeldurchsiebten Baldachin im Hamburger Hauptbahnhof ausstieg, wurden er und das nervöse englische Empfangskomitee, bestehend aus Offizieren mit weißen Manschetten bis zu den Ellbogen und reichlich geröteten Wangen und in ihren Paradeuniformen, von dichten Reihen arbeitsloser Hamburger beobachtet. Als die lange Wagenkolonne unter wütendem Hupen losfuhr, wurden die deutschen Polizeijünglinge von den Leuten mit höhnischen Rufen umringt: Was hatte er dabei? Schokolade, was? Oder Brote? Und die Vertreter der Ordnungsmacht erröteten unter ihren Lederhelmen.
Erröten – das ist bis auf Weiteres alles, was die Parteien tun können, wenn die Massen verlangen, dass ihre materiellen Probleme gelöst werden. Aber es gibt kleidsame und weniger kleidsame Arten zu erröten – eine der weniger kleidsamen besteht aus der hartnäckigen Behauptung der Bürgerlichen von der Auflösung der Klassengesellschaft. Insgeheim ist man sich dennoch bewusst, dass dies nicht stimmt. Die Torte aus schlechtem deutschen Brot, die der Anwalt und der Schriftsteller mir auftischen, ist in Wahrheit eine symbolische Torte, eine liberale Torte, auf der die falsche Sahne dem Zweck dient, allzu bittere Fakten zu übertünchen. Es ist eindeutig eine Torte für die weniger Armen. Die Ärmsten der Armen essen ihr Brot nicht auf diese Weise.
Die symbolistische Torte deutet einen der Gründe dafür an, dass die Arbeiterparteien bei ihrer Arbeit der Linie des Klassenkampfs folgen und man in vorausschauenden Gewerkschaftskreisen soziale Auseinandersetzungen in einem nie dagewesenen Umfang erwartet, wenn die Besatzungsmacht Deutschland irgendwann von der Leine lässt. Möchte man konkretere Belege finden, kann man beispielsweise mit der Hamburger U-Bahn fahren, in der man in der zweiten Klasse zusammen mit relativ gut gekleideten und relativ gut erhaltenen Menschen fährt, und in der dritten Klasse mit zerlumpten Menschen, deren Gesichter weiß wie Kreide oder Zeitungspapier sind, Gesichter, die aussehen, als könnten sie niemals erröten, Gesichter, von denen man denkt, sie könnten niemals bluten, wenn sie verwundet würden. Diese weißesten Gesichter Deutschlands gehören ganz sicher nicht zur Klasse der weniger Armen.
DIE KUNST ZU SINKEN
Sink ein bisschen! Versuche, etwas zu sinken! Wenn die Kunst darin besteht zu sinken, dann gibt es diejenigen, die sie schlechter, und diejenigen, die sie besser beherrschen. In Deutschland gibt es schlechte Beherrscher dieser Kunst, die der Ansicht sind, sie hätten so wenig, wofür es sich zu leben lohnt, dass sie strenggenommen nur das Gefühl am Leben erhält, dass es noch weniger gibt, wofür sich zu sterben lohnt. Andererseits gibt es auch überraschend viele, die bereit sind, alles zu akzeptieren, wenn sie nur überleben dürfen.
Vor dem Bahnhof Zoo in Berlin sitzt sonntags ein zerlumpter und blinder Greis, der auf einer kleinen transportablen Orgel gellende Kirchenlieder spielt. Er sitzt barhäuptig in der Kälte und lauscht schwermütig zu seiner abgewetzten Mütze hinunter, die auf dem Bürgersteig liegt, aber die deutschen Münzen haben einen schwachen, stummen Klang und fallen nur selten in die Mützen der Blinden. Natürlich würde es trotz allem besser laufen, wenn er nicht Orgel und vor allem keine Kirchenlieder spielen würde. An den Nachmittagen unter der Woche, wenn die Berliner nach einem weiteren Tag auf der Jagd nach Kartoffeln oder Brennholz in den weniger zerstörten Vororten mit ihren kleinen, quietschenden Handkarren vorbeiziehen, hat der Blinde die Orgel gegen einen Leierkasten ausgetauscht, und die Münzen tropfen dichter, aber sonntags hält er mit sturem, unökonomischem Idealismus an seiner alten schrillen Reiseorgel fest. Sonntags ist der Leierkasten für ihn nicht akzeptabel. Er kann noch ein ganzes Stück sinken.
Auf den Bahnhöfen begegnet man dagegen Menschen, die so gut wie alles hinter sich gelassen haben. Die großen deutschen Bahnhöfe, diese früheren Schauplätze von Modenschauen des Abenteuers, enthalten zwischen ihren vernarbten Wänden und unter ihren zerborstenen Dächern einen hohen Prozentsatz sämtlicher Spielarten der Hoffnungslosigkeit. Bei Regen ist der Fremde immer wieder erstaunt, zu sehen und zu hören, wie der Regen durch die Decken der Wartesäle prasselt und auf dem Fußboden zwischen den Bänken
Seen bildet. In dem disziplinierten Chaos wirkt dies wie eine kleine Revolution. Nachts stößt er in den Betontunneln leicht überrascht auf Flüchtlinge, Flüchtlinge aus dem Osten oder Süden, die ausgestreckt auf dem nackten Boden liegen, entlang der nackten Wände tief und fest schlafen oder zusammengekauert zwischen ihren ärmlichen Bündeln sitzen und viel zu wach auf einen Zug warten, der sie zu einem neuen Bahnhof bringen wird, der genauso hoffnungslos ist wie dieser.
Die unterirdischen Stationen der größten Städte sind besser davongekommen. Sie sind arm, aber unverletzt. Die Untergrundbahnhöfe in Berlin riechen nach Feuchtigkeit und Armut, aber die Züge fahren schnell und sicher wie in Friedenszeiten. Man dreht sich nicht nach den ausländischen Soldaten um, die auf den Bahnsteigen mit gut gekleideten, aber schlecht geschminkten deutschen Mädchen flanieren, die bereits perfektes, quengelndes Amerikanisch oder schnelles, konziliantes Englisch sprechen. Viele dieser Mädchen stehen in den Zügen an die Türpfosten gelehnt, versuchen mit ihren herausfordernden Blicken so vielen Augen wie möglich zu begegnen und reden mit ihrem englischen Soldaten darüber, dass die Leute hier nicht ganz bei Trost seien, andere stützen ihren betrunkenen amerikanischen Freund und haben Augen, die sagen: Was soll ein armes Mädchen denn tun? Der Rauch ihrer alliierten Zigaretten vermischt sich in den Abteilen mit dem Rauch der deutschen, die feucht und qualmig schmecken und den unterirdischen Zügen ihren hartnäckigen Geruch von Schmutz und Armut bescheren. Wenn die U-Bahn jedoch ins scharfe Tageslicht hinauffährt, legt auch bei diesen Mädchen der Hunger einen Schatten auf die Gesichter. Und es kommt selten vor, aber es kommt vor, dass jemand sagt: So sieht Deutschlands Zukunft aus! Ein besoffener, pickeliger, amerikanischer Soldat und ein prostituiertes deutsches Mädchen!
Es kommt selten vor, weil die Not einem abgewöhnt, auf Kosten anderer moralisch zu sein. Es ist falsch zu sagen, was ein wohlgenährter Militärgeistlicher aus Kalifornien bei seinem Steak im Nordexpress meinte, dass Deutschland ein Land sei, dem jegliche Moral fehle. Es ist nur so, dass die Moral im Deutschland der Not eine völlig neue Dimension bekommen hat, und ungeübte Augen können nicht erkennen, dass es sie gibt. Diese neue Moral behauptet, es gebe Umstände, unter denen es nicht unmoralisch sei zu stehlen,
weil der Diebstahl unter den gegenwärtigen Umständen in erster Linie eine gerechtere Verteilung dessen bedeutet, was vorhanden ist, und nicht, jemandem sein Eigentum zu rauben, genauso wenig wie der Schwarzmarkthandel und die Prostitution unmoralisch sind, wenn sie die einzigen Mittel geworden sind, um zu überleben. Das heißt natürlich nicht, dass alle stehlen, dass alle auf dem Schwarzmarkt handeln oder sich prostituieren, aber es bedeutet, dass man es tatsächlich, sogar in gewissen fortschrittlichen kirchlichen Kreisen, moralisch verwerflicher findet zu hungern oder seine Familie hungern zu lassen, als etwas normalerweise Verbotenes zu tun, um durchhalten zu können. Das notwendige Verbrechen wird in Deutschland mit größerer Toleranz betrachtet als andernorts; das ist eine Seite dessen, was der alliierte Militärgeistliche das Fehlen von Moral nennt. Zu sinken ist vertretbarer als unterzugehen.
Eines Nachmittags, als es allmählich dunkel wird und in Berlin eine Stromsperre herrscht, begegne ich in der Dämmerung in einer Station, an der die dunklen Züge Richtung Potsdam vorbeirattern, einer kleinen, polnischen Lehrerin. Sie hat einen Jungen, der sieben Jahre alt ist und sich kindlich für ein zwei Jahre altes Eisenbahnunglück am äußeren Rand des Bahnhofs interessiert. Personenwaggons mit zertrümmerten Scheiteln liegen umgekippt neben den Gleisen, ein ausgebrannter Drehgestellwagen ist in das rostige Skelett eines auseinandergebrochenen Schlafwagens gerast, zwei Güterwaggons stehen trotzig quer, Leichenteile von Untergestellen ragen aus den Trümmern auf.
Auf der Fahrt nach Berlin steht dann entlang der Bahnstrecke alles voller alter, rostiger Zugunglücke. An jeder Station sind die Bahnsteige schwarz von Menschen, Leute mit Rucksäcken, Reisigbündeln, kleinen Handkarren und Kohlköpfen in zerrissenem Papier stürzen zu den Türen herein, und zwischen zwei Stationen schreit jemand ununterbrochen vor Schmerzen. Zwei Frauen streiten sich unaufhörlich über irgendeine Lappalie. Getretene Hunde wimmern, aber auf einer Bank sitzen zwei stille, russische Offiziere, umgeben von einer kleinen Mauer aus ängstlichem Respekt.
In kurzen Sätzen, die immer wieder von dem Gedrängel an neuen Stationen oder
durch weitere Flüche von Leuten mit zu großen Rucksäcken unterbrochen werden, erfahre ich nach und nach, wie es ist, sehr allein in Berlin zu leben. Die polnische Lehrerin hat ihren Mann in Auschwitz und zwei Kinder während der großen Panik 1945 auf dem Weg von der polnischen Grenze nach Berlin verloren, und der Junge ist der Einzige, der ihr noch geblieben ist. Trotzdem hat sie ein stilles Gesicht, als die Lampen angehen, und auf meine Frage, was sie denn so mache, flüstert sie mir lächelnd ins Ohr: Geschäft! Früher hat sie in einem kleinen polnischen Dorf Hamsun und Strindberg gelesen, aber »jetzt ist alles vorbei«.
Aber was bedeutet Geschäft? Wir unterhalten uns eine Weile über Sehnsucht, weil alle, die gezwungen sind, in Deutschland zu bleiben, sich dorthin sehnen, wo sie nicht sind, wenn sie nicht zu alt sind, um sich zu sehnen, oder den krampfhaften Mut besitzen zu glauben, eine Aufgabe zu haben. Die polnische Lehrerin sehnt sich nach Schweden oder Norwegen. Sie habe daheim ein Bild, mit dessen Hilfe sie sich fortsehne. Es zeige einen norwegischen Fjord – oder die Donau in Siebenbürgen. Ob ich sie nach Hause begleiten und ihr sagen wolle, was darauf zu sehen sei, damit sie sich nicht länger falsch sehnen müsse?
Von der unterirdischen Station aus müssen viele dunkle Straßen gegangen werden. Vor kurzem sind Wahlen gewesen, und an den Wänden der Ruinen hängen noch die großen Plakate. Der Sozialdemokraten: Wo Furcht ist, ist keine Freiheit. Ohne Freiheit keine Demokratie. Der Kommunisten: Die Jugend gehört uns. Der CDU: Christentum. Sozialismus. Demokratie. Die CDU ist ein Chamäleon, das in Hamburg mit seiner groben antimarxistischen Propaganda gewonnen hat und in Berlin durch einen ebenso fleißigen Gebrauch des Worts Sozialismus zu gewinnen versuchte.
»Aber was bedeutet Geschäft eigentlich?«
Es bedeutet Schwarzmarktgeschäfte, wenn man es flüsternd sagt, und Geschäfte im Allgemeinen, wenn man das Wort laut ausspricht. Sie wohnt allein in einer
Zweizimmerwohnung in der obersten Etage eines Hauses mit heruntergewehtem Dach. Im Treppenhaus stehen schon Leute und warten: Jemand will eine Uhr loswerden. Einem anderen ist auf einmal klar geworden, dass er einen Orientteppich braucht. Eine alte, porzellanfeine Dame, die lieber etwas Essbares haben möchte als ihr altes, gediegenes Silberbesteck. Den ganzen Abend klingelt es an der Tür, und das große Zimmer ist voller Menschen, die leise und gehetzt über Porzellan, Uhren, Pelze, Teppiche und phantastische Summen in Mark sprechen. Ich sitze in einem kleinen Hinterzimmer und versuche, mich mit dem schweigsamen Jungen zu unterhalten, der sieben ist, aber Augen hat, die mindestens zehn Jahre älter sind. Das Gemälde zeigt eine gänzlich anonyme Landschaft. Ich trinke Tee mit seltenem weißen Zucker. In einer Pause kommt die Lehrerin herein und sagt, dass ihr das Ganze nicht gefalle.
»Früher war ich so schüchtern, dass ich mich kaum getraut habe, den Mund aufzumachen. Heute fahre ich den ganzen Tag durch die Gegend und versuche, bei den Leuten Silber und Gold aufzuspüren. Glauben Sie nur nicht, dass mir das gefällt. Aber man muss hier auch leben. Wenn man leben will, muss man sich an alles gewöhnen.«
Ja, natürlich muss man leben, und natürlich muss man sich an alles gewöhnen. Ihr Kompagnon, ein kürzlich heimgekehrter Soldat, kommt herein und leistet mir eine Weile Gesellschaft. Er war in Italien und hat eine deformierte Stirn als Erinnerung an die erste alliierte Landung auf Sizilien und einen Granatsplitter in der Brust als Souvenir von der Belagerung Monte Cassinos mitgebracht. Wirft man ihm vor, dass er Schwarzmarkthändler sei, erwidert er:
»Ich bekomme fünfundvierzig Mark Unterstützung im Monat. Das reicht für sieben Zigaretten.«
Fragt man ihn, ob er ein Nazi gewesen sei, antwortet er, er sei sieben Jahre im Krieg gewesen, und ist der Meinung, dass dies als Antwort ausreiche. Fragt man ihn, ob er gewählt hat, sagt er, das habe er getan, aber das bringe nichts. Und
welche Partei? Die CDU? Nein, er sei nicht religiös. Die KPD? Nein, er habe Freunde, die in russischer Kriegsgefangenschaft gesessen hätten. Also die Sozialdemokraten, weil die ihm am gleichgültigsten sind.
Aber dann erinnert er sich doch nicht nur an Nettuno und Monte Cassino, er erinnert sich auch an ein ehemals freundliches Berlin. Er kann scherzen. Er erzählt einen Witz, den Witz von den vier Okkupanten Berlins, die jeder einen Teich mit einem Goldfisch darin besitzen. Der Russe fängt den Goldfisch und isst ihn auf. Der Franzose fängt ihn und wirft ihn weg, nachdem er zuvor die schönen Flossen abgetrennt hat. Der Amerikaner stopft ihn aus und schickt ihn als Souvenir heim in die Vereinigten Staaten. Der Engländer verhält sich am seltsamsten: Er fängt den Fisch, hält ihn in der Hand und streichelt ihn zu Tode.
Dieses frierende, hungernde, heimlich feilschende, schmutzige und unmoralische Berlin kann noch Witze machen, kann noch so freundlich sein, einsame Fremde zum Tee einzuladen, hat noch Menschen wie die polnische Lehrerin und den Soldaten, die zwar regelwidrig leben, paradoxerweise aber dennoch Lichtpunkte in einer großen Dunkelheit sind, weil sie den Mut besitzen, mit offenen Augen zu sinken.
Als ich an diesem Abend in der merkwürdig riechenden U-Bahn heimfahre, sitzt jedoch ein kleiner, betrunkener, englischer Soldatenjunge zwischen zwei abgetakelten Blondinen, beide mit einem erstarrten Lächeln, das zu den falschen Gesichtern zu gehören scheint. Er streichelt sie beide, aber als er alleine aussteigt, fällt blitzschnell das Lächeln aus ihren Gesichtern, und die beiden beginnen einen derben, humorlosen Streit, der drei Stationen andauert, während die Hysterie im Raum singt. Keiner kann weniger Goldfisch sein als diese beiden.
DIE UNWILLKOMMENEN
Auf deutschen Eisenbahnstrecken haben heute in der Regel die Güterzüge Vorfahrt. Die gleichen Menschen, die verbittert behaupten, die Deutschen seien zu einem Volk dritten Ranges degradiert worden, wenn sie feststellen, dass die Besatzungsmacht einige Zuschauerreihen in den Theatern der Stadt abonniert hat, sitzen in den eiskalten Abteilen der armseligen Personenzüge und deuten die neue Zugordnung symbolisch. Und natürlich lernt man zu warten: Bestimmte Güterzüge scheinen wichtiger zu sein als ein paar vollbesetzte, frierende Personenzüge, überfüllt von Leuten mit noch leeren oder frisch gefüllten Kartoffelsäcken.
Aber es gibt solche und solche Güterzüge. Es gibt Güterzüge, die so uninteressant erscheinen, dass sie an den Eisenbahnknotenpunkten auf Nebengleise geleitet, vergessen oder ignoriert werden und einige Tage stehen bleiben müssen, ehe sie weitergeschickt werden. Diese Züge kommen in der Regel unangekündigt aus der Nacht und werden von Fahrdienstleitern und Bahnbehörden mit erheblichem Widerwillen behandelt, wie er dem Ungebetenen ja stets entgegenschlägt. Trotzdem tauchen diese unwillkommenen Güterzüge weiterhin mit peinlicher Hartnäckigkeit wie Geisterschiffe in den Bahnhöfen auf, und die Fahrdienstleiter schicken sie weiterhin auf die Strecke hinaus, wenn diese irgendwann zufällig frei ist.
Man versteht die Bedenken und den Widerwillen der Behörden nur zu gut. Diese ungebetenen Züge sind selbst für den deutschen Nachkriegsverkehr nicht repräsentativ. Sie bestehen aus Waggons, die man in normalen Zeiten ausrangiert hätte, doch nun hat man sie aneinandergekoppelt und mit kleinen Plaketten versehen, auf denen steht: Der Wagen ist für den Transport empfindlicher Waren ungeeignet, da er nicht wasserdicht ist.
Mit anderen Worten, es regnet zur Decke herein, und der Waggon kann folglich nur für den Transport von Gütern benutzt werden, die nicht rosten oder auf andere Weise Schaden nehmen könnten, wenn sie von Wasser durchtränkt werden, oder die einfach als so wertlos gelten, dass es keine Rolle spielt, ob sie tatsächlich beschädigt werden, also Güter sind, deren Diebstahl sich ganz sicher nicht lohnt und die es nicht verdient haben, dass man ihnen ein paar Güterzüge gönnt, die Respekt und Vorfahrt verlangen, wenn ihre Ankunft von der Strecke aus signalisiert wird.
In einem kalten, grauen Dauerregen steht ein solcher Zug in einem Bahnhof in Essen. Es ist ein Zug mit neunzehn Waggons, der hier seit einer Woche im Regen geparkt steht. Die Lokomotive hat man abgekoppelt, und das Interesse, das frisch eingetroffenen Güterzügen sonst entgegengebracht wird, ist diesem nicht zuteilgeworden. Dabei enthält dieser aufgegebene, ausgehungerte Güterzug etwas, das die Stadt Essen eigentlich interessieren sollte: Ein paar hundert Essener, die man nach Bayern evakuiert hatte, nachdem die ersten alliierten Bombenteppiche über dem Ruhrgebiet ausgerollt worden waren, sind mit ihm in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, oder besser gesagt zum Bahnhof ihrer Heimatstadt, denn weiter dürfen sie nicht.
Alle Deutschen wissen, dass in den meisten größeren Städten des Landes ein Zuzugsverbot herrscht, also ein Einreiseverbot, das zwar erlaubt, in jeder beliebigen deutschen Stadt zwischen den Ruinen spazieren zu gehen, das aber untersagt, dort Arbeit zu suchen, zu essen und zu wohnen. Das wissen auch die bayerischen Behörden, aber dieses Wissen hindert sie nicht daran, mit fünftägiger Vorwarnung die evakuierten Nichtbayern auszuweisen, die man auf die vom Krieg verschont gebliebenen ländlichen Regionen Bayerns verteilt hatte. Die undichten Güterzüge werden auf Bahnhöfen in Bayern zusammengestellt und die Ausgewiesenen in die Waggons gezwängt, die mit keinen anderen Annehmlichkeiten ausgestattet sind als Boden, Dach und Wänden, und sobald die Strecke frei ist, werden die Züge in nordwestliche Richtung geschickt.
Vierzehn Tage später trifft ein Zug dann an seinem Bestimmungsort ein, wo man zunächst nichts von seiner Ankunft weiß und anschließend nichts von ihm wissen will. Während der vierzehn Tage, die der Zug unterwegs gewesen ist, hat man für die Fahrgäste keine offizielle Möglichkeit zur Beköstigung bereitgestellt, aber ihre Heimatstadt zeigt ein wenig Wohlwollen und lädt sie in einem kleinen Schuppen neben den Gleisen zu einem Teller wässriger Suppe pro Tag ein.
Es ist unangenehm und beschämend, vollkommen hilflos zu einem solchen Ort zu kommen. Das Bahnhofsgebäude ist seit ein paar Jahren verschwunden, und verbogene Gleise winden sich wie Schlangen hinter dem einzigen instandgesetzten Gleis, auf dem der einsame Güterzug steht. Der rissige Bahnsteig ist matschig vom anhaltenden Regen. Einige agiere des Zugs schlendern an den Waggons entlang, deren Türen zum grauen Tag hin halb offen stehen. Ich begleite einen jungen Amtsarzt, der die schmerzliche Pflicht hat festzustellen, dass der Gesundheitszustand der Zugbewohner schlecht ist, und ihnen mitzuteilen, dass die Stadt leider nichts dagegen tun kann.
Seine Ankunft weckt bei den Hungernden im Zug indessen vergebliche Hoffnungen. Eine alte Frau lehnt sich über einem rostigen Ofenrohr ins Freie hinaus und ruft uns zu sich. Es stellt sich heraus, dass sie eine zwei Jahre alte Enkelin hat, die im Dunkel des Waggons in einem Bettchen liegt. Das Mädchen liegt vollkommen still, außer wenn es hustet. Die Armut des Güterwaggons: Ein kaputtes Bett an der einen Wand, ein Haufen Kartoffeln ausgeschüttet in einer Ecke (der einzige Proviant auf dieser Reise ohne Ziel), ein kleiner Haufen schmutziges Stroh in einer anderen Ecke, wo drei Personen schlafen, das alles ist sanft in einen beruhigenden blauen Rauch gehüllt, der aus dem beschädigten, aus einer Essener Ruine geborgenen Ofen quillt. Hier wohnen zwei Familien mit insgesamt sechs Personen. Anfangs waren sie zu acht, aber zwei sind irgendwo unterwegs abgesprungen und nicht zurückgekehrt. Natürlich könnte Doktor W. das Mädchen hochheben und sagen, wie es um sie steht, er könnte sie zum Lichtschein aus der Ofenklappe tragen und feststellen, dass sofortige Krankenhauspflege erforderlich ist, aber dann müsste er auch darüber sprechen, dass es in den Krankenhän keine freien Betten gibt und die Bürokratie wie üblich wesentlich langsamer arbeitet als der Tod.
Als die Großmutter den jungen Arzt bittet, etwas zu tun, muss er deshalb zunächst die Zähne zusammenbeißen und schlucken und danach erklären, dass er nicht zu ihnen gekommen ist, um zu helfen, sondern um einem schwedischen Journalisten zu zeigen, wie »vornehm man heutzutage mit deutschen Zügen reist«. Ein junger Bursche in einer zerschlissenen Marineuniform, der rücklings im Stroh liegt, lacht ausgelassen über die lustige Bemerkung.
Das Gerücht von unserer Ankunft hat sich allerdings im ganzen Zug verbreitet, und Kinder und Alte stehen ungeduldig wartend im Regen und überhäufen uns mit einer wahren Flut von Fragen. Jemand hat gehört, der Zug solle wieder auf die Strecke geschickt werden und nicht einmal der Lokomotivführer wisse, wohin es diesmal gehen solle. Jemand bittet den Doktor eindringlich, dafür zu sorgen, dass der Zug unverzüglich aufs Land gefahren werde, wo die Fahrgäste selbst versuchen könnten, etwas zum Leben aufzutreiben.
»Bei den Bauern«, faucht jemand erbost, »wir haben genug von unseren Bauern!«
Ein anderer hat eine kranke Mutter, die ausgehungert und hustend im Stroh liegt – aber was nutzt es, sie zu besuchen, wenn man ihr statt Medikamenten nur ein paar tröstende Worte anzubieten hat. Eine junge, sympathische Familie reicht durch die Wagenöffnung ein kleines Baby herunter und bittet mich, es einen Moment zu halten. Es ist ein kleiner, blauer Einjähriger mit Augen, die sich in der zugigen Luft im Güterwaggon entzündet haben; seine Eltern sind gleichermaßen stolz und besorgt. Dem Mann ist es ein Anliegen, mich wissen zu lassen, dass allen Reisenden in diesem Zug bewusst sei, wer die Verantwortung trage, dass letztlich Hitler und kein anderer schuld sei, aber die Behörden in Bayern, dem am wenigsten betroffenen Landesteil des Deutschen Reichs, hätten weniger rücksichtslos auftreten und den Essener Behörden zumindest mitteilen können, dass sie Züge zu erwarten hätten.
»Die Herren schalten und walten, aber am Ende sind es immer wir, die zwischen den Stühlen sitzen«, sagt eine lebhafte alte Frau aus dem Wagendunkel heraus.
Überhaupt ist die Stimmung trotz der beschwerlichen Verhältnisse gut. Das Wissen, nicht allein leiden zu müssen, hat eine Freude am Zusammenhalt hervorgebracht, die unter anderem in Galgenhumor zum Ausdruck kommt. Die Seitenwände der Waggons sind mit Kreideschrift vollgekritzelt: die alte Anschlussparole Heim ins Reich in einem ironischen Zusammenhang, oder Wir danken dem Herrn Hoegner (Bayerns sozialdemokratischem Ministerpräsidenten) für die freie Fahrt oder eine Zeichnung von einem Ochsengespann, versehen mit dem Text: Jetzt können Bayerns Bauern ihren Mist selber fahren. Und dann über allem die berüchtigte Plakette dazu, dass der Waggon undicht ist. Der Doktor schlägt verärgert mit einem Handschuh dagegen.
»Für den Gütertransport taugt er nicht mehr. Nur für Menschen.«
Und in einem noch verbitterteren Ton:
»Stellen Sie sich vor, Landsleute, die Landsleute ausweisen. Hier wenden sich Deutsche gegen Deutsche. Das ist das Fürchterlichste an dem Ganzen.«
Die Tatsache, dass Deutsche für die Versendung des Transports verantwortlich sind, scheint ihn trauriger zu stimmen als der Zustand, in dem er ist. Der junge Arzt ist ein konservativer Antifaschist, der die Fähigkeit besitzt, den Nationalsozialismus notfalls auch aus dem Blickwinkel der nationalen Notwendigkeit zu betrachten. Als er über die Besatzungszeit in Norwegen spricht, wohin er nach seinem Examen als Militärarzt kam, erzählt er von wunderbaren Skiausflügen im Mondschein an norwegischen Berghotels. Wenn man ihn so reden hört, könnte man fast den Eindruck gewinnen, dass die
Deutschen Norwegen wegen des Wintersports besetzt hatten. Und trotzdem fällt es einem schwer, nicht der Meinung zu sein, dass Doktor W. ein auf seine Art anständiger Mensch ist.
Heute ist er jedenfalls so wohlerzogen und so rechtschaffen, dass er die alliierten Behörden akzeptiert und sogar loyal mit ihnen zusammenarbeitet, um die Verhältnisse in Essen zu sanieren. Aber für ihn wie für viele andere junge Menschen aus den gutsituierten Klassen, die nicht zu einem nationalsozialistischen, sondern zu einem idealistischen Nationalismus erzogen wurden, der anständige Rücksichtslosigkeit in Siegerzeiten und loyale Würde in der Niederlage bedeutet, ist die Erfahrung deutscher Rücksichtslosigkeit gegen Deutsche in Deutschland ein furchtbarer Schock.
Möglicherweise befindet sich das Land gerade in dieser Hinsicht zurzeit in einer für Deutschland einmaligen Situation: Die Gegensätze zwischen den großen Interessengruppen im Volk sind so tiefgreifend, dass sie die reaktionären Kräfte, die es im Volksbewusstsein gibt, bis zu einem gewissen Grad ihrer Operationsbasis berauben, von der aus sie effektive neonationalistische Propaganda betreiben könnten. Die agiere in diesem Zug hassen die bayerischen Bauern und die Bayern im Allgemeinen, und das relativ wohlhabende Bayern blickt seinerseits leicht verächtlich auf das übrige hysterische Deutschland herab. Die Bevölkerung in den Städten wirft den Bauern vor, dass sie Lebensmittel auf den Schwarzmarkt schleusen, und die Bauern behaupten ihrerseits, dass die Städter auf dem Land umherreisen und sie ausplündern. Die Flüchtlinge aus dem Osten sprechen hasserfüllt über die Russen und Polen, werden aber selbst als Eindringlinge betrachtet, was letztlich dazu führt, dass sie mit der Bevölkerung im Westen auf dem Kriegsfuß stehen. Die bedrückte Atmosphäre im Westen wird von hasserfüllten Stimmungen durchzogen, die vorerst nur zu unausgegoren sind, um in etwas anderem als isolierten Gewalttaten zu explodieren.
Viele aus dem Zug sind in der Stadt gewesen und haben feststellen müssen, dass ihre alten Wohnungen von Fremden besetzt sind. Jetzt sitzen sie im Stroh und
sind verbittert, aber auf dem Bahnsteig streiten sich zwei alte Frauen darüber, ob Hitler wirklich noch lebt, wie man es sich in Westdeutschland erzählt.
»Der Schweinehund«, sagt die ältere und zerlumptere und deutet mit der Hand einen Schnitt über ihre Kehle an, »wenn der hier wäre!«
Mittlerweile sind einige Vertreter des Schwedischen Roten Kreuzes im Zug eingetroffen mit Milchpulver für die Kinder, die noch keine vier Jahre alt sind. Wir durchsuchen den Zug, verfolgt von einer bettelnden Schar von Kindern, die wesentlich älter sind, aber trotzdem eine Zeitlang hoffen. Jemand schiebt die Tür zu einem geschlossenen Waggon auf, und ein zerlumpter Patriarch mit weißem Bart taucht aus der Dunkelheit auf.
»Nein, hier gibt es keine Kinder«, stammelt er, »hier gibt es nur meine Frau und mich. Wir sind fast achtzig. Wir wohnen hier. So ist unser Los.«
Und damit schließt er würdevoll die Tür, aber in einem anderen Waggon sitzt in einem Rollstuhl ein Mädchen, das unter Schock steht. Die vorbeihuschende Uniform beschwört in ihr offenbar eine grauenvolle Erinnerung herauf, denn auf einmal schreit sie auf, es ist ein schrecklich schriller Schrei, der plötzlich abbricht, und das Mädchen beginnt zu wimmern wie ein Hund. Der Regen strömt herab, und die barfüßigen Jungen laufen schweigend auf dem Bahnsteig umher. Der Rauch aus den Ofenrohren, die zu den Türen hinaushängen, verbreitet bedächtig seine Schleier über dem verlassenen Bahnhofsgelände. Die Hoffnungslosigkeit des ganzen Ruhrgebiets hängt wie eine graue Wolke aus Blei und nasser Kälte über unseren Köpfen, und wer nicht daran gewöhnt ist, möchte am liebsten schreien. Jemand hebt den Rollstuhl des hysterischen Mädchens herunter und dreht ihn auf dem Bahnsteig im Kreis. Pirouetten im Regen und Matsch.
DIE RIVALEN
Es ist bequem, aber fragwürdig, Deutschland als einen Patienten zu betrachten, als Europas »kranken Mann«, der dringend Spritzen mit antinationalsozialistischem Serum benötigt. Fragwürdig ist es allerdings nicht, weil Deutschland bereits vom Nationalsozialismus gesäubert worden ist, sondern weil die Patiententheorie eine mystische Einheit voraussetzt, die im Deutschland dieser Tage nicht existiert. Es verhält sich natürlich nicht so, dass das deutsche Volk in zwei Blöcke aufgeteilt ist: in ein kleines antinationalsozialistisches Siegerdenkmal im Grabsteinformat und einen riesigen nationalsozialistischen Grabstein von monumentalem Format, bereit, beim schwächsten Oppositionswind umzukippen und alle kleinen Barrikaden der Freiheit unter seinem bedrohlichen Marmorgewicht zu begraben.
Hat man einige Zeit mit Deutschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Lagern verbracht, merkt man schnell, dass das, was bei einem Kurzbesuch in der aktuellen deutschen Gedankenwelt wie eine unzersplitterte Einheit erschien, in Wahrheit von diagonalen, vertikalen und horizontalen Rissen durchzogen ist. Was man für eine unerschütterliche Einheit hielt, ist lediglich eine oberflächliche Übereinstimmung bei bestimmten elementaren Ansichten: Alle Deutschen sind der Meinung, dass die sieben Millionen Kriegsgefangenen heimkehren müssen und die Heimkehrer – rein körperlich – etwas mehr wiegen sollten, als jene Deutschen es tun, die aus russischen Waffenschmieden und französischen Gruben zurückkommen. Alle Deutschen sind der Ansicht, dass sämtliche Zonengrenzen abgeschafft werden müssen und die Demontage, wenn sie erforderlich ist, nicht bedeuten darf, dass beispielsweise wertvolle, von den Russen konfiszierte Maschinenteile im Hamburger Hafen auf Lastkähnen herumliegen und verrosten. Des Weiteren denken alle Deutschen in den Westzonen, wenn auch mit wechselnden Ausgangspunkten, dass die riesigen Flüchtlingstransporte von Osten nach Westen eine Form von unsichtbarem Druck sind, den die Russen auf die übrigen Alliierten ausüben; indem sie die Westzonen mit notleidenden Menschen vollpumpen, könnten die Russen einen Zustand schnell wirkender Verelendigung hervorrufen, der in einem bestimmten Augenblick maximaler Not zwangsläufig eine für die westlichen
Besatzungsmächte verheerende Explosion auslösen wird.
Die Ansichten über die Alliierten gleichen sich nur darin, dass allen Deutschen ein gewisses Gefühl von naturgegebener Unfreiheit gemeinsam ist; dagegen meint man selbst in sehr reaktionären Kreisen keine objektiven Gründe für eine Form von Widerstand, auch ivem, zu haben. Die Deutschen betrachten sich ganz eindeutig nicht auf die gleiche Art besetzt, wie es beispielsweise bei den Franzosen der Fall war: Man begegnet keiner öffentlichen Verachtung für die Besatzungsmacht, nicht einmal für die Mädchen der Besatzungsmacht, und die bisher einzige Form demokratischer Erziehung, an der die Alliierten sich versucht haben, also die Bemühungen der Amerikaner, die deutsche Jugend zu guten Baseballspielern zu erziehen, ist bei den Jugendlichen mancherorts auf lebhaftes Interesse gestoßen.
Es ist folglich nicht weiter schwierig, Übereinstimmungen in Ansichten festzustellen, die sich wie Autobahnen durch alle Gesellschaftsklassen ziehen, ebenso leicht, wie wir bei uns einen Mangel an Meinungsverschiedenheiten im Hinblick auf modernistische Dichtung und gewisse Aspekte des Steuerrechts feststellen können. Entscheidend ist jedoch, dass diese übereinstimmenden Meinungen nicht im Geringsten dazu beitragen, die bitteren Grenzen zwischen den rivalisierenden Volksgruppen zu verwischen. Bereits erwähnt habe ich den Hass zwischen Bauern und städtischer Bevölkerung und den noch größeren Hass zwischen aufs Land evakuierten, armen Städtern, die ebenso bittere Not leiden wie die Bewohner der Städte, und Bauern, die im letzten Herbst noch Lebensmittel gegen Kleider und Stoff herausgaben, aber als es auch auf dem Land eine Inflation von Kleidern gab, ihre Kartoffeln, Eier und Butter am liebsten gegen Gold, Silber und Uhren eintauschen wollten. Ebenfalls erwähnt habe ich die Klassenunterschiede zwischen den Armen und den weniger Armen, die wachsende Gereiztheit zwischen Flüchtlingen und Sesshaften und die rücksichtslose Rivalität zwischen konkurrierenden Parteien.
Es gibt aber einen weiteren Gegensatz, der möglicherweise verhängnisvoller ist als jeder andere: den Konflikt zwischen den Generationen, die gegenseitige
Verachtung zwischen jungen Menschen und solchen mittleren Alters, der die jungen Leute von den Führungskadern der Gewerkschaften, den Parteivorständen und den Funktionärskorps der demokratischen Institutionen ausschließt.
Die Abwesenheit der Jugend im politischen, gewerkschaftlichen und kulturellen Leben lässt sich nicht nur damit erklären, dass die nazifizierte Jugend nicht motiviert werden kann, sich für die Aufgaben der Demokratie zu interessieren. Innerhalb der Parteien und Gewerkschaften kämpfen Junge gegen Ältere in einem vergeblichen Kampf um Einfluss, den die ältere Generation nicht in die Hände dieser Jugend legen möchte, die, wie man sagt, im Schatten des Hakenkreuzes aufgewachsen ist, und den die jungen Leute ihrerseits nicht einer älteren Generation anvertrauen mögen, die in ihren Augen die Verantwortung für den Zusammenbruch der alten Demokratie trägt. Die Niederlage der Jugend hat eine enttäuschte, verhängnisvoll vorurteilsvolle Einstellung zu jeglichem demokratischen Organisationsleben zur Folge, das immer stärker als eine Angelegenheit alter Menschen betrachtet wird.
Bemerkenswert an diesem Kampf der Generationen ist allerdings, dass die Vertreter der älteren Generationen so alt und die der Jugend häufig gar nicht mehr jung sind. In den Gewerkschaften wird man Zeuge des aussichtslosen Kampfs der Fünfunddreißigjährigen gegen die Sechzigjährigen; Männern, die vor 1933 radikale Jugendliche waren und ihre Standpunkte in der Nazizeit nicht geändert haben, fällt es genauso schwer, ihren Ansichten Geltung zu verschaffen wie den Jungen, die nie etwas anderes gekannt haben als den Nationalsozialismus. Zumindest in Teilen Deutschlands ist es deshalb durchaus berechtigt, von einer Krise der Parteien und Gewerkschaften zu sprechen, und eine der Hauptursachen für diese Krise ist darin zu suchen, dass die Männer des Zusammenbruchs von 1933 mit ihren zitternden Altherrenhänden allzu schnell das Ruder übernommen haben.
Das Tragischste an der großen Zeltversammlung in Frankfurt am Main, die ich kurz vor Weihnachten besuchte und auf der Paul Löbe, der alte
sozialdemokratische frühere Reichstagspräsident sprach, war letztlich vielleicht nicht so sehr, dass man keinen einzigen jungen Menschen unter den etwa eintausend Zuhörern ausmachen konnte. Das Tragische und Beängstigende bestand darin, dass die Zuhörer so betagt waren. Achtzig Prozent der Anwesenden waren alte Männer mit verhärmten Gesichtszügen und eingefrorenem Lächeln, die gekommen waren, um sich zu erinnern, und nicht, um Impulse für den Kampf für eine kaum geborene Demokratie zu bekommen. Diese achtzig Prozent standen dort in schallender Blasmusik um die Bühne geschart und murmelten »Die Internationale«, und in der eisigen Stille um ihre verdorrten Stimmen, die sich in dreizehn Jahren trocken geschwiegen hatten, beschlich einen das schaurige Gefühl, sich in einem Museum für eine verlorene Revolution und eine ebenso verlorene Generation zu befinden. Und vor dem Zelt hatten junge Leute gestanden und mit einer sarkastischen Phrase den Weg gewiesen: Hier geht alles nach rechts!
Die deutsche Jugend befindet sich in einer tragischen Situation. Sie besucht Schulen, in denen man die Fenster mit Schiefertafeln vernagelt, Schulen, in denen es nichts zu schreiben oder zu lesen gibt. Diese Jugend werde die ungebildetste der Welt sein, meinte der junge Amtsarzt in Essen. Von ihren Schulhöfen haben diese Jugendlichen Aussicht auf eine schier endlose Zahl von Ruinen, die schlimmstenfalls als Schultoiletten benutzt werden müssen. Die Lehrer predigen täglich über das Unmoralische am Schwarzmarkt, aber wenn diese Jugend aus der Schule heimkommt, wird sie vom eigenen Hunger und dem ihrer Eltern auf die Straßen gezwungen, um dort etwas Essbares aufzutreiben. Es entsteht ein furchtbarer Konflikt, dessen Unauflösbarkeit nicht wirklich dazu beiträgt, die Kluft zwischen den Generationen zu schließen. Es wäre lächerlicher Optimismus zu glauben, eine solche Jugend in einer Organisation der keimenden Demokratie zu finden. Man muss der nacktesten Wirklichkeit ins Auge sehen und eingestehen, dass die deutsche Jugend eigene Organisationen besitzt: die Räuberbanden und die Zentralen des Schwarzmarkts.
VERLORENE GENERATION
In Deutschland gibt es nicht nur eine einzige verlorene Generation, sondern gleich mehrere. Man kann sich darüber streiten, welche die verlorenste, aber nicht darüber, welche die bedauernswerteste ist. Sie, die ungefähr zwanzig sind, treiben sich in den deutschen Kleinstädten bis weit in die Abenddämmerung hinein auf den Bahnhöfen herum, ohne irgendwelche Züge oder etwas anderes erwarten zu können. Man kann dort kleine, verzweifelte Raubversuche erleben, begangen von nervösen Jünglingen, die trotzig ihre Tolle werfen, wenn sie festgenommen werden, oder man kann mitansehen, wie sich betrunkene, blutjunge Mädchen alliierten Soldaten an den Hals werfen oder wie sie mit betrunkenen Negern auf den Bänken der Wartesäle eher liegen als sitzen. Ein vergleichbares Schicksal hat keine Jugend erlebt, sagt ein bekannter deutscher Verleger in einem Buch für und über diese Jugend. Mit achtzehn hatte sie die Welt erobert und mit zweiundzwanzig alles wieder verloren.
In Stuttgart, wo man hinter schwarzverbrannten Fassaden mit Mühe die Leiche einer verlorenen Schönheit identifizieren kann, findet eines Abends eine Versammlung für diese bedauernswerteste aller verlorenen Generationen statt. Veranstaltungsort ist ein kleiner christlicher Gemeindesaal mit Platz für etwa einhundertfünfzig Menschen, und zum ersten und letzten Mal während meines Aufenthalts in Deutschland darf ich Zeuge einer Zusammenkunft in einem vollen Haus werden, mit Teilnehmern, denen es nicht gleichgültig ist, was iert, mit einem Publikum, das ausschließlich aus jungen Leuten besteht: blasse, arme, junge Menschen mit hungrigen Gesichtern und zerlumpten Kleidern, junge Intellektuelle mit hitzigen Stimmen, junge Mädchen mit einer beängstigenden Härte in den Zügen, ein reicher, arroganter Jüngling mit Pelzkragen, der anfängt, amerikanisch zu riechen, als er sich eine Zigarette anzündet. Der Vorsitzende der örtlichen »Jungdemokraten«, die eingeladen haben, heißt einen kleinen, blassen, älteren Herrn willkommen, der einer der örtlichen Entnazifizierungsstaatsanwälte ist.
Viele junge Leute schweben derzeit in Ungewissheit, sagt der Vorsitzende, junge Leute, die Mitglied der Hitlerjugend waren oder in die SS gezwungen wurden und nun wegen ihrer Vergangenheit arbeitslos sind, möchten heute Abend einen Vertreter der Spruchkammern fragen, nach welchen Prinzipien die Strafen für diese Jugend festgesetzt werden.
Der alte Staatsanwalt scheint anfangs ein typischer Vertreter jener deutschen Juristen zu sein, die ihrer Arbeit im Dienst der Entnazifizierung mit demonstrativem Unwillen nachgehen. Er unterstreicht seinen Widerwillen, indem er darauf hinweist, dass das angewendete Gesetz ein amerikanisches ist.
»Wir sind Juristen«, sagt er, »spucken Sie nicht uns an. Wir müssen gehorchen, weil die Kapitulation Deutschlands bedingungslos war und die Alliierten mit uns machen können, was sie wollen. Es hat keinen Sinn, die Spruchkammern zu sabotieren. Es hat keinen Sinn, die Fragebögen zu verfälschen (eine Art ideologische Selbstauskunft). Das macht für Sie und uns alles nur noch schwerer, weil die Amerikaner wissen, wer ein Nazi gewesen ist und wer nicht. Sie beschweren sich darüber, dass wir langsam arbeiten, aber allein in Stuttgart sollen einhundertzwanzigtausend Menschen vor Gericht gestellt werden. Sie schreiben Briefe und beklagen sich, weil Sie verurteilt werden sollen, obwohl Sie sich keiner Handlung zum Vorteil des Nationalsozialismus schuldig fühlen. Ich entgegne Ihnen: Sie haben dem Führer bedingungslosen Glauben und Gehorsam geschworen. War das keine Handlung? Sie haben einem Mann, den Sie nicht kannten, blinden Gehorsam geschworen. Sie haben vierhundert Mark Parteibeitrag im Jahr bezahlt. War das keine Handlung?«
Da wird der Staatsanwalt plötzlich von einem aufgebrachten Jüngling unterbrochen:
»Hitler war doch ein Mann, den die ganze Welt anerkannt hat. Staatsmänner sind hierhergekommen und haben Verträge unterzeichnet. Der Papst war der Erste, der ihn anerkannt hat. Ich habe mit eigenen Augen ein Bild gesehen, auf dem der
Papst ihm die Hand schüttelt.«
Der Staatsanwalt: Ich kann den Papst nicht in meine Spruchkammer vorladen.
Ein junger Student: Keiner hat uns geholfen, die Professoren nicht, die jetzt eine große Klappe haben. Die Juristen nicht, die uns jetzt verurteilen sollen. Ich bin selbst Jurist. Als Jurist klage ich die ältere Generation an, den Nationalsozialismus durch ihr Schweigen unterstützt zu haben.
Ein junger Soldat: Alle Soldaten mussten dem Führer Gehorsam schwören.
Der Staatsanwalt: Aber die Parteimitglieder taten es freiwillig.
Der Soldat: Die Verantwortung liegt nicht bei uns Jungen.
Der Staatsanwalt: Nie zuvor hat es in Deutschland eine Partei gegeben, die von ihren Mitgliedern verlangt hat, eine Verpflichtung zu bedingungslosem Gehorsam zu unterschreiben.
Empörte Stimmen: Nicht? Herr Staatsanwalt, dann schauen Sie sich doch mal die demokratischen Parteien heute an! (Diese jungen Leute sind tatsächlich der ehrlichen Überzeugung, dass die Mitgliedschaft in einer Partei unweigerlich mit der Gehorsamspflicht einem Führer gegenüber verbunden ist.)
Der Staatsanwalt: Es war schändlich, unverzeihlich, eine strafbare Handlung,
meine Herren, die heute mit sechs Monaten Gefängnis bestraft werden kann, ja, für Beamte mit bis zu fünf Jahren.
Aufgebrachte Stimmen: Das hat uns keiner gesagt. Wir waren damals vierzehn, Herr Staatsanwalt.
Der Staatsanwalt: Ich habe mit erfahreneren Männern als Ihnen gesprochen, die gesagt haben: Ich bin entsetzt, dass das ieren konnte. Jeder einzelne, der diese Gehorsamsverpflichtung unterschrieben hat, hat sich dadurch in eine lebensgefährliche Situation gebracht. Sie können dankbar sein, dass die Alliierten gekommen sind. Wäre es denn besser gewesen, wenn hier eine Revolution ausgebrochen wäre und Sie Ihre Köpfe verloren hätten?
Der reiche Jüngling: Dann braucht man keine Vitamine, Herr Staatsanwalt!
Der Staatsanwalt: Das Gesetz ist doch ein Segen für euch ehemalige Nationalsozialisten. Das Gesetz lässt Milde walten, weil es Rücksicht auf die Jugend nimmt, die auch nicht von Verantwortung befreit ist. Die auf die gleiche Art verantwortlich ist, wie man für einen Blumentopf verantwortlich ist, der aus dem Fenster fällt.
Der Student: Herr Staatsanwalt, gestatten Sie mir zu sagen, dass Sie, die Älteren, die geschwiegen haben, auf die gleiche Art verantwortlich für unser Schicksal sind wie eine Mutter, die ihr Kind verhungern lässt.
Der Staatsanwalt: Sie wissen ja sicher, dass für diejenigen unter Ihnen, die nach 1919 geboren sind, Amnestie erlassen werden kann, wenn sie nicht zu den besonders Belasteten gehören, zu denen, die Misshandlungen und Gewalttaten
begangen haben. Übrigens müssen wir Älteren auch durchaus zugeben, dass der Nationalsozialismus mit der Jugend nicht ungeschickt umgegangen ist. Es gibt junge Leute, die gern an ihre Zeit bei der Hitlerjugend zurückdenken. (Zustimmendes Gemurmel.) Außerdem darf man nicht vergessen, dass es nicht nur in Deutschland eine Diktatur gab, sondern auch in der Türkei, in Spanien, Italien.
»Vergessen Sie Russland nicht, Herr Staatsanwalt«, ruft jemand und zitiert wörtlich aus einer Rede Churchills über russische Politik. Da kämen selbst die Nazis nicht mit.
Der Staatsanwalt: Das Gesetz geht das ganze Volk an. Es reicht nicht, zweitausend Mark Bußgeld zu zahlen und sonst nichts zu tun. Dringend erforderlich ist außerdem eine geistige Umstellung seitens der Jugend. Sagen Sie nicht mehr: Wir können nichts tun, so wahr es auch sein mag, dass keine Jugend schlechter behandelt worden ist als Sie.
Ein SS-Mann mittleren Alters: Das erste vernünftige Wort heute Abend!
Der Staatsanwalt: Junge und Alte sitzen im gleichen Boot. Haben wir eine Chance, uns aufzurichten?
Die Versammlung: Wir haben eine Chance – durch die Jugend.
Der Staatsanwalt: Glauben Sie, die Politiker in Paris könnten uns helfen, die von einer Konferenz zur nächsten ziehen, ohne dass irgendetwas erreicht wird? Wir müssen uns selbst helfen. Wir müssen Geduld haben. Meine Herren, nicht nur in Deutschland herrschte 1933 Arbeitslosigkeit, aber nur Deutschland hatte keine
Zeit zu warten. Jetzt müssen wir Geduld lernen, weil der Aufbau Geduld erfordert.
Der Vorsitzende: Herr Staatsanwalt, glauben Sie etwa, wir Jungen wären während der Hitlerzeit nicht von dem Willen beseelt gewesen, etwas aufzubauen?
Der SS-Mann: Wir waren Idealisten, Herr Staatsanwalt. Wir verlangen eine Amnestie für SS-Männer. Jeder weiß doch, wie man dazu gekommen ist, SSMann zu werden. Irgendeiner hat gesagt, du, Karl, du bist einsachtzig groß, du gehst zur SS, und Karl kam zur SS. Alle kämpfen für ihr Land und betrachten das als ehrenvoll, warum sollen wir dafür bestraft werden, für unser Deutschland gekämpft zu haben?
Der Staatsanwalt: Wir Juristen unterliegen der Dienstpflicht. Das Entnazifizierungsgesetz ist unser Arbeitgeber. Auch ich selbst scheine allmählich schon als Nationalsozialist betrachtet zu werden. Mein Haus haben die Amerikaner übernommen, genau wie die Möbel. Beschimpfen Sie deshalb das Gesetz, aber nicht die Spruchkammern. Vergessen Sie nicht, dass wir Älteren es auch nicht so viel leichter hatten als Sie. Zwölf Jahre lang standen wir mit einem Bein im Konzentrationslager, und während der letzten sechs Jahre hing Tag und Nacht die Bombendrohung über unseren Köpfen. Nicht nur die Jugend, das ganze deutsche Volk ist krank: krank geworden von der Inflation, von der Zeit der Reparationen, von der Arbeitslosigkeit und dem Hitlerismus. Das ist für ein Volk in nur fünfundzwanzig Jahren einfach zu viel. Wir Juristen haben kein Rezept für die Genesung. Wir können nur eins tun: versuchen, die mildesten Möglichkeiten des Gesetzes anzuwenden, versuchen, die am schwersten Belasteten in die Gruppe der weniger Belasteten zu bekommen; und seien Sie überzeugt, meine Herren, dass wir tun, was wir können. Wir tun alles für die Jugend, aber wir sind in erster Linie Juristen und können uns gemäß den Kapitulationsbedingungen nicht weigern, uns mit der Entnazifizierung zu befassen.
Und mit dieser entschuldigenden Wendung hörte der alte Staatsanwalt auf zu sprechen. Er hätte eine einleitende Rede halten sollen, die ohne Diskussion bis hierher gegangen wäre, vermochte der hitzigen Opposition, die in seine sorgsam vorbereitete Rede hineingestürmt war und sie zerstückelt hatte, jedoch nicht standzuhalten. Es war fesselnd zu beobachten, dass dieser versierte und kultivierte Mann es schlichtweg nicht wagte, der aufgebrachten Jugend mit dem üblichen parlamentarischen Widerstand zu begegnen. Tatsächlich trifft man bei der älteren Generation häufig eine rein körperliche Furcht vor der Jugend an, die eine der Erklärungen dafür ist, dass die alten Herren der Politik und des öffentlichen Lebens die Jugend aus sicherer Entfernung so restriktiv behandeln. In der folgenden Diskussion lauschte die Jugend desinteressiert dem älteren SSMann, der über den blutigen 1. Mai 1929 und über den blutigen Bruderkampf zwischen den Linksparteien sprach. Der Jurist hatte ein spezielles Problem. Seine Belastung lag zehn Jahre zurück. Er war 1936, mit dreiundzwanzig Jahren, Pg (Parteigenosse) geworden, hatte sich im reiferen Alter »selbst entnazifiziert«, war nun aber trotzdem vorgeladen worden. Der Staatsanwalt entgegnete, es sei zwar wünschenswert, dass alle Jungen eine individuelle Behandlung erhielten, aber da sei leider nichts zu machen.
Der Student: Wir jungen Juristen wurden gezwungen, in die Partei einzutreten. Wer hätte uns denn geholfen, wenn wir uns geweigert hätten? Viele junge Anwälte in Hessen sind mit ihren Familien auf die Straße gesetzt worden und gucken auf der Suche nach Arbeit in die Röhre. Ohne die Jugend gibt es keine Demokratie, aber wenn man uns so behandelt, vergeht uns die Lust, etwas für diese Demokratie zu tun.
Bei diesem Einwurf erhellt sich die Miene des reichen Jünglings, und er ruft Bravo. Der Staatsanwalt tröstet seinen jungen Kollegen damit, dass nur Angeklagte der ersten Gruppe, also Kriegsverbrecher, mit Entlassung bestraft würden, aber eine junge Frau protestiert und behauptet, dass Arbeitgeber, die vielleicht selbst früher Pg gewesen seien, die Nase rümpften, wenn sie hörten, dass der Arbeitssuchende ein junger Pg sei. Diese Arbeitgeber hätten Angst vor den neu gebildeten Wirtschaftsräten, den Vertretern der industriellen Demokratie, die, behauptet sie, viel schlimmer seien als die Spruchkammern.
Und damit hat sie sicherlich recht. Ganz Deutschland lacht oder weint über die Entnazifizierung, diese Komödie, in der die Spruchkammern eine erbärmliche Doppelrolle als Hausfreund spielen, diese Gerichte, deren Staatsanwälte den Angeklagten um Entschuldigung bitten, bevor das Urteil gefällt wird, diesen riesigen Papierkrieg, in dem es schon vorgekommen ist, dass ein Angeklagter im Deutschland des Papiermangels mit hundert Bescheinigungen über seine Unbescholtenheit erschienen ist, und wo Tausende sinnloser Trivialfälle durchgekaut werden, während die wirklich großen Fälle durch eine geheime Falltür zu verschwinden scheinen.
Die Jugend, die in der Stuttgarter Nacht verschwindet, sieht sich mit einem schlimmeren Schicksal konfrontiert als jede frühere, und in dem kleinen Drama, in dem sie an diesem Abend mitgespielt hat, wird sie vielleicht nicht die Wahrheit über sich oder die Wahrheit über das Geschehen gesagt haben, an dem sie freiwillig oder unfreiwillig beteiligt gewesen ist, aber eins steht fest: Sie hat die Wahrheit darüber gesagt, was sie von sich und von einer Generation hält, die sie gleichermaßen fürchtet und verachtet in diesem tristen Vorwinter, in dem große rote Plakate an den Wänden der Ruinen fünfzigtausend Mark Belohnung für Hinweise versprechen, die zur Ergreifung der Attentäter auf die Stuttgarter Spruchkammern führen.
DIE GERECHTIGKEIT NIMMT IHREN LAUF
Es herrscht ein Mangel an Freude im Nachkriegsdeutschland, aber kein Mangel an Vergnügungen. Die Kinos spielen fast den ganzen Tag bis zum Einbruch der Dunkelheit vor vollen Hän und haben Stehplätze eingeführt, um die Nachfrage befriedigen zu können. Auf dem Programm stehen alliierte Kriegsfilme, während amerikanische Militarismusexperten die deutsche Literatur auf der Suche nach militaristischen Tendenzen unter die Lupe nehmen. Die Theater dürften Nordeuropas bestes Repertoire und das hungrigste Publikum der Welt haben, und die Quadratmeter der Tanzlokale, in denen die alliierte Militärpolizei aus Gründen der Hygiene jeden Abend ein paar Razzien durchführt, sind überfüllt. Aber diese Amüsements sind teuer. Theaterkarten kosten billige Zeit und teures Geld. Kostenlose Unterhaltung ist selten, man muss sie nehmen, wo man sie kriegen kann.
An manchen Orten in der amerikanischen Zone ist es deshalb zu einem recht häufig genutzten Vergnügen geworden, eine Spruchkammersitzung zu besuchen, also eine Entnazifizierungsverhandlung. Der Mann mit dem raschelnden Butterbrotpaket, der mit niemals nachlassendem Interesse einen Fall nach dem anderen verfolgt, die vor seinen selten ermüdenden Augen aufgerollt werden, gehört zu den Stammkunden in den kahlen Gerichtssälen des halb ausgebombten Justizpalasts, dem nicht einmal eine Erinnerung an die sadistische Eleganz geblieben ist, mit der sich die Gerechtigkeit sonst so gerne umgibt. Es ist ein Irrglaube, dass es den Mann mit dem Butterbrotpaket zum Gericht zieht, um den späten Triumph definitiver Gerechtigkeit genießen zu dürfen. Wahrscheinlicher ist, dass er ein begeisterter Theaterbesucher ist, der hierherkommt, um sein Bedürfnis nach Bühnenkunst zu stillen. Und in der Tat ist eine Spruchkammersitzung im Idealfall, wenn sämtliche Mitwirkenden interessant genug sind, ein Stück exquisites, fesselndes Theater, das mit seinen schnellen Wechseln von der Vergangenheit zum Jetzt und Hier, seinen endlosen Zeugenvernehmungen, bei denen keine einzige noch so kleine Handlung des Angeklagten während der zwölf maßgeblichen Jahre als zu unwichtig angesehen wird, um vernachlässigt werden zu können, wie praktisch angewandter Existenzialismus erscheint. Die Atmosphäre von Traum und Unwirklichkeit, in
der sich diese gründliche Prüfung der bedauerlichen oder schrecklichen Erinnerungen einer ganzen Nation abspielt, beschwört noch eine andere literarische Assoziation herauf. Man fühlt sich in diesen Gerichtssälen in Kafkas fantastische Gerichtswelt in »Der Prozeß« versetzt, mit ihren halb zugemauerten Fenstern, ihren vollkommen nackten Wänden, ihren kalten Glühbirnen und ärmlichen, von Bomben beschädigten Möbeln und ihrer Lage hoch oben unter dem zerstörten Dach sehen sie aus wie eine der Wirklichkeit entnommene Illustration der trostlosen Dachgeschossbüros, in denen »Der Prozeß« spielt.
Es ist bezeichnend für die Situation, dass eine eigentlich so ernste Angelegenheit wie die Entnazifizierung vor allem zu einer Veranstaltung für einen Theaterkritiker wird. Aber für einen Fremden sind diese kurzen Prozesse, die in der Regel in höchstens ein paar Stunden verhandelt werden, natürlich auch äußerst interessant, weil sie mit seltsamer Schärfe ein Bild vom Zustand während der Hitlerzeit zeichnen, von den Beweggründen derer, die Nazis wurden, und derer, die es nicht wurden. Aus den Zeugenvernehmungen schlägt einem nicht selten ein kalter Hauch aus der Zeit des Schreckens entgegen, ein Stück Geschichte, das bisher unsichtbar gewesen ist, lebt für einige kurze, verdichtete Minuten auf und lässt die Luft in dem feuchtkalten Gerichtssaal gewissermaßen erzittern. Ja, für jeden, der diese Echsenzeit nicht selbst erlebt hat, sind die Gerichtsverhandlungen von einem furchtbaren dokumentarischen Interesse – als Instrument der Entnazifizierung sind sie dagegen untauglich; darin muss man der einhelligen öffentlichen Meinung Recht geben.
Es herrscht nämlich rührende Einigkeit über das Lächerliche, ja, Skandalöse an den Formen der Entnazifizierung. Die früheren Nationalsozialisten sprechen verärgert von einer barbarischen Kollektivbestrafung. Die anderen sind der Meinung, dass ein paar hundert Mark Bußgeld pro Fall nicht der Gipfel der Barbarei sind, finden aber, dass es eine Verschwendung von Arbeitskraft ist, diesen Riesenapparat für kleine Pgs in Gang zu halten, wenn man die Großen laufen lässt. Außerdem trägt die Fließbandtechnik unausweichlich dazu bei, das eigentliche Prinzip der Entnazifizierung auf gefährliche Weise ins Lächerliche zu ziehen. Typisch für diese Einstellung ist etwa, dass die Kommunisten sich in ihrer Wahlwerbung mit einer Anlehnung an Fallada, Kleiner Pg, was nun?, an die kleinen Fische in der Partei wenden, deren Unzufriedenheit mit der
Entnazifizierung sie sich zunutze machen wollen. Im alltäglichen Sprachgebrauch spricht man übrigens nicht mehr von Spruchkammern, sondern abwechselnd von Bruchkammern oder Sprüchekammern.
Was dort gesprochen wird, kann für jemanden, der einen Teil der Wahrheit über die Geschichte der zwölf Jahre erfahren will, wie gesagt dennoch interessant sein. Einer der Verhandlungstage beginnt mit einem kleinen Volksschullehrer und endet mit einem bestechlichen Parteifunktionär. Schauplatz ist Frankfurt am Main, wo die Sprüchekammer ausnahmsweise besser ist als ihr Ruf, was natürlich daran liegt, dass es dort Richter gibt, die sich für ihre Tätigkeit nicht schämen, die nicht jedes Wort unter symbolischen Verbeugungen vor dem Angeklagten wählen.
Der Volksschullehrer ist als Minderbelasteter vorgeladen worden, er war zwar Angehöriger der SA, hat ansonsten aber nicht viel Aufhebens von sich gemacht. Er ist ein kleiner, blasser, versierter Mann, der sämtliche Fragen so brav wie ein Sonntagsschüler beantwortet. Er erzählt von seiner Kindheit, die arm und trist gewesen sei, und dass er sich seit jeher danach gesehnt habe, Volksschullehrer zu werden. Er war bereits auf einem guten Weg, als der Nationalsozialismus kam und er sich vor die bittere Wahl gestellt sah: Pflichtschuldig Mitglied in einer nationalsozialistischen Organisation zu werden und sich seinen Traum zu erfüllen oder seine Zukunft aufzugeben.
»Mit großen Zweifeln und nach langen Überlegungen mit meinem Vater beschloss ich, in eine solche Organisation einzutreten.«
»Aber warum ausgerechnet in die SA?«
»Weil die SA meines Erachtens die unschuldigste war.«
»›Die Straße frei den braunen Bataillonen‹, nennen Sie das unschuldig?«, erkundigt sich der Richter.
Aber der Angesprochene hat sechs Zeugen für seine Unschuld, Zeugen, die beteuern, dass er niemals nationalsozialistische Denkweisen vertreten habe, Zeugen, die ihm bescheinigen, dass er ausländische Radiosender gehört habe (das haben alle Angeklagten getan), jüdische Zeugen, die gesehen haben, dass er Juden freundlich behandelt habe (solche Zeugen haben alle Angeklagten; sie kosten ein paar hundert Mark das Stück), und einen Rektor, der zwar keine seiner Schulstunden besucht hat, aber trotzdem erstaunlich gut über sie informiert ist, und schließlich eine kleine junge Frau aus der Bibliothek des Schulseminars, die berichtet, dass der Angeklagte wahrheitsliebend, aufopferungsvoll, pflichtbewusst sei, sorgsam mit Büchern umgehe und nett zu Kindern und Hunden sei, und die kurz in Tränen ausbricht, als der Richter ihr barsch mitteilt, dass dies nicht hierher gehöre. Der gewichtigste Grund für den Freispruch des Volksschullehrers ist jedoch, dass er noch ein Jahr, nachdem es kompromittierend geworden war, sich kirchlich zu betätigen, einen Kirchenchor geleitet hat. Der Staatsanwalt persönlich greift zu seinem Vorteil ein, und damit ist die Angelegenheit erledigt.
Danach folgen zwei typische Standardfälle, denen der Mann mit dem Butterbrotpaket ein zerstreutes, enttäuschtes Interesse entgegenbringt, Fälle, die so gewöhnlich sind wie die Namen der Angeklagten: Müller und Krause. Herr Müller war an seinem Arbeitsplatz ein Vertreter der gescheiterten nationalsozialistischen Gewerkschaftsbewegung, der die Nationalsozialisten jahrelang mit ungewöhnlich wenig Erfolg Leben einzuhauchen versuchten, aber die Zeugen bescheinigen ihm, dass er jedenfalls nicht mit Drohungen agitiert habe. Zweimal hat er allerdings die Gewerkschaftsuniform getragen, davon einmal am Geburtstag des Erlösers. Außerdem hat er natürlich ausländische Radiosender gehört und ist nett zu einer jüdischen Familie gewesen. Das macht zweitausend Mark Wiedergutmachung. Die Uniform wird für ungültig erklärt, darüber hinaus soll der Angeklagte als Strafe einen Anzug und ein Paar Schuhe abtreten.
Herr Krause hat ausländische Radiosender gehört und hatte eine jüdische Cousine. Herr Krause, der erst 1940 Parteimitglied wurde, ist ein kleiner, hustender Buchhalter mit einer nervösen Brille, die sich auf einer ununterbrochenen Wanderung zwischen Nase und Tisch befindet. Herr Krause hat sechzehn lange Bescheinigungen von der Bankleitung, von Kollegen bei der Bank, von Nachbarn, von einem Arzt, der ihn behandelt hat, von einem Rechtsanwalt, der ihn bei seiner Scheidung vertreten hat. Herr Krause verliest sie alle mit nasaler, einschläfernder Stimme, während das Gericht allmählich wegdämmert und nur ganz hinten im Saal Butterbrotpapier raschelt.
Warum ist Herr Krause 1940 Nationalsozialist geworden?
Seine Bescheinigungen geben an, dass es an einem Scheidungsprozess lag, der 1930 begann und sich vom Anbruch des Nationalsozialismus nicht aufhalten ließ, sondern weiterging. 1939 hatte dieser Herrn Krause arm und magenleidend gemacht. Als er 1940 am Rande der Verzweiflung stand und bei Beförderungen zugunsten von Kollegen, die in der Partei waren, übergangen wurde, beschloss Herr Krause, den widerwärtigen Schritt zu tun.
An dieser Stelle unterbricht ihn der Richter.
»Es lag nicht möglicherweise daran, dass Frankreich in dem Jahr besiegt worden war, Herr Krause, und dass Sie es für das Beste hielten, dem Sieger Ihre Sympathie zu bezeugen, insbesondere, da Ihnen das einen Posten mit einem wesentlich höheren Gehalt garantieren würde?«
Nein, natürlich nicht. Herr Krause ist kein Nutznießer, Herr Krause wollte von keinem scheinbaren Sieg profitieren. O ja, scheinbar – schließlich hörte man
ausländische Sender. Außerdem wurde Herr Krause zwar befördert, musste seiner Arbeit aber in einer Bank an der Ostfront nachgehen – »und, Euer Ehren, für einen Mann mit meinem empfindlichen Magen« … Nein, Herr Krause war nur krank und arm, und es musste etwas getan werden, um eine Katastrophe abzuwenden. Darüber hinaus verweist er auf die sechzehn Bescheinigungen.
Währenddessen blättert sein Anwalt in einer dicken Verordnung. Mit triumphierendem Lächeln bittet er schließlich ums Wort. Es sei aus den vorliegenden Bescheinigungen vielleicht nicht hervorgegangen, aber Herr Krause sei noch immer Angestellter derselben Bank, die inzwischen für die Besatzungsmacht arbeite, und laut Entnazifizierungsgesetz könnten von der Militärregierung angestellte Deutsche nicht wegen Nationalsozialismus angeklagt werden.
»Denn es ist doch auch nicht anzunehmen, Herr Vorsitzender, dass die Amerikaner eine verdächtige Person einstellen würden, noch dazu eine, die eine so wichtige Position bekleidet?«
Es wird still im Gerichtssaal und aus dieser Totenstille segelt ein dicker und undurchsichtiger Zensurstreifen herab und legt sich sanft auf die Verhandlung. Es wird schleunigst eingestellt, das Verfahren gegen Herrn Krause, einen kleinen, nervösen, demütigen, stets dienstwilligen Pinneberg mit Scheidung und schlechtem Magen, der seine Brille auf die Nase klemmt, seine sechzehn maschinengeschriebenen Bescheinigungen einsammelt und in seine glänzende Aktentasche steckt, einen kleinen, freundlichen, gebeugten Mann, der sich vor dem Richter, den Schöffen, dem Verteidiger und dem Staatsanwalt verbeugt und anschließend aus dem Saal eilt, 1947 genauso darauf bedacht, zu seiner Arbeit bei der Bank zu kommen, wie er es 1924, 1933 und 1940 und 1942 in der Nähe von Stalingrad war.
Aber dann kommt Herr Sinne, und er ist kein freundlicher Mann. Herr Sinne ist dreiundsiebzig Jahre alt; gebrechlich, weißhaarig und mit einem kleinen,
puppenhaften Kopf ähnelt er am ehesten einem pensionierten Engel. Doch Herr Sinne ist kein Engel. Herr Sinne ist als Aktivist vorgeladen worden. Er war Blockwart in Frankfurt, und keine Bescheinigung darüber, dass er nett zu Juden gewesen ist oder englisches Radio gehört hat, kann ihm helfen. Dem Gericht liegen Aussagen vor, laut denen Herr Sinne gesagt hat: Mein Block wird judenfrei sein. Das Gericht hat Zeugen, die berichten, Herr Sinne habe den Geschäftsinhabern in seinem Block mit einer Anzeige an höherer Stelle gedroht, falls sie es wagen sollten, jüdischen Kunden Lebensmittel zu verkaufen. Die jüdischen Zeugen hätten sich zum Einkaufen nach Ladenschluss durch Hintereingänge in die Geschäfte schleichen müssen. Eine Zeugin hat Herrn Sinne oft beobachtet, wenn er am Briefschlitz einer jüdischen Freundin lauschte. Der Sohn eines Herrn Meyer, dessen Balkon von Herrn Sinnes Fenster eingesehen werden konnte, hatte eines Abends mit einem jüdischen Mädchen auf dem Balkon gestanden. Am nächsten Tag war Herr Meyer von Sinne ermahnt worden, dass sich auf seinem Balkon keine Juden aufhalten sollten.
Währenddessen sitzt Herr Sinne da und lässt seine Eichhörnchenaugen zwischen den Zeugen hin und her wandern, und vielleicht ist man das Opfer eines Trugbilds, aber plötzlich hat man den Eindruck, dass Herr Sinne von einer Schicht kalten Grauens umgeben ist, der verdorrte Greisenkörper strahlt eine Todeskälte aus, die einem Zuhörer noch in zehn Metern Entfernung kalte Schauer durch den Körper jagt.
Einer der jüdischen Zeugen spricht:
In Herrn Sinnes Block wohnte ein hoher Parteifunktionär, aber es ist typisch, dass wir niemals Angst vor ihm hatten. Doch vor Herrn Sinne hatten wir alle Angst. Herr Sinne gehörte nicht zur nationalsozialistischen Parteispitze, aber Herr Sinne war eines dieser stillen, treuen, schrecklich effektiven Rädchen, ohne die die nationalsozialistische Maschinerie nicht einen Tag funktioniert hätte.
Herr Sinne erhebt sich bedächtig.
»Herr Cohn, Sie haben mich doch jeden Tag immer so freundlich gegrüßt«, sagt er wehleidig, »Sie haben nie ausgesehen, als hätten Sie einen Grund zu klagen.«
»Herr Sinne«, sagt der Richter milde. »Ich bin überzeugt, dass viele Sie höflich gegrüßt haben, weil sie Angst vor Ihnen hatten, Herr Sinne.«
»Angst vor mir? Einem alten, kranken Mann!«
»Betrachten Sie das Gesicht dieses Greises«, ruft der Verteidiger pathetisch, »sieht es aus, als könnte es jemandem Furcht einflößen?«
Eine der Zeuginnen wird hysterisch.
»Denken Sie lieber an die Gesichter der alten jüdischen Herren in Herrn Sinnes Block«, schreit sie.
Herr Sinne erklärt, das sei alles gelogen, der angesprochene Balkon sei von seinem Fenster aus gar nicht zu sehen, er habe niemals gesagt, dass sein Block judenfrei sein werde, und er habe niemandem verboten, in den Geschäften des Blocks einzukaufen. Die Verhandlung wird um eine Woche vertagt, dann sollen die Geschäftsinhaber als Zeugen aufgerufen werden, und einsam und den Blick auf ein Ziel in der Vergangenheit gerichtet, geht Herr Sinne seines Wegs, die kindliche, dreiundsiebzigjährige Stirn hochmütig gegen die Verachtung gehoben, die ihm hinterhermurmelt.
Der Fall Walter ist einfach, aber interessant. Walter selbst ist ein Riese mit Klumpfuß, der sofort nach Betreten des Raums seinen Gehstock auf den Tisch wirft und der Regierung in Hessen Bestechlichkeit vorwirft, vom Richter aber brutal zum Schweigen gebracht wird. Walter war Beamter in einer nationalsozialistischen Kommission und ist angeklagt, ein Denunziant gewesen zu sein, aber das Interessante ist, dass Herr Walter 1946 noch immer in derselben Kommission sitzt und es sich im Jahr 1946 leisten konnte, einen Bauernhof in Hessen zu kaufen. Er ist von einem Herrn Bauer angezeigt worden, einem dicken und dummen Pferdehändler, der nicht so aussieht, als hätte er in diesem Land des Hungers auch nur eine Sekunde gehungert. Es stellt sich schnell heraus, dass die Beweggründe des Pferdehändlers nicht so edel waren, wie man hätte annehmen können. Die beiden Herren sind schlicht wegen einer Partie illegalen Hafers aneinandergeraten, veräußert an einen namenlosen amerikanischen Major, über den im Zeitungsbericht am nächsten Tag erwartungsgemäß kein Wort verloren wird. Der Pferdehändler hat sich daraufhin plötzlich an die nationalsozialistische Gesinnung seines Konkurrenten erinnert und ihn angezeigt. Das Verfahren wird wegen fehlender Zeugen vertagt, aber der Richter kann sich eine sarkastische Anmerkung zu dem Pferdehändler nicht verkneifen:
»Mit den alten Herren kam man besser zurecht, nicht wahr?«
Doch der Pferdehändler antwortet gelassen:
»Die neuen sind auch in Ordnung, Herr Vorsitzender.«
Wahre Worte, denn genau das ist das Hoffnungslose, das Idiotische, das Tragische, dass die neuen Herren in Kommissionen und beschließenden Organen für jemanden in Ordnung sind, der unvoreingenommen genug ist, für jemanden, der die Kunst beherrscht, sich an allen zu bereichern. Die Opfer des Nationalsozialismus haben es da schwerer, sie stoßen überall auf Hindernisse. Sie haben das Recht auf Sitzplätze in Zügen und auf den Vortritt in
Warteschlangen, würden es jedoch im Leben nicht wagen, diese Rechte in Anspruch zu nehmen, aber für die Herren Walter und Bauer hat die Vorsehung, die häufig amerikanischer Nationalität ist, auf den erbärmlichen Bühnen der Entnazifizierungsspruchkammern rettende Falltüren eingebaut.
KALTER TAG IN MÜNCHEN
I
Ein Vorwintersonntag in München mit kalter Sonne. Die lange Prinzregentenstraße, von der einer der unglücklichsten Helden der Weltliteratur einst seine Reise zum Tod in Venedig antrat, liegt verlassen im frostigen Morgenlicht. In der ganzen Welt gibt es nichts so Einsames und Verlassenes wie eine menschenleere Prachtstraße an einem kühlen Morgen in einer bombardierten Stadt. Die Sonne glitzert im Gold des Friedensengels, jenes Friedensengels, der die Prinzregentenstraße in zwei monumentale, sanfte Abfahrten zur Brücke über die Isar teilt und auf den Hitler von seinem Haus am Prinzregentenplatz Aussicht gehabt haben muss. Die Gärten in den alten Gesandtschaftspalästen liegen voller umgestürzter Säulen. Auf dem neugefrorenen Eis des Sportplatzes laufen einige amerikanische Frühaufsteher Schlittschuh, aber die grüne Isar ist wie immer grün, und einige Bomben haben mit den Betontrümmern eines Damms tief unter der Brücke ein Puzzle gelegt.
Der schmutzige Jeep schaukelt weiter die lange Straße hinab. Dort liegt zwischen gut durchgebratenen Ruinenfassaden das strenge Regierungsgebäude, in dem der Ministerpräsident Doktor Hoegner täglich ein paar Stunden mit dem Gedanken spielt, dass Bayern dem Rest Deutschlands die Freundschaft kündigt, womit er einer beliebten bayerischen Theorie folgt, laut der Preußen Bayern bereits zwei Mal ins Verderben gestürzt hat; das darf kein drittes Mal ieren. Bayern, das kaltblütig evakuierte Hannoveraner, Hamburger oder Essener in die völlig unmöglichen Zustände in ihren Heimatstädten zurückschickt, ist natürlich ein egoistisches, kaltherziges und brutales Land, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zumindest ein Viertel von ihr lautet, dass Bayern keine Verbundenheit mit dem Rest Deutschlands empfindet und es im Gegensatz zu dem, was man vielleicht gemeinhin glaubt, gerade in Bayern einen nicht unbedeutenden iven Widerstand gegen den Nationalsozialismus gab.
Aber unweit der Prinzregentenstraße liegen die Ruinen des Braunen Hauses; in München kam es 1923 zum ersten blutigen Hitlerputsch, und die Überreste des Bürgerbräukellers zeugen noch davon, dass die Geschichte des Nationalsozialismus gerade hier tief verwurzelt ist. Ja, natürlich, sagt der humoristische Münchener, aber vielleicht liegt das ja am Föhn im Frühjahr, an dem Alpenwind, der München einen Monat lang anhaltende Kopfschmerzen beschert, aber er bemerkt auch, seit die Nationalsozialisten angeordnet hätten, dass Fußgänger beim ieren der Feldherrnhalle, an der die Gedenktafel für die sechzehn Todesopfer des Putsches angebracht war, dort ihr Haupt entblößen sollten, habe der Fußgängerverkehr in diesem zuvor belebten Teil Münchens deutlich abgenommen.
An der Prinzregentenstraße findet in einem dieser geschlechtslosen, pseudoklassischen Hitlergebäude, die erst als Ruinen antik aussehen, auch die Exportschau statt. Diese Exportausstellung ist eine sadistische Einrichtung, in der kommunale Behörden mit einem sonderbaren psychologischen Talent gegen ein Eintrittsgeld von einer Mark zeigen, was die bayerische Industrie zu leisten vermag, will sagen, was Bayern nach Amerika exportieren kann. Dort dürfen ausgebombte Hausfrauen ausgesuchtes Traumporzellan betrachten, von dem sie niemals werden essen dürfen, dort stehen Riesenflaschen mit echtem deutschen Bier, das man nicht mehr trinken darf, und dort gibt es prachtvolle Stoffe, die man nicht berühren darf. Ein Mensch, der arm und hungrig ist, muss das Gefühl haben, dass es ihn in einen missratenen Traum verschlagen hat, in dem zwar alles unwirklich ist wie im Traum, der Träumer sich aber die ganze Zeit seines eigenen Hungers und seiner eigenen Armut bewusst ist.
II
Von der Prinzregentenstraße gelangt man in wenigen Minuten zum Königsplatz, dieser von den Architekten des Nationalsozialismus konstruierten Wüste, die mehr als das meiste andere die Stillosigkeit, die Trostlosigkeit und den
konstruktiven Sadismus der nationalsozialistischen Ideale enthüllt. Man fährt durch die schmalen Wölbungen eines beschädigten Triumphbogens oder zwischen den zwei erhöhten Marmorgräbern der sechzehn Münchener Märtyrer hindurch, in denen die Zinksärge der Umgekommenen jeweils zu acht in einem Grab lagen, bis die Amerikaner sie bei ihrem Amtsantritt an einen unbekannten Ort verlegten. Die früheren Gräber werden von zwei eiskalten Riesenpalästen flankiert, typischen Bauten der Hitlerepoche, die wie Mausoleen aussehen, nicht über etwas bestimmtes Totes, sondern über den Tod als Prinzip. In einem dieser Mausoleen wurde 1938 das Münchener Abkommen unterzeichnet. Damals war der Triumphbogen noch heil, und man kann problemlos die Augen schließen und sich vorstellen, wie die Wagenkolonne der Unterzeichner durch das Gewölbe fuhr und sich in einem sanften Bogen über den Platz den monumentalen Grabgebäuden näherte, in denen in diesem Moment das Schicksal der Welt begraben lag, und an diesem kalten Vorwintermorgen wird etwas geschehen, das für eine oder zwei Stunden die Toten aus ihren Gräbern heraufbeschwört.
Unterhalb des Triumphbogens formiert sich eine Blaskapelle. Der kalte Sonnenschein blitzt auf den Instrumenten, weißer Rauch dringt aus den Mündern der Bläser. Man geht über diesen endlosen Platz, der einem mit seinem Bodenbelag aus riesigen Quadersteinen das seltsame Gefühl vermittelt, sich im Inneren eines Hauses zu befinden, in der riesigen Vorhalle zu dem verriegelten Schloss, von dem man immer träumt, und die schweren amerikanischen Lastwagen, die mit hoher Geschwindigkeit auf den weißen Straßenbögen und danach durch das Tor fahren, wirken in dieser Umgebung ausgesprochen verlogen. Einige hundert fröstelnde Menschen haben sich vor der Musik versammelt, und dort steht auch eine amerikanische Korrespondentin in Uniform, eines dieser seltsamen Wesen, die anscheinend mit Kamera geboren wurden, und hinter das Musikkorps sind zwei offene Lastwagen gefahren und bilden mit ihren einander zugewandten Ladeflächen eine Tribüne für Journalisten und Redner. Nach und nach strömen Menschen herbei, um zehn Uhr stehen dort zehntausend und warten.
Die Musik spielt einen Marsch, der in der Kälte Sprünge bekommt, die Münchener Journalisten zücken ihre Stifte, diese Vertreter der erstaunlichen, tapferen Zeitungen, denen es größtenteils an Telefonen und Schreibmaschinen
und Arbeitsräumen fehlt, die aber dennoch auf mystische Weise entstehen, die in Kellern gedruckt werden, in denen das Wasser bei Regen fußhoch steht und das Druckereipersonal Stiefel tragen muss, diese komischen Zeitungen, die auf Wunsch der Amerikaner »über den Parteien stehen« sollen, was bedeutet, dass mehr als ein verwirrter Otto Normalbürger in seinem Leib- und Hausorgan am Montag einen sozialdemokratischen Leitartikel lesen darf, der verschärftes Misstrauen gegenüber der christlich-sozialen Partei empfiehlt, am Mittwoch in der gleichen Zeitung einen christlich-sozialen Leitartikel, der den Leser ermahnt, sich vor den Sozialdemokraten zu hüten, und am Freitag, immer noch in der gleichen Zeitung, einen kommunistischen Leitartikel, der eine nachdrückliche Warnung vor den Sozialdemokraten und den Christlich-Sozialen ausspricht.
Die Journalisten zücken also ihre Stifte, und über die Lautsprecher heißt ein Mann einen anderen willkommen, das Stimmengewirr verstummt, die Musik schweigt. Ein Mann, der seinen Mantel abgelegt hat, steht auf und geht steif über das Podium. Es wird noch stiller, es wird totenstill, etwas von der Spannung vor einem noch nicht abgefeuerten Revolverschuss wabert in der kalten Luft über dem Königsplatz in München. Der Mann, der vor dem Lautsprecher steht, ist Kurt Schumacher, der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokraten.
Als er dann spricht, wird der Zauber gebrochen. Man versteht, warum er den Mantel abgelegt hat. Doktor Schumacher ist ein Redner, der im Jackett sprechen kann, ohne zu frieren, obwohl es zehn Grad unter null sind. Im Kästnerkabarett in der Schaubude gibt es eine Karikatur Schumachers: ein neuer Führer, der mit den Armen wedelt und mit der gleichen Hysterie herumschreit wie der alte. Die Karikatur ist insofern falsch gezeichnet, als dass der neue Führer dort zwei Arme hat. Doktor Schumacher hat nur einen, benutzt diesen aber auf faszinierende Weise. Es stimmt auch nicht wirklich, dass Doktor Schumacher schreit. Er beeindruckt einen eher durch seine beherrschte Leidenschaft, seine Düsternis, durch das vollkommene Fehlen von Sentimentalität im Ton, was ihm erlaubt, Sentimentalitäten auszusprechen, die wie bittere Wahrheiten klingen, und durch seinen mürrischen Ingrimm, der sich so leicht mit Zuverlässigkeit verwechseln lässt und ihm manchmal gestattet, Halbwahrheiten auszusprechen, die wie Wahrheiten klingen.
Doktor Schumacher wird auch von seinen Gegnern als eine respektable Persönlichkeit betrachtet und besitzt zweifellos auch eine vollkommen ehrenwerte Kühnheit, verkörpert aber dennoch auf seine Weise die These, die Tragödie des deutschen Politikers bestehe darin, dass er ein so guter Redner sei. Man gewinnt den Eindruck, dass Doktor Schumacher sich von seinem Publikum verführen lässt und die kühnen Formulierungen, die in seiner Rede Legion sind, eher das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen seinen eigenen Stimmungen und denen des Publikums sind als die Früchte seiner gut reflektierten politischen Erfahrung.
Es kann ihm natürlich nicht entgangen sein, dass seine Stellung gefährlich ist, sogar lebensgefährlich, je stärker er zu einem Medium für Stimmungen wird, die mit den politischen Positionen seiner Partei eigentlich gar nicht übereinstimmen. Es wäre naiv anzunehmen, dass sie Sozialdemokraten sind, diese Zehntausend auf dem Königsplatz, die jubeln, als Doktor Schumacher »die sieben Millionen abwesenden Kameraden« (die Kriegsgefangenen) apostrophiert, als er sich bei dem schändlichen Münchener Abkommen aufhält (was besonders effektvoll ist, wenn man zehntausend Zuhörer hat, die mit dem Rücken zu dem Gebäude stehen, in dem es unterzeichnet wurde), als er die Saar zurückfordert, das Ruhrgebiet, Ostpreußen und Schlesien zurückfordert. Es ist auch eine Illusion, was bedauerlicher ist, zu glauben, dass die Mehrheit dieser Zehntausend sich auch nur ein bisschen für die demokratischen Ideale interessiert, die Doktor Schumacher unter anderem auch vertritt.
Die Erklärung für Doktor Schumachers Erfolge als Politiker und dafür, dass er zusammen mit Churchill in den Herzen vieler fragwürdiger Deutscher die Plätze eingenommen hat, die beim Zusammenbruch sicherlich freigeworden sind, ist darin zu suchen, dass es ihm gelungen ist, eine gemeinsame Wellenlänge zu finden, auf der sich, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, fast alle Deutschen versammeln können. Die Einseitigkeit in Doktor Schumachers politischer Botschaft macht sie auch für Deutsche akzeptabel, die den Nationalsozialismus noch nicht überwunden haben und das auch gar nicht wollen. Wenn man an der wahrscheinlichen Annahme festhält, dass der Fall
Schumacher bis zu einem gewissen Grad ein Fall von Publikumsverführung durch einen allzu geschickten Redner ist, offenbart sich dieses Phänomen in München dadurch, dass der Redner sich von Beginn an gegen jeden möglichen Einwand des Publikums absichert, das heißt, er hält sich hartnäckig bei den territorialen Ungerechtigkeiten auf, die selbst die gleichgültigste deutsche Masse empörend finden muss. Ein einziges Mal wallt aus der Menschenmenge kurzer Protest auf. Es ist ein Kommunist, der Ostpreußen den Russen überlassen will.
»Die Leute sind gekommen, um mich zu hören und nicht Sie«, entgegnet Doktor Schumacher mit unwirschem Humor und hat ungefähr neuntausendsiebenhundert Lacher auf seiner Seite.
Ja, Doktor Schumacher ist sicher gut für seine Partei, aber es fragt sich, ob er nicht zu gut ist, und damit gefährlich, gefährlich nicht so sehr durch seine Ansichten, die nicht nur er vertritt, sondern die ebenso offen von Neumann in Berlin und von Paul Löbe und anderen führenden Männern der Sozialdemokratie ausgesprochen werden, sondern am gefährlichsten durch seine enorme Beliebtheit, die für seine Partei Wahlsiege erringen mag – aber was für Siege?
Es ist ein frommer, aber riskanter Selbstbetrug, wenn die deutsche Sozialdemokratie ihre Wahlerfolge als einen Beweis für das Erstarken des demokratischen Denkens im deutschen Volk darstellt. In den sozialdemokratischen Wählerscharen findet man so manche wieder, denen offensichtlich der Gedanke zusagt, deutschnationale Ansichten vertreten zu können, indem sie eine demokratische Partei wählen, und es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen den Wählerstimmen und der tatsächlichen Stärke der Parteien, der bekräftigt, dass diese Annahme zutrifft. Es kann nicht schaden, sich Folgendes zu vergegenwärtigen. Während die gesamten Wählerstimmen in einer normalen deutschen Stadt zu denen der kommunistischen Partei in einem Verhältnis von sechs zu eins stehen, liegt das Verhältnis bei der Mitgliederzahl der beiden Parteien bei drei zu zwei.
Als die Rede vorbei ist, merkt man, wie hilflos dieser großgewachsene, gebrechliche Mann mit dem vergrämten Gesicht in Wahrheit ist. Die Rede hat ihn aufrecht gehalten, die Rede hat ihn gewärmt, jetzt sackt er plötzlich in sich zusammen, und jemand tritt zu ihm, wickelt ihm einen Schal um den Hals und hilft ihm in den Mantel. Auf dem Weg zu seinem Auto begibt er sich allein in die Menschenmenge. Man ruft ihm Grüße zu, die er nicht beachtet. Man bestürmt ihn mit Fragen, die er nicht beantwortet. Es ist der Tag vor seiner Abreise nach England, und jemand ruft: Vergessen Sie nicht, das auch in London zu sagen, Doktor Schumacher! Doktor Schumacher nickt, aber er lächelt nicht. Doktor Schumacher lächelt nicht gern, Doktor Schumacher, der das Vertrauen eines ganzen Volks gewonnen hat, indem er so wenig wie möglich lächelt, Doktor Schumacher, der so vielen Deutschen ermöglicht hat, demokratisch zu wählen, ohne dass sie deshalb Demokraten sein müssen, sondern weiterhin das Gegenteil bleiben können. Doktor Schumacher hat das natürlich nicht gewollt, aber seine in vielerlei Hinsicht vernünftige, aber ideologisch allzu platte Grenzpropaganda hat dafür gesorgt.
Vorwerfen kann man diesem zweifellos begabtesten deutschen Politiker der Gegenwart seine Ansichten zu den gegen Deutschland gerichteten Ungerechtigkeiten der alliierten Politik sicherlich nicht: Die Produktion durch schlecht organisierte Demontage zu lähmen und den Deutschen Almosen in Form von Lebensmitteln zu geben, statt der deutschen Friedensproduktion auf die Beine zu helfen und den Deutschen so die Chance zu geben, ihre Lebensmittelimporte selbst zu bezahlen, die deutschen Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter zu benutzen, was gegen die Haager Konvention verstößt und eine höchst ungeeignete Methode ist, das deutsche Volk zu lehren, diese Konvention in Zukunft zu respektieren, die bereits erwähnten harten Grenzregulierungen, die vitale deutsche Interessen bedrohen. Wenn ein deutscher Sozialist, der mehr oder zumindest länger unter dem nazideutschen Terror gelitten hat als die Sozialisten jeder anderen Nation, solche Gedanken äußert, ist das auch nicht verwerflicher, als es das ist, wenn etwa ein englischer Liberaler wie Gollancz sich zu ihrem Sprachrohr macht. Einwenden kann man gegen Doktor Schumacher, dass er in seinen Verdammungspredigten gegen die Sieger eine begrenzte nationale Perspektive statt einer sozialistischen und internationalen einnimmt. Dagegen lässt sich wiederum einwenden, dass es berechtigte nationale Forderungen gibt, die nichts mit Nationalismus oder Chauvinismus zu tun haben. Aber hat uns nicht gerade das deutsche Schicksal
gelehrt, dass die Grenze zwischen Propaganda für nationale Interessen und dem hasserfüllt manifestierten Nationalismus in Deutschland nur vorhanden zu sein scheint, um überwunden zu werden? Sollte es nicht Bestandteil einer demokratischen Erziehung sein, die übrigens seltene Kunst zu lehren, diese Grenze intakt zu halten? Gegen Doktor Schumacher lässt sich folglich einwenden, dass er eine Propaganda betreibt, die auch von deutschen Nationalisten begierig angenommen wird. Gebt ihnen eine Dosis Sozialismus, Demokratie und Internationalismus und Doktor Schumacher wird zwar weniger beliebt, aber eher geeignet sein, zu einem Sprachrohr für die neugeborene Demokratie zu werden.
DURCH DEN WALD DER ERHÄNGTEN
Schneller als alles andere leckt der Wald seine Wunden. Sicher, an manchen Stellen steht zwischen den Eichen noch eine arbeitslose Kanone mit gebrochenem Rohr, die beschämt und griesgrämig den Boden anglotzt. Die Hüllen kleiner, ausgebrannter Autos liegen unterhalb der Waldhänge wie riesige Konservendosen. Schlampige Riesencamper haben sich in diesem unter allen Wäldern der Welt besonders ambitioniert geordneten Wald getummelt. Aber der Krieg ist dennoch behutsam zwischen den Bäumen und durch die kleinen Dörfer gekreuzt, in denen man die nächtlichen Bombenangriffe auf die Großstädte nur als rote Nordlichter erlebte, in denen man fühlte, wie der Erdboden bebte, und Türen und Fenster schlagen hörte. Einzelne Hä erwischte es offenbar aus Versehen, und dort ist die Tragödie des Dorfs konzentriert. In dem kleinen Dorf an der Weser war es das Haus eines Zahnarztes, das an einem Frühlingsmorgen mitten in der Sprechstunde getroffen wurde und in dem der Doktor, die Arzthelferin und alle dreißig Patienten getötet wurden. Draußen im Garten ging jedoch ein Mann auf und ab und wartete, während seiner Tochter im Haus ein Zahn gezogen werden sollte, und im Wartezimmer saßen außerdem seine Frau und seine Mutter, die das Mädchen ebenfalls begleitet hatten, damit sie keine Angst zu haben brauchte. Der Mann überlebte wie durch ein Wunder, aber seine ganze Familie ging verloren, und nun läuft er seit zwei Jahren als ein wandelndes Denkmal des Zweiten Weltkriegs durch das Dorf – das Denkmal zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg steht in einem kleinen Hain zwischen dem Ufer der Weser und dem ersten Haus des Orts und ist immer noch der Stolz des Dorfs.
Auch die kleinen Dörfer haben Zeit gehabt, ihre Wunden zu lecken. Die Überreste der Zahnarztvilla sind fortgeräumt worden, aber nach dem Sonntagskino spaziert man gelegentlich an dem Brandgrundstück vorbei und plaudert sonntäglich darüber, wie das damals war, oder man geht zum Brückenkopf hinauf und blickt in das Herbstwasser hinunter, das um die Stümpfe der Brückenpfeiler wirbelt. Die Brücke selbst wurde von hysterischen SS-Jungen ungefähr fünf Minuten nach zwölf gesprengt. Die verhasste Erinnerung an sie ist in der Gemeinde noch äußerst lebendig. Oh, sie haben gew-
ü-ü-ü-tet, fast noch schlimmer als die Polen.
Zwei volle Tage strömte die Niederlage die Dorfstraße hinab: zerlumpte, verdreckte Soldaten der Wehrmacht auf Fahrrädern oder zu Fuß, und als Letzte in der Schlange die Schuljungen und alten Männer des Volkssturms, schluchzend und stolpernd durch den Morast der Niederlage. Bei den Siegern erinnert man sich insbesondere an die schneidigen Schotten, von denen ungefähr ein Dutzend auf der Böschung zur Weser hinab unter weißen Kreuzen begraben liegt, die wie Frühlingsblumen im Herbstregen ausgeschlagen sind. Die Dorfkinder spielen in den Hausfluren der kalten, überfüllten Hä mit den zerlumpten Flüchtlingskindern aus der Ostzone oder dem Sudetenland Krieg. Die Kinder bleiben morgens lange im Bett, um ihren Bauch auf die Art dazu zu verleiten, eine Mahlzeit zu überschlafen, die er nicht bekommen kann. Zeigt man ihnen ein Bilderbuch, beraten sie unweigerlich darüber, wie sie die Gestalten oder Tiere darin am besten erschlagen können. Kleine, zweimal ausgebombte Jungen, die noch nicht richtig reden können, sprechen das Wort totschlagen mit gruseliger Präzision aus. Die Bevölkerung des Dorfs an der Weser hat sich innerhalb eines Jahres nahezu verzehnfacht, und es treffen kontinuierlich neue Einwohner in den kleinen Backsteinhän ein, die bereits vom Hass, Neid und Hunger der Zusammengepferchten vergiftet sind. In einem kleinen Schuppen mit Butterbrotpapier statt Glas in den Fensteröffnungen wohnt Henry, ein sudetendeutscher Junge, der im Krieg auf der Ostsee einen Teil seines Beins, in diesem Jahr aber sein ganzes Herz an die Engländer verloren hat, für die er arbeitet. Von seinem englischen Major hat er eine Uhr geschenkt bekommen, und nachts, wenn es zum Schlafen zu kalt ist, liest er Edgar Wallace im Original. In einem anderen kleinen, eiskalten Zimmer darf sich ein deutschungarisches Mädchen nachts ein Bett leihen. Tagsüber hilft sie bei der Arztfamilie des Dorfs aus oder treibt sich am südlichen Ufer der Weser herum und sehnt sich nach Budapest. Zwei Mal hat sie versucht, sich mit Schlafmitteln umzubringen. Nun wartet das ganze Haus auf das dritte Mal.
Ja, wenn man aus den Städten mit ihren blutenden Ruinen kommt, sehen die deutschen Dörfer geheilt aus, und die Wälder sind in einem guten Zustand, aber diese Gesundheit trügt. Ich wohne ein paar Tage bei einer evakuierten Familie in einem verfallenen Bauernhof ohne Land und Tiere in einem kleinen Dorf nahe
Darmstadt. Man gelangt dorthin durch einen kleinen Eichenwald, der eine sanfte, blaue Anhöhe hinaufklettert. Ein römischer Hohlweg durchschneidet die Erhebung. Die Gegend ist voller alter, verlassener Mühlen an romantisch rauschenden Bächen. In einem Graben liegt eine verwehte Kartei aus einem alten Wehrmachtslager, aber andere Erinnerungen an den Krieg lassen sich nirgendwo entdecken. Als wir in der Küche sitzen und uns unterhalten, klopft es eines Abends jedoch an die Tür, und ein kleiner, rotgesichtiger Junge mit Pausbacken betritt die Küche und will mit dem Kind des Hauses spielen, einem kleinen, mageren, fünfjährigen Mädchen, das zwei Jahre lang fast jede Nacht im Keller gesessen hat. Fragt man sie, ob sie zu Weihnachten statt ihres alten Seppelchens, das genauso viele Kellernächte ausgeharrt hat wie sie, eine Puppe haben möchte, antwortet sie einem, dass sie lieber ein Brot mit richtig dick Butter darauf haben will. Aber das sind Dinge, von denen man nur träumen kann. Wenn sie wirklich brav gewesen ist, bekommt sie manchmal ein Brot mit Margarine und Streuzucker, und selbst ein solches Brot ist etwas, wovon man träumt. Der Junge, der hereingekommen ist, sieht dagegen nicht so aus, als müsste er vergeblich von gut belegten Broten träumen.
»Hänschen hat dicke Backen«, sagt jemand, und Hänschen lächelt gelassen. Ja, das Hänschen hat wirklich dicke Backen, und in der rechten Hand hält Hänschen ein großes Brot mit Gänseschmalz. Es kommt zu einer pathetischen Begegnung zwischen zwei Arten von belegten Broten, zwei Arten von Deutschland: das arme und redliche auf der einen Seite, das wohlhabende und zwielichtige auf der anderen. Der Vater des kleinen Hans war Ankläger an einem nationalsozialistischen Gericht, jetzt hat er sich vom Blut zurückgezogen und ist zum Boden gewechselt. Er hat – wohlgemerkt nach dem Zusammenbruch! – den größten landwirtschaftlichen Betrieb des Dorfs gekauft, und kommt hundert Mal besser über die Runden als die evakuierten ehemaligen Konzentrationslagerhäftlinge, die in dieser Gegend in den baufälligen und schlecht instandgehaltenen Landhän untergebracht sind.
Ob man verbittert ist? Natürlich ist man verbittert, aber das hilft einem auch nicht weiter. Abends sitzen wir vor dem Kamin und sprechen über das, was geschehen ist und geschieht. Da ist ein Kommunist, in dessen Stirn und um dessen Mund und Augen neun Jahre Buchenwald für immer eingeritzt sind. Er
trauert um die verlorene Revolution, den brachialen Umsturz, der mit seinem reinigenden Feuer über Deutschland hinweggefegt wäre und im Nu alle nationalsozialistischen Verunreinigungen weggebrannt hätte, die nun wuchern dürfen und Deutschland noch unzufriedener, unglücklicher und zerrissener machen. Er meint, die Voraussetzungen seien gegeben gewesen, die Stimmung für eine kurze, aber intensive Auseinandersetzung sei im April 1945 tatsächlich vorhanden gewesen. Die Soldaten, die über die Grenzen zurückgeworfen wurden, waren verbittert über Hitlers Regime und hätten alles getan, um mit ihm abzurechnen. Die Massen aus den Konzentrationslagern standen bereit, sich auf ihre Peiniger zu stürzen, und in den ausgebombten Großstädten gab es starke antifaschistische Aktionsgruppen, die während des gesamten Frühjahrs 1945 lokale Bürgerkriege gegen die Nazis führten. Und warum wurde daraus nichts? Nun, weil die kapitalistischen Siegernationen im Westen keine antifaschistische Revolution wollten. Die revolutionären Gruppen in Deutschland wurden von den Armeen der Sieger isoliert, statt einen schützenden Ring aus Kanonen um Deutschlands Grenzen zu schließen, damit die Deutschen selbst mit dem Verhassten abrechnen konnten. Die revolutionären Massen der Konzentrationslager wurden nicht auf einen Schlag heimgeschickt, sondern in kleinen, ungefährlichen Gruppen, die Soldaten wurden in sehr überschaubaren Kontingenten freigelassen, und die Widerstandsgruppen in den Städten, die schon vor Kriegsende eine häufig rigorose Entnazifizierung in Gang gesetzt hatten, wurden von den Alliierten entwaffnet und durch die Spruchkammern ersetzt, die nationalsozialistischen Staatsanwälten gestatten, Bauernhöfe zu kaufen, und antifaschistischen Arbeitern erlauben zu verhungern.
Diese Theorie, die sich nicht nur Kommunisten zu eigen gemacht haben, ist wirklich bestechend und berührt nicht zuletzt einen interessanten Aspekt der kommunistischen These von einer Einheit zwischen den deutschen Arbeiterparteien. Die Voraussetzung für eine solche Einheit auf rein antinationalsozialistischer Grundlage existierte zweifellos in den Tagen des Zusammenbruchs, aber die erträumte Volksfront, die mancherorts tatsächlich zustande kam, brach schon nach kurzer Zeit wieder auseinander. Ihre bürgerlichen Bestandteile weigerten sich, mit den Arbeiterelementen zusammenzuarbeiten, und zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten kam es zum Zerwürfnis. Die Kommunisten, die bei allen erdenklichen Gelegenheiten aus leicht nachvollziehbaren taktischen Gründen ihren Charakter als deutsche Partei hervorheben, aber alle Kriegsgefangenen, die aus der Sowjetunion zurück
kommen, als antirussische Propagandisten betrachten (obwohl diese nichts dafür können, dass sie abgemagert aussehen), sind der Meinung, dass dieser Ausgang ein deutsches Unglück ist. Aber es gibt zahlreiche deutsche Antifaschisten, die sich einen anderen Ausgang gewünscht hätten, Menschen, die diese Einheit ohne Freiheit ablehnen, wie die Kommunisten sie anbieten, beklagen, dass der antifaschistische Enthusiasmus des Frühjahrs 1945 sich als unfähig erwies, etwas anderes zu erschaffen als das System aus Parteienstreit und Ohnmacht angesichts der Reaktion, das schließlich siegte. Der zwölfjährige Traum von einer Revolution starb, und die Männer von Weimar wurden wiedergeboren.
Deshalb ist man verbittert, desillusioniert und ohne Hoffnung. Verbittert wegen der zwei unterschiedlichen Brote und wegen vieler anderer lebenswichtiger Bagatellen. In der Abenddämmerung stehen wir eine Weile vor dem Bauernhof und schauen zu Burg Frankensteins Falkenprofil im Bergnebel hinauf. Wir stehen da und betrachten den Wald, durch den ich am Vortag gekommen bin, und einer der Freunde sagt, nicht einmal der Wald sei so unschuldig, wie er aussehe. In ihm seien im April 1945 fahnenflüchtige Schuljungen erhängt worden, die vom Volkssturm nach Hause zu ihrer Mama ausgerissen waren. Hänschen mit den dicken Backen hat sein Brot aufgegessen und spielt zwischen den Eichen mit der kleinen, mageren Fünfjährigen. Der Bauer gewordene Staatsanwalt fährt aus seinem Wald die letzte Fuhre Holz nach Hause. In diesem Jahr grüßt er freundlich die Menschen, an deren Verurteilung er zwei Jahre zuvor beteiligt gewesen ist. Salutiert sogar mit der Peitsche. O, amerikanische Ironie! – ein nationalsozialistischer Jurist holt sein Brennholz aus dem Wald, in dem die Nazis vor bald zwei Jahren Kinder erhängten. Und hoch über unseren Eichen, fast schon oben bei Burg Frankenstein, knallen in der Dämmerung hart und scharf Schüsse. Das sind die Amerikaner, die auf den Anhöhen über dem Wald der Erhängten liegen und mit der Munition des Sieges Wildschweine schießen.
RÜCKFAHRT NACH HAMBURG
»Amerika.«
»Bitte?«
»Amerika!«
»Amerika?«
»Jawohl.«
Und es besteht kein Zweifel mehr. Der Junge will nach Amerika, und dagegen kann man nichts tun. Nichts anderes, als den Kopf schütteln und in der Dunkelheit hilflos zur Eisenwolke des zerstörten Dachs hoch über uns schauen. Aber der Junge, der will, dass ich ihm helfe, nach Amerika zu kommen, beugt sich schnell über meinen kleinen amerikanischen Rucksack und streichelt spöttisch seinen Rücken.
»Du arbeitest für die Amis!«
»Nein.«
»Doch!«
Auf dem süddeutschen Bahnhof ist es sehr windig. Die Flüchtlinge aus dem Osten stampfen zwischen ihren grauen Bündeln mit den Füßen auf. Müde Kriegsgefangene auf dem Heimweg nach Jahren in Frankreich schlendern in der kalten Dunkelheit auf und ab, verhärmte Männer in langen französischen Mänteln mit einem großen, am Rücken aufgenähten PG (prisonnier de guerre). An den Pfeilern des Bahnsteigs wird auf großen, roten Plakaten nach einem entflohenen polnischen Mörder gefahndet, einem ehemaligen Wachmann in einem Konzentrationslager, einhundertsechzig Zentimeter groß und mit einer Pistole bewaffnet. An den Wänden des Bahnhofs fahnden Eltern mit Anschlägen in deutlichen Druckbuchstaben nach ihren an den Fronten verschwundenen Kindern. Ein Astrologe in der Nähe von Nürnberg verspricht, sie zu finden, wenn die Eltern ihm per Post zwanzig Mark schicken. Auf großen Plakaten warnt eine junge Frau, deren Totenschädel schwach unter der Gesichtsmaske durchscheint, vor venerischen Krankheiten. Man müsse lernen, in jeder Frau, der man begegnet, den Tod zu sehen. Ein Diagramm über Geschlechtskrankheiten zeigt eine unheilverkündende rote Kurve, die seit Juli 1945, dem Monat, in dem die Soldaten sich allmählich akklimatisiert hatten, in einem schrecklich steilen Winkel ansteigt. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig singen betrunkene amerikanische Soldatenjungen Schlager. Sie balgen sich verspielt, und das Knallen ihrer Handschuhe klingt in der kalten Stille wie Trommelschläge. Einer von ihnen stolpert fluchend über einen Karren. Ein paar wankende Mädchen in ihrer Gesellschaft kichern schrill auf Deutsch. Thanksgiving day.
Ob ich für die Amerikaner arbeite? Ich erkläre das Ganze dem Jungen in dem ausgedienten Soldatenmantel und der Soldatenmütze, einer Mütze der Niederlage, gestaucht und tief in die Stirn gezogen. Er wird eifrig und rücksichtslos und sagt, dass ich ihm helfen müsse. Er betrachtet den amerikanischen Rucksack wie eine Offenbarung, es ist ein Rucksack des Sieges mit prallem Bauch und glänzenden Beschlägen. Er beugt sich über ihn und erzählt von sich. Erzählt, er sei sechzehn und heiße Gerhard. In der vorherigen Nacht sei er aus der russischen Zone geflohen. Er hat es in einem Zug über die Grenze geschafft, ohne aufgehalten zu werden. Er ist nicht etwa geflohen, weil die Verhältnisse in Luthers Geburtsstadt besonders unerträglich waren, sondern
weil er Mechaniker von Beruf ist und nicht gezwungen werden will, freiwillig nach Russland zu fahren. Deshalb ist er ohne Geld, ohne einen Menschen, den er aufsuchen könnte, ohne ein Dach über dem Kopf hierhergekommen.
»In Deutschland ist nix mehr los.«
Ich leihe ihm das Geld für eine Fahrkarte nach Hamburg. Er will wenigstens bis Hamburg kommen, weil er glaubt, dass von dort Schiffe nach Amerika fahren, Schiffe, in die man seine Hoffnung setzen kann. Er verschwindet, um eine Fahrkarte zu kaufen, und wenn er wollte, könnte er jetzt problemlos abhauen, den großen Geldschein nicht wechseln und in der Dunkelheit außerhalb des Bahnhofs verschwinden. Das wäre normal, es wäre normaler als alles andere. Aber der Junge, der nach Amerika will, kehrt tatsächlich zurück, und als der Zug dann rückwärts einfährt, kämpfen wir gemeinsam darum, einen Platz in diesem kalten, stockfinsteren Zug zu bekommen, einem typischen deutschen Nachkriegszug, wenngleich mit ungewöhnlich heilen Fenstern und Abteilen mit Sitzbänken. Andere deutsche Züge sind auch tagsüber dunkel, weil man die leeren Fensteröffnungen mit Holzplatten vernagelt hat. Möchte man Licht haben, kann man sich in Abteile ohne solche Platten setzen, in denen es dafür kälter ist und hereinregnet.
Von eifrigen, unsichtbaren Händen wird man in dieses nächtliche Abteil geschoben. Im Dunkeln entwickeln sich kleine stille, aber verbittert wortlose Handgemenge, getretene Kinder schreien, ungeduldige Füße schieben die sperrigen Säcke der Flüchtlinge weg. Das finstere Abteil ist voll, kann aber noch voller werden. Es ist unglaublich, wie viele Menschen auf den paar Quadratmetern Platz finden. Erst als es so eng ist, dass es wehtut, wird die Tür geschlossen, im ganzen Zug werden Türen zugeknallt und hallen verzweifelte Stimmen wider, die denen gehören, die zu spät gekommen sind und nun eine weitere Nacht in den Ruinen dieser Stadt verweilen müssen, statt zu anderen zu gelangen.
Wir stehen in einem Abteil mit Platz für acht Menschen, sind aber fünfundzwanzig. Fünfundzwanzig Menschen in einem Abteil für acht, weshalb es keine Rolle spielt, dass die Heizung abgestellt ist. Noch ehe sich der Zug in Bewegung setzt, läuft einem der Schweiß herab. Es ist kein Platz für zwei Füße, man muss auf einem stehen, fällt aber trotzdem nicht um, man müsste nicht einmal auf einem Fuß stehen und würde trotzdem nicht umkippen, weil man zwischen den anderen verschwitzten Körpern wie in einem Schraubstock festsitzt. Man kann sich nicht bewegen, ohne einem anderen Schmerzen zuzufügen. Auch die Toilette ist voller Menschen, die Tür ist für diese Nacht geschlossen, aber das macht nichts, man würde es ohnehin nicht dorthin schaffen.
Endlich fährt der Zug ab, es ruckelt nervös in den Waggons, und allein schon die Tatsache, dass es endlich losgeht, tut dem Rücken, den Armen und dem Bauch, allem, was im Schraubstock sitzt, gut. Langsam fahren wir über eine von Bomben beschädigte Brücke, die erst kürzlich, anderthalb Jahre nach Kriegsende, notdürftig instandgesetzt worden ist. Es ist keine dieser Propagandabrücken, die in den deutschen Wochenschauen stets in Anwesenheit eines Vertreters der Militärregierung, eines Bürgermeisters und einer Schere, die ein Band durchschneidet, eingeweiht werden und damit, sagen sämtliche Bürgermeister, dazu beitragen, die Verständigung zwischen Deutschland und den Alliierten zu fördern. Böse Zunge behaupten, es würde sich immer um dieselbe Brücke und dieselbe Schere handeln. Aber verschiedene Bürgermeister.
Das letzte Licht der Stadt scheint zum Fenster herein und fällt auf Gerhard, der mehr Routine darin hat, deutsche Züge zu entern, als ich und einen Sitzplatz am Fenster ergattern konnte. Eine ganze Reihe müder, grauer Gesichter wird beschienen: abgearbeitete Hausfrauen, die aufs Land wollen, um in den Dörfern Kartoffeln aufzutreiben, die Kriegsgefangenen in ihren Mänteln, die aus Lyon gekommen sind und, als es im Schritttempo über die Brücke geht, sagen, wenn sie fünf Jahre darauf gewartet hätten, nach Hause zu kommen, könnten sie die paar Stunden auch noch warten. Darüber hinaus gibt es hier viele ohne anerkannte Existenz: Schwarzmarkthändler und andere, die von Stadt zu Stadt fahren, und nur der Allmächtige weiß, wovon sie leben.
Wir fahren in der kompakten Dunkelheit weiter, sind verschwitzt, gereizt, noch nicht erschöpft genug, um uns nicht mehr zu ärgern. Aber plötzlich iert in dieser Finsternis etwas Seltsames. Man findet in Deutschland eine Art Krisentaschenlampen, auf deren Ende man ununterbrochen drücken muss, um Licht zu erhalten, ein gelbes, stoßweise kommendes Licht, wobei die Lampe surrt wie eine Hummel, während sie widerwillig ihr Licht verströmt. Plötzlich beginnt also unten auf einer Bank eine solche Lampe zu surren, und jeder, der kann, schaut hin und sieht, dass sie einen Handteller bescheint, die Hand einer jungen Frau, und in dieser Hand liegt ein Apfel. Ein großer, grüner, saftiger Apfel, einer der größten Äpfel Deutschlands. Es wird vollkommen still im Abteil, und das liegt an dem Apfel, es gibt so wenige Äpfel in Deutschland. Und der Apfel liegt dort auf der Handfläche und kann nicht anders, aber dann erlischt die Lampe, und in der atemlosen Stille nach Einsetzen der Dunkelheit ist das erschreckend deutliche Geräusch eines Bisses zu hören, die junge Frau hat in ihren Apfel gebissen. Die Lampe surrt erneut, und dann liegt der Apfel wie eben klar beleuchtet in ihrer Hand. Sie leuchtet sorgsam den Biss an, prüft ihn im Schein der Lampe, es ist ein ausgezeichneter Biss, ein Biss, der hungrig macht. Und es ist schrecklich, solange dieser große Apfel und diese atemlose Stille andauern. Die junge Frau mit ihren guten Zähnen, die das ganze Abteil spürt, leuchtet nach jedem Bissen den Apfel an, vielleicht um festzustellen, wie leicht die Materie besiegt wird.
Aber noch ehe der Apfel aufgegessen ist, hat sich die Apathie um uns geschlungen. Wir hängen wie Tote aneinander, lehnen uns an unbekannte Schultern und dämmern weg in dem stickigen Raum, der nach Schweiß und verbrauchter Luft stinkt. Um sich bis zum Umsteigen in einen anderen Zug wachzuhalten, unterhalten sich die drei Kriegsgefangenen leise und bemüht lebhaft über eine Torte, jene große, herrliche, französische Torte, die einer von ihnen während der Besatzungszeit in Paris gegessen hat. Er versucht sich an diese Torte zu erinnern, wie dick die Sahneschicht auf ihr war, ob in diesem Loch in der Mitte Cognac oder Arrak war, ob er sie mit einem Löffel oder einem Messer oder mit beidem gegessen hat.
Gegen Ende der Nacht hält der Zug auf einem großen, leeren und grell erleuchteten Bahnhof. Kein Laut ist zu hören und kein Mensch zu sehen. Es ist wie in einem Traum. Doch plötzlich hallt zwischen den Bahnhofswänden ein Befehl wider, der aus einem Lautsprecher hinausgeworfen wird. kontrolle. Gepäckkontrolle. Alle agiere müssen den Zug mit Gepäck und allem verlassen. Nach einigem Warten auf dem Bahnsteig in Eichenberg, dem Grenzbahnhof zwischen dem deutschen England und dem deutschen Amerika, kommen einige großgewachsene amerikanische Soldaten. Sie kauen Kaugummi und gehen umher und treten gegen Taschen und prüfen Ausweise. Gerhard ist nervös, er hat in seinem etwas geändert, hat als Beruf Landarbeiter statt Mechaniker angegeben, um die Russen zu täuschen, aber alles geht gut.
Bis Hannover stehen wir zwei dann an einem Fenster und sprechen über sein Leben. Er sagt, er sei froh, dass der Krieg so ausgegangen sei, jetzt müsse er nicht mehr jeden Sonntag mit der HJ marschieren, meint aber trotzdem, sein Dienst im Krieg sei prima, ganz prima gewesen. Er war Mechaniker auf einem Flugplatz in Holland und behauptet, diese Zeit werde er nie vergessen. Aber jetzt will er weg, »in Deutschland kann man nicht bleiben, wenn man jung ist«.
Bevor es draußen richtig hell wird, spielen sich bei den Zwischenhalten dramatische Szenen ab. Der Zug ist ja immer noch so voll, aber auf diesen Bahnhöfen stehen verzweifelte Menschen, die das gleiche Recht haben zu reisen wie wir. Eine verzweifelte Frau läuft vorbei und schreit vor jedem Abteil, sie müsse zu einem Sterbebett, aber nicht einmal jemand, der zu einem Sterbebett will, kann mit diesem Zug fahren, wenn er nicht die Kraft besitzt, sich hineinzuzwingen. Ein massiger, grobschlächtiger Mann zwängt sich in unser Abteil, er schlägt sich mit dem, der in der Türöffnung steht, und schlägt besser und schafft es auf diese Art, die einzige Art, mitzufahren.
Hinter Hannover, als viele ausgestiegen sind, stehen entlang der Strecke Leute mit vollen Kartoffelsäcken. Sie schleppen ihre Säcke über die Füße der Stehenden und riechen nach Erde und Herbst. Wenn sie ihre Säcke in die Gepäckfächer heben, rieselt Erde auf die Scheitel der Sitzenden. Sie wischen
sich den Schweiß aus der Stirn, Frauen und Männer, und erzählen von einer Tragödie, einer Kartoffeltragödie, die sich gerade ereignet hat.
Eine Frau aus Hamburg, die mit vier leeren Säcken und einem Karren nach Celle gefahren war und es nach vier Tagen unablässiger Anstrengungen geschafft hatte, diese Säcke zu füllen, indem sie bei den Bauern im Umkreis von Celle bettelte, hatte unter Aufbietung all ihrer Kraft die Säcke zum Bahnhof geschleppt. Als sie ankam, leuchtete ihr Gesicht vor Selbstzufriedenheit, sie wischte sich den Schweiß aus der Stirn, und hinterließ dort stattdessen gute Erde. Sie hatte es geschafft. Sie hatte getan, was viele nicht tun konnten oder nicht durchhielten: Es war ihr gelungen, für ihre hungernde Familie einen ganzen Wintervorrat an Kartoffeln zusammenzukratzen. Sie steht also auf dem Bahnhof von Celle und ist mit sich und ihren vier Tagen zufrieden und denkt an die Freude, die auf sie einströmen wird, wenn sie heimkommt. Sie weiß noch nicht, dass sie ein Sisyphos ist, der seinen Stein auf die Bergkuppe hinaufgerollt hat. Bald wird er hinüberrollen und in der Tiefe verschwinden. Sie hat ihre Säcke und ihren Karren und ihre starken Hände, aber sie schafft es in keinen Zug. Mit vier Kartoffelsäcken kommt man in keinen deutschen Zug. Mit zwei vielleicht, wenn man kämpfen kann. Sie bleibt den ganzen Tag dort stehen und wartet auf den leeren Zug, in dem Platz für ihr gesamtes Vermögen sein wird, aber ein solcher Zug kommt nicht, und die Erfahrenen sagen ihr, dass ein solcher Zug auch an keinem anderen Tag kommen würde, ein solcher Zug käme nie. Sie wird immer verzweifelter. Sie muss um jeden Preis nach Hause, sie ist schon viel zu lange fort gewesen, und von Celle kann man nicht zu Fuß nach Hamburg gehen. Jetzt befindet sie sich irgendwo in diesem Zug, eine verbitterte und hoffnungslos müde, alte Frau mit einem Sack Kartoffeln in einem Gepäckregal, und die anderen Säcke sowie ein kostbarer Karren sind auf dem Bahnhof in Celle.
Das Abteil ist voller Kartoffeln, es riecht nach feuchtkaltem Herbst, und die Bahnhöfe entlang der Strecke sind voller Menschen, die mitfahren wollen. Einer kommt herein und erzählt, dass man jetzt schon auf den Puffern sitze. Etwas später hämmern frierende Füße über die Decke, ja, man fährt schon auf dem Dach. Es wird unerträglich heiß im Abteil. Ich teile meine trockenen Brote mit Gerhard. Jemand zieht die Fensterscheibe herunter, und von draußen kommt irgendwoher eine kleine Hand und legt sich auf den Rand der Scheibe wie in
einem surrealistischen Film. Ein Junge vor mir zweifelt an dieser Hand, aber ein anderer wettet mit ihm um eine alliierte Zigarette, dass es eine echte Hand ist. Der Zweifler streckt seine Hand aus und stupst die unwirkliche Hand an, er drückt sie und es ist eine echte Hand. Sie gehört einer Frau, die zusammengekauert auf dem Fußtritt sitzt und sich an der Scheibe festhält.
Auf die Lüneburger Heide fällt der erste Schnee des Herbstes, und diejenigen, die vom Dach und von den Puffern kommend flehentlich bitten, hereingelassen zu werden, sind weiß wie Watte. Es dämmert wieder, und ein paar Schwarzmarkthändler im Abteil tauschen mit delikaten Mienen Zigarren und Vertraulichkeiten aus. Als wir uns Hamburg nähern, wird Gerhard unruhig. Jetzt glaubt er nicht mehr an Amerika. Amerika war etwas, woran er eine Tagesreise von Hamburg entfernt glauben konnte. Er weiß, dass es keine Schiffe gibt, hat sich das aber noch nicht eingestanden. Kann er nicht nach Schweden mitkommen? Und es bleibt einem nichts anderes übrig, als zu den lehmigen Kartoffelsäcken in den Regalen hinauf zu schauen und kein Wort zu sagen, man kann nur schweigen und ein schlechtes Gewissen haben.
Wir erreichen Hamburg mit fast vier Stunden Verspätung oder zweihundertdreißig Minuten, wie es in der Sprache der Inflation heißt. Es schneit und ist windig und kalt. Es schneit auf die Ruinen und schmutzigen Backsteinhaufen und die Mädchen von der Reeperbahn, die hungrig aus Mangel an Essen, nicht an Liebe sind. Es schneit auf die trägen Kanäle, in denen gesunkene Lastkähne liegen und unter einem Dach aus fettem Öl ruhen. Wir gehen eine Weile in der Kälte, Gerhard und ich. Dann müssen wir uns vor dem Hotel mit dem Schild No german civilians trennen. Ich werde durch die Drehtür gehen und in einen Speisesaal mit Gläsern und weißen Tischdecken und einer Tribüne für die Musiker gelangen, die abends Auszüge aus »Hoffmanns Erzählungen« spielen. Ich werde in einem weichen Bett in einem warmen Zimmer mit fließend heißem und kaltem Wasser schlafen. Aber Gerhard Blume setzt seinen Weg in die Hamburger Nacht fort. Er geht nicht einmal in Richtung Hafen. Und es gibt nichts, was man dagegen tun kann. Nicht das Geringste.
LITERATUR UND LEIDEN
Wie weit ist es zwischen der Literatur und dem Leiden? Hängt die Entfernung von der Art des Leidens, von der Nähe des Leidens oder der Stärke des Leidens ab ? Ist sie kleiner zwischen der Dichtung und dem Leiden, das vom Widerschein des Feuers verursacht wird, als zwischen der Dichtung und dem Leiden, das dem Feuer selbst entspringt? In Zeit und Raum naheliegende Beispiele zeigen, dass es einen fast unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Dichtung und dem fernen, dem geschlossenen Leiden gibt, ja, vielleicht könnte man sogar sagen, dass schon das, mit anderen zu leiden, eine Form von Dichtung ist, die eine unbändige Sehnsucht nach Worten verspürt. Das unmittelbare, das offene Leiden unterscheidet sich vom mittelbaren unter anderem dadurch, dass es sich nicht nach Worten sehnt, jedenfalls nicht im Moment des Geschehens. Im Vergleich zum geschlossenen ist das offene Leiden schüchtern, zurückgezogen und schweigsam.
Während das Flugzeug in einer Wolke aus deutschem Regen und deutschem Schnee in den Winterabend abhebt und der überlebende deutsche Adler auf dem Flugplatz in der Dunkelheit unter uns verschwindet, während Frankfurts Lichter in einer Wolke aus Finsternis gelöscht werden und die schwedische Maschine sich mit einer Geschwindigkeit von dreihundert Stundenkilometern über das deutsche Leiden erhebt, ist es wohl vor allem ein Gedanke, der sich dem Reisenden aufdrängt: Wie wäre es, bleiben zu müssen, jeden Tag hungrig sein zu müssen, in einem Keller schlafen zu müssen, in jeder Sekunde mit der Versuchung zu ringen, etwas zu stehlen, jede Minute vor Kälte zittern zu müssen, unablässig auch das Am-schwersten-zu-Lebende überleben zu müssen? Und man erinnert sich an Menschen, denen man begegnet ist und die fast all dies tun müssen. Und man erinnert sich vor allem an einige Dichter, einige Künstler, nicht weil sie hungriger waren oder mehr litten als alle anderen, sondern weil ihnen die Möglichkeiten des Leidens bewusst waren, sie hatten versucht, die Entfernung zwischen der Kunst und dem Leiden zu vermessen.
An einem Tag im Ruhrgebiet, als es lange geregnet hat und die Bäcker schon zwei Tage kein Brot haben, treffe ich einen jungen deutschen Schriftsteller, einen von denen, die während des Kriegs ihr erstes Buch veröffentlicht, aber die persönlich aufgrund ihrer geistigen Notausgänge keinen Krieg verloren haben. Er hat sich eine schicke Holzvilla im Schweizerstil mitten in einem Wald leihen dürfen, und einige Kilometer rot flammender Bäume trennen ihn von der brutalsten Not im zerstörten Ruhrgebiet. Es ist eigenartig, aus einer der dortigen Gruben, auf deren Grund ein verzweifelter Bergmann mit rot unterlaufenen Augen im schwarzen Gesicht seine zerschlissenen Schuhe auszog und mir zeigte, dass er keine Strümpfe in ihnen trug, geradewegs in dieses herbstliche Idyll zu kommen, wo der Hunger und das Frieren so kultiviert werden, dass sie einen nahezu ritualähnlichen Zug bekommen haben. Es ist ein wirklich seltsames Erlebnis, einen unbeschädigten Garten zu betreten und im bücherlosen Deutschland, wo ein Buch eine solche Rarität ist, dass man sich ihm mit Andacht nähert, nur weil es ein Buch ist, einen Raum zu betreten, der von Büchern überschwemmt ist, von Dantes »Inferno« bis zu Strindbergs.
Auf dieser Insel in einem schrecklichen Meer sitzt der junge Schriftsteller mit dem müden Lächeln und dem adligen Namen und raucht Zigaretten, die er gegen Bücher getauscht hat, und trinkt Tee, der so bitter ist wie der Herbst draußen. Sicher, es ist ein seltsames Leben. Die Außenwelt, die aus hungernden Grubenarbeitern, grauen Mietskasernen mit hinausgeschleuderten Fassaden und grauen Kellermenschen besteht, deren wackelige Luftschutzbetten in fußtiefem Wasser stehen, wenn es wie jetzt regnet, diese Welt ist hier nicht unbekannt, aber sie wird nicht akzeptiert, sie wird auf Distanz gehalten, wie Unendes es verdient hat. Er selbst ist äußerst desinteressiert an dem, was ein paar Kilometer weiter geschieht, seine Frau geht ins Dorf und kümmert sich um die Einkäufe, und die Kinder, die mit dem Zug zur Schule fahren, vermitteln den einzigen stillen Kontakt mit dem Leben und Tod da draußen. Nur gelegentlich und so selten wie möglich verlässt er selbst das einsame Haus in dem verregneten Garten und fährt mit dem gleichen Widerwillen in die abstoßende Wirklichkeit hinaus, mit dem sich der Eremit in der Wüste zur Oase begibt.
Aber auch ein Eremit muss leben. Deutschlands Schriftsteller, die nur in glücklichen Ausnahmefällen ein paar Bücher veröffentlichen können, leben in
erster Linie davon, umherzureisen und zu lesen oder Vorträge zu halten, es sind lange, kalte und deprimierende Reisen, von denen man erkältet, müde und unfähig zu schreiben zurückkehrt. Und reich oder auch nur satt wird man von ihnen auch nicht. Besitzt man Bücher, muss man sie nach und nach verkaufen, um Tee oder Zucker oder Zigaretten zu bekommen. Hat man mehr Schreibmaschinen, als man benötigt, kann man sie gegen Schreibmaschinenpapier eintauschen, und will der Schriftsteller Stifte haben, um mit ihnen zu schreiben, kann er sein teuer erworbenes Schreibmaschinenpapier gegen diese eintauschen.
Mein Freund, der Eremit, hält Vorträge über Mörike und Burckhardt, seine beiden zeitlosen Lieblingsautoren. Die gleichen Vorträge hat er in FranzösischDeutschen Gesellschaften im besetzten Frankreich von Paris bis Bordeaux gehalten. Nachdenklich sagt er, das sei seine beste Zeit gewesen, und behauptet, dass man dort besser zugehört habe, dass das Klima im Frankreich der Besatzung zwischen 1940 und 1944 vorteilhafter für deutsche Vorträge gewesen sei als im Ruhrgebiet der Ruinen 1946. Natürlich, sagt er, war ich mir der Lage bewusst, aber warum sollte mich eine militärische Notwendigkeit davon abhalten, zur Annäherung zwischen deutscher und französischer Kultur beizutragen? Das klingt zynisch, ehe man sich daran gewöhnt, und trotzdem war die Wirklichkeit, wenn möglich, sogar noch zynischer. In seinem Bücherregal entdecke ich zwei hübsche Soldatenausgaben von Hölderlins und Mörikes Gedichten, gedruckt 1941. Theoretisch kann man sich also vorstellen, dass deutsche Soldaten mit Mörikes Gedichten in der Jackentasche Griechenland besiegten. Nachdem ein weiteres Dorf dem Erdboden gleichgemacht worden war, kehrte der deutsche Soldat zu seiner unterbrochenen Lektüre Hölderlins zurück, des deutschen Dichters, der über die Liebe sagte, sie besiege sowohl die Zeit als auch den leiblichen Tod.
Aber es gibt auf alle Fragen eine befriedigende Antwort. Grausamkeit lässt sich damit erklären, dass der Krieg seine eigenen Gesetze schreibt. Es ist kein Zynismus, wenn dieser Dichter von sich sagt, er habe die französische Widerstandsbewegung trotz allem geschätzt, ja, alle Widerstandsbewegungen außer der deutschen, weil diese nicht national berechtigt gewesen sei:
»Nur diejenigen, die den Mund nicht halten konnten, sind ins Konzentrationslager gekommen. Warum hat man nicht geschwiegen und die zwölf Jahre überlebt?«
»Und woher wussten Sie, dass es zwölf sein würden?«
»Es hätten mehr werden können. Natürlich. Na und? Warum soll man nicht auch das aus einem historischen Blickwinkel betrachten, warum soll man das, was geschehen ist, nicht beurteilen, als hätte es sich vor hundert Jahren ereignet? Streng genommen existiert die Wirklichkeit ja gar nicht, bevor der Historiker sie in ihren Zusammenhang eingeordnet hat, und dann ist es zu spät, sie zu erleben, sich über sie zu empören oder zu weinen. Die Wirklichkeit muss alt werden, um wirklich zu werden.«
Und das ist ja so wahr. In diesem Zimmer in einer Villa im Ruhrgebiet existiert die Wirklichkeit nicht, wenngleich seine Frau im Laufe des Nachmittags den Raum betritt und von einer Szene in der Bäckerei erzählt. Ein Mann mit einem großen Stock hatte sich an den vor Schreck wie gelähmten Frauen vorbeigedrängelt und gewaltsam den letzten Brotlaib an sich genommen, ohne dass eine in der Warteschlange es gewagt hatte, ihn daran zu hindern. Doch für den geborenen Klassiker ist kein Intermezzo unangenehm genug, um die beklagenswerte Wirklichkeit, die sich in diesem Moment abspielt, in sein Leben zu zwingen. Wir sitzen in der hereinbrechenden Dunkelheit und sprechen über den Barock, der ganze Raum ist voller Barock, auf den Tischen liegen umfangreiche deutsche Abhandlungen über den Barock als Baustil. Er ist dabei, nach einer unvollendeten Idee Hugo von Hofmannsthals einen Roman aus der Barockzeit zu schreiben, und liest derzeit alles über die Architektur des Barocks, um für seine Menschen eine wahrhaftige Wirklichkeit aufbauen zu können, die keine maskierten Gegenwartsmenschen mit Brotproblemen und Hungergedanken sein sollen, sondern richtige Barockmenschen aus Barockfleisch und Barockblut, die Barockgedanken denken und Barockleben führen. Der Barock – das mag einem in diesem Ruhrgebiet der beginnenden
Hungerkrawalle wie eine wenig zeitgemäße Art zu leben erscheinen. Aber zeitgemäß? In dieser Dichterwerkstatt, in der die Zeit nicht existiert, bevor es zu spät ist.
Aber wo setzt das Leiden ein? Er beginnt, über das Glück des Leidens, über die Schönheit des Leidens zu sprechen. Das Leiden sei nicht schmutzig, das Leiden sei nicht erbärmlich. Nein, das Leiden sei groß, weil das Leiden die Menschen groß mache. »Was ist die Erklärung für die Errungenschaften der alten deutschen Kultur, wenn nicht die, dass das deutsche Volk mehr leiden musste als andere Völker!« Man kann ihn nicht davon überzeugen, dass das Leiden etwas Unwürdiges ist. Der romantische Historiker in ihm erkennt im Leiden die stärkste Triebfeder für große menschliche Handlungen, der geborene Klassiker die Triebfeder für große Literatur, die nicht unbedingt Literatur über das Leiden sein muss.
Beim Essen spricht seine Mutter, deren aristokratische Blässe zu gleichen Teilen das Produkt von Adel und Unterernährung ist, mit der gleichen genießerischen Freude über das Glück des deutschen Leidens. Wir essen Kartoffeln und Grünkohl, weil es im Moment nichts anderes zu essen gibt, und die Familienmitglieder nötigen einander, sich noch etwas zu nehmen, wenngleich dieses Aufdrängen streng genommen ironisch wird. In dieser kultivierten Familie nutzt man den Hunger als Genussmittel. Die Mahlzeit erhält eine besondere Bedeutung, weil die vorletzte Schreibmaschine verspeist wird. Ich esse wenig, höchstens eine Taste oder zwei. Danach kehrt der Dichter zu seiner letzten Schreibmaschine und zum Barock zurück, den er nie verlassen hat, und ich fahre ins Ruhrgebiet, das so wenig barock ist, wie es nur geht. Im Garten begegne ich den beiden heimkehrenden Schulmädchen, Maresi, benannt nach einer Novelle Lernet-Holenias, und Victoria, benannt nach dem Sieg über Frankreich 1940, Kinder, die vor allem aufgrund von Unterernährung blass sind. Doch als das Auto auf dem Rückweg durch Düsseldorf fährt, meine ich einen drallen Barockengel zu sehen, dessen Geisterflügel sich vor den dunkler werdenden Ruinen abzeichnen.
Einen Monat später im Atelier eines Malers in Hannover. Wir sprechen über den Zusammenbruch und die neue deutsche Kunst. Ich habe einige seltsam unbeteiligte Ausstellungen gesehen. Die interessanteste vielleicht von einer Gruppe idealistisch kommunistischer Künstler, als Maler nichts Besonderes, dafür aber als Programmatiker. In einem kunstvoll geschriebenen, ausgestellten Programm geben sie bekannt, dass sie sich der Umorganisierung der Welt in eine riesige Gewerkschaft anschließen wollen. Alle gegenwärtigen Einheiten werden von Zusammensetzungen mit dem Wort Werk- ersetzt. Man wird nicht mehr von Künstlern, sondern von Werkleuten sprechen, nicht von Ateliers, sondern Werkstätten, nicht von Nationen, sondern Gewerkschaften. Und so weiter. Es gab auch eine programmatische Ruine. Diese programmatische Ruine ist eine völlig unrealistische Ruinenkulisse im Hintergrund. Vor ihr zwei spielende Kinder mit Blumen. Schlechtes Theater und sonst nichts. In einer anderen Ausstellung waren nicht die Ruinen das häufigste Motiv, sondern die Köpfe zertrümmerter klassischer Statuen, mit dem Mona-Lisa-Lächeln der Niederlage auf der Erde liegend.
»Aber wenn ich Ruinen male«, sagt der Maler in Hannover, »tue ich es, weil ich sie schön finde, und nicht, weil es Ruinen sind. Es gibt eine Menge hässlicher Hä, die nach den Bombardements zu Schönheiten geworden sind. Das Museum in Hannover sieht als Ruine richtig abel aus, vor allem, wenn die Sonne durch das zertrümmerte Dach fällt.«
Plötzlich packt er meinen Arm. Wir blicken auf die kaputte Straße hinaus. Eine Prozession schwarzer Nonnen, einer der ordentlichsten Anblicke der Welt, hebt sich von einem der unordentlichsten ab: einer obszönen Ruine mit rankenden Rohren und galgenförmigen Balken.
»Das werde ich irgendwann malen, aber nicht, weil es eine Ruine ist, sondern weil der Kontrast so verdammt erschütternd ist.«
In Berlin am 3. Februar 1945 während eines Bombenangriffs. So lautet ein
Datum in einem Romankapitel, veröffentlicht in einer deutschen Zeitschrift und eines der wenigen Zeugnisse eines jungen deutschen Autors, der aus dem kürzlich vergangenen Leiden schöpft. Der Text schildert den letzten Nachmittag eines Straßenbahnschaffners. Ein Mann, der nach Hause kommt und das Haus zu einem unüblichen Zeitpunkt leer vorfindet. Seine Tochter leidet an Epilepsie, und alles Mögliche könnte iert sein. Und während ein amerikanischer Großangriff auf Berlin einsetzt, bricht der Straßenbahnschaffner Max Eckert zu einer schrecklichen Odyssee auf, die vor der unterirdischen Station endet, in der seine Angehörigen mit absoluter Sicherheit zusammen mit Tausenden anderen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sind. In einem Tobsuchtsanfall stürzt er sich auf einen Polizisten, der ihn mit Heil Hitler grüßt, und wird erschossen. Es ist ein grimmiger und frostiger Auszug aus einem kommenden Roman, »Finale Berlin«, der ein Kollektivroman des Leidens zu werden scheint, eine Deutung des grauenvollen Leidens der Bombardierten, das allen deutschen Großstadtbewohnern gemeinsam ist und in den Köpfen als Verbitterung, als Hysterie, als Lebensüberdruss, als Lieblosigkeit weiterlebt.
Inzwischen hat das schwedische Flugzeug sich weiter über das deutsche Leiden erhoben. Wir fliegen über Deutschlands weiten Abendwolken, und auf den Fenstern sind altmodische Eiskristalle. Aber ungefähr dreitausend Meter sehr schräg unter uns lebt eine Frau einzig und alleine dafür, einen großen Roman über ein anderes Leiden schreiben zu können: das Leiden der Gefangenen in den Konzentrationslagern. Sie hat selbst einige Jahre in einem Lager für politische Verbrecher gesessen. Im Lager gehörte sie zur sogenannten Rilkegruppe, einer kleinen fanatischen Gruppe von Frauen, die sich bei den Hofgängen unter Lebensgefahr in einer Ecke des Lagergeländes versammelten und einander flüsternd Gedichte von Rilke vorlasen. Sie will jedoch nicht über ihr eigenes Leiden schreiben, sie will über ein anderes, größeres schreiben: das Leiden ihres Mannes. Acht Jahre hat er in Dachau gesessen und ist zwanzig Jahre vor der Zeit zu einem alten Mann geworden: weißhaarig, wankend, mit erstickter Stimme sprechend. Nun versucht sie, ihn zum Reden zu bringen: bevor sie abends einschlafen, wenn sie nachts wachliegen, bei den Mahlzeiten, aber er versteht sie nicht, er versteht nicht, dass sie gern über das schreiben würde, was er erlitten hat. Und keiner aus ihrem Bekanntenkreis versteht sie, nicht er, der erst kürzlich aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt ist und im eklatanten Gegensatz zu den meisten anderen Heimkehrern ein fanatischer Freund der Russen geworden ist, weil er bei seiner Gefangennahme nicht erschossen wurde. Er wurde bei
Stalingrad geschnappt, und nun erzählt er unaufhörlich davon, dass seine Mitsoldaten einmal ein Brückengeländer mit nackten russischen Leichen nur für das Vergnügen verkleideten, einen einmaligen Schnappschuss zu machen. Niemals wird er begreifen können, dass ihm gestattet wurde zu überleben. Die pragmatische, kontaktfreudige Anny, die drei Jahre in einem politischen Zuchthaus gesessen hat und soeben von einer dreitägigen Zweihundertkilometerreise für einen Sack Kartoffeln zurückgekehrt ist, versteht sie ebenso wenig.
Doch die Frau, die schreiben will, erzählt verbittert, dass sie innerhalb eines Jahres über die Leiden ihres Mannes nur das Folgende erfahren hat: Jemand ist in der Nacht ausgebrochen, und im Morgengrauen werden alle Insassen aufgereiht und müssen den ganzen Tag und die nächste Nacht und den ganzen nächsten Tag im strömenden Regen in Habachtstellung stehen bleiben. Wenn einen die Kräfte verlassen, ist man verloren. Zur Mittagszeit wird der Entflohene zurückgebracht, die Wächter schnallen ihm eine riesige Trommel um, und er muss den ganzen Tag einen Marsch trommelnd vor seinen Kameraden auf und ab defilieren, den ganzen Tag denselben Marsch, seinen eigenen Todesmarsch. Gegen Mitternacht bricht er zusammen, und es ist das letzte Mal, dass sie ihn sehen.
Es ist eine schreckliche Episode, aber sie reicht nicht für ein Buch, und mehr wird sie niemals erfahren. Das Leiden ist durchlitten worden und soll danach nicht mehr existieren. Dieses Leiden war schmutzig, widerwärtig, niedrig und klein, und deshalb soll man nicht darüber sprechen oder schreiben. Die Distanz ist zu klein zwischen der Dichtung und dem Leiden, das am größten gewesen ist, erst wenn das Leiden zu einer gereinigten Erinnerung geworden ist, mag die Zeit reif sein. Und trotzdem hofft sie noch, jedes Mal, wenn sie mit ihm allein ist, hofft sie, die Worte hören zu dürfen, die ihr die Kraft geben werden, ihren Stift in das Leiden zu tauchen.
Dreitausendfünfhundert Meter. Die Eiskristalle auf den Fenstern verdichten sich. Der Mond ist aufgegangen und trägt einen Ring aus Kälte. Die Positionskarte
kommt. Wir überfliegen Bremen, aber von Bremen ist nichts zu sehen. Das zerstörte Bremen liegt unter dichten deutschen Wolken verborgen, genauso undurchdringlich verborgen wie das stumme deutsche Leiden. Wir fliegen über das Meer hinaus und nehmen auf dem Marmorboden aus Wolken und Mond Abschied von diesem herbstlichen, gefrorenen Deutschland.
ANHANG
ANMERKUNGEN
Im Text kursiv gesetzte Wörter und Sätze sind im schwedischen Original von Dagerman in deutscher Sprache geschrieben.
Seite 7: Churchills berühmter Rede Anspielung auf eine Rundfunkrede des britischen Premierministers Winston Churchill (1874–1965) mit dem Titel »Before the Autumn leaves fall off«, gehalten am 30.6.1943.
Seite 13: bis in die Gegenwart Dagermans Reportagen über den deutschen Herbst 1946 erschienen vom 29.12.1946 bis 28.4.1947 in der Stockholmer Tageszeitung Expressen. Die um mehrere Texte erweiterte Buchausgabe erschien am 9.5.1947.
Seite 14: den jüdischen Verleger Gollancz Der britisch-jüdische Verleger und Humanist Viktor Gollancz (1893–1967) veröffentlichte 1946 das Buch »Our Threatened Values« (eine deutsche Ausgabe erschien 1947 unter dem Titel »Unser bedrohtes Erbe«), in dem er Verbrechen an den besiegten Deutschen anprangerte.
Seite 37: ein älterer liberaler Rechtsanwalt zusammen mit einem Autor populärer Schelmenromane Anhand der spärlichen Anhaltspunkte ist es leider nicht gelungen, die beiden Personen zu identifizieren.
Seite 54: die evakuierten Nichtbayern auszuweisen Bei Kriegsende hielten sich etwa 468 000 Evakuierte in Bayern auf. Ihre Rückführung erfolgte in Bayern nicht freiwillig (wie z. B. in Hessen), sondern zwangsweise.
Seite 57: Wir danken dem Herrn Hoegner Wilhelm Hoegner (1887–1980) war Jurist und von 1930 bis 1933 sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil wurde er von der amerikanischen Besatzungsbehörde zum bayerischen Ministerpräsidenten ernannt (1945/1946).
Seite 59: einige Vertreter des Schwedischen Roten Kreuzes In den Jahren nach dem Krieg organisierte das Schwedische Rote Kreuz umfassende humanitäre Hilfe und konzentrierte sich dabei auf die Städte Berlin und Hamburg sowie das Ruhrgebiet. Dort erhielten beispielsweise 120 000 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren täglich eine Mahlzeit.
Seite 65: Paul Löbe Paul Löbe (1875–1967) war von 1925 bis 1932 Reichstagspräsident und von 1949 bis 1953 noch einmal Bundestagsabgeordneter für die SPD.
Seite 67: sagt ein bekannter deutscher Verleger Dagerman bezieht sich hier auf den von Peter Suhrkamp (1891–1959) herausgegebenen Sammelband »Taschenbuch für junge Menschen« (1946). Darin schreibt Suhrkamp in seinem Nachwort unter anderem: »Bis 1939 hatten diese jungen Menschen nur ein Leben in Mauern gekannt, die übrige Welt war ihnen versperrt gewesen. Danach hatten sie durch ganz Europa stürmen dürfen […]. Die Welt aber hatte unbegrenzt vor ihnen gelegen. Und nun waren mit einem Schlage die Mauern wieder da, noch realer und noch abschließender als vor dem Kriege. Aus ihrer Ehre war Unehre geworden, aus ihrer Freiheit Gefangenschaft. Die unendlichen Möglichkeiten waren geschmolzen zu einem Nichts an Möglichkeiten.« Stig Dagerman war Peter Suhrkamp in Berlin begegnet, wie sich auch seinem Brief vom 20–24/10 1946 an Annemarie Dagerman entnehmen lässt.
Seite 79: Minderbelasteter Für die Verhandlungen der Spruchkammern wurden zur Beurteilung der Verantwortlichkeit fünf Personengruppen gebildet: 1. Hauptschuldige (Kriegsverbrecher), 2. Belastete / Schuldige (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer), 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe), 4. Mitläufer, 5. Entlastete.
Seite 82: Pinneberg Anspielung auf den 1932 erschienenen Roman »Kleiner Mann – was nun?« von Hans Fallada (1893–1947), dessen Hauptfigur den Namen Johannes Pinneberg trägt.
Seite 91: Kurt Schumacher Kurt Schumacher (1895–1952) war bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten Reichstagsabgeordneter und war anschließend knapp zehn Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert. Nach dem Krieg war er ab 1946 bis zu seinem Tod Parteivorsitzender der SPD.
Seite 94: Neumann Franz Neumann (1904–1974), Vorsitzender der Berliner SPD.
Seite 117: einen jungen deutschen Schriftsteller Wolf von Niebelschütz (1913–1960), Autor von Biografien, Gedichten, Dramen, Essays und zwei Romanen.
Seite 121: einen Roman aus der Barockzeit Gemeint ist von Niebelschütz’ erster Roman »Der blaue Kammerherr. Galanter Roman in vier Bänden« (1949). Ausgangspunkt des Werks war das Fragment eines Opernexposés Hugo von Hofmannsthals (1874–1929) zu »Die Liebe der Danae«.
Seite 122: eines Malers in Hannover Gemeint ist der Maler Karl Pohle (1905–1969).
Seite 124: »Finale Berlin« Der Roman »Finale Berlin« von Heinz Rein (1906–1991) erschien ab dem 6.10.1946 als Vorabdruck in der Berliner Zeitung. Die Buchausgabe erschien 1947 und erreichte bis 1951 eine Auflage von 100 000 Exemplaren (2015 wurde der Roman im Schöffling Verlag neu aufgelegt).
BRIEFE
Während seines Aufenthalts in Deutschland, von seiner Ankunft in Hamburg am 15. Oktober 1946 bis zu seiner Abreise aus Frankfurt am Main am 10. Dezember 1946, schrieb Stig Dagerman zahlreiche Briefe an seine Familie, vor allem an seine Ehefrau Annemarie, aber auch an befreundete Autoren. Leider sind nicht alle erhalten geblieben.
Dagerman sah sich mit dem Problem konfrontiert, dass seine Briefe die Zensur der alliierten Besatzungsmächte ieren mussten, und verfasste deshalb die meisten von ihnen auf Deutsch. Diese Briefe werden hier wortgetreu wiedergegeben, da sie zwar grammatische Fehler enthalten, aber stets verständlich sind. Erst in der zweiten Phase seiner Reise, ab dem 8. November 1946, ging Dagerman dazu über, auf Schwedisch zu schreiben, da er gehört hatte, dies führe zu keinen Problemen mit der Zensur, was sich jedoch als unzutreffend erwies, denn die amerikanische Zensurbehörde schickte einen Teil dieser Briefe an den Absender zurück.
Über die in Deutschland verfassten Briefe hinaus enthält die vorliegende Auswahl zwei später entstandene Schreiben, die thematisch mit der Entstehung und Rezeption von »Deutscher Herbst« verknüpft sind.
An Annemarie Dagerman
Hamburg, den 16. Oktober 1946.
Liebe Annemarie, Liebe Elly, Lieber Ferdinand, André und meine beide Jungen
Ja, jetzt bin ich in dem furchtbaren Hamburg nach einer furchtbar langen Reise. Na, die Reise ist doch gut gewesen, besonders durch das wunderschöne Dänemark (da wohnen wir einen Sommer – ich habe schon den Platz ausgewählt!). Norddeutschland finde ich doch ein wenig finster und langweilig und gar nicht so voll blühender Natur wie ich es mich vorgestellt hatte. An der Grenze in Flensburg ist nichts besonders geschehen – alle die drei Parteien, die Dänen, die Deutschen und die Engländer waren freundlich und machten uns keinen Kummer. Nach der Grenze wurde es bald dunkel und ich habe nicht so viel gesehen von den Umgebungen – und Elly! Zwischen Flensburg und Hamburg habe ich gegessen, sogar »Rostbiff«. Für die Frucht bin ich doch sehr dankbar. Die Birnen und die Äpfel haben mir geholfen meine Dänischnorddeutsche Melancholie zu verjagen. Die Bananen habe ich heute Nachmittag zu frl. Arndt geschenkt. Sie hat bald geweint vor Freude. Sie hat doch 10 Jahre nicht Bananen gesehen. Ja so langte ich nach Hamburg an, nervös, allein und sehnend nach ihr allen. Der Koffer war furchtbar schwer und mein Herz schlug schneller als immer. Ich ging fast eine halbe Stunde, jede Minute fürchtend eine Kugel in dem Stirne oder ein schneller Ko, bevor ich die Press Camp fand. Die Stadt ist nämlich finster wie eine Grube, die Ruinen ragen in der Höhe aber wie schlimm es wirklich ist sieht man nur in Tageslicht. Heute bin ich nach Blankenese (Lotte Arndt) gewesen und der Zug fährt fast zehn Minuten ohne dass man was anderes als Ruinen sieht. Das war eine furchtbare Aussicht. Auch andere Teile der Stadt sind natürlich zerstört und scheinbar macht man nichts dazu. Es wächst schon Gras in den Ruinen. – Ja liebe Annemarie, ich sehne nach Dir und wünsche dass Du und unsere Jungen, mein Grossvater und meine Grossmutter zusammen mit mir waren. Noch habe ich doch nie geweint, aber es wird wohl schlimmer. Grüsse alle und sag Rüdiger dass frl. Arndt sehr glücklich
war über das Päckchen. Nächstesmal schreibe ich von Berlin. Küss meine Jungen /
Stig
P. S. Wenn Du schreibst – von den Rezensionen brauche ich nichts wissen, es ist wichtiger dass Du von dir selbst, unseren Jungen und deinen Eltern schreibst.
Dein Stig
Elly [---] FerdinandElly und Ferdinand Götze (1906–1998 bzw. 1907–1986), Stig Dagermans Schwiegereltern — AndréAndré Regnault, geb. 1934, aus Frankreich; er war auf Vermittlung des Schwedischen Roten Kreuzes 1946 bei Götzes und Dagermans zu Gast — meine beiden JungenRené, geb. 1945, und Rainer, geb. 1946 — Fräulein ArndtLotte Arndt, eine Bekannte Annemarie Dagermans aus Spanien in den dreißiger Jahren — RüdigerHelmut Rüdiger (1903–1966), Autor und Anarchosyndikalist, seit 1938 im schwedischen Exil — die Rezensionengemeint sind die Kritiken zu Dagermans 1946 erschienenem zweiten Roman »Die Insel der Verdammten«
An Annemarie Dagerman
[ca. 20–24/10 1946]
Nur für dich, Annemarie!
Liebes Kind.
Kannst du dich überhaupt vorstellen wie glücklich ich bin zu wissen dass du auf mich wartest. Das ist das Einzige was macht dass ich überhaupt ausstehen kann. Du, ich habe eine alte Ärztin getroffen die von den runden Menschen gesprochen habe. Kennst du die runden Menschen? Na, dann will ich dir die schöne Geschichte erzählen. Siehst du, es gab einmal runde Menschen die als Kugeln hervorrollte. Sie hatten vier Beine, vier Arme usw. Dem Zeus wurde doch der Zustand schliesslich zu widerlich und aus diesem Grunde lass er die runden Menschen in zwei Halbkugeln spalten und so wurden sie ganz normale, nicht! Na, die eine Halbkugel wurde ein Mann, die andere eine Frau und jetzt ist es so dass die eine Halbe immer die andere sucht – und du! Du und ich, wir sind doch mal ein runder Mensch gewesen der von Zeus einmal gespaltet war aber bald, bald, am spätsten anfang Dezember werden die zwei Halbkugeln wieder eine! Ich weiss dass ich viel zu bereuen habe, na ja wenn du nur wüsstest wie ich hier unter den Trümmern alles noch einmal durchleide! Du wartest doch auf mich du! Siehst du, am schlimmsten war es also zu erwachen. Ich träumte eben von René und dir und wartete auf ihre Stimmen, und gerade da wurde ich davon bewusst dass ich so weit von ihr war.
Willst du mir welche Gefallen tun? Erstens: Grüsse alle die ich kenne und die du mal triffst dass ich leider nicht zu ihnen schreiben kann. Das Papiermangel ist ja
furchtbar und übrigens fehlt mir die Kraft dazu. Zweitens: Willst du Grüsse zu Ragnar Svanström bestellen: 1. von Seydewitz und seiner Gattin; 2. von Frau Leonhard und Peter Suhrkamp und sag ihm dass ich während der Rückreise es versuchen will Frau Leonhard ihren Sohn in Hamburg zu treffen und von ihm Nachrichten kriegen die den Verlag vielleicht interessieren soll. Wie hast du es mit Nordin abgemacht, wie geht’s mit unseren Jungen (ich erzähle jeden Mensch hier in Deutschland dass ich mit einem deutschen Mädchen verheiratet bin und dass wir zwei artige Bübchen haben)? Du schreibst mir doch nach Frankfurt. Und jetzt: Küsse zu dir, meiner Halbkugel, und unseren Jungen.
Dein Stig
Du! gestern war ich am Alexanderplatz, den ich vorübergegangen bin, damit du nicht immer sagen sollst dass ich nur mit der Hand über den Alexanderpl. etc.
SeydewitzMax Seydewitz (1892–1987), deutscher Journalist und Parteifunktionär, später von 1947 bis 1952 Ministerpräsident in Sachsen; während des Zweiten Weltkriegs war Seydewitz als Flüchtling in Schweden, wo er (unter dem Pseudonym Peter Michel) 1944 das Buch »Den tyska hemmafronten« (Die deutsche Heimatfront) veröffentlichte; eine englischsprachige Ausgabe erschien 1945 in New York unter dem Titel »Civil life in wartime . The story of the home front« — Wie hast du es mit Nordin abgemachtbezieht sich auf das Angebot an Dagerman, bei der Zeitung Arbetaren Nachtredakteur zu werden; Frid Nordin war bei der Zeitung Chef vom Dienst
An Anna Götze
Berlin den 22. Oktober 1946.
Liebe Mutter Anna.
Leider kennen wir einander noch nicht, aber ich hoffe dass es bald genug möglich sei dass wir uns alle treffen. Ich bin ja seit drei Jahren mit Annemarie verheiratet und wir haben jetzt, was Sie sicher noch nicht wissen, zwei Kinder, übrigens zwei Jungen. Der älteste, René, kennen Sie doch schon durch unsere Briefe. Er ist jetzt 1½ Jahr alt und läuft wie ein Wirbelwind die ganze Wohnung hindurch. Unser Jüngste, der also noch nicht für Sie presentiert ist, ist zwei Wochen ehe ich abfuhr geboren, am 29. September. Den nennen wir Rainer. Gleich will ich Sie auch mitteilen dass alle Ihre Kinder, Ferdinand, Elly und Annemarie, mir den Auftrag gegeben haben Ihnen herzlichst zu grüssen und ausserdem die Hoffnung auszudrucken dass Sie bald zu uns kommen. Sie befinden sich alle gut und während meiner Abwesenheit wohnen Elly und Ferdinand bei Annemarie, damit sie sich nicht so allein fühlen soll. Zufällig bin ich jetzt in Berlin aber will bald abfahren, übrigens nach Hannover wo ich Ihre Tochter Olga besuchen will. Jetzt will ich Ihnen nur sagen dass Sie, wenn Sie überhaupt dazu Möglichkeit haben, nach Berlin fahren sollen um das Schwedische Rote Kreuz hier zu besuchen. Die Adresse ist Badenallée 2 A. Vielleicht kann Ihre Tochter Irma Ihnen helfen. Sie brauchen nur nötige Papiere mitbringen und 4 Photografien, 4 x 4. Sicher kann man hier in Berlin Ihnen mit Ihrer Reise helfen. Von Berlin fahren Sie wieder nach Leipzig zurück und müssen dann auf Bescheid zwei Monate warten. Auch muss ich Sie darum bitten, dass Sie oder Irma uns gleich mitteilen wenn Sie überhaupt nach Berlin fahren können. Als ich gesagt habe verlasse ich bald Berlin warum es besser ist dass Sie direkt zu Annemarie schreiben. Anfang Dezember kehre ich nach Hause zurück und vielleicht sehen wir dann uns bald. Jedenfalls wäre ich Ihnen sehr dankbar wenn Sie Annemarie mitteilen wollten wie Sie es mit diesen Dingen tun können.
Ja, schliesslich wünsche ich Ihnen alles Gute und bitte Sie darum, ihre Tochter auch herzlichst von uns allen zu grüssen.
Ihr lieber
Stig Dagerman
(Stig Dagerman)
Anna Götze(1875–1958), Annemarie Dagermans Großmutter, wohnhaft in Leipzig in der sowjetischen Besatzungszone — Ihre Tochter OlgaOlga Gansauge, wohnhaft in Hannover — Ihre Tochter IrmaIrma Götze, wohnhaft in Leipzig
An Annemarie Dagerman
Auf dem Zug
Zwischen Berlin u. Hannover
den 24. Oktober [1946]
Liebe Annemarie, lieber kleiner René (der mich sicher schon vergessen hat), lieber kleiner Rainer (der mich nicht vergessen hat), Liebe Elly u. Ferdinand u. André.
Dieser Brief schreibe ich also zwischen Berlin und Hannover nach fünf Tagen in Berlin, Tagen die voll Spannung, Enttäuschungen, Freude, Kummer, Angst und Sorge gewesen sind. Das heutige Deutschland ist ja derart dass man sich es nicht vorstellen kann, wenn man nicht da gewesen ist. Für einen jungen Pessimisten gibt es ja Sachen hier die ihn noch pessimistischer machen können. Aber glaubt mir: ich bin nicht mehr pessimistisch. Wenn ich einmal zurückkehre, und meine Sehnsucht nach ihr allen lasst mich hoffen dass es ziemlich bald werden kann, soll ich der Optimist unsrer Familie sein. Seht ihr, ich glaube dass ich hier in Berlin doch was erlebt habe was überhaupt sehr wichtig für mein weiteres Leben sein soll. Und doch: ich habe nicht allzu viel erlebt aber das Geringe will ich ihr doch erzählen. Dass ich Walter getroffen habe wissen sie schon. Mitten in der Nacht bin ich ja von Hannover abgefahren, ja das wisst ihr auch schon. Von dem furchtbaren Gefühl bitterster Einsamkeit die ich wenn ich von Charlottenburg eine ganz leere Millionstadt (jetzt drei Millionen) durchlief erfahren habe ist nichts Anderes zu sagen als das, dass ich in dem Moment überhaupt wünschte dass ich in Sundbyberg ganz mein Leben verblieben hatte. Dann wurde es
besser, man gewöhnt sich an allem (was jetzt alle kluge Berliner sagen und sagen muss). Überhaupt glaubte ich dass ich es nie überleben würde dass ich, nachdem ich dreistundenlang von Unter den Linden bis zum Wilhelmsplatz und Potsdamerplatz gesucht hatte, eine Trümmer anstatt des Hauses Richard Hermanns fand. Mit einem Mal verstand ich ja wie alle, die ihre Kinder, Eltern und so was in den Trümmern verlieren haben es gefühlt haben. Eine Frau in dem Haus nebenbei die ich um Rat gefragt habe hat mir einen Apfel gegeben, wahrscheinlich weil sie Mitleid mit mir hatte. Überhaupt habe ich die Berliner sehr gern, sie sind doch viel lieber als die hartnäckigen Hamburger. Den Apfel habe ich dem Jungen eines Pfarrers in Zehlendorf gegeben um ein Interview mit seinem Vater zu kriegen, hier in Deutschland bin ich überhaupt sehr frech und habe alle Komplexe verloren. Dieser Pfarrer hatte zwei Kinder, von dessen der älteste in denselben Alter wie René war und der andere am 1 Oktober 1946 geboren war. Wie geht’s überhaupt mit René und Rainer? (Der heisst doch Rainer was?) Am schlimmsten war es doch am Morgen zu erwachen: Man hörte Musik woher, die Flugzeuge brausten daoben vor der Landung am Tempelhof und noch schlafend dachte ich: Ah, das ist Bromma. Jetzt höre ich Annemarie in der Küche, René wird bald mit der Zeitung kommen. Und so wachte ich auf im Hotel am Zoo – und nichts war zu machen. Das war furchtbar – aber wenn ich dann in der Strasse kam, mit der U-Bahn fuhr u.s.w. wurde es doch besser. Das war ja so viel zu sehen: Ein alter Mann habe ich gesehen, der mit einem Rad ohne Ringe (?) fuhr, die Reichskanzlei und überhaupt alle alte Regierungsgebäude sind in Trümmern gelegt, Kinder gehen in der Oktober-Kälte ohne Schuhe und Strümpfe, Menschen wagen das Leben um einen Kartoffel, der auf der Strasse liegt, zu retten. Walter lässt herzlichst grüssen. Heute Abend fahren wir zu Olga.
Den 25. Oktober
[Jetzt nicht mehr auf dem Zug, bin gerade in Hannover angelangt.]
In der Untergrundbahn, wo ich mich den ersten Tag schön verirrt habe, ist ein furchtbarer Lärm; die Berliner drängen sich mit ihren Kartoffelsacken und
Handwagen und sprechen überall von ihren Sorgen. Eines Tages bin ich mit dem Inspektionsauto des schwedischen roten Kreuz in Berlin herumgefahren. Das schwedische rote Kreuz in Berlin gibt ja jeden Tag 28 000 armen BerlinerKindern in dem Alter 2–6 Jahre ein halbes Liter Suppe. Übrigens habe ich mit dem Chef des SRK über Mutter Anna gesprochen und der hat mir gesagt dass sie nach Berlin kommen soll; vielleicht geht es diesen Weg was zu ordnen, sonst ist es leider überhaupt unmöglich. Ich habe eben einen Brief mit allen Erklärungen nach Leipzig geschickt und hoffe jetzt nur dass sie den Brief kriege. Die ganze Zeit in Berlin bin ich auch sehr nervös gewesen. Ich kriegte nämlich meine Einreisepapiere für die amerikanische Zone nicht und erst den letzten Tag ist es mir überhaupt gelungen Einreise nach Frankfurt zu bekommen. Gestern, den letzten Tag also, ist mir übrigens viel iert. Erstens habe ich den Brandenburger Tor angeguckt, der ist ja ziemlich wohlbehalten und ist von einer roten Fahne gekrönt. Die Siegessäule steht auch und der Kaiser Fr. Wilhelm III, die andern Kaiser sind ausgebombt. Am Abend habe ich den Intendanten des deutschen Rundfunks getroffen, herrn Seydewitz. Der ist doch ein alter Fritzel was. Wir haben recht lange über die Wahl u s w gesprochen, der war ja ein wenig bekümmert wegen der grossen kommunistischen Niederlage und meinte dass die Sozialdemokraten so viel gewonnen haben durch ihre nationalistische Politik. Von Ferdinand habe ich Grüsse besorgt und der kannte ihn wirklich. Na spät am Abend gerade ehe ich abfuhr ist mir auch was Chomisches und Interessantes iert. In der Stadtbahn habe ich eine polnische Lehrerin mit ihrem Jungen getroffen. Ihr Mann war in Auschwitz gestorben und selbst lebte sie als Flüchtling in Berlin. Wir haben uns ziemlich lange unterhalten und wenn sie hörte dass ich Schwede war hat sie mich nach Hause eingeladen um ein Bild anzugucken und ihr sagen, ob es ein norwegischer Fjord oder die Donau bei Siebengebirgen vorstellte. Ich war ihr sehr dankbar, sie war ja überhaupt der erste Mensch, d. h. nichtoffizielle Person, mit dem ich in Berührung gekommen war. Sie und der Junge wohnten in einem gebombten Haus. Der Knabe war 7 Jahre alt und zwei Kinder hatte sie in Polen verloren. Sie kannte Hamsun und wenn sie jung war hatte sie Novellen geschrieben. Überhaupt gab mir diese letzte halbe Stunde in Berlin die ich bei ihr verbrachte den interessantesten und tiefsten Einblick in deutschen Verhältnissen. Um leben, d. h. vegetieren, zu können beschäftigte sie sich nämlich mit »Geschäften«, d. h. Schwarzhandel, mit Juwelen, Uhren, Teppichen und Stoffen. Während dieser halben Stunde zog das ganze Deutschland durch ihre Wohnung. Da kam ihr Kompagnon, ein schwerbeschädigter Soldat, der in Russland und Italien, Griechenland und auf Kreta gewesen war. Er konnte nicht arbeiten und kriegte jetzt 65 Mark im Monat als Unterstützung [eine Theaterkarte kostet 15 Mark! eine Zigarette (illegale) 10
Mark]. Um leben zu können machte er also diese Geschäfte. Von der Zukunft wartete er sich überhaupt nix. Ein anderer war bei Stalingrad gewesen u.s.w. und dasselbe war ja mit ihm. Das Leben ist tragisch hier, aber man lebt doch, man lebt in den Trümmern, man lebt in den Gefängniszellen alter Gestapogefängnisse – und doch man lebt. Ich habe das Paradies verlassen ohne zu wissen dass es ein Paradies war. Wenn ich zu ihr lieben zurückkehre soll ich es wissen. Und jetzt: Auf Wiederschauen!
Stig
WalterWalter Gansauge, verheiratet mit Ferdinand Götzes Schwester Olga — Richard Hermannein Bekannter der Götzes aus der Vorkriegszeit — der andere am 1 Oktober 1946 geboren warvgl.: Rainer wurde am 29.9. geboren — Brommadamals der internationale Flughafen von Stockholm — Mutter AnnaAnna Götze — die Wahldie Kommunalwahlen in Berlin am 20. Oktober 1946 — eine polnische LehrerinSofie Machowitz, die Begegnung mit ihr wird in »Deutscher Herbst« im Kapitel »Die Kunst zu sinken« geschildert
An Annemarie Dagerman
Ohligs, den 29. Okt. 1946.
30
Meine Liebe!
Jetzt bin ich in Ohligs, eine sehr kleine Stadt gerade bei Solingen im Rheinland. Heute habe ich zum erstenmal in mein Leben den schönen Rhein gesehen.
Du, den sollen wir zusammen erforschen, nicht? Ach, ist er schön! Der fliesst ja durch Düsseldorf, wo ich gestern und heute einige schöne Stunden mit Helmut sein Schwager verbracht habe. Der ist ja Lektor eines Verlages in Düsseldorf och hat mir viele interessante Sachen vorgezeigt. Bitte grüss, wenn du dazu Gelegenheit findest, Dora und Helmut herzlichst von ihm und seiner Frau. Der Verlag ist ziemlich neu und hat seine Lokale, d. h. zwei kleine Zimmer, in einer Ruine. Gerade jetzt haben sie einen Fussboden bekommen, vor einigen Wochen hatten sie den noch nicht. Eine Tür haben sie auch eben bekommen, und eine neue Wand; früher hatten sie nämlich nur drei Wände! Licht haben sie doch noch nicht, in der Decke sind grosse Löcher und Abort haben sie auch nicht. Wenn sie was bestellen müssen gehen sie ganz einfach über die Strasse und in einen Restaurant hinein und versuchen es selbstverständlich zu aussehen als wollten sie essen.
In Hannover (Stolzenau) war ich drei Tage und will ihr allen von Olga, Walter
und den Kindern grüssen. In Stolzenau leben sie ziemlich schlecht aber doch nicht schlechter als andere Leute in Deutschland jetzt. Die Ernährungslage ist ja natürlich nicht gut und das Paket das ich mitbrachte hat grosse Freude erregt. Die Olga ist wegen ihrer Drüsen sehr dick, sie war überhaupt freundlich und gemütlich aber scheint ja nicht besonders intelligent zu sein. Ich glaube doch dass Ferdinand die Intelligenz seiner Familie besitzt. Aber die Kinder waren entzückend, vor allen Dingen die Anne-Rose ist ein wunderbares Mädchen, hübsch und klug. Mich hatte sie sehr lieb gehabt und hat mich geküsst und umarmt den ganzen Tag. Sie will gern nach Schweden und ich habe ihnen versprochen was zum Frühling nächstes Jahr zu versuchen. Ich glaube es wäre sehr gut wenn sie nach Schweden kommen könnte, sicher konnte sie dir mit den Jungen helfen. Obwohl sie noch nur sieben Jahre ist ist sie sehr tüchtig. Sie hatte keine Schuhe, nur dünne Sandalen und wenn ich zurückkehre (so schnell wie möglich will ich das) müssen wir ihr ein paar Schuhe schicken. Von den Gansaugen haben wir alle was gekriegt, Bücher und du ein Bild. Er ist doch keinen anerkannten Künstler, ich finde er mahlt ziemlich ordinär, nach dem populären Geschmack weisst du: Blumen und so was – aber er verdient Geld wie alle schlechte Mahler jetzt! Ehe ich abfuhr hat er mir 150 Marke gegeben.
Ja, von Hannover fuhr ich mit einem englischen Zug nach Bad Oeynhausen, von da aus mit einem Auto nach Herford, wovon ich so schnell wie möglich mit einem anderen Auto, einem riesenhaften Arméwagen, nach Ohligs fuhr. Dieser Wagen ist diese Woche der meine, ich habe einen Fahrer aus Breslau der während des Krieges Feldwäbel war. Er ist ein sehr netter Mensch und wir haben es gut zusammen. Mit dem fahre ich den ganzen Tag in der Ruhr herum. Morgen will ich nach Essen und Wuppertal. Übrigens finde ich die Natur wunderschön hier, hier wollte ich wohnen. In Düsseldorf oder in der Umgebung oder am liebsten in der Nähe von Köln auf einem der schönen Hügel. Heute war ich ja auch in Köln, doch sehr kurz. Sonnabend kehre ich wieder zu Köln, ich will einige Tage bei einem Schriftsteller, den ich in Hamburg traf, wohnen.
Vor allem ist mir doch die Stadt Düsseldorf sehr gut gefallen. Dort ist mir ja auch was Wunderbares iert. Ich habe gerade heute eine entzückende Frau getroffen, die sogenannte Mutter Ey, die am meisten abgebildete Frau der ganzen Welt und die Mutter aller Düsseldorfer Künstler. Vor Hitler war sie
Kunsthändlerin und unterstützte die junge, die neue Kunst. Sie hat als Brotverkäuferin angefangen und verkaufte Brot und Kaffee zu den armen Künstlern der Düsseldorfer Akademie, d. h. am meisten hat sie ihnen alles geschenkt, nicht wahr, oder hat sie ein Bild anstatt Geldes bekommen und daraus entwickelte es sich so, dass sie einer der grössten oder wenigstens vornehmlichsten Sammlungen junger deutscher Kunst erworben hat. In ganzem Deutschland war sie als Mutter Ey bekannt, ja weit ausserhalb der Reichsgrenzen. Von den Nazisten, die ja die junge »entartete Kunst« nicht liebte wurde sie ausgeschmissen von ihrem Geschäft, viele von ihren Bildern wurden beschlagnahmt und während des Krieges wurden 10 Kisten geretteter Bilder von Feuer zerstört. Dieses Jahr ist sie nach Düsseldorf zurückgekehrt, ist Ehrenbürgerin geworden und die Stadt lässt ihr eben eine Ausstellungshalle bauen. Jetzt ist sie 82 Jahre alt – aber fantastisch jung und noch dazu bereit mit neuen Kräften anzufangen. Denk dir, so ein Mensch was! Und jetzt kommt das Beste! Ich glaube sie hat mich sehr gern gehabt, ehe ich und Gollin (R:s Schwager) ihre kleine Wohnung verlass hat sie mir nämlich drei Bilder geschenkt von drei berühmten deutschen Künstlern gemacht: zwei Zeichnungen und ein Aquarell; besonders das Aquarell, von einem Mahler der jetzt Professor in Berlin ist, Curt Lass, gemacht, ist sehr hübsch. Die eine Zeichnung stellt Mutter Ey vor und ist von Hundt gemacht, der ist einer der bekanntsten. Die andere Zeichnung hat Wollheim gemacht und die soll sehr viel wert sein. Ich bin sehr glücklich och will dich darum bitten den Ehrenplatz unserer Wände auszusuchen. Und du, wenn ich zurückgekehrt bin, müssen wir so schnell wie es geht ein Päckchen für Mutter Ey besorgen!
Wie geht’s ihr? Ich träume jede Nacht von dir und ihr allen und vor allen Dingen von den Rezensionen. Am Tage denke ich überhaupt nicht daran, die Trümmer, vor allem die in Hamburg und Berlin, kommen mir nicht aus dem Sinn und ich vergesse überhaupt wen ich bin, von wo ich komme, was ich gemacht habe und was ich tun soll. Ich habe meine Identität unter den Trümmern verloren und nur wenn ich des Nachts träume kommt die langsam wieder. Das ist eine sehr merkwürdige Erfahrung und vor allen Dingen eine Erfahrung die macht dass ich am möglichsten schnell nach Hause will. Zu dir, zu den Kindern, zu ihr allen. Küss die Jungen, umarme die andern. Ich bin bei dir.
Dein Liebling
Stig
Helmuts SchwagerHerbert Gollin, Bruder von Dora Rüdiger — Dora und HelmutDora und Helmut Rüdiger, nach Schweden geflüchtete deutsche Syndikalisten — Olga, Walter und die KinderOlga und Walter Gansauge mit den Kindern Annerose und Walterchen — Mutter EyJohanna Ey (1864–1947) bedeutende Galeristin und Förderin moderner Kunst — zwei Zeichnungen und ein Aquarellheute im Stadtmuseum Düsseldorf — Curt LassCurt Lahs (1894–1974), in Düsseldorf geborener Maler, Mitglied der von Johanna Ey geförderten Künstlergruppe Das Junge Rheinland — HundtJean Baptist Hermann Hundt (1894–1974), Maler, Mitglied in Das Junge Rheinland — WollheimGert Heinrich Wollheim (1894–1974), Maler, Mitglied in Das Junge Rheinland
An Annemarie Dagerman
Herford, den 5. Nov. 1946.
Liebes Mädchen, meine lieben Jungen und Schwiegereltern, lieber André (wenn du noch in Schweden bist).
Jetzt bin ich also in Herford nach einer langen Reise von Ohligs. Ich bin müde, hungrig, durstig und unrasiert und wünsche ich wäre schon zu Hause. Aber noch nicht: um 1 fahre ich mit meinem Auto nach Hannover, wo ich hoffe Walter zu sehen und von Hannover geht’s weiter nach Frankfurt. Das ist ein ewiges Fahren hin und her und ich glaube ich will nie mehr in dieser Weise reisen, das ist ermüdend (?) und übrigens sieht man doch nicht das was man sehen will. Vor allen Dingen fahre ich nie mehr allein, die Sehnsucht nach dir und den Jungen nimmt zu viel Zeit und Kraft. Na in Ohligs hatte ich doch eine gute Zeit, schönes Essen und nette Menschen in dem Hotel. Der Hauptmann dort war ein sehr vornehmlicher Mensch, der uns zum Frühling besuchen will. Des Abends haben wir Tischtennis gespielt und ich habe meistens verloren. In der Ruhr bin ich herumgefahren, war zwei Tage auch in Essen, diese furchtbar zugerichtete Stadt. Ich habe das dortige Schwedische Rote Kreuz besucht und habe eine Nacht bei ihnen geschlafen. Ja da ist es wirklich schlimm. Ich war auch unten in einer Zeche ganz in der Nähe von Essen. Weiter habe ich bei den Engländern in Essen Lunch gegessen in Villa Hügel. Hast du schon von Villa Hügel gehört? Das ist das Kruppsche Haus in Essen, ein luxuriöses Ding, das sicher das Schloss in Stockholm überglänzt. Dieses Haus ist jetzt von der englischen Kohlkontrolle annektiert worden, aber alles ist wie es war wenn die Familie Krupp das Haus verlass. Sogar habe ich auf Kruppschen Porzellan gegessen. Beim Schwedischen Roten K. habe ich leider (»leider«, denn jetzt fühle ich keine Spannung mehr) auch eine schwedische Zeitung (Svenska Dagbladet) mit einer Rezension des Buches gekriegt. Die hast du wohl gelesen? Jetzt kriege ich ziemlich sicher den Preis von Svenska Dagbladet, glaubst du nicht? Was machen wir mit dem Geld? Eine Reise, schlage ich vor – aber nicht nach Deutschland. Das muss noch lange
dauern. Denke dich, in Essen habe ich einen langen Güterzug voll Menschen, die aus Bayern ausgewiesen worden sind, gesehen. Vierzehn Tage waren sie schon unterwegs, acht Tage hatte die Reise gedauert und seit sechs Tagen standen die Wagons auf dem Bahnhof in Essen. Das war ein trauerlicher Anblick. Bitte, willst du Fritzen grüssen dass ich seine Brüder und seine Mutter getroffen habe, liebe Grüsse von ihnen allen.
Ja du, jetzt geht’s bald nach Süden. Drei oder vier Wochen bleibe ich in der amerikanischen Zone und dann komme ich mit dem schnellsten Zug der Welt zu dir und den Jungen. Ah, du musst sie alle grüssen und küssen von mir.
Dein lieber Stig
WalterWalter Gansauge — Kohlkontrolledie Villa Hügel wurde im April 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht beschlagnahmt und zum Sitz der Allierten Kohlenkontrollkommission gemacht — Rezension des BuchsKarl Ragnar Gierows positive Besprechung von »Die Insel der Verdammten« in der Tageszeitung Svenska Dagbladet vom 19. Oktober 1946 — Preis von Svenska Dagbladetalljährlich verliehener Literaturpreis, der Dagerman tatsächlich 1946 verliehen wurde — FritzenFritz Benner, deutscher Syndikalist, der nach Schweden geflohen war, er war schon in Deutschland ein Bekannter der Götzes gewesen
An Axel Liffner
»Had a successful day, Mr Dagerman?«
»Ich fürchte ja, Sir.«
Frankfurt am Main an einem Abend im November [8/11 1946].
Liebe Insel in Riksby!
Ich bin nach Frankfurt am Main gekommen – das sagt mir auch nichts! –, nachdem ich traurig war in Hamburg, einsam in Berlin, verfroren in Hannover, ängstlich in Essen, mir übel war in Düsseldorf, ich müde war in Köln, hungrig in Wuppertal und viel zu satt in Solingen. Richte Jonas aus, es stimmt, dass es sinnlos ist zu reisen. Wenn man sich nicht an alles gewöhnen würde, wäre es sinnvoller, aber nachdem man 14 Tage Ruinen gesehen hat, merkt man, dass alles so ist, wie es sein soll. »I am sorry, sir, aber das hier ist ja die gleiche Ruine wie die, die ich in Hannover gesehen habe. Haben Sie keine neuen?« – »Wir haben ein Fachwerkhaus in Herford, sir. Bombardierte Fachwerkhä – immerhin ein bisschen Abwechslung, sir.« In Hamburg kann man bei Landwehr aus dem Zug steigen und eine Stunde in jede beliebige Richtung gehen, ohne etwas anderes zu sehen als Innenwände und Böden, die wie Flaggen an ihren Verankerungen hängen, und verfrorene Heizkörper, die sich wie Schmeißfliegen an ihren Wänden festklammern. Man ist irgendwo mitten in der Stadt und sieht etwa eine Stunde lang keinen einzigen Menschen. Ich bin eine Dreiviertelstunde in östliche Richtung gegangen, dann bin ich zurückgegangen. Als ich zu meinem Hotel kam, schaltete ich die Lampe über dem Spiegel ein, dachte: Wenn ich nicht verändert aussehe, stimmt was nicht, sir. Vielleicht hätte ich erst in
westliche Richtung gehen sollen.
Ja, anfangs waren die Spiegel am schlimmsten, aber später ist es keine Kunst mehr zu begreifen, dass man alles zu sehen erträgt, ohne blind zu werden. Es ist nicht einmal mehr unheimlich, hier zu sein. Man wird nur sehr müde davon und schläft nachts gut. In Düsseldorf war ich in einem Bunker fünf Meter unter der Erde. Dort leben seit fünf Jahren Menschen, manchmal gehen sie aus dem Loch nach oben und schnappen wie Fische nach Luft. Da unten wohnen mehrere Hundert und unter einer Lampe sehen sie noch gesund aus, aber im Tageslicht sehen sie dann aus wie Leichen. Viele der verschlungenen Gänge sind stockfinster, weil die Leute, die da wohnen, die Glühlampen stehlen und auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Es stinkt, weil Kinder ihre Notdurft auf dem Fußboden verrichten – aber don’t worry sir. In einer Viertelstunde fährt man in seinem Auto nach Hause, isst ein Steak und trinkt Wein zum Essen und hinterher Whisky, spielt Tischtennis mit dem Major. Verdammt, ich muss so schnell ich kann nach Hause kommen, um Mitleid mit denen zu haben, die hier leiden. Weißt du, das sind ziemlich viele. Denn wenn man hier nach Hause kommt, fragt the staff captain: »Had a successful day, Mr Dagerman?« Und dann muss man sagen: »Yes sir«, und fröhlich aussehen. Immer fröhlich aussehen in den alliierten Hotels. Verdammt, ich bekomme bald schon wieder Lachgrübchen.
Wie ist es zu Hause? Liest man Bücher und schreibt Bücher und liest Kritiken und schreibt Kritiken? Das kann ich mir nicht mehr vorstellen. So etwas tut man hier nicht. Apropos Bonniers war ich bei einem Verlag in einer Ruine in Düsseldorf. Sie hatten kürzlich eine vierte Wand bekommen und arbeiten nicht so gerne, wenn es regnet, weil der Verlag Löcher im Dach hat. Elektrisches Licht gibt es nicht, und wenn die Angestellten pinkeln wollen, müssen sie in die Ruine hinausgehen. Man arbeitet hier nicht so gern, weil man zwei normale Monatslöhne damit verdient, seine Zigarettenration zu verkaufen. Hier ist so gut wie alles verrückt, aber dafür kann ich mich erst interessieren, wenn ich heimkomme. Jetzt werde ich trotzdem weiter nach Süden fahren und schlafen: Heidelberg, Stuttgart, München, Nürnberg. Dann fahre ich nach Norden, zwischen Anfang und Mitte Dezember will ich wieder bei euch sein. Ich hoffe auf die schwedischen Spiegel.
Beim Roten Kreuz in Essen habe ich Gierows Kritik gesehen und Angst bekommen, Angst, weil sie binnen einer Sekunde allen Hunger und jegliche Not um mich herum weggewischt hat. Als wäre eine Rezension in Sv.D. wichtiger als die Bergleute im Ruhrgebiet. Das kann ja wohl nicht sein. Ich wäre vor Scham am liebsten gestorben – aber das ging auch nicht. Dann wurde ich schamlos und sagte dem Spiegel, dass hier wirklich alles ieren darf und es geht mich nichts an. Heute habe ich in the new Statesman and Nation über Sartre gelesen und begriffen, dass ich im nächsten Monat noch kein »être pour soi« werde.
Richte allen aus, dass ich am Abend des 8. Nov. jedenfalls gesund und allein in einem geblümten Doppelzimmer in Frankfurt am Main war (warum zum Teufel bekommen wir Einsamen allesamt leere Doppelzimmer?). Mein Freund, wir sehen uns.
Bis dahin bist du meine einzige Insel in Riksby. Grüß Norah.
Rufst du bitte Annemarie an und kontrollierst, dass sie ihren Brief bekommen hat, den ich gleichzeitig abschicke?
Dein Stig
Der Brief trägt den Poststempel 10.11.1946. Er wurde von der Zensurbehörde der Besatzungsmacht (»U.S. CIVIL CENSORSHIP «) mit dem Etikett »RETURN TO SENDER« versehen zurückgeschickt, weil Dagerman ihn auf Schwedisch geschrieben hatte.
Axel Liffner(1919–1994), schwedischer Schriftsteller und Kulturjournalist — Liebe Insel in RiksbyLiffner wohnte im Bergslagsvägen 23 in dem Stockholmer Vorort Riksby — Richte Jonas aus, es stimmt, dass es sinnlos ist zu reisenbezieht sich auf eine Aussage von Olov Jonason, Autor und Freund, in der schwedischen Illustrierten Vi — Bonniersder schwedische Verlag Albert Bonnier — Sv.D.Abkürzung für Svenska Dagbladet — the new Statesman and Nationbritische sozialistische Wochenzeitschrift — »être pour soi«Schlüsselbegriff in Jean-Paul Sartres Philosophie (Für-sich-sein) — NorahAxel Liffners Ehefrau
An Annemarie Dagerman
[ca. 8/11 1946]
Geliebte!
Heute bin ich traurig in Frankfurt am Main. Es ist eine kalte und langweilige Stadt, in der man lieber nicht zu allein sein sollte. Na ja, ganz allein bin ich ja auch nicht – dank dir. Als ich hier ankam, habe ich als Erstes nach einem Brief von dir gefragt – und es gab einen!! Was habe ich mich gefreut, so froh bin ich auf dieser Reise noch nie gewesen. Ich hoffe, du weißt schon alles, wonach du fragst. Ich habe dir fünf Briefe geschrieben – einen aus Hamburg, einen aus Berlin, einen aus Hannover, einen aus Köln und einen aus Herford. Einen von ihnen musst du doch wenigstens bekommen haben. Nach Berlin komme ich vermutlich nicht mehr, obwohl ich die Stadt liebe, weil sie so einsam und dennoch so voller Hoffnung ist. Oh, wenn ich gewusst hätte, dass mich dort ein Brief erwartet! Du fragst, was ich von Deutschland und den Deutschen halte. Die Deutschen gefallen mir sehr gut, die ländlichen Regionen gefallen mir sehr gut, aber die Städte sind größtenteils fürchterlich. Die Nacht habe ich bei einer Familie nahe Darmstadt verbracht, Bekannte von Dosters natürlich, Leinau. Sie wohnen in einem kleinen Dorf mitten in den Buchenwäldern, die voller Wildschweine sind. Es ist eine herrliche Gegend mit hohen Erhebungen und Burgen ringsum, und Schnee liegt hier genauso viel wie bei uns. Sie wohnen in einem verfallenen Bauernhof aus dem siebzehnten Jahrhundert, der einen Hof voller Gänse und Hühner umschließt, die ihnen nicht gehören. Wenn man kein Bauer ist, ist das Leben auf dem Land genauso schwierig wie in der Stadt, denn die Bauern sind geizig und haben für ausgebombte Städter nicht viel übrig. Man muss von einer Mahlzeit zur nächsten leben und hoffen, dass man nicht zum letzten Mal Essen auf dem Tisch hat. Tagsüber sind die Frauen draußen und sammeln Bucheckern, aus denen man anschließend das Fett presst. Ja, du hast bestimmt schon gehört, wie schwierig es hier momentan mit dem Essen ist. Lächerlicherweise habe ich, der ich immerhin schon fast einen Monat hier bin,
nicht gewusst, wie schwierig es ist, bis ich eine große Schlagzeile in Svenska Dagbladet über die Not in Westfalen gelesen habe, und gestern haben sie im schwedischen Rundfunk das Gleiche gesagt.
Wie geht es euch? Ich bin so froh, dass ich bei meiner Rückkehr willkommen bin, am liebsten würde ich auf der Stelle nach Hause fahren. Ich darf hier jetzt bis zum 15. Dez. bleiben, aber sag das keinem in Stockholm, denn ich will früher heim. Nach Wien fahre ich nicht, ich denke, du und ich fahren irgendwann gemeinsam hin. Am Sonntag fahre ich nach Heidelberg, von dort nach Stuttgart, München und Nürnberg und Frankfurt. Vielleicht fliege ich dann von hier aus nach Kopenhagen, ich weiß es noch nicht. Möglicherweise bleibe ich auf der Rückreise stattdessen noch ein paar Tage in Hamburg, um die Gewerkschaften zu studieren.
Liebling, warte auf mich. Nimm René mit zum Zug – du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich nach einem ganz bestimmten Moment auf einem ganz bestimmten Bahnsteig in Schweden sehne! Richte Vater und den anderen aus, dass ich ihnen bald schreibe – ich wusste bis jetzt nicht, dass man auf Schwedisch schreiben kann und hatte auch kein Papier. Liffner schreibe ich gleichzeitig, um Kontakt mit 40-TALET zu halten.
Und nun: Good bye, Liebling. Bald kommt der nächste Brief!
Stig
Der Brief dürfte um den 8. November 1946 geschrieben worden sein; der Brief an Liffner wurde am Abend des 8. November geschrieben und am 10. November abgestempelt. Ebenfalls auf Schwedisch geschrieben, wurde er wie der Brief an Axel Liffner von der Zensurbehörde der Besatzungsmacht zurückgeschickt.
DostersMarie und Gustav Doster, nach Schweden geflüchtete deutsche Syndikalisten — LeinauGrete und Alfred Leinau, deutsche Syndikalisten — 40TALETeigentlich 40-tal, schwedische Literaturzeitschrift, ab Herbst 1946 war Dagerman einer der Redakteure
An Annemarie Dagerman
Brief Nr. 7.
Stuttgart, den 15. Nov. 1946
Liebling und alle anderen Lieblinge!
(René, Rainer, Elly, Ferdinand, André)
Nun bin ich in der ehemals schönen Stadt Stuttgart, nachdem ich einige Tage in der immer noch schönen Stadt Heidelberg verbracht habe. In Heidelberg habe ich schon eine Stelle ausgewählt, an der unser Haus stehen wird. An einem wunderbaren Hang über dem Neckar mit Weinbergen und blauem Nebel und herbstlichen Bäumen. Alfred Leinau war als Reiseführer mit mir in Heidelberg und wir haben bei Edo Bischof in Schwetzingen übernachtet, einer kleinen Stadt zehn Kilometer von H. entfernt. Bischof erinnerte sich noch an Ferdinand und Elly und hat mich gebeten, sie zu grüßen. Über Ferdinand sagte Bischof: Er hatte eine hübsche Frau; und ich sagte: Er hat es immer noch. Frau Bischof fragte: Ist Ihre Frau auch so hübsch; und ich antwortete: Genau so. – Wann darf ich eigentlich wieder zu dir nach Hause kommen? Du musst einen Brief nach Frankfurt geschrieben haben, wenn ich am 1. Dezember dorthin zurückkehre! Ich denke die ganze Zeit an dich und die Kinder. Gestern, im Zug von Heidelberg nach Stuttgart, fiel mir ein, dass ich vergessen habe, Rainer zu seinem Einmonatstag zu gratulieren. Küss ihn dafür ganz besonders am 29. November. Und morgen wird René ja 1 ½ Jahre alt. Sag ihm, dass sein Papa dafür zu Hause ist, wenn er 19 Monate alt wird. Wie läuft der Verkauf von »Die Insel der Verdammten«? Ich hoffe, du sorgst dafür, dass sie ordentlich Reklame
machen!! Ich bin so neugierig darauf, etwas von euch und von Schweden zu erfahren. Ich schaue jeden Tag in die englischen oder amerikanischen und deutschen Zeitungen, aber bisher weiß ich nur, dass Schweden in die UNO eingetreten ist, sonst nichts. Wie läuft es für Arbetaren, ich bin mir sicher, dass man mich dort nicht sonderlich vermisst – weißt du, was das Angebot angeht, Nachtredakteur zu werden, bin ich fast so weit, es mir anders zu überlegen, ich weiß nicht recht, was ich tun soll. Was meinst du? Man ist dann so festgelegt, nicht? Wir sind nach Darmstadt eingeladen, also zu Leinaus, im Frühling, aber wir können natürlich trotzdem nicht fahren. Leinaus wohnen wunderbar, wie ich dir schon gesagt habe, aber für Privatbesuche bekommt man bestimmt noch eine ganze Weile keine Einreiseerlaubnis. Ich möchte noch viel reisen – aber nicht allein, sondern mit dir. Erinnerst du dich an diese Worte:
Wer in der Fremde will wandern,
der muss mit der Liebsten gehen
allein (?) und lassen die andern
die Fremden, alleine stehn.
Oder wie Brentano sagt:
Seit du von mir gefahren,
Singt stets die Nachtigall;
Ich denk bei ihrem Schall,
Wie wir zusammen waren.
Gott wolle uns vereinen,
Hier spinn ich so allein,
Der Mond scheint klar und rein,
Ich sing und möchte weinen!
Inzwischen habe auch ich angefangen zu singen – auf Deutsch.
Möchtest du es hören?
Unter den Bäumen liegt eine Nacht begraben.
Hinter dem Tage schläft der vergessene Raum.
Auch der Schatten muss einen Spiegel haben.
Auch der Wind bedarf einen windlosen Traum.
Die Sonne steht still. Ja, nichts kann sich hier bewegen.
Das Blatt kann nicht fallen. Noch sind die Herbste nicht da.
Wer borgt mir den Herbst? Wer borgt mir den bittren Regen?
Wer borgt mir die Tränentröpfe die ich lange nicht sah.
Vergessener Raum! Die Räume sind alle vergessen.
Traumloser Wind! Ein Wind kann nicht schlafen gehen.
Unrührlichkeit! Wer will die Geschwindigkeit messen, mit der unsre Wolken still um die Lichttürmer stehn.
Hier ist dein Spiegel, Schatten. Nun spiegle dich lange.
Schatten, sieh dein Gesicht, die Lippen geküsst von dem Wind.
Warum weinst du dabei? Die Tränen küssen die Wange,
Weinst du darum, dass ein Schatten sein Spiegel ist blind?
Nacht unter den Bäumen! Wie du möcht ich verschwinden.
Wer borgt mir den Kahn und die dunkelste Ruh?
Hinter den Tagen ist Licht und hinter den Winden,
Wer borgt mir den Kahn und die Teiche dazu?
Ich habe mein kleines deutsches Lexikon in Hannover Walter geschenkt, deshalb sind in dem Gedicht sicher eine Menge Fehler. Es ist für dich.
Rufst du bitte Werner an und sagst ihm, dass ich ihm schreibe, sobald es mir gelingt, einen Umschlag aufzutreiben, das hier ist der letzte. Der Åsögatan und der Rörstrandsgatan schreibe ich auch bald. Vielleicht finde ich ja hier in Stuttgart Umschläge. Wenn nicht – grüß alle ganz herzlich von mir und sag ihnen, dass alles gut ist, außerordentlich gut sogar. Ich schäme mich, dass es mir hier umgeben von Ruinen so gutgeht, aber das lässt sich wohl nicht ändern. Solltest du Harrie begegnen, sag ihm das Gleiche. Noch weiß ich nicht genau, wann ich nach Hause komme. Ich habe vor, am 3. Dezember von Frankfurt
abzufahren. Wenn es geht, bleibe ich dann wohl noch ein paar Tage in Hamburg. Ansonsten gehen von Frankfurt Flüge nach Kopenhagen, was ich verlockend finde, da ich nichts dagegen habe, schnell daheim zu sein.
Besonders viel Neues gibt es ansonsten nicht. Hier in Deutschland ieren keine Sensationen. Alles ist ruhig und arm. In Stuttgart hat es, wie du vielleicht gelesen hast, Ende Oktober einige Bombenattentate auf die Amerikaner gegeben, aber ich vermute, die gehen auf das Konto von Halbstarken. Eine Naziorganisation im Untergrund gibt es mit Sicherheit nicht. In jedem [ein oder mehrere Worte fehlen] hängt das rote Plakat an jeder Straßenecke, das demjenigen 25 000 Mark verspricht, der in dieser Sache Hinweise geben kann.
Eine andere Sensation: In Schwetzingen habe ich meine erste Oper gesehen! Zusammen mit Alfred Leinau. Man gab Figaros Hochzeit und das war ja nicht das Schlechteste. In Schwetzingen haben sie ein reizendes Rokokotheater, das wir unbedingt einmal zusammen besuchen müssen. Im Kino bin ich auch gewesen, die Leute gehen hier wie verrückt ins Kino. Schließlich ist es so ziemlich das Einzige, was sie unternehmen können.
Du, an einem der ersten Abende nach meiner Rückkehr müssen wir alle in die Oper gehen und danach irgendwo anders hin. Bestell Karten! Am Montag fahre ich nach München und bin sehr gespannt, wie es dort aussieht. Ich will versuchen, Kästner und Ministerpräsident Högner zu treffen, der aus Bayern einen selbständigen Staat machen will. Ja, jetzt stehen nur noch München und Nürnberg aus und danach Sundbyberg. Auf letztgenannte Stadt freue ich mich ehrlich gesagt am meisten. Ich bin ja nur fünf Wochen weggewesen, aber es kommt mir vor wie viele Jahre. Liebling, jetzt sehen wir uns bald wieder. auf dich auf und auf alle anderen in der Familie! Alle müssen gesund und munter sein, wenn ich komme.
Bis dahin lebe wohl
Dein Stig
Bis auf die Gedichtzeilen in deutscher Sprache ist der Brief auf Schwedisch.
Edo BischofEduard Bischoff, deutscher Syndikalist — Wer in die Fremde will wandern …aus Joseph von Eichendorffs »Aus dem Leben eines Taugenichts« — allein (?) und lassen die anderneigentlich: Es jubeln und lassen die anders — Seit du von mir gefahren …aus Clemens Brentanos Gedicht »Der Spinnerin Nachtlied« — WalterWalter Gansauge — WernerWerner Aspenström (1918–1997), schwedischer Lyriker und Freund Dagermans –— Åsögatanin der Åsögatan 157 in Stockholm wohnten Dagermans Vater Helmer Jansson mit seiner Frau Ester und in einer anderen Wohnung seine Tante Gunhild Lund — Rörstrandsgatanin dieser Stockholmer Straße wohnten Dagermans Tante Ruth und ihr Mann Axel Åhrman — HarrieIvar Harrie (1899–1973), Chefredakteur der schwedischen Tageszeitung Expressen — KästnerErich Kästner (1899– 1974) — HögnerWilhelm Hoegner (1887–1980), sozialdemokratischer Politiker, Ministerpräsident von Bayern 1945–46
An Annemarie Dagerman
Nr. 8?
Nürnberg 25. Nov. 1946.
(Schloss Stein, A. W. Fabers altes Schloss)
Liebling!
Dies ist einer der letzten Briefe, die ich dir schreibe. Die Deportation neigt sich glücklicherweise dem Ende zu, und vielleicht bin ich schon auf dem Heimweg über Jütland, Seeland oder dem småländischen Hochland, wenn du diesen Brief bekommst. Heute Nachmittag bin ich von München nach Nürnberg gekommen, und in dieser dunklen und tristen Stadt, die anscheinend niemals Sonnenschein erlebt hat, werde ich mich mit Sicherheit nicht wohlfühlen. Hier gibt es wohl nicht viel zu sehen außer den Ruinen, die ungewöhnlich zahlreich sind, und ich werde mich die drei Tage, die ich hier bin, ganz auf den Prozess konzentrieren. Derzeit werden 22 Konzentrationslagerärzte angeklagt, und ich bin sehr gespannt, wie das Ganze abläuft. Gleichzeitig werde ich allmählich ein bisschen nervös vor meiner Heimkehr; weißt du, es ist ehrlich gesagt so, dass es im Grunde nicht so viel hierüber zu schreiben gibt. Versprich mir, Ordnung in meine verwirrten Notizen zu bringen, wenn ich nach Hause komme!!! Ein Buch wird auf keinen Fall daraus; richte das Gerard aus, falls du ihm begegnen solltest. – In München hatte ich jedenfalls sechs schöne Tage. An drei Tagen war ich im Theater: Gesehen habe ich 1. eine Revue, geschrieben von Kästner u. a., sie war gut und sehr gemein zu den Amerikanern. 2. »Das Abgründige in Herrn Gerstenberg«, ein sehr lustiges deutsches Stück; und 3. (werd jetzt nicht
wütend!) »Hoffmanns Erzählungen« in Münchens wunderbarstem Theater, dem Prinzregententheater. Hoffmann war wirklich schön, obwohl ich von dem, was gesungen wurde, nicht viel verstanden habe, aber am besten ist trotz allem das, was wir auf Langspielplatte haben. Ich finde, es ist das schönste in der ganzen Oper. In München habe ich auch einige von Leinaus Bekannten kennengelernt, einen Journalisten und seine Frau, eine frühere Schauspielerin, und die Untermieterin und Freundin der beiden, die Schauspielerin ist. Alle drei sehr nette Menschen, die mir bei meiner Abreise einen ganzen Stapel Bücher geschenkt haben. Erich Kästner habe ich auch getroffen, das ist ja ein kleiner Knirps, und einen anderen Schriftsteller, der hier jetzt als Militarist verboten ist. Die Amerikaner gehen, was ja nur gut ist, streng gegen jeden deutschen Militarismus vor. Außerdem habe ich in München gut gewohnt und gegessen. Ich habe in einer kleinen Mönchsklause in Gauleiter Amanns früherer Villa gewohnt und in Gauleiter Gieslers früherer Villa in Böhmerwald gegessen. In der Nähe standen auch Hitlers Haus und Eva Brauns Villa. So gut wie in München habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegessen, es war wirklich fantastisch: Lachs, Lammkeule, Sahneeis. Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass ich ausgerechnet in Deutschland eine Woche lang so paradiesisch leben durfte.
Nun ja, ich bin trotzdem froh, dass auch diese Woche vorbei ist, weil mich das euch zeitlich wieder etwas näherbringt. Es tut mir so leid, dass ich nicht wenigstens von René ein Foto dabeihabe, denn danach fragen mich hier alle. Wie geht es ihm, dem kleinen Lausebengel? Ich werde euch beide in derselben Umarmung ersticken. Und der Kleine bekommt weiter Massage, hoffe ich. Er kommt doch sicher auch zum Hauptbahnhof und holt seinen Vater ab. In München habe ich mir die Zeit genommen, der ganzen Familie zu schreiben. Haben sie ihre Briefe bekommen? Werner auch? Und die Kritiken hast du in einem ordentlichen Stapel gesammelt? Es gibt so viel, worauf man neugierig ist, wenn man heimkommt.
Weißt du, was ich in München auch noch getan habe? Ich habe ein Kruzifix gekauft und an die Wand gehängt, um zu sehen, ob ich dadurch zum Katholiken werde. Noch ist nichts iert, aber wenn ich unterwegs bin, trage ich es in der Tasche – also wer weiß! Vielleicht kaufe ich mir hier in Nürnberg einen
Rosenkranz. Am Donnerstag fahre ich zu Leinaus in Darmstadt und bleibe ein paar Tage bei ihnen. Hier in Nürnberg wohne ich in einem alten Schloss, das Stein heißt, ein hübscher Kasten – aber ich schlafe in einem Zimmer mit sechs Betten. Das gefällt mir überhaupt nicht. Wenn ich nach Hause komme, schlafen wir in nur einem, du – und ich.
Tschüss, grüß alle
Dein Stig
Der Brief wurde auf Schwedisch geschrieben.
Gerardder schwedische Verleger Gerard Bonnier (1917–1987) — »Das Abgründige in Herrn Gerstenberg«1945 erschienenes Theaterstück von Axel von Ambesser (1910–1988) — Gauleiter Amanngemeint ist wohl Max Amann (1891–1957), der zwar nicht Gauleiter, aber Präsident der Reichspressekammer war — Gauleiter GieslerPaul Giesler (1895–1945) war Gauleiter von MünchenOberbayern und von 1942 bis 1945 bayerischer Ministerpräsident — Böhmerwaldgemeint ist der Böhmerwaldplatz im Münchener Stadtteil Bogenhausen — LeinausGrete und Alfred Leinau — WernerWerner Aspenström — die Kritikenvon »Die Insel der Verdammten«
An Sofie Machowitz
Tällberg den 8. Februar 1947.
Meine liebe Frau Machowitz!
Erstens muss ich wegen mancherlei um Verzeihung bitten. Ich bedaure sehr dass ich zu viel versprochen habe. Selbstverständlich hätte ich Ihnen mehrere Briefe aus Deutschland schreiben dürfen, aber ich kann Ihnen versichern: ich habe auch schreiben wollen, aber alles ist mir so verworren und schrecklich vorgekommen während meiner Reise, dass es mir fast unmöglich gewesen ist, die Gedanken zu sammeln. Von Berlin bin ich ja nach Hannover gefahren, wo ich bei der Tante meiner Frau gewohnt habe (und mich furchtbar erkältet habe), dann ins Ruhrgebiet, wo ich mit einem englischen Auto herumgefahren bin die ganzen Tage (einem riesengrossen Wagen mit Platz auch für Sie). Das Ruhrgebiet war gar nicht schön, was Sie sich sicher vorstellen können, aber es wird zu lang darüber zu schreiben, alles was ich habe von Papier genügte nicht. Aus der Ruhr bin ich per Zug nach Frankfurt gefahren und habe von Frankfurt aus eine lange Reise getan: Heidelberg, Stuttgart, München, Nürnberg, Darmstadt und zurück nach Frankfurt. Dann habe ich noch einmal Hannover und Hamburg besucht und endlich am 10. Dezember bin ich mit dem Flug aus Frankfurt nach Schweden zurückgekehrt. Um 6 Uhr nachmittags habe ich zum letzenmal (im Jahre 1946) die Ruinen Deutschlands oder sage man vielleicht lieber die deutsche Ruine gesehen und um halb zwölf desselben Tages war ich in meiner heilen, strahlenden und satten Heimstadt. Die ersten Tage war der Kontrast so furchtbar dass ich vielmals bedauert habe dass ich nicht mit einem Zug zurückgekehrt bin, damit es mir wärend der langsameren Reise möglich gewesen wäre mich an normale Verhältnisse zu gewöhnen. Ja, tatsächlich wünschte ich mich vielmals zurück zu euch allen in Deutschland.
Jetzt ist es schon besser. Das Licht, die ganzen Hä und alles von materiellem Glück hier in Schweden scheint mir wieder so wohlbekannt – aber was ich in Deutschland gesehen habe ist nicht zu vergessen. Ich habe viel an Sie allen gedacht während der furchtbaren Kälte die Sie miterlebt haben gerade einige Tage nach meiner Zurückkunft. Wie haben Sie es ausgehalten? Anfang Dezember habe ich mich doch selbst fast totgefroren bei Freunden in Frankfurt und doch war die Kälte damals gemässig.
Ich sage ich habe an euch alle in Deutschland gedacht – und meine, wie Sie sicher verstehen, an Sie. Wenn ich mich in Deutschland allein fühlte dachte ich an Sie und war nicht mehr allein. Wenn ich zurückgekommen bin habe ich tagtäglich auf einen Lebenszeichen aus meiner Insel in Berlin gewartet – aber allzulange vergebens. Jetzt freue ich mich sehr dass diese Insel noch besteht und nicht wie Atlantis in die Tiefe der Vergessenheit gesunken ist. Von solchen Inseln holt man, oder hole wenigstens ich, die Hoffnung und die Freude des Lebens. Das ist ja wahr dass ich diese Insel nur eine halbe Stunde gekannt habe, aber in meiner vielen einsamen Stunden in Deutschland haben meine Gedanken Sie durchaus gründlich kennengelernt. Was glauben Sie dass ich alles von Ihnen weiss. Sie haben lange blaue Hosen und einen gelben (?) Pelz, und wenn Sie den Pelz abgelegt haben staunt man dass Sie so fein und zart sind, wie ein Mädchen. Sie haben ein gelbes Haar – ist das nicht richtig? – und Sie lächeln sehr oft gegen die Welt, sei diese Welt noch so schlimm und widerlich. Und Sie wagen mir sagen dass Sie auf mich keinen Eindruck gegeben haben! An Ihr Bild und Ihren niedlichen Sohn und diese kleine Halle wo ich Ihnen meine Adresse geschrieben habe erinnere ich mich auch sehr deutlich. Ich denke oft an Sie, vielleicht öfter als ich denken darf – oder darf ich?
Der Brief – ein auf beiden Seiten beschriebenes Blatt im A4-Format – ist niemals beendet worden oder der abschließende Teil ist verloren gegangen.
Sofie Machowitzpolnische Lehrerin, die Stig Dagerman in Berlin kennenlernte und von der er im Kapitel »Die Kunst zu sinken« erzählt (siehe auch den Brief vom 24. Oktober 1946) — Sie wagen mir sagen dass Sie auf mich keinen Eindruck gegeben habenSofie Machowitz hatte in einem auf den 24. Dezember 1946 datierten Brief aus Berlin geschrieben: »Ich glaube kaum, dass ich auf Sie einen tieferen Eindruck machen könnte«
An Sven Jan Hanson
[Februar/März 1947?]
PRIVAT
Bester Phocas!
Eine im höchsten Maße freundlich gesinnte Seele hat mir im hohen Maße post festum einen Zeitungsausschnitt vom 20. Februar zukommen lassen. An diesem Tag haben Sie in Aftonbladet meinen Artikel über Kurt Schumacher in Expressen aufgegriffen. Lieber Phocas, natürlich haben Sie in der Sache recht: Um über eine Veranstaltung mit Schumacher in München zu berichten, darf man nicht 23 Jahre alt sein. Ihrer Ansicht nach sollte man mindestens 30 sein, und wenn ich eingehender darüber nachdenke, muss man Ihrem Hinweis selbstverständlich zustimmen. Dass man nicht gleichzeitig zur jungen Autorengeneration gehören und einen Artikel über Schumacher schreiben darf, versteht sich ja so sehr von selbst, dass ich es hier nicht erwähnen müsste, wenn Sie nicht so freundlich gewesen wären, es in Ihrer Kolumne zu erwähnen. Durch eine unverzeihliche Nachlässigkeit, verursacht durch Überanstrengung, aber deshalb nicht weniger unentschuldbar, vergaß ich, dass dies traditionell ein Privileg älterer Autoren ist. Ich habe mich bereits bei Artur Lundkvist entschuldigt, woran Sie das Ausmaß meiner Bußfertigkeit erkennen sollten. Der Vorwurf, den Sie mir machen, weil ich nicht in einem deutschen Konzentrationslager gesessen habe, ist ebenfalls mehr als berechtigt. Selbstverständlich können allein Persönlichkeiten mit solchen Verdiensten heutzutage Respekt von Aftonbladets Kolumnisten erwarten. Um zu zeigen, dass ich Ihre klugen Äußerungen nicht mit dem trotzigen Misstrauen des Büßers, sondern mit der ganzen Demut des nach Canossa Gehenden gelesen habe, möchte ich Ihnen mittteilen, dass ich daraus den vollkommen richtigen Schluss
gezogen habe, dass alle, die in deutschen Konzentrationslagern gesessen haben, die gleiche Auffassung von Kurt Schumacher haben wie er selbst. Wie soll ich es daraufhin nur wagen, Ihnen zu enthüllen, dass mein Artikel (unter anderem) auf meinem Kontakt und meinen Gesprächen mit ehemaligen KZlern basierte, oder dass meine Erkenntnisse über die Gefahren des deutschen Nationalsozialismus nicht allein darauf beruhen, dass ich die weltpolitische Entwicklung »mit gespitzten Ohren« verfolgt habe, sondern auch teilweise darauf, dass ich deutsche Verwandte habe, die genauso lange in Ravensbrück gesessen haben wie Dr. Schumacher in Dachau.
Was schließlich meine Ohren betrifft, muss ich gestehen, dass die Enthüllung ihres halbtrockenen Zustands mich besonders tief getroffen hat. Sie versprechen mir doch, dies nicht in noch weiteren Kreisen zu verbreiten? Mir selbst liegt sehr daran, diesen Umstand geheim zu halten, aber da ich Ihre Tätigkeit in Aftonbladet in früheren Phasen verfolgt habe, bin ich gewöhnt, Ihre Fähigkeit zur Diskretion als über jeden Zweifel erhaben zu betrachten. Ich bin froh, dass den »vielen (2 Stück Sozialdemokraten), die sich beeilt haben, dem Sünder die Ohren langzuziehen«, das Aftonbladet vom 20. Februar 1947 zur Verfügung stand, um sich hinterher die Finger abzutrocknen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr
Stig Dagerman
P S. Stig Ahlgren kratzte einmal an Ihrem Pseudonym in AT, aber weil ich vergessen habe, was dabei herauskam, muss ich mich leider damit begnügen, ein Pseudonym zu adressieren, das überdies im Akkusativ Plural auf Latein »Seehunde« bedeutet. Es wäre angenehmer, mich auf einer persönlicheren Ebene
als dieser mit Ihrem außenpolitischen Wissen konfrontiert zu sehen. Sollten Sie einen Studienkreis in Geopolitik ins Leben rufen, meldet sich als erster Teilnehmer an
Ihr dankbarer Lehrling S.D.
Sven Jan Hanson (1904–1970), Journalist; seine Artikel veröffentlichte er unter den Pseudonymen Filmson und Phocas.
Dagermans nie abgeschickter Brief war die Reaktion auf eine Kolumne des Pseudonyms Phocas in Aftonbladet vom 20. Februar 1947, in der es unter anderem hieß:
»Ein anderer schwedischer Schriftsteller, der Anfang zwanzig und Jungliterat ist und folglich über alles genau Bescheid weiß, hat es vorgezogen zu versuchen, den Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten, Dr. Kurt Schumacher, zu steinigen. Dieser hat in der Zeit der Nazis lediglich in einem deutschen Konzentrationslager gesessen und besitzt deshalb natürlich nicht die gleichen Erkenntnisse über die Gefahren des Nationalsozialismus wie ein Schwede, der die weltpolitische Entwicklung mit gespitzten Ohren verfolgt hat, auch wenn diese vorerst nur halbtrocken sind.«
Artikel in Expressen über Kurt Schumacher»Respektabel, aber brandgefährlich« (Expressen vom 14. Februar 1947); der Artikel wurde in einer längeren Fassung und unter dem Titel »Kalter Tag in München« in »Deutscher Herbst« abgedruckt — Artur Lundkvist(1906–1991), schwedischer Lyriker und Romancier — heutzutage Respekt von Aftonbladets KolumnistenAftonbladet war dem Deutschen Reich während des Zweiten Weltkriegs lange unverhüllt freundlich gesonnen — deutsche Verwandte, die in Ravensbrück gesessen habenGroßmutter Anna Götze und Tante Irma Götze von Dagermans Ehefrau Annemarie — »vielen (2 Stück Sozialdemokraten), die sich beeilt haben, dem Sünder die Ohren langzuziehen«die Klammer stammt von Dagerman; die beiden Sozialdemokraten waren der Lyriker Ragnar Thoursie (Expressen vom 19. Februar 1947) und der sozialdemokratische Politiker Kaj Björk (MorgonTidningen vom 20. Februar 1947) — Stig Ahlgren(1910–1996), schwedischer Schriftsteller und Journalist — ATAbkürzung für Aftontidningen, eine sozialdemokratische Tageszeitung in Stockholm
STIG DAGERMAN (1923 – 1954)
NACHWORT VON PAUL BERF
I
Die Redakteure der schwedischen Tageszeitung Expressen hatten sich die Sache gut überlegt, als sie keinen gestandenen Korrespondenten in das zerstörte Nachkriegsdeutschland sandten, damit er in einer Reihe von Reportagen über die dortigen Verhältnisse berichtete. Ein solcher wäre nämlich vollkommen davon abhängig gewesen, mit den Besatzungsmächten zusammenzuarbeiten, was seine Freiheit stark eingeschränkt hätte. Stattdessen sprach man den zwar noch unbekannten, aber aufstrebenden dreiundzwanzigjährigen Schriftsteller Stig Dagerman an, der mit einer Deutschen verheiratet war und das Land bereisen konnte, um Freunde und Verwandte seiner Frau zu besuchen, wovon man sich andere, überraschendere Blickwinkel erhoffte.
Auch für Dagerman war die Aussicht, nach Deutschland zu reisen, ein reizvolles Angebot. 1945 hatte er mit »Die Schlange« seinen ersten Roman veröffentlicht, ein Buch, das von den Kritikern als literarische Sensation gefeiert wurde und ihn zumindest in literarisch interessierten Kreisen zur Stimme einer Generation machte, die während des Zweiten Weltkriegs erwachsen geworden war und deren Lebensgefühl von Angst und Pessimismus geprägt wurde. Gleichzeitig empfand er wie viele andere junge Schweden nach den Jahren der Isolation und kriegsbedingt geschlossener Grenzen aber auch eine große Sehnsucht danach zu reisen, die Welt zu entdecken, den geistigen Horizont zu erweitern, die man allenthalben auch in den Briefen spürt, die der Autor aus Deutschland an seine Familie schrieb.
Im Herbst 1946 reiste Stig Dagerman von Mitte Oktober bis Mitte Dezember knapp zwei Monate lang von Hamburg aus durch die amerikanische und die britische Besatzungszone sowie nach Berlin. Weitere wichtige Stationen auf der
Reiseroute, die sich anhand seiner Briefe rekonstruieren lässt, waren Düsseldorf und das Ruhrgebiet, Frankfurt am Main, Heidelberg, Stuttgart und München, aber auch ländliche Regionen. Seine Auftraggeber bei Expressen statteten ihn mit einer großzügigen Reisekasse aus und machten ihm keine inhaltlichen Vorgaben. Man stellte sich sechs bis zehn Beiträge vor und stellte dem Autor darüber hinaus frei, seine Artikel entweder kontinuierlich im Laufe der Reise oder erst nach seiner Rückkehr nach Schweden zu schreiben. Dagerman entschied sich aus Gründen, zu denen wir noch kommen werden, für Letzteres, so dass seine Texte vom 26. Dezember 1946 bis zum 28. April 1947 in Expressen veröffentlicht wurden. Die unter dem Titel »Deutscher Herbst« im Mai 1947 veröffentlichte Buchausgabe enthielt diese teilweise überarbeiteten Texte, ergänzt um das erste, programmatische Kapitel (»Deutscher Herbst«) und das vorletzte Kapitel (»Rückfahrt nach Hamburg«).
Bei seinem Erscheinen war »Deutscher Herbst« eines von zahlreichen Büchern zur Lage im besetzten Deutschland, die in Schweden erschienen, aber seine Bedeutung und Ausnahmestellung wurde von der Kritik sofort erkannt, so etwa von Herbert Tingsten, dem mächtigen Chefredakteur der größten schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, der in seiner Rezension schrieb: »Er berichtet klar und sachlich von dem, was er auf seiner Reise gesehen hat, aber ergreifend und tiefgründig wird die Schilderung vor allem durch die Intensität des Dichters, seinen Blick für die einzelnen Menschen und seine Fähigkeit, Stimmungen zu vermitteln, ohne sentimental oder pathetisch zu werden. […] all das hat eine solche Kraft, dass der Leser zum ersten Mal zu verstehen meint, wie es in Deutschland derzeit wirklich aussieht.«
»Deutscher Herbst« erreichte mehrere Auflagen und war das erste Buch Dagermans, das ein größeres Publikum erreichte. Bis heute wird es in Schweden immer wieder aufgelegt und von neuen Generationen gelesen.
II
Um zu verstehen, was das Besondere an Dagermans Reiseberichten aus dem zerstörten Nachkriegsdeutschland ist, lohnt sich ein Blick auf die persönlichen Voraussetzungen des Autors und seine damit verbundene Weltsicht.
Dagerman war seit 1943 mit Annemarie Götze (1924–2016) verheiratet, die aus einer deutschen anarcho-syndikalistischen Familie stammte. Die Eltern Elly und Ferdinand Götze waren mit ihr 1934 vor den Nationalsozialisten zunächst nach Barcelona geflohen und hatten sich nach Francos Sieg im Spanischen Bürgerkrieg über Frankreich und Norwegen schließlich ins neutrale Schweden abgesetzt. In der Jugendorganisation der schwedischen Syndikalisten lernte Annemarie dann in Stockholm Stig Dagerman kennen, der ebenfalls aus einer syndikalistischen Familie stammte und bereits kurz nach dem Abitur die Stelle als Leiter des Kulturressorts der syndikalistischen Zeitung Arbetaren antrat, deren Redaktion er einmal als seinen geistigen Geburtsort bezeichnete.
Die Beziehung zu Annemarie und ihrer weltoffenen Familie, mit der er zusammenlebte, sowie die syndikalistische Weltanschauung, der er Zeit seines Lebens treu blieb, sind von entscheidender Bedeutung für Dagermans Texte in »Deutscher Herbst«. Durch seine Frau und ihre Familie wusste der Autor, dass es nicht nur das nationalsozialistische Dritte Reich, sondern auch ein anderes Deutschland gab, ein Deutschland des Widerstands und der Verfolgten, und dieses Wissen hielt ihn davon ab, die Deutschen kollektiv als Repräsentanten eines untergegangenen Unrechtsstaates, als ein monolithisches Kollektiv zu betrachten. Immer wieder versucht er in den einzelnen Kapiteln vielmehr, ein differenzierteres Bild der Deutschen und der politischen Strömungen im Land zu zeichnen und schält aus der Masse der Deutschen einzelne Menschen heraus. Dagerman beschreibt nicht die Deutschen, er schildert Individuen und ihre unterschiedlichen Überlebensstrategien.
Außerdem konnte er bei seiner Reise auf das syndikalistische Kontaktnetz der Götzes zurückgreifen. Die Freunde und Verwandten der Familie, denen er begegnete, halfen ihm, Kontakte zu knüpfen, führten ihn durch die zerstörten Städte und leisteten vor allem einen entscheidenden Beitrag dazu, dass die
Erfahrungen und Ansichten der Verfolgten und Unterdrückten des Nationalsozialismus in den Texten prominent vertreten waren und eine Stimme bekamen.
Aber auch die politischen Ideen des Syndikalismus, insbesondere die Idee der Auflösung staatlicher Strukturen zugunsten gewerkschaftlicher und die damit verbundene Abkehr vom Nationalismus und Hinwendung zu internationaler Zusammenarbeit prägen Dagermans Buch. Aus dieser Perspektive kritisiert er einerseits die Besatzungsmächte, die den Deutschen seiner Ansicht nach mehr helfen müssten, wieder auf die Beine zu kommen, andererseits aber auch Kurt Schumacher, den Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten, weil er auf einen nationalistischen Kurs setzte.
Für den Kontakt zur deutschen Bevölkerung war es darüber hinaus sicher nicht nur wichtig, dass Stig Dagerman durch das Zusammenleben mit den Götzes gut Deutsch sprach, sondern auch, dass er aus dem im Krieg neutral gebliebenen Schweden stammte, wodurch der Kontakt der Deutschen zu dem Fremden oder Touristen, wie der Autor sich zuweilen nennt, mit Sicherheit unvoreingenommener und zwangloser war als mit Vertretern der Siegermächte.
III
Man hatte sich in der Redaktion von Expressen also bewusst gegen einen Journalisten und für einen Schriftsteller entschieden, und obwohl Dagerman durch seine Arbeit für Arbetaren durchaus über journalistische Erfahrung verfügte, verstand er sich auf seiner Reise selbst auch nicht als Journalist, wie sich den folgenden Zeilen eines Briefs aus München an seinen Freund Werner Aspenström entnehmen lässt:
Ein Journalist ist aus mir noch nicht geworden und soweit ich weiß, wird aus mir
auch keiner werden. Ich habe keine Lust, mir all die bedauernswerten Eigenschaften anzueignen, die einen perfekten Journalisten konstituieren. Es fällt mir schwer, die Menschen zu verstehen, denen ich in den alliierten Pressehotels begegne und die der Meinung sind, dass ein kleiner Hungerstreik interessanter ist als der Hunger vieler. Während die Hungerkrawalle sensationell sind, ist der Hunger nicht sensationell, und was arme und verbitterte Menschen hier denken, wird erst interessant, wenn Armut und Verbitterung in einer Katastrophe ausbrechen. Journalistik ist die Kunst, so früh wie möglich zu spät zu kommen. Das lerne ich nie.
In Dagermans Beschreibung des Journalismus steht das Ereignis im Vordergrund und nicht der Mensch wie in seinen Reportagen, kommt es für den Journalisten des Weiteren darauf an, möglichst schnell zu sein, dicht am Puls des Geschehens zu arbeiten, während Dagerman sich in seinen Briefen aus Deutschland und im letzten Kapitel von »Deutscher Herbst« (»Literatur und Leiden«) mehrfach mit der Frage auseinandersetzt, wie viel Distanz zum Leiden erforderlich ist, um es schildern zu können, was auch bedeutet, um es literarisch gestalten zu können.
Die Auseinandersetzung mit dieser Frage dürfte wohl auch der Grund dafür gewesen sein, dass er die Texte erst nach der Rückkehr ins heimische Schweden schrieb. Er brauchte die Distanz.
Als Grundlage für die Artikel diente ihm dabei eine Reihe von Notizbüchern, die er in Deutschland gefüllt hatte. Die Literaturwissenschaftlerin Karin Palmkvist hat es in ihrem Buch über Stig Dagerman als Journalisten so ausgedrückt: Der Schriftsteller gestaltete das Material, das der Journalist gesammelt hatte. Als ein Beispiel für Dagermans Notizen seien hier einige der Zeilen zitiert, die dem Kapitel »Die Unwillkommenen« zugrunde lagen.
Suppe einmal am Tag. Auch Säuglinge. Hielt ein kleines Baby. Ein Haufen Kartoffeln auf dem Boden. Stroh. Jemand hat Bett mitgenommen. 5 Tage Vorwarnung: Bayern. Alte Frau über Hitler: Der Hund lebt noch. Ein Mann mit
großer Familie: Immer müssen wir leiden wegen dem, was die Großen wollten. Die Tante: Wir wollten keinen Krieg. Der Mann: Habe mit Russen, Jugoslawen, Polen geredet, hatten nichts gegen mich. Gab ihm Zigarettenstummel. Ein anderer sah es und bettelte. 80-jährige alte Frau. Wahnsinniges Mädchen im Rollstuhl. Schrie auf, brach zusammen, Bombenschock. Hoben den Stuhl herunter, zogen ihn im Kreis im Dreck. Regnete. Fahrt uns aufs Land! Ungewissheit.
Seine Notizen verdichtete Dagerman dann in den Texten aus dem zeitlichen und räumlichen Abstand heraus zu Szenen, in denen es ihm gelang, die Balance zu halten zwischen Nähe und Distanz, Sachlichkeit und Empathie, Verallgemeinerung und individuellem Leid, Faktentreue und literarischer Gestaltung. Eines strebte er allerdings offensichtlich nicht an – einen einheitlichen Erzählton. Dieser richtete sich vielmehr nach dem Stoff des jeweiligen Kapitels und nach den Menschen, die darin figurierten. Mal hält er eine vorsichtige Distanz zu seinen Gesprächspartnern, mal kommt er ihnen ganz nah. An manchen Stellen spürt man seine tiefe Einfühlung in das Leiden der Menschen, an anderen aber auch seinen scharfsinnigen Blick für die tragikomischen und absurden Seiten des deutschen Nachkriegsalltags, zum Beispiel wenn er für das Kapitel »Die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf« in die Rolle eines Theaterkritikers schlüpft. Und so ist es weit über den hohen dokumentarischen Wert des Buches hinaus letztlich Dagermans literarische Brillanz, die »Intensität des Dichters«, wie Herbert Tingsten schrieb, die »Deutscher Herbst« bis heute zu einem so außerordentlichen Leseerlebnis macht.
BIOGRAFIEN
Stig Dagerman (1923–1954) wurde in Älvkarleby nördlich von Uppsala als Sohn eines Sprengmeisters und einer Telefonistin geboren. Er wuchs bei seinen Großeltern väterlicherseits auf dem Land auf, bis er 1931 zu seinem Vater nach Stockholm zog. 1940 wurde sein Großvater von einem Psychopathen erstochen, eine »Wahnsinnstat«, die ihm lebenslang nachging – zumal kurz darauf ein Freund bei einem gemeinsamen Bergurlaub in einem Lawinenunglück ums Leben kam. Dagerman arbeitete nach seinem Abitur für die anarchosyndikalistische Zeitung Arbetaren und debütierte 1945 mit dem Roman »Die Schlange«. Die kommenden Jahre waren geprägt von exzessiven Schreibphasen und einem kometenhaften Aufstieg, aber auch von Schreibblockaden, schweren Depressionen und existenziellen Krisen. 1943 heiratete er die deutsche Geflüchtete Annemarie Götze, mit der er zwei Söhne hatte und deren Familie ihm den Zugang zu Deutschland erleichterte. Nach dem Scheitern der Ehe heiratete er 1953 die bekannte Schauspielerin Anita Björk, mit der er noch eine Tochter hatte. Mit gerade 31 Jahren nahm er sich 1954 das Leben.
Paul Berf, geboren 1963, studierte Skandinavistik, Germanistik und Anglistik in Köln und Uppsala und übersetzt aus dem Schwedischen, Finnlandschwedischen und Norwegischen, u. a. Johannes Anyuru, Aris Fioretos, Karl Ove Knausgård, Selma Lagerlöf, Fredrik Sjöberg und Kjell Westö. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet. 2014 erhielt er den Jane-Scatcherd-Preis der HeinrichMaria-Ledig-Rowohlt-Stiftung für seine Übersetzungen der Werke Knausgårds.
© Stig Dagerman, Tysk höst, 1947 Erstmals veröffentlicht bei Norstedts, Schweden © Stig Dagerman, Brev, 2002 (Auswahl) Erstmals veröffentlicht bei Norstedts, Schweden Die Publikation der deutschen Übersetzung erfolgt mit Genehmigung von Norstedts Agency
Die vorliegende Übersetzung wurde durch die großzügige Unterstützung von Kulturrådet ermöglicht
Erste Auflage Berlin 2021
© 2021 Guggolz Verlag, Berlin
Guggolz Verlag, Gustav-Müller-Straße 46, 10829 Berlin
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Korrektorat: Bettina Hartz
Druck & Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
Umschlag: Mirko Merkel,
ISBN 978-3-945370-31-5
eISBN 978-3-945370-78-0
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